Verführung auf dem Maskenball

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Lord Ledbury war der Held jedes Schlachtfeldes - doch das Chaos in den Ballsälen Londons entsetzt ihn. Eine kichernde Debütantin heiraten? Niemals! Er sucht eine Herausforderung ... und findet sie in Julie: Die "Eiskönigin" wies bisher jeden Mann zurück. Kann er ihr kaltes Herz mit heißen Küssen zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 11.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729431
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Richard schaute zu dem seidenen, mit üppigen Volants verzierten Baldachin des Betts hinauf, das er von seinem Bruder geerbt hatte. Jetzt war er hellwach, obwohl er sich vor einer knappen Stunde völlig erschöpft gefühlt und geglaubt hatte, er würde eine Woche lang schlafen.

Dieses Bett hasste er – die weiche Daunenmatratze, das Gebirge aus aufgetürmtem Bettzeug, das ihn zu ersticken drohte. Und er hasste den Kammerdiener … Nein, das ging zu weit. Natürlich durfte er Jenkins nicht hassen, der seine Pflichten so gut erfüllte, wie es seine begrenzten Fähigkeiten erlaubten. Aber er war eben nicht Fred.

Während seiner Abendtoilette hatte er sich gewünscht, er könnte mit Fred reden und über die absurden Aspekte der letzten Tage – gleichsam Vorstöße hinter feindliche Linien – sogar lachen. Wie sie es so oft in den vergangenen sechs Jahren seines aktiven militärischen Dienstes getan hatten, trotz der Entbehrungen, die sie wegen der idiotischen Befehle eines selbstgefälligen, unfähigen Kommandanten erlitten hatten …

Doch er hatte Fred bei seinem Einzug ins Lavenham House in seinem alten Quartier zurücklassen müssen. Und obwohl er nie zuvor von einem solchen Luxus und so vielen Dienstboten umgeben gewesen war, hatte er sich noch nie so einsam oder unbehaglich gefühlt. Seufzend warf er die Decke beiseite und starrte in die Flammen, die im reich verzierten Marmorkamin züngelten. So muss einem Spion zumute sein, dachte er verbittert. Ohne die Uniform, die seine Identität bezeugte. Getrennt von seinem Regiment, seinen Kameraden. Nicht mehr mit Aufgaben betraut, die nur er allein erfüllen konnte.

Verdammt, draußen auf einer Parkbank, in seinen alten Militärmantel gehüllt, würde er viel besser schlafen als hier, halb erstickt von all den Privilegien, die ein Viscount anscheinend brauchte. Wenn er bedachte, wie er manchmal im Freien geschlafen hatte und seine Decke frühmorgens am Boden festgefroren war …

Abrupt setzte er sich auf. Am Ende der Straße lag ein kleiner Park mit Bänken. Und im Schrank hing immer noch, zu Jenkins’ kaum verhohlenem Leidwesen, sein Armeemantel.

Wenigstens für eine kleine Weile musste er diesem Haus und den Dienstboten entfliehen, selbst wenn er den Pflichten, die ihm der plötzliche, unerwartete Tod seines Bruders Mortimer auferlegte, nicht entrinnen konnte. Fluchend stieg er aus dem Bett und zog im flackernden Feuerschein irgendetwas an, das er zufällig fand. Nur den Militärmantel wählte er bewusst, schlüpfte hinein, und das fühlte sich so an, als würde er in die Arme eines alten Freundes sinken. Als wäre er immer noch Major Richard Cathcart, obwohl ihn plötzlich alle mit „Lord Ledbury“ ansprachen.

Er strich über sein vom unruhigen Schlaf zerzaustes Haar und wünschte, seine innere Zerrissenheit würde sich ebenso leicht glätten lassen. Dann hinkte er hinaus und ging, die Lippen grimmig zusammengepresst, die Treppe hinab.

Von seinem Gespräch mit seinem Großvater, dem Earl of Lavenham, hatte er sich noch immer nicht erholt. Natürlich hatte er mit Unannehmlichkeiten gerechnet. Denn nichts anderes als ein gravierender Notfall würde den alten Mann veranlassen, ihn nach Courtlands zu beordern. Und was er dort über seinen jüngeren Bruder erfahren hatte, war gewiss schockierend. Aber was ihm noch immer einen schlechten Geschmack in seinem Mund verursachte, war die Gewissheit, dass es niemanden auch nur einen Deut gekümmert hätte, wäre er im Krieg getötet oder verstümmelt worden, wenn Charlie seine Vorliebe für Männer verborgen hätte.

Erleichtert atmete Richard auf, als er ins Freie trat. Er hatte all die Opfer auf sich genommen, die sein Großvater verlangte, seinen Dienst bei der Armee quittiert, die erforderliche Garderobe gekauft und begonnen, seine Rolle im Lavenham House zu spielen. Aber …

Auf dem Weg zum Park sog er die Nachtluft tief in seine Lungen. Sie roch nach … Ruß. Und feucht. Mit einem Hauch von etwas undefinierbarem Grünem. Unverwechselbar das englische Frühlingsaroma.

Trotz seines verletzten Beins dauerte es nicht lange, bis er sein Ziel erreichte. Vielleicht würde er ein bisschen inneren Frieden finden, wenn er sich auf einer Parkbank ausstreckte und zwischen grünen Zweigen zum Nachthimmel aufschaute.

Nach Mortimers würdelosem Tod trug Richard nun den Titel Viscount Ledbury. Und um die inständige Hoffnung seiner Familie zu erfüllen, musste er eine Braut finden. Natürlich sollte sie allen hohen Ansprüchen genügen, die an die nächste Countess of Lavenham gestellt wurden. Zu diesem Zweck hatte er an diesem Abend seinen ersten Ball als Lord Ledbury besucht.

