Verliebt in den Günstling der Krone

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England, 1526. Nie hat Rebecca den fantasievollen, betörend attraktiven Nachbarsjungen Phillip Hurst vergessen, den es mit aller Macht zur Bühne zog. Von Ferne verfolgte die junge Witwe seine Schauspielkarriere und träumte nachts von seinen Küssen. Als er plötzlich nach Jahren leibhaftig vor ihr steht, unwiderstehlicher denn je, weist sie ihn dennoch ab - sie weiß, wie die Damen bei Hofe sich um ihn drängen, und will sich nicht das Herz brechen lassen. Doch dann zwingt eine gefährliche Familienintrige sie, ein Stück mit Phillips Truppe zu reisen, und während sie sich von Tag zu Tag mehr zu ihm hingezogen fühlt, spürt sie, dass er es ehrlich mit ihr meint. Aber sind seine Gefühle tief genug, um für Rebecca auf das unstete, aufregende Künstlerleben zu verzichten?


  • Erscheinungstag 24.11.2015
  • Bandnummer 319
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764036
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Oxfordshire, September 1526

Rebecca lehnte sich an einen Baumstamm und biss in einen Apfel, ohne dabei den Blick von den Schauspielern auf der Wiese abzuwenden. Sie stand ein wenig abseits von den anderen Zuschauern, die jetzt laut auflachten, weil der Mann, der ein altes Weib darstellte, eine derbe Bemerkung gemacht hatte.

Das lustige Theaterstück weckte Erinnerungen an ihre Kindheit, insbesondere an einen bestimmten Tag, den sie auf der Schiffswerft in Deptford an der Themse verbracht hatte. Damals hatte man ihren Vater als Zimmermann auf der Hurst-Werft angestellt, wo ein Schiff gebaut wurde, das Henry VIII in Auftrag gegeben hatte, um seine Kriegsflotte zu vergrößern.

Seit sie acht Jahre alt war, hatte ihr Vater sie jedem Sommer mitgenommen nach Deptford. Rebecca hielt sich gern dort auf, was zweifellos auch mit Phillip Hurst, genannt Pip, zu tun hatte.

In jenem Sommer, sie zählte inzwischen vierzehn Jahre, war sie am liebsten im Hintergrund geblieben, um Pip unauffällig bei der Arbeit beobachten zu können. Eine Mischung aus Vergnügen und Schuldgefühlen hatte sie damals erfüllt, an die sie sich jetzt plötzlich genau erinnerte. Pip war der jüngste der Hurst-Brüder. Kraftvoll hatte er unter der Anleitung seines Vaters einen Hammer geschwungen. Die Anspannung seiner Arm- und Rückenmuskeln war deutlich zu sehen gewesen, und Schweiß hatte sein blondes Haar dunkler gefärbt.

Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit war sie fasziniert gewesen. Er sah nicht nur unverschämt gut aus, sondern verfügte noch über andere Vorzüge. Wenn er es darauf anlegte, war er wortgewandt genug, um sich gewisse Vorteile zu verschaffen. Seine wohlklingende Stimme hatte ihr Herz schneller schlagen lassen. So hingerissen war sie von Pip gewesen, dass sie ihn wochenlang kaum aus den Augen gelassen hatte.

Das war nun zehn Jahre her. Wie jung und wie leicht zu beeindrucken war sie damals gewesen! Ach, jene Zeit liegt lange zurück, dachte Rebecca traurig.

Warum gestattete sie ihren Gedanken überhaupt, so abzuschweifen? Gerade hatte sie tatsächlich eine Bemerkung verpasst, die die Zuschauer sehr erheitert hatte. Sie wollte sich auf das Stück konzentrieren, denn schließlich war sie nur in Witney geblieben, um sich an der Aufführung zu erfreuen. Viel zu selten hielt das Leben eine so gute Unterhaltung bereit. Es wäre dumm gewesen, darauf zu verzichten.

Und dann war das Stück auch schon zu Ende. Die Schauspieler verbeugten sich. Der Mann, der das alte Weib gespielt hatte, schaute zu ihr hin und zwinkerte ihr dreist zu. Sie errötete und wandte den Blick ab.

Bald würde das Fest mit neuen Attraktionen weitergehen. Verschiedene Leckerbissen warteten darauf, verspeist zu werden. Aber Rebecca konnte und wollte nicht länger in Witney bleiben. Sie musste vor Einbruch der Dunkelheit Minster Draymore erreichen. Zum Glück lag das Dorf nicht allzu weit entfernt.

Rebecca hatte gerade die Kirche Saint Mary’s hinter sich gelassen, als sie hörte, wie jemand ein wenig atemlos ihren Namen rief. Beinahe im gleichen Moment griff jemand nach ihrer Schulter und hielt sie fest. Erschrocken fuhr sie herum – und starrte in ein Paar saphirblaue, mit Kajal umrandete Augen.

„Becky Mortimer! Bei allen Heiligen, du bist es tatsächlich!“

Es war eindeutig die Stimme eines Mannes. Und obwohl Rebecca das vage Gefühl hatte, ihn zu kennen, verspürte sie so große Angst, dass sie kein Wort über die Lippen brachte.

„Was ist los, Becky? Erkennst du mich nicht?“ Er zog die Perücke vom Kopf, und feuchtes blondes Haar kam zum Vorschein.

Ihre Angst verflog, und fasziniert beobachtete Rebecca, wie er die Perücke unter den Umhang schob, den er sich über den Arm geworfen hatte. „Erinnerst du dich jetzt an mich?“, fragte er sanft.

„Pip … Pip Hurst“, krächzte sie.

„Ja.“ Er nickte. „Als ich dich fortgehen sah, spürte ich, dass ich unbedingt mit dir reden wollte.“

Schlagartig war die alte Vertrautheit wieder da. Aber auch eine gewisse Vorsicht. „Es wundert mich, dass du mich nach all den Jahren überhaupt erkannt hast. Ich denke, ich habe mich ziemlich verändert“, stellte Rebecca fest.

„Das hast du tatsächlich.“ Pip musterte ihr Gesicht, ihren schlanken Hals, den fein geschwungenen Nacken und schließlich ihre Brüste, die sich deutlich unter dem Mieder abzeichneten. „Du bist zu einer richtigen Frau geworden.“

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und erklärte spröde: „Alles andere wäre sehr seltsam, Pip. Schließlich bin ich inzwischen genau wie du vierundzwanzig Jahre alt. Du hast dich äußerlich ebenfalls verändert. Die Gewohnheit, mich in Verlegenheit zu bringen, hast du allerdings nicht abgelegt.“

Er lachte, wurde aber rasch wieder ernst. „Du wirkst überhaupt nicht verlegen. Und ich habe niemals vergessen, dass du das hübscheste Mädchen warst, dem ich je begegnet bin.“

„Du willst mir schmeicheln, genau wie damals.“

„Ich sage nur die Wahrheit.“

Seine Worte klangen so ehrlich, dass ihr Herz einen Sprung machte. Noch einmal rief sie sich jene lang vergangene Zeit in Erinnerung. Eine besondere Episode fiel ihr ein. Und plötzlich war es, als sei all das erst gestern geschehen.

„Ich weiß noch, wie du einmal vor den Werftarbeitern in der Mittagspause deine persönliche Version der Geschichte von Robin Hood zum Besten gegeben hast“, sagte Rebecca. „Du hast verschiedene Rollen übernommen und mit verstellter Stimme gesprochen. Alle haben sich köstlich amüsiert.“

„Schön, dass du ein wenig Spaß an meiner Erzählung hattest. Denn du warst ein viel zu ernstes Kind“, erwiderte Phillip.

