Verliebt in Manhattan - 5 Lovestorys aus dem Big Apple

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  • Erscheinungstag 09.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536417
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2019 by Nilay Nina Singh
Originaltitel: „Captivated by the Millionaire“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 212019 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Robert Klohe

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733712518

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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PROLOG

Er war immer der Planer gewesen. Immer auf alles vorbereitet, Mehr als vorbereitet. Doch das jetzt hier war so unerwartet wie etwas nur hätte sein können.

Jordan Paydan stand an dem breiten Panoramafenster seines Penthouses und starrte ungläubig auf die Dokumente, die ihm der Bote gerade ausgehändigt hatte. Kein Detail war ausgelassen worden. Eine Horde Familienanwälte hatte sich um alles bis ins Kleinste gekümmert.

Aber die ganzen Papiere bedeuteten letztlich nur Eines: Sein Leben würde nie mehr dasselbe sein.

Noch immer konnte er es nicht glauben, dass seine Stiefmutter nicht mal versucht hatte zu kämpfen; sie hatte einfach nur gewartet, bis das gewünschte Geld auf ihrem Konto eingegangen war.

Stiefmutter. Jordan schnaubte verächtlich. Die Frau war kaum älter als er mit seinen einunddreißig Jahren und machte auch sicherlich nicht den Eindruck, sich wie eine Erwachsene verhalten zu wollen. Er kannte sie nicht wirklich gut, eigentlich gar nicht, aber der Punkt war so klar wie der Himmel vor ihm: Seine Stiefmutter hatte wirklich kein Problem damit, nach dem Tod seines Vaters in ihrem neuen Leben zurechtzukommen. Wenn man es neu nennen konnte. Für sie hatte sich nicht wirklich etwas geändert.

Jordan schüttelte fluchend den Kopf und warf die Sachen auf seinen Schreibtisch. Ihm blieb nur zu versuchen, die Dinge wieder in geregelte Bahnen zu lenken.

Aber wo zur Hölle sollte er damit anfangen?

1. KAPITEL

Sechs Monate später

Jess trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.

Die ganze Wand hatte sich in eine weite Landschaft verwandelt: In der Ferne ragten Berge in den Himmel auf, Bäume im Vordergrund wurden zu unendlichen Wäldern. Den größten Teil machte die Burg aus, mit hohen Türmen und bunt wehenden Fahnen. Vögel flogen darüber zum Horizont, ein freundlicher Drache lag in seiner nahen Höhle, um sie zu behüten, und Ritter waren auf ihren Pferden unterwegs. Die Sonne schien und fluffige Wolken machten das Ganze perfekt.

Jetzt noch etwas Tiefe, ein paar Blumen und …

Sie war so sehr von ihrer eigenen Arbeit gefesselt, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Haustür geöffnet wurde und jemand das Haus betrat. Sie merkte nicht, wie dieser Jemand die Treppe hinaufstieg. Erst, als sie ihre Farbpalette griff, um den Pinsel neu zu laden, fiel ihr Blick beim Aufschauen auf den Fremden, der sie vom Türrahmen aus anstarrte.

Sie schrie überrascht auf und stolperte einen Schritt zurück und warf das Einzige, das sie hatte, nach dem Eindringling: ihren Pinsel.

Die ungewöhnliche Wurfwaffe traf sein Ziel direkt auf die Brust.

„Was zur Hölle…?“ Die tiefe, maskuline Stimme klang so irritiert wie wütend zugleich.

Jess Augen wurden größer. Das war kein Eindringling. So gar nicht. Mit einem Schlucken wurde ihr klar, dass sie gerade einen dicken Klecks roter Farbe auf das reinweiße Hemd des neuen Hausbesitzers gemacht hatte. Geworfen hatte. Auf dieses eindeutig teure, maßgeschneiderte Seidenhemd. Sie hatte gerade keine Zeit, dass ihr die fein definierten Muskeln darunter auffielen. Sie musste etwas tun!

Hastig griff Jess einen der feuchten Mallappen vom Boden und rannte zu dem Mann. „Tut mir leid! So ein Mist. Sie haben mich so erschreckt!“

Bevor er sie aufhalten konnte, hatte sie schon begonnen, mit dem Tuch die Farbe irgendwie von dem Hemd zu reiben. Oder eher weiter über das Hemd zu verteilen.

Der Mann atmete ein. „Hören Sie auf.“

„Ich krieg das hin“, versicherte sie ihm. „Ich habe schon häufiger Farbe auf der Kleidung gehabt.“ Auf einem Seidenhemd? Wie krieg ich das je wieder raus? Was das kosten musste, und dazu noch der Eindruck.