Angewidert erschauerte er bei der Erinnerung an das Gedränge in dem überhitzten Ballsaal, das eifrige Gehabe kupplerischer Mamas, die ihn umzingelt hatten, das beklemmende Gefühl, belagert zu werden …

Und – verdammt, das passte zu diesem grauenhaften Abend – die Bank, auf der er sich erholen wollte, war bereits besetzt. Von einem jungen Soldaten in roter Uniform und einer widerstrebenden weiblichen Person, nach den Fäusten zu schließen, die sie auf seine breiten Schultern hämmerte, weil er sie zu küssen versuchte.

Ohne zu überlegen, ergriff Richard die Initiative. „Lassen Sie die Dame los!“ Seine Stimme, vom jahrelang praktizierten Befehlston auf Paradeplätzen geschärft, ließ die beiden zusammenzucken.

Die Stirn gefurcht, musterte der Soldat ihn über seine Schulter hinweg. „Das geht Sie nichts an“, knurrte er.

„Oh doch, denn ich finde Ihr Benehmen völlig inakzeptabel und …“ Erstaunt verstummte Richard, als er die junge Dame erkannte, die sich immer noch gegen den energischen Griff des Soldaten wehrte. Lady Julie Chilcott.

Sobald er sie im Ballsaal gesehen hatte, war er sofort zu seinem Gastgeber gegangen, um sich nach ihr zu erkundigen. Denn er hatte noch nie ein schöneres Geschöpf gesehen.

Berry, ein ehemaliger Schulfreund, dessen Schwester Lucy ihren Debütball feierte, hatte eine Grimasse geschnitten und in ätzendem Ton verkündet: „Das ist Lady Julie Chilcott, auch unter dem Namen ‚Frostbeule‘ bekannt. Weil sie uns heute Abend beehrt, ist Lucy ganz aus dem Häuschen. Normalerweise besucht die Dame nur die exklusivsten gesellschaftlichen Ereignisse. Ihr Großvater, der Earl of Caxton, ist genauso kühl und arrogant. Wenn du sie eine halbe Stunde beobachtet hast, wirst du verstehen, warum sie ihren Spitznamen verdient.“

Daraufhin hatte Richard seine ursprüngliche Absicht aufgegeben, seinen Freund zu bitten, er möge ihn der jungen Dame vorstellen. Stattdessen hatte er sich auf einen Stuhl am Rand des Ballsaals gesetzt, Berrys Rat befolgt und sie beobachtet. Und er hatte keine halbe Stunde gebraucht, um sein Urteil zu fällen: Ja, sie erweckte tatsächlich den Eindruck, sie würde ihre Anwesenheit in einem Haus bereuen, wo sich so viele Menschen aufhielten, die gesellschaftlich tief unter ihr standen.

Zumindest hatte er das auf dem Ball vermutet. Jetzt prüfte er das Rangabzeichen des liebeshungrigen Soldaten, das ihn als Lieutenant auswies, und korrigierte seine Schlussfolgerung. Da Lady Julie Chilcott sich geweigert hatte, auch nur mit einem einzigen ihrer zahlreichen unterwürfigen Bewunderer zu tanzen, war er geneigt gewesen, Berry recht zu geben und sie für eiskalt und stolz zu halten.

Nun wirkte sie eher wie ein verängstigtes junges Mädchen, zutiefst verlegen wegen der kompromittierenden Situation, in der sie ertappt worden war. Welch ein krasser Kontrast zu dem Zorn, der in den Augen ihres Möchtegernverführers funkelte …

„Ich wiederhole“, fügte Richard mit schneidender Stimme hinzu, „lassen Sie Lady Julie unverzüglich los.“

Nicht nur seine Ritterlichkeit bewog ihn, die junge Dame zu retten. Obwohl Berry ihn so verächtlich vor ihr gewarnt hatte, war sein anfängliches Interesse an Lady Julie nicht erloschen, sondern im Verlauf des grässlichen Abends im Gegenteil noch gewachsen. Schließlich hatte er sogar eine Leidensgenossin in ihr gesehen.

Als sie alle Avancen kühl zurückwies, hatte ihn die Erkenntnis getröstet, dass nicht nur er belagert wurde. Bald fand er es sogar amüsant, Lady Julies enttäuschte Verehrer zu beobachten, während er am anderen Ende des Ballsaals saß und die aufdringlichen Mütter heiratsfähiger Töchter genauso abblitzen ließ. Allerdings hatten die Männer, die das Mädchen umringten und anhimmelten, wenigstes nachvollziehbare Beweggründe. Die Kupplerinnen hingegen interessierten sich nicht für ihn persönlich, sondern nur für seinen neu erworbenen Reichtum und den Adelstitel.

„Dein Gesicht spielt keine Rolle, Richard“, hatte sein Großvater betont und die Narbe betrachtet, die seine linke Braue teilte, von einem Streifschuss verursacht, als er noch ein unbedeutender Lieutenant gewesen war. „Nicht mehr, seit du eine so fabelhafte Partie bist. Steinreich und der Erbe einer Grafschaft. Du musst einfach nur im Hintergrund der Festivitäten warten, und man wird auf dich zukommen.“

Aufgrund dieser Prophezeiung hatte Richard den Ballsaal nur widerwillig betreten. Hätte Mortimers Tod ihn nicht in erlauchte aristokratische Höhen katapultiert, hätte ihm niemand in diesem Raum einen zweiten Blick gegönnt. Das wusste er. Ja, gewiss, er war hier, um auf Brautschau zu gehen. Aber mussten diese gierigen Mamas so offensichtlich erkennen lassen, dass sie ihn nur wegen seiner Position umschwärmen?

Nicht seinetwegen?