„Ich glaubte, ich hätte einen Grund, mir Sorgen zu machen“, erklärte sie. „Erinnerst du dich, dass der König zu Besuch auf der Werft erwartet wurde? Henry hatte alle Geschichten über Robin Hood verbieten lassen. Denn er und die Adligen fürchteten, die einfachen Leute würden sich womöglich ein Beispiel an Robin und seinen Mannen nehmen und die Reichen berauben, um den Armen zu helfen.“

„Niemand kann verhindern, dass eine gute Geschichte wieder und wieder erzählt wird, selbst der König nicht“, stellte Phillip fest. „Aber ich weiß noch, dass dir das Ende meiner Erzählung nicht gefiel.“

Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. „Du hast mich aufgefordert, ehrlich zu sein, wenn ich etwas zu kritisieren hätte.“

„Allerdings. Denn ich war dumm genug zu glauben, du würdest mir gegenüber Nachsicht zeigen.“ Seine Miene drückte Bedauern aus, und sein Blick ruhte so intensiv auf ihrem Gesicht, als hoffe er, ihre Gedanken lesen zu können.

Sie hatte nicht vergessen, dass sie in jenem Sommer das Gefühl gehabt hatte, er könnte mit einem Blick tief in ihre Seele eindringen. Wenn er sie damals so anschaute, war sie nicht mehr in der Lage gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Meine Kritik war nicht unfair“, stellte sie steif fest.

Er kreuzte die Arme vor der Brust. „Zuerst hast du gestammelt, dass du an meinem Talent als Geschichtenerzähler nichts auszusetzen hast. Und dann hast du hinzugesetzt: ‚Aber das Ende der Geschichte war unglaubwürdig‘.“

„Du hast mich genauso angesehen wie jetzt und mir heftig widersprochen.“

„Woraufhin du empört gerufen hast: ‚Aber im wirklichen Leben geschieht so etwas nicht‘.“

Phillip hatte ihre Stimme so gut imitiert, dass Rebecca noch mehr errötete. „Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Wie hätte ich ahnen können, dass du dich darüber so aufregen würdest!“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Du hast mir vorgeworfen, ich wolle, dass die Geschichte tragisch ausgeht. Dann hast du ein Ende erfunden, bei dem Robin im Kerker stirbt und Maid Marian vom Sheriff of Nottingham Gewalt angetan wird.“

„Es tut mir leid, wenn ich dich damals aus der Fassung gebracht habe, Becky.“

Ihre Freude über diese unerwartete Entschuldigung war von kurzer Dauer. Denn Phillip machte sie gleich wieder zunichte, indem er sagte: „Gib zu, Becky, dass du erst zufrieden gewesen wärst, wenn Robin zumindest auf einen Kreuzzug gegangen und gefallen wäre. Maid Marian hätte dann den Schleier genommen und den Rest ihres Lebens hinter Klostermauern verbracht. Dir fehlte einfach das Vertrauen in uns Männer. Nicht einmal unserem Helden Robin Hood hast du zugetraut, dass er verantwortungsvoll für seine Liebste sorgen und sie glücklich machen würde.“

Rebecca wusste, dass er sie nur necken wollte, aber aus irgendeinem Grund konnte sie auf seinen leichten Ton nicht eingehen. „Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es im wahren Leben nur sehr wenige echte Helden gibt. Allerdings muss ich dein gutes Gedächtnis loben, Pip.“

„Wer Theater spielt, braucht schon deshalb ein gutes Gedächtnis, weil er sich seinen Text merken muss“, gab er zurück.

„Hm … Du kannst dich glücklich schätzen, weil du deinen Traum verwirklichen und Schauspieler werden konntest. Ich weiß noch, wie sehr du die Arbeit auf der Werft verabscheut hast.“

Noch immer schaute er sie an. „Und ich weiß noch, wie sehr du die Männer auf der Werft angehimmelt hast. Besonders meinen Bruder Nicholas. Du bist vor Bewunderung errötet, wenn er dir auch nur zunickte.“

„Ganz bestimmt nicht!“, widersprach sie. „Er ist mir nur deshalb aufgefallen, weil er beabsichtigte, die Werft zu verlassen, um auf Forschungsreise zu gehen – was er ja auch getan hat.“ Rebecca fand, dass es an der Zeit sei, die Unterhaltung zu beenden. Also verabschiedete sie sich von Phillip und ging weiter.

„Sag die Wahrheit!“, rief er ihr nach. „Für dich war er ein Held, weil er fremde Länder erforschen wollte. Du warst sehr verliebt in ihn.“

„Und wenn schon!“, gab sie scheinbar unbekümmert zurück. Was schadete es schon, wenn Pip das glaubte. Hauptsache, er ahnte nicht, dass sie in Wirklichkeit ihn angehimmelt hatte.

Phillip Hurst holte sie ein und griff nach ihrem Arm. „Trotzdem hast du einen anderen geheiratet. Du hast nicht auf Nicholas gewartet“, stellte er fest, als sein Blick auf ihren Ehering fiel.

Rebecca seufzte. „Giles Clifton hat mich gebeten, seine Frau zu werden. Master Nicholas hingegen brachte mir kein echtes Interesse entgegen. Er hatte andere Träume. Und nun lass mich los. Du tust mir weh!“ Heftig entzog sie ihm ihren Arm.

Er ließ sofort von ihr ab und meinte stirnrunzelnd: „Schade, dass Frauen nicht Schauspieler werden dürfen. Du vergisst niemals deinen Text.“

„Was soll das nun wieder heißen, Master Hurst? Ich verstehe nicht, was du meinst. Doch da ich vor Einbruch der Dunkelheit Minster Draymore erreichen muss, sage ich dir nun endgültig Adieu.“ Rasch ging sie weiter, und als sie die letzten Häuser von Witney hinter sich gelassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte noch einmal.

Phillip ließ sich nicht abschütteln. „Vielleicht sollte ich dich daran erinnern“, meinte er, „dass du einmal gesagt hast, Schauspieler seien ganz gewiss nicht aus dem Stoff gemacht, der wahre Helden hervorbringt.“ Er zog sie an sich.

Fest blickte sie in seine blauen Augen. „Es tut mir leid, Pip, wenn ich dich damals gekränkt habe. Ich hatte nur dein Bestes im Sinn, auch wenn du das nicht glauben wolltest. Jetzt allerdings gratuliere ich dir noch einmal dazu, dass du deinen Traum verwirklichen konntest. Ich habe gesehen, wie du vor dem König aufgetreten bist, ganz so, wie du es dir damals geschworen hast.“

Er sah erstaunt drein. „Wann war das?“

„Es war während der Weihnachtsfeierlichkeiten im Greenwich Palast. Mein Bruder Davy, der Musiker, hatte dafür gesorgt, dass mein Ehemann und ich eine Einladung erhielten.“

„Warum hast du mich nicht begrüßt?“

Sie wollte ihm nicht gestehen, dass sie gefürchtet hatte, er würde sie nicht erkennen. Es wäre so beschämend gewesen! „Es standen genug Frauen um dich herum, die dich bewunderten. Warum hätte ich mich unter sie mischen sollen?“, entgegnete sie leichthin.