„Hören Sie auf!“ Seine Stimme wurde einen Tick lauter, und starke Hände umgriffen die ihren. „Es reicht.“

Jess blinzelte und sah auf. „Tut mir leid mit dem Hemd. Ich bin einfach erschrocken. Was in aller Welt tun Sie hier?“

Für einen Moment hatte sie ihn sprachlos gemacht. „Was ich hier tue?“, brauste er dann auf. „Das ist mein Haus! Die Frage sollte ich wohl eher Ihnen stellen!“

Jess schluckte. Während sie verzweifelt nach Worten suchte, wanderten ihre Blicke über den Mann. Kurzes Haar, einen kleinen Ton dunkler als sandblond. Ein gepflegter Dreitagebart, von dem er vermutlich gar nicht wusste, wie verführerisch abenteuerlich der ihn aussehen ließ. Dunkle graugrüne Augen.

Verzweifelt versuchte Jess, sich zusammenzureißen. „Ich habe heute noch nicht mit Ihnen gerechnet“, stammelte sie. „Marie sagte mir, dass Sie frühestens morgen hier sei würden. Ihr gehört die Maklerfirma, die für Sie all das hier abwickelt. Sie ist eine Freundin von mir und …“ Jess bremste sich. Jetzt reite nicht auch noch Marie mit hinein. „Ich meine, sie vergibt mir ab und zu Jobs, und ich …“ Reiß dich zusammen. „Ich wollte sagen … Ich bin fast fertig.“ Jess deutete auf das Bild. „Nur noch …“

Der Mann schenkte der bunten Landschaft nicht mal einen Blick. „Ich habe keine Ahnung, warum Sie um diese Zeit noch hier sind. Oder warum meine Tür nicht verschlossen war. Oder was Sie hier überhaupt tun.“

„Ich mache ein Wandgemälde.“ Ob er mehr wissen wollte? „Das ist eine Burg und …“

„Warum?“

„Bitte?“ Sie sah ihn an.

„Warum machen Sie hier ein Gemälde hin? Ich hatte der Maklerin ausdrücklich gesagt, dass ich einfach das ganze Haus frisch gestrichen haben will. Sie hatte genaue Instruktionen bezüglich der Farbe, die sie angeblich auch ihren Malern weitergegeben hat.“

„Ja, Eierschalen-Weiß, das hat sie mir gesagt.“ Jess räusperte sich. „Im ganzen Haus.“ Merkte er denn nicht selbst, wie abgrundtief langweilig das war?

Der Mann nickte nur knapp. „Exakt. Ich denke nicht, dass man das mit einer Burg oder dem Auftrag für sonst irgendein Wandgemälde verwechseln kann.“

Sein Auftreten schnürte ihr zunehmend die Kehle zu. „Das ist mir klar. Aber ich habe gehört, dass es für ein Kind sein soll, und da dachte ich, dass doch jeder, egal, ob Junge oder Mädchen, sich bestimmt freuen würde über …“

Er wischte ihre Worte mit einer Handbewegung fort. „Es interessiert mich nicht, was Sie gedacht haben. Sie haben sich einfach über meine Anweisungen hinweggesetzt und bringen damit noch dazu meinen Zeitplan durcheinander.“

Jess bemühte sich, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Idiotin. Er hat recht. „Das tut mir leid. Ich brauche nur noch ein paar Minuten, und dann räume ich zusammen.“

Sein Blick verdunkelte sich weiter. „Das kleine Mädchen, das hier einziehen soll, wird in wenigen Minuten hier sein und seine kleine Matratze mit den vielen Ponys darauf aufgeblasen haben wollen. Dank Ihnen wird sie die erste Nacht im neuen Haus nicht in ihrem Zimmer schlafen können.“

Da hatte er schon wieder recht. Die Farbe sollte erst trocknen. Dass es in diesem Anwesen sicherlich genügend andere Zimmer geben dürfte, war auch nicht gerade ein gutes Argument. Schon gar nicht, wenn man es einem kleinen Mädchen erzählen wollte. „Sie haben ja recht. Ich mache nur noch das letzte Stück, und dann nehme ich meine Sachen.“

Ohne auf ihre Worte zu hören, trat er zur Seite und deutete auf die Treppe. „Bitte, gehen Sie einfach. Jetzt.“

Jess starrte ihn an. Dann presste sie die Lippen zusammen. Sie würde vor diesem fremden Kerl bestimmt nicht anfangen zu heulen. Er mochte ja mit einigem im Recht sein, aber sie hatte nur versucht, einem Kind eine Freude zu machen. Das hatte sie jetzt davon. Selber schuld. Schnell klaubte sie ihre Ausrüstung zusammen und machte sich auf den Weg.