Aber die bildschöne Lady Julie würde genauso viele Bewunderer anlocken, wenn sie ein mittelloser Niemand wäre. Noch nie hatte er ein so perfektes Gesicht gesehen, mit makellosem Teint und einem verführerischen Rosenknospenmund. Auf sanft gerundeten Schultern ringelten sich goldblonde Locken. Ihre Augenfarbe konnte er nicht erkennen, tippte aber auf Kornblumenblau.

Bei seiner Ankunft hatte sie ihn kühl und abschätzend gemustert. Wer er war, musste ihr jemand mitgeteilt haben. Später, während sie beide von kriecherischen Scharen bedrängt wurden, trafen sich ihre Blicke gelegentlich. Und einmal, für einen kurzen Moment, glaubte er, dass sie ihm bedeutete, sie würde die Aufmerksamkeiten und banalen Schmeicheleien genauso hassen wie er.

Kurz danach hatte sie den Saal verlassen. Und jetzt war er die einzige erstrebenswerte Partie auf dem Ball. In der Abwesenheit Lady Julies, gewissermaßen einer Verbündeten, sah er keinen Grund mehr, die Hitze des stickigen Raums, die sein Gehirn benebelte, noch länger zu ertragen. Die innere Anspannung, von seinem Entschluss bewirkt, familiäre Pflichten zu übernehmen, war zu stark für seinen von der langen Krankheit geschwächten Körper. Alles tat ihm weh.

Er hatte die Flucht ergriffen und war nach Hause zurückgekehrt.

Doch es war nicht sein Zuhause, sondern immer noch Mortimers Domizil, und es hatte ihn schmerzlich daran erinnert, dass er nicht mehr sein eigenes Leben lebte …

Jetzt überlegte er, es würde ihm vielleicht guttun, an irgendwem seinen Zorn auszulassen. Seit dem Gespräch mit seinem Großvater sehnte er einen Kampf herbei, wollte beweisen, dass mehr in ihm steckte als in Mortimer und Charlie zusammen.

„Stehen Sie auf!“, herrschte er den Soldaten an, der Lady Julie immer noch umarmte, und trat näher. Mortimer und Charlie waren außerhalb seiner Reichweite, der eine tot, der andere in Paris. Und den eigenen Großvater durfte er nicht niederschlagen, mochte der ihn auch noch so sehr provozieren.

Gewiss, der Lieutenant war jünger und kräftig gebaut, hatte aber vermutlich noch keine Erfahrungen auf einem Schlachtfeld gesammelt. Langsam und träge erhob er sich.

„Welch eine Schande sind Sie für Ihre Uniform!“, stieß Richard hervor, erbost über diese lässige Pose. Der scharfe Klang seiner Stimme hätte jeden Mann in seinem einstigen Regiment bewogen, stramm zu stehen. „Am liebsten würde ich Sie vor ein Militärgericht bringen. Kein britischer Soldat dürfte einer widerstrebenden Frau seine Gelüste aufzwingen. Stünden Sie unter meinem Kommando, müssten Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie einer Peitschenstrafe entgingen.“

Ehe er hinzufügen konnte, er würde dem Burschen die Chance geben, die Sache hier und jetzt mit einem Faustkampf zu bereinigen, sprang Lady Julie auf. „Oh nein, Sir!“, schrie sie und trat zwischen die beiden Männer. „So grausam können Sie nicht sein!“

„Grausam?“, wiederholte Richard verblüfft. „Finden Sie es grausam, wenn ich Sie vor einer Situation rette, die Ihnen offenkundig widerwärtig war?“

Entschlossen ignorierte er die innere Stimme, die ihm zuflüsterte, er sei auf einen Kampf erpicht und dieser Soldat würde ihm nur zufällig eine Gelegenheit bieten, seine Wut abzureagieren. Hätte er in Portugal einen jungen Offizier im leidenschaftlichen Gerangel mit einer so hübschen Person wie dieser ertappt, hätte er ihm zugezwinkert und wäre weitergegangen.

Aber das war keine liebeshungrige Señorita oder die willige Gemahlin eines portugiesischen Edelmanns, sondern eine junge englische Lady – und keineswegs willig. Ganz im Gegenteil, sie hatte sich angstvoll gegen den Schurken gewehrt.

„Wie ich zugeben muss, hat Harrys Glut mich ein wenig erschreckt“, erklärte Lady Julie. „So hat er mich noch nie geküsst. Aber vor allem fürchtete ich, jemand würde vorbeikommen und uns entdecken.“

„Nur deshalb wollten Sie ihm entrinnen? Und das soll ich glauben?“

„Ja!“ Herausfordernd reckte sie ihr Kinn empor. „Nicht, dass ich von einem Mann wie Ihnen so viel Verständnis erwarten würde“, fuhr sie verächtlich fort. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen – mein Großvater hat Harry verboten, sich mir zu nähern. Deshalb können wir uns nur heimlich treffen.“

Ein Mann wie ich? Was meint sie damit? fragte sich Richard. Sein Zorn wuchs. Und warum ließ sie sich mit dieser erbärmlichen Karikatur eines Soldaten ein?

„Sicher liegt Ihrem Großvater nur Ihr Wohl am Herzen, Lady Julie“, gab er zu bedenken. „Meinen Sie nicht, es wäre besser, Sie würden sich von diesem Mann fernhalten?“

Wie er wusste, hatte ihr schwerreicher Großvater keinen männlichen Erben und würde – was allgemein bekannt war – der Enkelin den größten Teil seines Vermögens hinterlassen. Offensichtlich passte ein Soldat, der nur ein attraktives Gesicht, breite Schultern und ein unverschämtes Wesen zu bieten hatte, nicht zu der Enkelin eines Aristokraten.

„Also wollen Sie uns verraten?“, fragte sie in eisigem Ton.