Er runzelte die Stirn. „Es wäre deinem Gatten wohl auch nicht recht gewesen. Hältst du mich noch immer für einen Dummkopf, weil ich lieber als Schauspieler leben will, statt Schiffe für unseren König zu bauen?“

„Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals einen Dummkopf genannt zu haben. Es stimmt allerdings, dass der Beruf des Bootsbauers in meinen Augen der erstrebenswertere ist. Er garantiert ein sicheres Auskommen.“

„Mir ging es nicht um Sicherheit. Ich suchte das Abenteuer. Tatsächlich musste ich warten, bis mein Vater starb, ehe ich mir meinen Wunsch erfüllen konnte, Becky.“ Er gab sie endlich frei und trat einen Schritt zurück. „Ich nehme an, dir erging es ähnlich. Der Tod deines Vaters schenkte dir die Freiheit, die Frau zu werden, die du jetzt bist.“

„Freiheit hat einen hohen Preis, Master Hurst.“ Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern setzte ihren Weg mit großen Schritten fort. Im Laufe der Jahre hatte ihre Freundin Lady Beth Raventon sie gelegentlich mit Neuigkeiten über die Hursts versorgt. So hatte sie erfahren, dass Phillip lange auf die ersehnte Freiheit hatte warten müssen. Sogar nach dem Tod seines Vaters hatte er sich in Geduld fassen müssen. Nicholas, der mittlere der Brüder, hatte seinen Traum, als Forschungsreisender zu leben, wahrmachen können, weil sein Pate ihm ein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Pip besaß kein Eigentum. Sein Bruder Christopher, der die Werft geerbt hatte, hatte darauf bestanden, dass er zunächst die Lehre als Schiffsbauer abschloss. Bis vor sieben Jahren hatte er auf der Werft arbeiten müssen.

Rebecca erinnerte sich, dass ungefähr zur gleichen Zeit ihr Vater gestorben war. Sein Tod hatte dazu geführt, dass sie endlich ihren fünf Jahre älteren Bruder Davy wiedersah, der sich mit seinem Vater überworfen hatte. Fest entschlossen, ein bekannter Musiker zu werden, hatte Davy sich geweigert, seine Schreinerlehre abzuschließen, und war aus dem väterlichen Haus geflohen. Zunächst hatte er seinen Lebensunterhalt mit kleinen Auftritten auf Märkten oder bei Kirchenfesten bestritten. Schließlich hatte er einen Mäzen gefunden, der dafür sorgte, dass er auch vor Adligen musizieren durfte.

Davy war es gewesen, der sie gedrängt hatte zu heiraten. Er hatte ihr sogar eine kleine Mitgift ausgesetzt. Und so war sie Giles Cliftons Gattin geworden. Doch Giles, ein kräftiger junger Steinmetz, fleißig und gutherzig, war nach kurzer Ehe völlig unerwartet bei einem Unfall ums Leben gekommen. Eine Wand war eingestürzt und hatte ihn unter sich begraben. Obwohl Rebecca ohne Kinder, ohne Vermögen und ohne Einkommen zurückgeblieben war, hatte sie lange um ihn getrauert.

Da Davy unterdessen eine Stellung am Hof der jungen Prinzessin Mary gefunden hatte und sie nicht bei sich aufnehmen konnte, war Rebecca zu Giles’ Schwester Jane gezogen. Diese war mit einem verwitweten Steinmetz verheiratet und lebte mit ihm und seinen zwei Töchtern aus erster Ehe in Oxford. Simon Caldwell und Jane hatten auch einen gemeinsamen Sohn, den kleinen James. Als Jane erneut schwanger wurde, war sie dankbar, dass Rebecca ihr im Haushalt half.

„Wohin gehst du?“

Phillips Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Schweigend eilte sie weiter. Wie dumm, dass sie das Fest in Witney nicht zusammen mit Simon und den Kindern verlassen hatte! Selbst als Phillip einen leisen Fluch ausstieß, widerstand sie der Versuchung, sich umzuschauen, um herauszufinden, was ihn zu solch derben Worten veranlasst hatte. Es gab nichts mehr, über das sie mit ihm hätte reden wollen. Außerdem durfte sie nicht länger trödeln, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein wollte.

„Mir ist aufgefallen, dass du nicht mehr stotterst.“

Er schien sie schon fast wieder eingeholt zu haben. Sie erschrak und musste sich große Mühe geben, in ruhigem Ton zu sagen: „Ich habe nur gestottert, Master Hurst, wenn mein Vater mich tadelte oder wenn ich, ohne nachzudenken, aussprach, was mir in den Sinn kam. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, solche Situationen zu vermeiden. Wenn ich damals so klug gewesen wäre wie heute, hätte ich mich von dir nicht drängen lassen, dir meine Sorgen und Nöte anzuvertrauen.“

„Ich verstehe sehr gut, dass dein Vater dir Angst eingejagt hat. Er war kein freundlicher Mensch.“

Nun wandte sie sich doch um. Der Anblick, der sich ihr bot, unterbrach ihren Gedankengang. Phillip trug noch sein Theaterkostüm und hatte sich auch noch nicht alle Schminke aus dem Gesicht gewischt. Impulsiv wollte sie einen rosa Fleck neben seinen Lippen fortwischen. Gerade noch rechtzeitig zog sie die Hand zurück. „Ich erinnere mich, dass sich der boshafte Humor meines Vaters auch einige Male gegen dich gerichtet hat.“

„Humor? Sarkasmus wäre wohl passender. Mehr als einmal hätte ich ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst. Er war ein wirklich unangenehmer Mensch, aber ein hervorragender Zimmermann. Glücklicherweise musste ich ihn nie länger als ein paar Monate am Stück ertragen. Das größte Problem war, dass man nie wusste, wann oder warum er wieder in eine seiner unerträglichen Stimmungen verfallen würde.“

„Für vieles hat er den Teufel verantwortlich gemacht. Aber er schimpfte auch oft auf die Frauen, die angeblich an allem schuld waren.“ Finster setzte Rebecca hinzu: „Du weißt vermutlich, dass meine Mutter uns verließ, als ich noch ein kleines Kind war. Mein älterer Bruder Davy behauptet, Vater sei immer reizbar gewesen. Doch erst nachdem Mutter fort war, sei er hart, bitter und misstrauisch geworden. Deshalb hat er mich wohl auch so gut wie nie aus den Augen gelassen. Er nahm mich mit, wo auch immer er Arbeit fand. Ich habe nie verstanden, warum er fürchtete, ich würde fortlaufen, um meine Mutter zu suchen, obwohl sie uns doch im Stich gelassen hatte.“

Phillip runzelte die Stirn. „Nichts davon war mir bekannt. Ich habe stets angenommen, dein Vater sei verwitwet. Du sagst, deine Mutter hätte euch verlassen? Dann weißt du wohl sehr wenig über sie?“

„Ich erinnere mich, dass ich als kleines Kind große Sehnsucht nach ihr hatte und mich oft in den Schlaf weinte. Später habe ich dann alle möglichen Leute nach ihr gefragt. Jemand behauptete, ein anderer Mann sei in die Geschichte verwickelt gewesen. Als mein Vater erfuhr, dass ich mich nach ihr erkundigt hatte, bekam ich Prügel. Von da an wagte ich nicht mehr, Fragen nach ihr zu stellen.“ Sie erschauerte. „Es kam mir vor wie ein böser Traum, und irgendwann begann ich meine Mutter zu hassen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhält oder mit wem sie zusammen ist. Und ein Teil von mir möchte es auch gar nicht wissen.“

„Dein Zorn ist verständlich. Es muss schwer sein, ohne die warme Zuneigung einer Mutter aufzuwachsen. Immer wenn mein Vater mich schlug, weil ich schon als kleiner Junge seinen Erwartungen nicht gerecht wurde, konnte ich anschließend Zuflucht bei meiner Mutter finden. Ihm gefiel es natürlich gar nicht, dass sie mich auf den Schoß nahm und mich ermutigte, Geschichten zu erfinden und Theater zu spielen. Vor drei Jahren ist sie gestorben. Sie fehlt mir noch immer.“

Er unterbrach sich, um sich die restliche Schminke abzuwischen. Dann wechselte er das Thema. „Es stimmt leider, dass ich deine Offenheit damals nicht wirklich gewürdigt habe. Tatsächlich trafen deine kritischen Worte mich mitten ins Herz. Ich fühlte mich in meinem Stolz gekränkt.“ In seiner Stimme klang eine Spur Selbstironie mit. „Ehrlich gesagt: Ich habe mich immer für einen Helden gehalten habe, sobald ich in eine entsprechende Rolle schlüpfte.“