Harry trat an ihre Seite und presste ihre Hand an seine Brust. „Glaub mir, nichts wird uns trennen. Das werde ich verhindern.“

„Oh Harry!“ Unglücklich sah sie zu ihm auf. „Niemals würde ich mir verzeihen, wenn er dich auspeitschen ließe.“ Voller Abscheu warf sie einen kurzen Blick in die Richtung des Viscounts. „Ach, diesem Treffen hätte ich nicht zustimmen dürfen.“

Während sie einander hingebungsvoll in die Augen schauten, spürte Richard, wie seine unsinnige Entrüstung verebbte.

Was in Lady Julie vorging, verstand er – sofern sie diesen Mann tatsächlich liebte. Hat mein eigener Großvater mir nicht auch alles genommen, was ich liebe, und mir ein Schicksal aufgezwungen, das ich freiwillig niemals akzeptieren würde?

„Um Himmels willen!“, rief er, verärgert, weil er weiterhin die Rolle des Tugendwächters spielen musste, denn sonst würde er wie ein kompletter Narr dastehen. „Führen Sie sich nicht wie die Heldin eines schlechten Melodrams auf, Lady Julie, und rufen Sie Ihre Zofe zu sich. Höchste Zeit, dass Sie nach Hause gehen.“

Statt der Aufforderung zu folgen, senkte sie beschämt den Kopf.

„Soll das heißen, Sie seien ohne Ihre Zofe hierhergekommen?“

Als sie nickte, konnte sie seinem Blick nicht standhalten.

Das wurde immer schlimmer. Durfte er sie reinen Gewissens mit einem Mann allein lassen, der eine vertrauensvolle junge Dame skrupellos zu einem heimlichen Rendezvous im Morgengrauen verleitete? Niemals, wenn nicht einmal eine Zofe in der Nähe wartete und für die nötige Schicklichkeit sorgte.

„Dann werde ich Sie wohl oder übel nach Hause bringen“, seufzte er. „Hoffentlich beobachtet uns niemand – sonst werden wir in einen Skandal verwickelt.“ Was seine Pläne vereiteln würde.

Da eine Heirat sein unausweichliches Los war, wünschte er sich eine großartige Countess, von der sogar künftige Generationen voller Ehrfurcht sprechen würden. Im Almack’s, wo sich alle affektierten Debütantinnen herumtrieben, würde er sie wohl kaum finden. Vielmehr wollte er seine Suche im Haus eines Mannes beginnen, der wenig Geld, aber einen untadeligen Charakter besaß. Auf diese Weise wollte er demonstrieren, dass es keineswegs sein Ziel war, eine Braut von hohem Rang zu gewinnen. Stattdessen sollte sie … etwas ganz Besonderes zu bieten haben, das jeder erkennen würde. Auch er, sobald er es sah.

Ein Mädchen, das er kaum kannte und das einen Skandal zu verursachen drohte, kam keinesfalls infrage.

„Worauf warten Sie, Mann?“, wandte er sich enttäuscht an den unglückseligen Soldaten. „Kehren Sie in Ihre Kaserne zurück, ehe ich mich eines Besseren besinne und Sie beide auffliegen lasse. Und seien Sie froh, wenn Ihre Abwesenheit nicht bemerkt wurde.“

Hoffnungsvoll schauten die beiden ihn an.

„Also überlegen Sie sich’s anders?“, fragte der Lieutenant.

„Nur wenn Sie sofort von hier verschwinden. Aber zuerst nennen Sie mir Ihren Namen.“

„Danke, Sir. Lieutenant Kendell, Sir.“ Hastig drückte Harry einen letzten Kuss auf Lady Julies Hand und machte sich aus dem Staub.

2. KAPITEL

Die Stirn verwirrt gerunzelt, schaute Lady Julie zu ihm auf. „Warum haben Sie ihn gehen lassen, Sir?“

Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick und wunderte sich, dass sie keine wichtigere Frage stellte. Zum Beispiel, wieso Harry sie ihm anvertraut hatte, ohne sich nach seinem Namen zu erkundigen. Immerhin könnte ich ein berüchtigter Verführer sein …

„Falls Sie es wünschen, werde ich seine Vorgesetzten später informieren“, entgegnete er in schneidendem Ton. Genau das sollte er tun. Angewidert beobachtete er, wie der Lieutenant Fersengeld gab. Unfassbar – würde ein Mann eine junge Dame, die er wahrhaft liebte, so ehrlos behandeln?

„Nein, bitte nicht, Sir!“, flehte sie und packte seinen Arm. „Alles ist meine Schuld. Niemals hätte ich ihn heimlich treffen dürfen. Doch er liebt mich so sehr.“ Ihre zarten Finger gruben sich in seinen Ärmel. „Natürlich weiß ich, meine Zofe hätte mich begleiten müssen, aber nachts sind alle Türen fest verschlossen. Selbstverständlich wollte ich Josie nicht zumuten, aus einem Fenster zu klettern.“

„Also sind Sie aus einem Fenster gestiegen?“ Eine böse Ahnung befiel ihn. „Und wie wollen Sie ins Haus zurückgelangen?“ Wenn er um diese frühe Stunde an die Vordertür klopfen musste, um der jungen Dame Zugang zu verschaffen, wäre der Teufel los.

„Natürlich auf dem gleichen Weg, das stört mich nicht. Allerdings sorge ich mich ein bisschen, weil Josie mir das Rendezvous ausreden wollte. Aber sie ist ja nur ein Dienstbote und muss tun, was ich ihr sage.“

„Und diese Tatsache haben Sie skrupellos ausgenutzt?“

„Eh – ja.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Und sollten Sie irgendwo ausplaudern, ich sei ohne sie hier gewesen, wird man ihr fristlos und ohne Referenzen kündigen. Wie ungerecht wäre das …“ Ihre Augen glänzten feucht. „Das könnte ich nicht ertragen. Und man würde Harry unehrenhaft aus seinem Regiment entlassen. Nur weil ich mich so verantwortungslos benahm …“

Verblüfft sah er, dass ihr eine einzelne Träne über die Wange rollte. Offenbar war ihr abweisendes Verhalten auf dem Ball reine Schauspielerei gewesen. Und Berry hätte nicht so verächtlich von ihr gesprochen, würde er diese Seite ihres Wesens kennen. Nach außen hin kühl und arrogant, musste sie die Minuten gezählt haben, bis sie dem formellen gesellschaftlichen Ereignis würde entrinnen können. Mochte sie auch in den Park geeilt sein, ohne an irgendjemanden außer sich selbst zu denken – nachdem er ihr klargemacht hatte, ihr Leichtsinn könnte anderen empfindlich schaden, erschien ihm ihre Zerknirschung echt.

„Kümmern Sie sich vorerst nicht darum“, empfahl er ihr in brüskem Tonfall, um zu verschleiern, dass er versucht war, ihr zu versprechen, er würde niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. „Nun müssen wir überlegen, wie Sie nach Hause kommen können, ohne dass jemand von Ihrer Eskapade erfährt.“

Sofort erhellte sich ihre Miene. „Also helfen Sie uns, Lord Ledbury?“

Zum ersten Mal redete sie ihn mit seinem Namen an. Trotz der Träne auf ihrer Wange lächelte sie strahlend, und da erkannte er, warum Harry ihr nicht widerstanden hatte. Jeder Mann, durch dessen Adern heißes Blut floss, würde den Zorn seines Kommandanten für die Chance riskieren, ein so hinreißendes Geschöpf zu umarmen – sogar zu küssen.

Und er selbst? Was würde er wagen? Der Gedanke, diesen Rosenknospenmund zu kosten, beschleunigte seinen Puls, und er genoss das Gefühl, wie ein kerngesunder Mann in ganz natürlicher Weise auf die erregende Situation zu reagieren. Allein mit einer bildschönen jungen Frau in einem dunklen Park …

Diese Reaktion erleichterte ihn maßlos. Er hatte seinem Großvater versichert, in medizinischer Hinsicht würde ihn nichts daran hindern, die nächste Cathcart-Generation zu zeugen. Aber seit sein Bein in den Pyrenäen während der Schlacht bei Orthez im Februar 1814 verletzt worden war, hatte er sich nicht für Erotik interessiert. Denn er hatte all seine inneren Kräfte gebraucht, um zu überleben. Erst im Lazarett, dann auf dem qualvollen Transport nach England. Immer wieder ein gefährliches Fieber … Inzwischen war er wieder beweglich genug, um eine baldige Rückkehr in den aktiven militärischen Dienst zu erwägen, was die schockierenden Enthüllungen des Großvaters jedoch abrupt beendeten. Obwohl fast genesen, verspürte er keine Neigung, sich sexuell zu betätigen, auch wenn er mehrere verlockende Angebote erhalten hatte.

Aber jetzt konnte er nicht widerstehen. Behutsam wischte er mit einem Daumen die Träne weg, die inzwischen Lady Julies Kinn erreicht hatte. Als er die weiche warme Haut spürte, strömten Hitzewellen durch seinen ganzen Körper, und ihm stockte der Atem.

So lange hatte er keine Frau in den Armen gehalten, so lange hatte er sich nicht danach gesehnt. Und jetzt war er versucht, der jungen Dame zu gestehen, dass er sich nach einem Kuss sehnte …

Er räusperte sich und riss seinen Blick von den süßen Lippen los. Nun musste er sich wie ein Gentleman verhalten und Lady Julie nach Hause bringen. Sofort.

Doch die Versuchung, die unerwartete reizvolle Begegnung zu verlängern, war zu groß. Und so sprach er den ersten Gedanken aus, der ihm durch den Kopf ging – nun ja, den ersten akzeptablen Gedanken. „Vielleicht würden Sie mir erklären, warum Sie, die Enkelin eines Earls und eine reiche Erbin, sich mit einem Mann von Lieutenant Kendells Status einlässt.“

„Nun reden Sie wie mein Großvater!“

Ihre Verachtung löschte seine Glut so effektvoll wie ein Eimer kaltes Wasser. Wirkte er tatsächlich so alt, dass sie ihn mit ihrem Großvater verglich? Erst jetzt entsann er sich, wie sie zusammengezuckt war, als er sie berührt hatte. Kein Wunder. Glücklicherweise hatte er den Wunsch verschwiegen, sie zu küssen.

„Ständig wirft er mir das vor“, murrte sie, „an nichts anderes kann er denken. Nur an Adelstitel und Reichtum. Nie erlaubt er mir, interessante Leute kennenzulernen. So wütend war er, nachdem ich ihm gestanden hatte, ich würde mich zu Harry hingezogen fühlen. Und sobald er gehört hatte, mein Liebster sei ein bürgerlicher Lieutenant ohne besondere Zukunftsaussichten, befahl er mir, kein Wort mehr mit dem jungen Spund zu wechseln.“

„Was ich für eine sehr kluge Maßnahme halte“, bemerkte Richard, obwohl er es abscheulich fand, den Standpunkt eines Großvaters angesichts jugendlicher romantischer Leidenschaft zu vertreten. „Sie sind viel zu vertrauensselig, Lady Julie. Damit könnten Sie sich schaden. Ein vernünftiges Mädchen sollte erkennen, wie gefährlich es ist, ganz allein einen Mann in einem dunklen Park zu treffen.“

„Das ist es nicht!“, zischte sie. „Oder vielleicht doch. Weil man nicht weiß, welche Leute auftauchen könnten, die einem nachspionieren.“

„Unsinn, ich habe Ihnen nicht nachspioniert!“

„Was denn sonst? Zweifellos sind Sie mit hinterhältigen Absichten hier herumgeschlichen.“

„Keineswegs. Ich konnte nicht schlafen.“ Als sie ihn misstrauisch musterte, fügte er hinzu: „Mein Bein schmerzt. Und diese verdammten Londoner Dienstboten bestehen darauf, dauernd das Kaminfeuer zu schüren, alle Fenster zu schließen, und sie ziehen auch noch die Vorhänge zu. Deshalb musste ich frische Luft schnappen. Allerdings habe ich keine Ahnung, warum ich Ihnen das erzähle.“

Sonderbarerweise war sie irgendwie in sein Seelenleben eingedrungen und bewog ihn zu unbeabsichtigten Mitteilungen.