Rebecca lächelte. „Kein Wunder! Schließlich entsprachst du mit deinem muskulösen Körper und deiner beeindruckenden Ausstrahlung auch meiner Vorstellung von einem Helden, und zwar schon als du gerade erst vierzehn warst.“

Phillip verdrehte die Augen. „Du brauchst gar nicht zu versuchen, mich mit Schmeicheleien von der Kritik abzulenken, die du vor Jahren geäußert hast.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich hatte deine Grübchen fast vergessen. Du solltest wirklich öfter lächeln. Du siehst dann viel hübscher aus.“

„Du bist wohl fest entschlossen, mich wieder in Verlegenheit zu bringen?“, meinte sie und senkte den Blick. „Obwohl … Ich bin mir nicht sicher, ob diese Bemerkung nicht eher eine Beleidigung als ein Kompliment war.“

„Es war ein Kompliment“, verkündete er ernst. „Und hier kommt gleich noch eins: Du warst mutig. Nicht viele Mädchen haben es gewagt, mich offen zu kritisieren. Du jedoch hast zu deiner Überzeugung gestanden. Und das, obwohl du mich anfangs immer an ein ängstliches Mäuschen erinnert hast, weil du dich unsichtbar machen wolltest, sobald ich auf der Bildfläche erschien. Übrigens haben deine Worte mich dazu angestachelt, nicht nur ein erfolgreicher Geschichtenerzähler zu werden, sondern auch etwas Heldenhaftes zu tun oder zumindest den Helden zu spielen.“

„Du wolltest etwas Heldenhaftes tun? Weshalb?“

Ihre Blicke trafen sich. „Das solltest du eigentlich wissen. Wegen Nicholas natürlich. Ich habe ihn immer bewundert und wollte ein Held wie er sein.“

Ihr Lächeln vertiefte sich. „In dem Stück heute hast du nicht den Helden gespielt.“

„Richtig.“ Um seine Lippen zuckte es. „Allerdings erfordert es durchaus Mut von einem Mann, in Frauenkleidung zu schlüpfen.“

Um nicht laut aufzulachen, biss sie sich auf die Unterlippe. Zu deutlich erinnerte sie sich an seine Mimik, sein wildes Gestikulieren, seinen gezierten Gang und seine verstellte Stimme während des Theaterspiels. Die Erinnerung daran war so amüsant, dass sie vergaß, dass sie Pip auf Abstand hatte halten wollen. „Du hast eine überzeugende Vorstellung gegeben“, lobte sie und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Es ist uns also gelungen, dich gut zu unterhalten?“

„Ja, ich kann es nicht leugnen.“ Und neugierig setzte sie hinzu: „Übernimmst du immer die Frauenrollen?“

Er verzog das Gesicht. „Früher ja, aber jetzt nicht mehr. Ich musste für einen erkrankten Kollegen einspringen.“

„Ich werde Sie weiterempfehlen, Mrs Hurst“, neckte sie ihn.

Er knickste.

Nun konnte sie ihr Lachen nicht länger unterdrücken. „Du hast dich abwechselnd in dieses alte Weib verwandelt und in die junge Schönheit. Ich hätte dich nicht erkannt, wenn du mich nicht angesprochen hättest.“

Ihre Bewunderung schmeichelte ihm. „Dann waren meine Kostüme also ebenso gut wie mein Spiel? Nun, ich habe dir ja immer gesagt, dass ich ein Naturtalent bin.“

„Oh ja. Du gibst eine so nette Frau ab!“

Phillip wurde wieder ernst. „Um ehrlich zu sein: Ich schreibe lieber, als dass ich eine Rolle übernehme. Aber es macht mir nichts aus, in Frauenkleider zu schlüpfen. Wenn dich mein Aufzug jedoch stört, ziehe ich mich rasch um.“

Ehe sie noch etwas erwidern konnte, hatte er den Umhang fallen lassen und die Verschnürung des Mieders geöffnet.

„Ich schäme mich nicht deinetwegen“, versicherte Rebecca ihm. Tatsächlich konnte sie den Blick nicht von dem gut gebauten Mann abwenden, dessen Muskeln noch genauso kräftig waren wie damals, als sie ihn beobachtet hatte, wenn er Axt und Hammer schwang.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich aus dem Frauenkleid schälte. Einen Moment lang stockte ihr der Atem beim Anblick seiner engen Beinkleider, die nichts verbargen. Er war sehr gut gebaut.

Ich war verheiratet, bin eine erfahrene Frau und brauche nicht schamhaft zu Boden schauen, sagte sie sich.

Phillip schaute sie leicht amüsiert an, ehe er sich bückte, um den Umhang aufzuheben und ihn über die Schulter zu werfen. Das Kleidungsstück reichte bis über die Knie. Phillip schloss es am Hals mit einem Band, nahm dann das Frauenkleid und klemmte es sich zusammen mit der Perücke unter den Arm.

„Wo ist dieses Minster Draymore, und warum begleitet dein Mann dich nicht?“, wollte er wissen.

Die Frage traf sie unvorbereitet, und einen Moment lang starrte sie Phillip schweigend an. „Ich bin verwitwet“, erklärte sie dann. „Wusstest du das denn nicht?“

„Verzeih mir, dass ich dir mein Beileid nicht eher ausgesprochen habe. Ich hatte ganz vergessen, dass vor einiger Zeit irgendwer erwähnt hat, dass du deinen Gatten verloren hast. Es muss Sir Gawain gewesen sein. Oder vielleicht seine Gemahlin Lady Beth Raventon. Es tut mir leid, dass dein Mann gestorben ist. Ich hätte es nicht vergessen dürfen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Warum hättest du daran denken sollen? Wir haben uns seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und wenn wir uns heute nicht zufällig getroffen hätten, hättest du wahrscheinlich keinen Gedanken an mich verschwendet.“

Er verzog die Lippen. „Warum stellst du dich selbst als so unwichtig hin? Unser Gespräch muss dir doch bewiesen haben, dass ich dich nicht vergessen konnte.“

Sie errötete, weil sie annahm, er wolle ihr schmeicheln. Dabei war sie fest entschlossen, nie wieder auf seine süßen Worte hereinzufallen. „Ich habe nicht daran gedacht, dass deine Familie mit den Raventons befreundet ist“, versuchte sie das Thema zu wechseln.

„Sie erzählten, dass du in Oxford lebst. Was also hat dich nach Minster Draymore geführt?“

„Mein Schwager Simon Caldwell. Er hält sich mit seinen Kindern dort auf. Sie alle warten jetzt ungeduldig auf mich. Ich muss mich beeilen. Aber ich brauche keinen Begleiter. Geh also ruhig zurück nach Witney. Solange man dort feiert, Master Hurst, halten sich bestimmt alle Taschendiebe und Raufbolde in Witney auf. Auf dem Weg nach Minster Draymore droht mir also keine Gefahr.“

„Ich werde nicht zulassen, dass du allein weitergehst, auch wenn meine Begleitung dir nicht recht ist. Es wird bald dunkel, da sollte eine Frau nicht allein unterwegs sein. Und bitte, nenn mich nicht Master Hurst. Das erinnert mich immer an meinen Vater.“

„Aber es wäre die korrekte Anrede für dich!“, protestierte sie.