Entnervt fügte er hinzu: „Ich muss mein Verhalten nicht rechtfertigen und…“

„Nein, Sie sind ja auch ein Mann“, unterbrach sie ihn bitter. „Was immer Männer wollen, können sie tun – ganz egal, wen sie dabei verletzen. Vor niemandem müssen sie sich verantworten.“

„Da täuschen Sie sich. Wenn ein Mann einen gewissen Stolz besitzt, stellt er seine Pflichten über seine Vergnügungen. Zum Beispiel die Pflichten, die er der Krone schuldet, seiner Familie …“

Abrupt verstummte er. Schon wieder hatte Lady Julie ihn veranlasst, seine Gedanken auszusprechen, statt das Gespräch auf ihre Situation zu lenken. Aber welche Worte waren einer Situation angemessen, in der er eine Lady nach einem heimlichen Stelldichein mit einem unpassenden Verehrer heimbringen musste?

Voller Unbehagen schaute er sie an. Offenbar glaubte sie den hübschen jungen Offizier zu lieben. Allzu viel konnte sie nicht über ihn wissen, wenn sie nur kurze Momente zusammen verbracht hatten. Hingen Lady Julies Gefühle eher mit einer schneidigen Uniform zusammen als mit dem Mann, der darin steckte? Das würde ihn nicht überraschen. Wie er aus Erfahrung wusste, übte ein scharlachroter Rock eine unwiderstehliche Wirkung auf naive, leicht zu beeinflussende Frauen aus.

„Da wir gerade von familiären Dingen reden …“, kehrte er entschlossen zum einzig wichtigen Thema zurück. „Vermutlich dachte Ihr Großvater, er würde Sie von Ihrer mädchenhaften Schwärmerei kurieren, wenn er Ihnen in London andere Ablenkungen bietet.“

Nachdem sie ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, eilte sie einen Weg entlang, der Richtung entgegengesetzt, die Richard vorhin eingeschlagen hatte. „Nicht nur das“, betonte sie, als er sie einholte. „Ich hörte, wie er Lady Penrose beauftragte, mich bis zum Ende der Saison zu verheiraten. Wie soll ihr das gelingen, wenn sie mich ausschließlich auf exklusive gesellschaftliche Ereignisse begleiten darf? Da treffe ich nur sterbenslangweilige Leute. Oooh!

Wütend ballte sie die Hände.

„Bevor Harry in die Stadt kam, fühlte ich mich wie ein Kanarienvogel in einem goldenen Käfig. Und seine erste Nachricht …“ Ihre Fäuste lockerten sich. „Regelmäßig gab er Josie Briefe für mich und ließ mich wissen, zu welchen Partys oder Bällen er sich Zugang verschaffen könnte. Wir trafen uns in den Gärten oder in abgeschiedenen Räumen der Häuser, wo die Feste stattfanden, und Lady Penrose ahnte nichts.“

Während sie sich der Mount Street näherten, wünschte Richard, er hätte Lady Julie nicht versprochen, Stillschweigen über das heimliche Rendezvous im Park zu bewahren. Je mehr er über Harry erfuhr, desto verdächtiger erschien ihm der Mann. Sollte er Lady Penrose, die offenkundig unfähige Anstandsdame, vor den zweifellos unlauteren Motiven des Lieutenants warnen? Nein, dann würde Lady Julie ihn für einen der anmaßenden Männer halten, die wie ihr Großvater versuchten, sie zu unterjochen.

Doch sie brauchte wirklich jemanden, der über Harry Bescheid wusste und sie schützte – jemanden, der sich nicht von ihrer arroganten, unnahbaren Fassade täuschen ließ.

„Lady Julie“, begann er, „ich habe Ihnen versprochen, die Ereignisse dieser Nacht für mich zu behalten. Niemals würde ich mein Wort brechen. Aber Sie müssen verstehen, dass ich die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen darf. Wie Sie selbst sagten, haben Sie sich nicht so benommen, wie Sie sollten.“

Argwöhnisch starrte sie ihn an. „Was meinen Sie damit?“

Wenn er das bloß wüsste … Sicher war es die beste Strategie, erst einmal Zeit zu gewinnen. „Heute Nachmittag werde ich Sie aufsuchen und zu einer Fahrt durch den Hyde Park einladen. Dort werde ich Ihnen meinen Plan erklären.“ Wenn er entschieden hatte, was er tun würde.

„Einverstanden.“ Lady Julie reckte ihr Kinn hoch, was ihm verriet, welch erbitterten Widerstand sie ihm leisten würde. „Da sind wir, das ist Lady Penroses Haus.“ Mit einer lässigen Geste wies sie auf ein imposantes Gebäude, bog in einen Weg, der offenbar nach hinten zu den Stallungen führte, und Richard folgte ihr.

Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um. Den Kopf schiefgelegt, betrachtete sie ihn und schien zu überlegen, was sie von ihm halten sollte.