„Das stimmt. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du mich Phillip nennen würdest.“

„Phillip …“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Nicht Pip? Wenn ich darüber nachdenke, erscheint beides mir nicht richtig. Schließlich war dein Vater der Arbeitgeber des meinen. Deine Familie steht also über der meinen.“

„Unsinn! Wir sind alte Freunde, Becky. Und unsere Väter sind beide tot.“

„Trotzdem … Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den meisten Männern lieber ist, wenn sie sich einer Frau überlegen fühlen. Sie lassen sich gern mit Master Irgendwas anreden. Viele wollen sogar mit ‚Ihr‘ angesprochen werden, während sie selbst die Frau duzen.“

„Es sollte dir eigentlich schon seit Langem klar sein, dass ich nicht bin wie die meisten Männer. Mir liegt nichts daran, Frauen klein zu halten. War dein Ehemann etwa einer von denen, die sich immer überlegen fühlen müssen?“

Sie holte tief Luft. „Nein“, stieß sie dann heftig hervor. „Giles war liebevoll und fürsorglich. Ein guter Kamerad. In unserer kurzen gemeinsamen Zeit waren wir glücklich. Trotzdem ist und bleibt es eine Tatsache, dass ihr Männer die Welt mit anderen Augen seht als wir Frauen. Und du bist ein Mann.“

„Ich gebe zu, dass es auch mir nicht leichtfällt, mich in eine Frau hineinzuversetzen“, gestand er. „Ihr seid nicht so vernünftig wie wir, sondern lasst euch oft von euren Gefühlen leiten.“

„Ach? Ihr Männer habt doch auch Gefühle! Und was eure Vernunft angeht …“ Sie unterbrach sich und musterte ihn mit leichtem Spott.

„Natürlich sind wir nicht gefühllos. Und ich zumindest stehe zu meinen Gefühlen und mache niemandem etwas vor.“

Um ihre Lippen zuckte es. „Ihr Schauspieler lebt davon, dem Rest der Menschheit etwas vorzumachen.“

Er zuckte die Achseln. „Ein schwieriges Thema. Lass uns von etwas anderem reden. Also: Du hast deinen Schwager erwähnt. Aber wo ist deine Schwägerin?“

„In Oxford. Sie ist daheim geblieben, weil sie in anderen Umständen ist und ein wenig Ruhe braucht. Das Familienleben mit ihren Stieftöchtern und dem eigenen kleinen Sohn strengt sie momentan sehr an. Daher dachte ich, es sei eine gute Idee, mit den Kindern zu ihrem Vater nach Minster Draymore zu kommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir sind erst seit zwei Tagen hier, aber ich habe den Eindruck, dass die Anwesenheit der Kinder Simon schon zu viel wird. Sie sind laut und wild und lenken ihn von seiner Arbeit ab.“

„Was ist dieser Simon für ein Mann?“

„Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen. Er ist gutmütig und verlässlich. Ein Steinmetz, so wie mein verstorbener Mann. Sein Auftrag lautet, das leer stehende Herrenhaus auszubessern.“ Sie musterte Phillip nachdenklich. „Wie steht es um dich, Phillip? Bist du verheiratet?“

„In meinem Leben ist kein Platz für eine Gattin.“

Warum empfand sie bei seinen Worten Erleichterung? Sie wunderte sich über sich selbst.

„Wir Schauspieler reisen von Ort zu Ort. Den meisten Frauen gefällt das nicht“, fuhr er fort.

„Ja, ein so unstetes Leben bringt zweifellos Nachteile mit sich“, murmelte sie.

Er warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Tatsächlich hatte das Wiedersehen mit ihr ihn ins Grübeln gebracht. Wie sehr würde eine Gattin sein Leben tatsächlich verändern? „Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass ich als Ehemann meiner Frau eine gewisse Sicherheit bieten müsste. Ein Planwagen, um darin zu wohnen, wäre das mindeste.“

Sie hob die Augenbrauen. „Schlaft ihr etwa auch im Winter in einem Planwagen? Ich weiß, dass deine Truppe schon vor dem König aufgetreten ist. Hat er euch etwa keine Unterkunft angeboten? Meinem Bruder, der eine Anstellung an Prinzessin Marys Hof hat, wurde in Ludlow Castle ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestellt. Lady Salisbury, die Erzieherin der Prinzessin, hat dafür gesorgt.“

„Ich habe von Lady Salisbury gehört. Sie soll eine enge Freundin der Königin sein. Und du hast recht: Wenn der König uns engagiert, stellt man uns Räume im Schloss zur Verfügung. Im letzten Jahr allerdings ging alles schief. In London wütete eine Seuche. Deshalb blieben wir der Stadt fern und verbrachten viel mehr Zeit auf der Straße als gewöhnlich.“

„Das muss schlimm für euch gewesen sein.“

Phillip, der sich über ihr Mitgefühl freute, antwortete: „Ich hatte Glück im Unglück, weil ich eine Zeit lang auf der Werft meines Bruders mitarbeiten konnte. Dann war ich noch ein paar Wochen im Ausland. Meiner Schauspielertruppe erging es nicht so gut. Wir alle hatten gehofft, dass wir zum Weihnachtsfest vor dem König auftreten könnten. Aber aus Angst vor der Seuche hatte er sich mit seinen Vertrauten aufs Land zurückgezogen. Niemand durfte ihn besuchen, und es wurde nicht gefeiert.“

Rebecca nickte.

„Wenn dein Bruder sich in Ludlow aufhielt, brauchte er sich wohl keine Sorgen wegen der Seuche zu machen.“

„Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich habe schon recht lange nichts mehr von ihm gehört und würde ihm gern einen Besuch abstatten.“

„Warum tust du das nicht?“

Rebecca zögerte. „Ich will ehrlich sein: Mir fehlen die Mittel. Giles hat mir so gut wie nichts hinterlassen. Er war noch jung und hatte keine Möglichkeit, Geld zurückzulegen.“

Nachdenklich musterte Phillip sie. „Hast du ihn geliebt?“

Errötend senkte sie den Blick. „Meine Gefühle für Giles gehen dich nichts an. Außerdem muss ich mich nun wirklich beeilen. Gute Nacht!“

Doch so leicht ließ er sich nicht abschütteln. Phillip hielt mit ihr Schritt und erkundigte sich: „Könnte Davy dir das Geld nicht leihen?“

„Ich würde ihn niemals darum bitten! Sollte der König sich entscheiden, die Lebensumstände seiner Tochter zu ändern, dann würde Davy wahrscheinlich seine Stellung verlieren. Deshalb muss er alles Geld, das er verdient, für schlechte Zeiten zurücklegen. Es war mehr als großzügig von ihm, mir eine Mitgift auszusetzen, als sich herausstellte, dass mein Vater das versäumt hatte.“

„Das war nicht recht von deinem Vater, und du musst darunter gelitten haben. Gut, dass dein Bruder anders ist. Bestimmt würde er dir nun, da du verwitwet bist, erneut helfen. Ich habe gehört, er sei ein großartiger Musiker. Ich denke, er würde nicht lange nach einer neuen Stellung suchen müssen.“

„Schon möglich. Aber ich möchte ihm nicht zur Last fallen.“

Das Thema scheint sie aufzuregen, dachte Phillip.

„Ich habe keine Zeit, weiter mit dir darüber zu reden. Simon war damit einverstanden, dass ich mir euer Stück anschaue. Aber der kleine James muss ins Bett. Man wartet bestimmt schon ungeduldig auf mich.“

Der kleine James ist ein Glückspilz. Wer möchte nicht von einer Frau wie Rebecca ins Bett gebracht werden? dachte Phillip. Doch laut sagt er nur: „Gehen wir ein bisschen schneller.“

Warum ließ er sie nicht endlich in Ruhe? Sie wollte nicht, dass er ihr weitere Fragen stellte. Das Gespräch hatte Erinnerungen an ihre Ehe geweckt, die sie traurig machten. Sie hatte Giles zwar nicht geliebt, aber er war ein guter Freund gewesen, und sie hatte sich ihm nahe gefühlt. Kein Wunder, dass sie ihn vermisste und auch enttäuscht darüber war, dass sie kein Kind von ihm bekommen hatte.

Rebecca hätte sich keine Sorgen um weitere Fragen von Phillip machen müssen. Er schwieg, bis sie Minster Draymore erreichten. Dort schaute er sich neugierig um und stellte fest: „Die meisten Häuser im Dorf befinden sich in einem schlechten Zustand.“

„Simon erwähnte, dass die mit Stroh gedeckten Lehmkaten abgerissen und durch gemauerte Häuser mit Schieferdächern ersetzt werden sollen“, gab Rebecca zurück. „Der Grundherr, dem dies alles jetzt gehört, hat viele Jahre im Ausland gelebt und ist erst kürzlich nach England zurückgekehrt.“

„Das erklärt, warum alles hier so vernachlässigt ist.“

„Ja, es gibt viel zu tun. Doch wenn der Winter kommt, wird Simon bestimmt nach Oxford zurückkehren. Sobald es kalt und feucht wird, macht ihm sein Rheuma zu schaffen. Zum Glück hat er in der Stadt bereits einen Auftrag, der es ihm erlaubt, bei schlechtem Wetter drinnen zu arbeiten“, erzählte Rebecca. Es war ihr lieber, über die Caldwells zu reden als über ihren verstorbenen Mann.

„Ist Simon viel älter als deine Schwägerin?“

„Ja. Er ist verwitwet und hatte schon zwei Töchter aus erster Ehe, bevor er Jane heiratete und sie ihm einen Sohn schenkte. Unser Problem hier in Minster Draymore ist, dass es so wenig gibt, um die Kinder zu beschäftigen. Leider gibt es für Simon momentan so viel zu tun, dass er uns nicht nach Oxford zurückbringen kann. Er möchte aber auch nicht, dass wir ohne männliche Begleitung reisen.“

Phillip erwiderte nichts darauf, denn gerade waren sie vor einem Haus stehen geblieben, das größer und massiver war als die anderen im Dorf.

„Da wären wir“, stellte Rebecca mit einem Seufzer der Erleichterung fest.

Rasch stopfte Phillip die Perücke und das Frauenkleid hinter eine Wassertonne neben der Tür und folgte Rebecca ins Haus. Dort sah er einen grauhaarigen Mann, der bei seinem Anblick so rasch aufsprang, dass die Papiere, die er vor sich ausgebreitet hatte, vom Tisch flatterten.

„Wer ist das?“, fragte er. „Ich habe dir nicht erlaubt, jemanden mitzubringen, Rebecca.“

„Simon, dies ist Master Phillip Hurst, ein alter Bekannter meines Vaters. Wir haben uns zufällig in Witney getroffen, und er hat mich freundlicherweise nach Hause begleitet. Phillip, dies ist mein Schwager Master Caldwell.“

Simon legte die Papiere zurück auf den Tisch und reichte Phillip die Hand.

„Rebeccas Vater hat mehrere Sommer lang auf der Werft meines Vater gearbeitet“, erklärte Phillip. Verwundert stellte er fest, dass Simons Hand zitterte.

„Hm …“ Simon nickte. „Ich erinnere mich, den Namen Hurst schon gehört zu haben. Soweit ich weiß, ist Euer Vater verstorben, Master Hurst.“

„Das stimmt. Mein Bruder hat die Werft übernommen. Und Ihr, Master Caldwell, arbeitet, wie ich hörte, als Steinmetz?“

„Bitte, entschuldigt mich“, fiel Rebecca ein, „ich muss nach den Kindern schauen. Einen schönen Abend noch, Phillip.“

„Gut Nacht, Becky“, gab er zurück, griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. „Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“

Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, entzog ihm ihre Hand und eilte aus dem Raum.

Stille senkte sich über die Kammer. „Was hat Euch in diese Gegend geführt, Master Hurst?“, erkundigte Simon sich schließlich.

„Ich bin nur auf der Durchreise. Als Becky Euren Beruf erwähnte, Master Caldwell, wollte ich Euch gern kennenlernen. Denn möglicherweise benötige ich irgendwann demnächst die Dienste eines Steinmetzen.“

„Aha.“ Mit bebenden Fingern fuhr Simon sich durchs Haar. „Leider kann ich Euch keine Zusage machen. Vielleicht wäre es am besten, wenn Ihr Euch nach einem anderen Steinmetz umsehen würden.“

Phillip nickte. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, einen noch gänzlich unausgereiften Plan zu erwähnen, nur weil er Rebecca und ihren Schwager getroffen hatte. Bestimmt würde es noch zwei Jahre dauern, ehe er mit der Verwirklichung seines Vorhabens beginnen konnte. „Leider“, sagte er, „ist es mit den Steinmetzen ähnlich wie mit den Schiffszimmerleuten. Es gibt nicht genug von ihnen. Daher habe ich mich schon darauf eingerichtet, mich noch etwas zu gedulden.“

„Wenn Ihr warten könnt, ist es natürlich etwas anderes“, meinte Simon, der jetzt etwas weniger angespannt wirkte. Aber noch immer schien irgendetwas ihn zu beunruhigen. „Würdet Ihr Rebeccas Vater erkennen, wenn Ihr ihn sähet?“, fragte er unvermittelt.

Phillip runzelte die Stirn. „Ja, ich denke schon. Aber Master Mortimer ist tot. Daher verstehe ich Eure Frage nicht.“

Der andere räusperte sich. „Glaubt Ihr an Geister, Master Hurst?“

„Oh!“ Er überlegte einen Moment. „Offenbar seid Ihr davon überzeugt, einem begegnet zu sein. Warum sonst solltet Ihr mir eine solche Frage stellen.“

„Habe ich wirklich einen Geist gesehen, oder hat mein übermüdeter Kopf mir einen Streich gespielt?“, murmelte Simon. „Ich möchte betonen, dass ich Master Mortimer nicht oft getroffen habe. Er war ein schwieriger Zeitgenosse, wie Ihr sicher selbst wisst, da Ihr mit ihm zusammengearbeitet habt.“

„Mir wäre es jedenfalls lieber, wenn er nicht von den Toten zurückkäme“, stellte Phillip fest.

„Allerdings!“ Simon nickte. „Ich würde gern so tun, als hätte ich nichts gesehen. Denn sobald bei den Arbeitern der Verdacht aufkommt, es könne in Draymore Manor spuken, werden sie die Arbeit niederlegen. Schließlich ist allgemein bekannt, was man über Geister sagt.“

„Dass sie hier auf Erden noch etwas zu erledigen haben.“ Phillip verstand jetzt, warum sein Gegenüber so angespannt war. „Ich nehme an, dass Becky und die Kinder diesen Geist bisher nicht zu Gesicht bekommen haben?“

„Um Himmels willen! Ihr glaubt doch nicht, ich würde ihnen erlauben, in der Nähe des Herrenhauses zu spielen! Einige Teile des Gebäudes sind einsturzgefährdet. Tatsächlich denke ich inzwischen, dass es ein Fehler war, Rebecca und die Kinder hierher mitzunehmen.“

„Dann solltet Ihr sie nach Oxford zurückschicken“, schlug Phillip vor.

Simon Caldwell krauste die Stirn. „Rebecca ist recht vernünftig. Trotzdem ist sie nur eine Frau. Sie wäre nicht in der Lage, sich und die Kinder gegen Wegelagerer oder andere Schurken zu verteidigen.“

Nach kurzem Schweigen meinte Phillip zögernd: „Erlaubt Ihr, dass ich einen Vorschlag mache, Master Caldwell. Ich habe in Oxford einiges zu erledigen und werde mich morgen auf den Weg dorthin machen. Wenn Ihr bereit seid, mir Eure Kinder und Rebecca anzuvertrauen, könnten sie unter meinem Schutz nach Oxford reisen.“

Simon machte keinen Hehl aus seiner Erleichterung. „Das ist sehr großzügig von Euch. Ich muss Euch allerdings darauf hinweisen, dass mein Sohn ein rechter Lausbub ist.“

„Ich bin sicher, dass Becky gut mit ihm zurechtkommt“, beruhigte Phillip ihn, obwohl er keine Ahnung von Beckys erzieherischen Fähigkeiten hatte. Was er wusste, war, dass Master Caldwell Hilfe brauchte. „Im Übrigen habe ich selbst mehrere Neffen und Nichten. Daher weiß ich, wie Kinder sind.“

„Unter diesen Umständen nehme ich Euer Angebot dankend an.“ Als Simon ihm diesmal die Hand schüttelte, geschah es voller Wärme und Dankbarkeit.