„Sie haben mich erstaunt, Sir“, sagte sie schließlich. „Niemals hätte ich gedacht, Sie wären so … anständig.“

„Und was haben Sie erwartet?“

„Ach, ich weiß nicht … Auf dem Ball kamen Sie mir … gefühllos vor. All die Frauen, die sich Ihnen an den Hals werfen wollten, prallten an ihnen ab wie Wellen an einer Felsenklippe. Und als Sie Harry eine Peitschenstrafe androhten – da nahm ich wirklich an …“ Verlegen unterbrach sie sich. „So grausam sind Sie nicht, oder?“

„Ich habe Männer in den Tod geschickt.“ Keinesfalls sollte sie glauben, seine Nachsicht mit ihr würde auf ein weiches Herz hinweisen.

„Ah, aber das haben Sie nicht genossen. Und das macht einen großen Unterschied.“

Ehe er antworten konnte, raubte sie ihm den Atem, denn sie raffte ihre Röcke und stopfte sie an der Taille in die Schärpe ihres Kleids.

Er wusste, dass er nicht hinschauen durfte. Doch wie konnte er sich von wohlgeformten Beinen abwenden, die in seidenen Kniehosen steckten? Seltsam, denn am Tag zuvor hätte ihn ein solcher Anblick nicht im Mindesten interessiert.

Zu krampfhaft musste er schlucken, um zu fragen, ob sie seine Hilfe brauchte. Doch sie stieg bereits auf einen Pferdetrog. Von dort schwang sie sich auf das Dach eines der niedrigen Ställe. Sie lächelte frech, als sie nach den unteren Zweigen eines knorrigen Apfelbaums griff. „Obwohl Sie sich wie ein Miesepeter aufführen – so sind Sie gar nicht.“

Nach diesen boshaften Abschiedsworten kletterte sie behände hinauf, von einem Ast zum anderen, und bot ihm den erregenden Anblick eines perfekt gerundeten Hinterteils, als sie sich vorbeugte und ein Schiebefenster nach oben stieß. Und dann verschwand sie im Haus.

Einige Minuten lang konnte Richard einfach nur dastehen, nach Luft ringen und die Erregung auskosten. Unverhoffte Gefühle erfassten ihn – als würden ganz neue belebende Kräfte seinen geschundenen Körper durchströmen.

Voller Zorn und Pessimismus hatte er diese Nacht begonnen. Nun wusste er, dass alles mit ihm in bester Ordnung war. Und das verdankte er nicht den raffinierten Künsten einer Hure, sondern seiner natürlichen Reaktion auf die süßen Reize einer jungen Aristokratin. Leise begann er zu lachen. Gut zu wissen, dass es wenigstens eine gab, mit der problemlos die Freuden des Liebesspiels genießen könnte. Er schaute zu dem Schiebefenster hinauf, durch das Lady Julie verschwunden war. Was wohl geschehen mochte, wenn er hinaufklettern würde und …

Da wurde das Fenster geschlossen, und er trat in den tieferen Schatten des Stalls zurück. Er war nach London gekommen, um eine respektable Heirat anzustreben, und sicher nicht, um einen Skandal heraufzubeschwören. Also war die Überlegung, ob die Äste des Apfelbaums sein Gewicht tragen würden, völlig sinnlos.

Immerhin erheiterten ihn solche Gedanken. Grinsend wandte er sich ab und schlenderte davon. Eine nähere Bekanntschaft mit Lady Julie würde ihn zweifellos in beträchtliche Schwierigkeiten bringen. Trotzdem freute er sich auf die nächste Begegnung. Und er wusste nicht mehr, wann er sich zum letzten Mal so lebendig gefühlt hatte.

„Oh Mylady, ich habe mir solche Sorgen um Sie gemacht!“ Josie sprang auf, rannte zum Fenster und zog ihre Herrin ins Zimmer. „Dem Himmel sei Dank – Sie sind wohlbehalten zurückgekommen.“

„Tut mir leid, dass Sie sich gesorgt haben.“ Julie drehte sich um und schloss das Fenster. „Und ich verspreche Ihnen, ich werde mich nie wieder so gedankenlos und leichtfertig und selbstsüchtig benehmen – und nie mehr aus einem Fenster steigen.“

Josie, die Lady Julie als Zofe diente, seit diese zwölf Jahre alt gewesen war, kannte deren Launen nur zu gut. Nun musterte sie ihre junge Herrin mit schmalen Augen. „Was ist geschehen? Irgendetwas, das merke ich Ihnen an. Haben Sie sich mit Ihrem jungen Mann entzweit?“

Julie schüttelte den Kopf. „Nichts dergleichen.“

Oder vielleicht doch? Noch vor Lord Ledburys Einmischung hatte sie sich gefragt, ob es ein Fehler gewesen war, das Haus zu verlassen, um Harry heimlich zu treffen. Die dunklen Fenster der Gebäude, an denen sie vorbeigeschlichen war, hatten den Eindruck erweckt, sie würden drohend auf sie hinabstarren. In wachsendem Unbehagen hatte sie den Park betreten. Dieses nächtliche Abenteuer war etwas anderes gewesen als ein unbemerkter Ausritt oder ein Spaziergang um Darvill Park herum, dem Landsitz ihres Großvaters in Kent. In einem öffentlichen Londoner Park hätte sie allen möglichen Leuten begegnen können.

„Am besten helfe ich Ihnen ins Nachthemd, bevor Lady Penroses Zofe mit Ihrem Frühstück hereinkommt.“ Josie trat hinter ihre Herrin und öffnete die Knöpfe am Rücken des Kleides.

Währenddessen schlüpfte Julie aus der Kniehose. Sie hatte sich bereits beklommen gefühlt, als sie den Park betrat. Noch unbehaglicher war ihr zumute gewesen, weil Harry nicht wie üblich ihre Hand ergriffen und Liebesworte gemurmelt hatte. Stattdessen hatte er sie neben sich auf eine Bank gezogen und in seine Arme gerissen.