Phillip kam zu dem Schluss, dass es kaum eine Chance gab, seine Pläne noch an diesem Abend mit Rebecca zu besprechen. Es war inzwischen dunkel geworden und somit höchste Zeit für ihn, nach Witney zurückzukehren. „Ich muss aufbrechen“, sagte er. „Es wäre nett, wenn Ihr Becky darüber informieren würdet, dass ich sie und die Kinder kurz nach Sonnenaufgang abhole. Wir müssen uns möglichst früh auf den Weg machen.“

Bald hatte Phillip das Dorf hinter sich gelassen. Während er mit großen Schritten in Richtung Witney eilte, fragte er sich, ob Rebecca überhaupt damit einverstanden sein würde, in seiner Begleitung nach Oxford zu reisen. Möglicherweise gefiel es ihr nicht, dass er sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte. Da sie ihren verstorbenen Gatten offenbar sehr gemocht hatte, fühlte sie sich vielleicht in der Gesellschaft eines anderen Mannes unwohl. Dieser Giles schien den Platz in Rebeccas Herz eingenommen zu haben, den zuvor Nicholas innegehabt hatte. Zog sie in Erwägung, noch einmal zu heiraten? Wenn Nicholas nach Hause zurückkehrte, würde es gut für ihn sein, sich eine Gattin zu suchen und sesshaft zu werden.

Die Erinnerung daran, wie er mit seinem Bruder über Frauen, Liebe und die Ehe diskutiert hatte, bewirkte, dass Phillip die Stirn runzelte. Damals hatten sie gemeinsam die griechische Insel Rhodos besucht, hatten die Sonne und den Wein genossen. Ja, sie hatten sogar eine Wette abgeschlossen. Derjenige von ihnen, der zuerst heiratete, sollte dem anderen zwei Goldstücke zahlen.

Wehmütig dachte Phillip an die warmen griechischen Nächte zurück. Es war lange her, dass er eine Nachricht von Nicholas erhalten hatte. Tatsächlich machte er sich große Sorgen um seinen Bruder.

Phillip hatte den Weg nach Witney bereits zur Hälfte zurückgelegt, als ihm einfiel, dass er sein Kostüm und die Perücke vor Simons Haus vergessen hatte. Hoffentlich regnete es nicht in der Nacht. Nun, vielleicht würde Becky hinter der Regentonne nachschauen und die Sachen ins Haus holen.

Becky! Er freute sich darauf, sie am nächsten Morgen wiederzusehen. Sollte er ihr auf der Reise erzählen, dass Master Caldwell glaubte, den Geist ihres Vaters gesehen zu haben? Nein, das war natürlich ganz unmöglich. Zweifellos war sie, genau wie er selbst und ihr Schwager, der Meinung, es sei am besten, wenn ihr Vater für alle Zeiten in seinem Grab bliebe.

2. KAPITEL

Rebecca schlief unruhig und erwachte schließlich aus einem Traum, in dem sie Pip Hurst die Theaterschminke aus dem Gesicht gewischt hatte. Es war eine verwirrend intime Geste gewesen, und sie fragte sich beunruhigt, warum Gott es zugelassen hatte, dass sie Pip ausgerechnet jetzt begegnet war.

Während ihrer Ehe mit Giles hatte sie darum gebetet, Pip vergessen zu können. Und manchmal war es ihr sogar gelungen. Dann hatte sie ihn im Palast von Greenwich gesehen, und das Verlangen, das sie einst erfüllt hatte, war erneut aufgeflammt. Sie hatte ihn nicht mehr aus ihren Gedanken vertreiben können.

Als sie sich jetzt daran erinnerte, wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Er war da, so nah und doch ebenso unerreichbar wie damals. Trotz seiner schmeichelnden Worte hatte er ihr unmissverständlich klargemacht, dass es in seinem Leben keinen Platz für eine Frau gab. Zudem schien er zu glauben, dass sie in seinen Bruder Nicholas verliebt gewesen war, bis sie Giles getroffen hatte. Auf jeden Fall konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er nicht einmal ahnte, wie sehr sie sich nach ihm verzehrt hatte.

Tatsächlich bewunderte sie Nicholas seit Langem. Schließlich hatte er Amerika als Forschungsreisender besucht und Tagebuch über seine Erlebnisse geführt. Es war aufregend gewesen, eine Kopie seiner Notizen in der Hand zu halten und selbst zu lesen, was er geschrieben hatte. Ihre Freundin Beth hatte vor sechs Jahren zusammen mit Pip alles für den Druck und die Veröffentlichung jenes Erfahrungsberichts vorbereitet. Das fertige Buch war als Geburtstagsgeschenk für Nicholas gedacht gewesen.

Rebecca hatte sich gefreut, dass der Reisebericht sich so gut verkaufte. Einmal hatte sie Beth gegenüber erwähnt, wie sehr sie sich wünschte, ihn selbst lesen zu können. Daraufhin hatte ihre Freundin ihr Unterricht im Lesen und Schreiben gegeben. Doch so sehr Rebecca es auch genossen hatte, Nicholas’ Tagebuch zu lesen, nie hatte sie mit dem Gedanken gespielt, den Verfasser zu heiraten.

Dann hatte Beth ihren Vormund Sir Gawain Raventon geheiratet. Und Nicholas, der Kaufmann und Forscher, war zu neuen Abenteuern aufgebrochen.

Seufzend drehte Rebecca sich auf die andere Seite. Ihr Bett kam ihr kalt und leer vor. In solchen Nächten vermisste sie Giles noch immer. Für ein eigenes Kind zu sorgen, hätte ihr sicherlich Trost gespendet. Aber es war ihr nicht vergönnt gewesen, Mutter zu werden.

Doch nun war Phillip wieder in ihr Leben getreten. Sie konnte nicht leugnen, dass er ihr noch immer mehr bedeutete als jeder andere Mann. Würde sie ihn wiedersehen?

Als sie die Kinder versorgt hatte und James endlich schlief, hatte Simon bereits seine Kammer aufgesucht, und Phillip war verschwunden. Ohne ein Wort war er fortgegangen, genauso wie einst ihre Mutter. Gab es unter diesen Umständen überhaupt Hoffnung auf ein Wiedersehen?

In Rebecca stieg das Gefühl des Verlassenseins auf, das sie als Kind so oft gequält hatte. Warum hatte ihre Mutter sie nicht genug geliebt, um bei ihr zu bleiben?

Erneut seufzte sie. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie nur eines tun konnte: Sie musste ihren Kummer fortschieben und sich dem Leben stellen.

Draußen wurde es hell. Zeit aufzustehen. Rasch zog Rebecca sich an, wobei sie sich bemühte, möglichst leise zu sein. Vorsichtig öffnete sie die Tür ihrer Kammer, schlich die Treppe hinab und holte sich ein Glas Wasser aus der Tonne neben der Haustür. Während sie trank, bemerkte sie Phillips Theaterkostüm und die Perücke. Ihr Puls beschleunigte sich. Er würde das Kleid brauchen. Hier bot sich die Chance auf ein Wiedersehen. Sollte sie ihm das Gewand bringen? Es konnte nicht allzu schwer sein, den Planwagen der Schauspieler zu finden.

Kurz entschlossen holte sie ihren Umhang und machte sich auf den Weg nach Witney. Schon bald hatte sie das Flüsschen erreicht, das in seinem steinigen Bett durchs Tal strömte. Sie folgte dem Flusslauf, und als sie um eine Kurve bog, entdeckte sie Phillip.

Ihr Herz machte einen Sprung.

Anscheinend wollte er zum Herrenhaus, also nach Draymore Manor. Seltsam! Das Anwesen lag ein Stück vom Dorf entfernt hinter Bäumen verborgen. Zwischen diesen Bäumen verschwand Phillip, ehe sie seinen Namen rufen konnte. Beabsichtigte er, sich das vergessene Kostüm und die Perücke zu holen und hatte den falschen Weg eingeschlagen?

Sie runzelte die Stirn und ging weiter, bis sie die Abzweigung erreichte. In der Ferne konnte sie jetzt den Kirchturm von Saint Mary’s erkennen. Phillip jedoch blieb verschwunden. Unschlüssig überlegte sie, ob sie auf seine Rückkehr warten oder ihm bis zum Herrenhaus folgen sollte.

Schließlich entschied sie sich, den Weg nach Draymore Manor einzuschlagen. Das Haus war umgeben von einem verwilderten Garten, durch den ein schmaler Pfad zum Eingang des Hauses führte. Das mit eisernen Beschlägen versehene Portal war geschlossen. Doch als Rebecca nach dem Türklopfer griff, schwang es zu ihrer Überraschung auf.

Sollte sie einfach hineingehen? Sie hatte Simons Warnung, das Haus sei einsturzgefährdet, nicht vergessen. Aber warum hatte er am gestrigen Abend die Tür nicht abgeschlossen, wenn es so gefährlich war, das Gebäude zu betreten?

Sie legte Kleid und Perücke auf den Boden und schaute sich erst einmal in der Eingangshalle um. Diese war verglichen mit der von Raventon House klein. In einer Ecke lag ein Haufen Bauschutt. Und eine Wand schien tatsächlich in einem sehr schlechten Zustand zu sein. Alles wirkte so altertümlich, dass Rebecca zu dem Schluss kam, das Gebäude sei mindestens zweihundert Jahre alt. Damals – das wusste sie – hatte Edward II England regiert. Er hatte die französische Prinzessin Isabella geheiratet. Und diese hatte sich irgendwann einen Liebhaber genommen, der Mortimer hieß. Er wurde der erste Earl of March und erhielt Ludlow Castle als Wohnsitz.

Davy, der sich sehr für Geschichte interessierte, hatte mit Rebecca Überlegungen darüber angestellt, ob sie womöglich mit March und Isabella verwandt seien, denn schließlich war Mortimer ihr Familienname. Solche familiären Verbindungen seien sehr wichtig, behauptete er. Vielleicht floss ja sogar königliches Blut in ihren Adern? Er hatte ihr erklärt, dass Henry VIII seine Tochter Mary mit Kaiser Karl V verlobt hatte, damit sie irgendwann Königin von Frankreich werden konnte. Wenn Karl, unterstützt von Henry, die Franzosen besiegte, würde er den französischen Thron besteigen, und zwar an der Seite seiner zukünftigen Gattin Mary.

Rebecca hatte die Bedeutung all dieser komplizierten verwandtschaftlichen Verbindungen nie recht verstanden. Sie wusste nur, dass niemand gefährlicher lebte als diejenigen, die in der Thronfolge weit oben standen. Überhaupt war das Leben gefährlich, wenn man mit dem Königshaus in Verbindung gebracht wurde. Isabellas Liebhaber Mortimer zum Beispiel war wegen Hochverrats hingerichtet worden. Seine Nachkommen allerdings waren von Edward III begnadigt worden. Darüber gab es ein Theaterstück.

Rebecca runzelte die Stirn und fragte sich, ob Phillip eines Tages ein Drama über Henry VIII und seine ehrgeizigen Pläne schreiben würde.

Noch einmal schaute sie sich forschend um. Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie durch das Haus gehen konnte, wenn sie nur vorsichtig war. Langsam ging sie auf die Tür zu, die dem Eingang gegenüber lag. Dabei fiel ihr auf, dass ein Teil der Wände rauchgeschwärzt war.

Irgendwo schrie jemand.

Sie erschrak so sehr, dass sie beinahe zum Ausgang zurückgerannt wäre. Dann hörte sie einen Schlag, auf den ein lautes Krachen folgte. Wurde Phillip gerade von irgendwelchen Schurken angegriffen? All ihren Mut zusammennehmend lief sie in Richtung des beunruhigenden Lärms.

Sie erreichte einen kleinen Raum, dessen Tür geöffnet war. Ihr Blick fiel auf eine Wand voller Regale. Eine ehemalige Speisekammer? Auf der Erde lag tatsächlich ein zerbrochener Tonkrug, und einige von Spinnweben überzogene Behälter standen auf einem der Regalbretter. Ansonsten schien das Zimmer leer zu sein. Vorsichtig trat Rebecca ein.

Im nächsten Augenblick legte ihr jemand von hinten fest den Arm um den Hals. Vergeblich schnappte sie nach Luft. Sie würde ersticken! In Todesangst grub sie die Zähne in den Arm des Angreifers. Der Mann lockerte tatsächlich seinen Griff, sodass sie sich losreißen konnte. Doch sie kam nicht weit. Jetzt packte der Kerl sie bei der Schulter. Sie fuhr herum und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein.

Irgendwie gelang es ihm, ihre Handgelenke zu umfassen. „Verdammt, Becky, was tust du hier?“

Es war Phillip.

Rebecca schnappte nach Luft, bevor sie schrie: „Ich hab dich gesucht! Wie hätte ich ahnen können, dass ausgerechnet du mich angreifst.“

Er ließ sie so abrupt los, dass sie taumelte. Sie fiel gegen ihn, und er hielt sie fest. Deutlich spürte sie, wie muskulös seine Brust war und welche Wärme sein Körper ausstrahlte. „Du hast mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt“, schluchzte sie. „Ich dachte, du würdest mich umbringen.“

„Ich habe dich für einen Geist gehalten“, gab er zurück. „Doch als du mich gebissen hast, wurde mir klar, dass ich mich getäuscht hatte.“

„Ein Geist? Wieso sollte ich ein Geist sein?“ Verunsichert schaute sie sich um.

Phillip zögerte. „Simon Caldwell erwähnte, dass er hier ein Gespenst gesehen hat. Als ich vorhin eine schattenhafte Gestalt bemerkte, dachte ich, Simon könne recht haben. Ich rief der Erscheinung zu, sie solle warten, aber sie verschwand. Seltsam war das schon …“

„Deshalb also wolltest du mich festhalten“, meinte Rebecca. „Nun, wie du siehst, bin ich kein Gespenst.“

„Ich war verwirrt, als ich deine Schritte hörte. Wäre ein Geist so laut? Oder würde nur ein Wesen aus Fleisch und Blut so fest auftreten? Wie auch immer … Ich fürchtete, es könne jemand sein, der mir Schaden zufügen wollte.“ Er hob den Arm, musterte die Bissspuren.

„Es tut mir leid, dass ich dich gebissen habe. Aber ich musste mich doch irgendwie wehren.“ Sie legte ihre Hand auf die seine und betrachtete ebenfalls die roten Abdrücke auf seiner Haut. An einer Stelle war Blut ausgetreten. „Ich glaube nicht, dass es sich entzünden wird, aber vielleicht sollten wir trotzdem Wundsalbe auftragen.“

„Hm … Zumindest ist es beruhigend zu wissen, dass du dich zu verteidigen weißt.“

„Das hast du sehr nett gesagt“, murmelte sie und setzte nachdenklich hinzu: „Ich frage mich, warum Simon diesen Geist mir gegenüber nicht erwähnt hat.“

„Er wollte dich nicht beunruhigen“, meinte Phillip und schob ihre Hand fort. „Gehen wir! Aber achte darauf, wohin du deine Füße setzt.“

Autor

June Francis
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