„So kann es nicht weitergehen, meine Liebste.“ In seiner Stimme hatte tiefe Verzweiflung mitgeschwungen. „Wir müssen zusammen durchbrennen.“

Ehe sie protestieren konnte, hatte er sie auf den Mund geküsst. Viel zu fest hatte er sie an sich gepresst, sodass sie kaum zu Atem gekommen war. So hatte sie sich ihren ersten Kuss nicht vorgestellt.

Und ich habe ihm gar nicht erlaubt, mich zu küssen, dachte sie empört, als sie aus ihrem Kleid stieg. Harry war einfach über sie hergefallen.

Nun fiel es ihr vor lauter Zorn schwer, stillzuhalten, während die Zofe ihr das Mieder aufschnürte. Welch ein Glück, dass Lord Ledbury rechtzeitig erschienen war, um sie zu retten … Gebieterisch hatte er den Zwischenfall beendet und sie dann nach Hause begleitet. Als wäre es ganz selbstverständlich, kurz vor Tagesanbruch mit einer Person, die er soeben in einer kompromittierenden Situation ertappt hatte, durch Londoner Straßen zu gehen.

Josie streifte ihr das Nachthemd über den Kopf. Dann sank Julie bedrückt auf den Stuhl vor dem Toilettentisch.

Bis der Viscount angekündigt hatte, er würde Harry anzeigen und dem jungen Mann mochte sogar die Peitsche drohen, war sie nie auf den Gedanken gekommen, andere Menschen könnten für ihr ungebührliches Verhalten büßen. Unbekümmert hatte sie alle Regeln missachtet, in der Gewissheit, man würde sie milde bestrafen. Vielleicht würde Lady Penrose ihr ein paar Abende lang Partys oder Bälle verbieten, was keine Strafe wäre. Schlimmstenfalls würde man sie nach Kent zurückschicken, eher eine Belohnung …

Erst der grimmige Viscount hatte ihr klargemacht, wie schmerzlich ihr Leichtsinn anderen schaden könnte. Niemals würde sie sich verzeihen, wenn Josie ihre Stellung verlieren würde oder Harry sein Regiment unehrenhaft verlassen müsste. Glücklicherweise hatte Lord Ledbury ihr versprochen, niemandem zu verraten, was heute Nacht geschehen war.

Sie seufzte und tätschelte Josies Hand, als die treue Zofe ihr das Haar zu bürsten begann, bevor sie es in einzelne Strähnen teilte und zu den Zöpfen flocht.

Oh Gott, warum war ich so selbstsüchtig? Angewidert betrachtete Julie ihr Spiegelbild.

In letzter Zeit versicherten ihr die Leute immer wieder, sie würde ihrem Vater ähneln. Und sie tuschelten, sie sei auch genauso kalt und herzlos. Wegen der ausdruckslosen Miene, die sie jahrelang perfektioniert hatte.

Aber wie ein Mensch wirklich war, konnte man nicht erkennen, wenn man ihm einfach nur ins Gesicht schaute. Wie sehr hatte sie sich in Lord Ledbury getäuscht … Auf Lucy Beresfords Ball war er ihr wie ein äußerst unsympathischer Zeitgenosse erschienen. Kein einziges Mal hatte er gelächelt, obwohl er von vielen Gästen hofiert worden war.

So arrogant hatte er sich benommen. Als würde er Lucys Bruder einen ungeheuren Gefallen erweisen, weil er sich auf diesem Ball zum ersten Mal seit dem Antritt seines Erbes in der Öffentlichkeit zeigte. Wie albern fand sie Lucys Schwärmerei von diesem „fabelhaften Kriegshelden“… Und er sah genauso grimmig wie ein Mann aus, dem es Spaß machte, Blut zu vergießen. Ist das etwa heroisch, hatte sie sich gefragt.

Doch er war nicht grausam. Würde er es genießen, andere ins Verderben zu stürzen, hätte er ihren Ruf ruiniert, Harrys militärische Karriere zerstört und unbarmherzig bewirkt, dass Josie mittellos auf der Straße gelandet wäre. Das hatte er nicht getan.

Julie musterte erneut ihre kühle Miene und fühlte sich ein wenig getröstet. Mochte sie ihrem Vater auch ähnlich sehen, in ihrem Herzen – und darauf kam es an – glich sie ihm nicht.

Oder doch? Unwillkürlich erschauerte sie.

„Jetzt dauert es nicht mehr lange, und Sie können sich ins warme Bett kuscheln, Mylady“, versprach Josie, da sie annahm, dass ihre Herrin fröstelte.

Lady Julie klärte das Missverständnis nicht auf. Die Sorgen ihrer Zofe wollte sie nicht noch schüren, indem sie die Ereignisse vor Tagesanbruch schilderte. Ebenso wenig würde sie irgendjemandem anvertrauen, was Lord Ledburys Nachsicht mit ihr bewirkte: die Erkenntnis, dass sie seine Verachtung verdiente, denn sie hatte sich genauso egoistisch und rücksichtslos verhalten wie damals ihr Vater.

Nun ertrug sie den Blick in den Spiegel nicht mehr. Hatte sie Harry tatsächlich ermutigt, sie zu lieben, sodass er ihretwegen seine Karriere riskierte? So wie ihr Vater, ein berüchtigter Schürzenjäger, skrupellos zahlreiche Frauen in den Ruin getrieben hatte, die dummerweise seinem attraktiven Gesicht und seinem Charme erlegen waren?

Aber Lord Ledbury wollte sie an einem solchen Fehler und an einem weiteren Treffen mit Harry hindern. Ohne Umschweife hatte er bekundet, dass er eine Beziehung zwischen einer Aristokratin und einem mittellosen bürgerlichen Lieutenant entschieden missbilligte.

Autor

Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
Mehr erfahren
Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
Mehr erfahren