Jordan sah der jungen Frau hinterher, wie sie die Treppe hastig hinunterlief und zum Ausgang lief. Er erwartete, dass sie die Tür hinter sich zuknallen würde, doch zog sie sie erstaunlich leise ins Schloss. Alles andere hätte ihn eigentlich weniger überrascht. So, wie er sich benommen hatte, hätte wohl jeder die Flucht ergriffen. Er seufzte. Konnte der Tag eigentlich noch schlimmer werden? Er hatte doch nur noch kurz das Haus checken und dann heiß duschen wollen. Stattdessen fand er eine Fremde vor, die sich irgendwelche Dinge herausnahm, noch dazu in Sonyas Zimmer!

Er fuhr sich kopfschüttelnd durchs Haar und ging zurück in den Flur, wo er seine Tasche abgestellt hatte. Vier Stunden Fahrt, das meiste davon durch strömenden Regen und das Gespräch mit einem wichtigen Investor auf der Freisprecheinrichtung. Und ich soll mich nicht aufregen, wenn plötzlich eine Fremde in meinem Haus ist? Wo er sich so Ruhe erhofft hatte? Die einfach etwas veränderte, nur weil es ihr besser gefiel? Die ihm noch dazu eines seiner Hemden ruinierte und dann nicht mal verstand, dass er nicht glücklich darüber war?

Festen Schrittes ging er in Richtung seines Badezimmers und wurde mit einem Mal von Gewissensbissen geplant. Irgendwie hatte der Auftritt der jungen Frau ihn berührt …

Ob er sich entschuldigen sollte? Er könnte versuchen, bei der Maklerfirma nachzufragen, wer sie war. Vielleicht hatten sie eine Telefonnummer. Aber wollte er das wirklich?

Jordans Blick fiel auf die noch immer offen stehende Zimmertür. Neugierig betrat er den Raum.

„Wow …“ Das Wandgemälde war ein echtes Kunstwerk. Jordan trat näher, um sich alles genauer anzusehen. Diese Frau verstand es, mit dem Pinsel und mit Farben umzugehen. Alles Freihand, wie er gesehen hatte. Vor allem zeigte das Bild eine Liebe zum Detail. Überall gab es etwas zu entdecken, dann wieder etwas und wieder etwas Neues. Und sie meinte, sie sei noch nicht fertig?

Er sog die Luft ein. Sein Verhalten erschien ihm nur noch grober und ungerechtfertigter als ohnehin schon. Sie war eine Künstlerin, und sie hatte sich so unglaublich viel Mühe gegeben. Einfach so?

Er musste sich bei ihr entschuldigen, definitiv.

So schlimm kam ihm auch der Farbgeruch jetzt nicht mehr vor. Ob es Sonya wirklich stören würde? Dazu hing ein feiner Duft nach Veilchen in der Luft. Ihr Duft, erinnerte sich Jordan unwillkürlich. Er hatte ihn wahrgenommen, als sie so nahe bei ihm gestanden hatte. Dann noch mal, als sie an ihm vorbei aus dem Zimmer gestürmt war.

Plötzlich sah er sie wieder vor sich, wie sie ihre Sachen aufgesammelt hatte. Er erinnerte sich, wie sie gebebt hatte, sich auf die Lippe gebissen, um nicht zu weinen. Was bist du nur für ein unglaublicher Idiot.

Jordan schnaubte frustriert. Er konnte sich nicht mal gegenüber einer Wildfremden benehmen, die ihm nichts getan hatte. Wie sollte er je in der Lage sein, sich um ein kleines Mädchen zu kümmern? Wie sollte er Sonya glücklich machen? Ihr endlich zu einer glücklichen Kindheit verhelfen?

Aber wie könnte er nicht alles daransetzen, es zu versuchen.

Nimm sie zu dir, Jordan. Die bittenden Worte seines Vaters hallten ihm noch immer durch den Kopf. Ihre Mutter will sie nicht. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange.

Viel war gar kein Ausdruck. Er war der Falsche. Er hatte nicht die Fähigkeiten dazu. Er hatte schon zu viele Fehler gemacht.

Wenigstens hoffte er, dass Martha’s Vineyard nun keiner war. Eine kleine Insel, weit genug und nicht zu weit von der nächsten Großstadt entfernt. Die Sorte Ort, wo es ruhig war, ohne zu still zu sein.

Wo die Leute die gleichen Geschäfte besuchten und besuchen mussten. Also würde er der Malerin früher oder später ohnehin wieder über den Weg laufen. Und dann war es definitiv Zeit für eine Entschuldigung.

Bis dahin hatte es auch Zeit.

Als er schließlich aus der Dusche trat, hatte Jordan sich einen perfekten Plan zurechtgelegt: Eine aufrichtige Entschuldigung, ein ehrliches Kompliment zu ihrem Werk. Vielleicht konnte er ihr noch dazu erklären, dass er einen wirklich harten Tag gehabt hatte und von ihrer unerwarteten Anwesenheit so vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt worden war. Jordan nickte. So würde er es machen. Die Aussicht ließ sogar seine Stimmung besser werden.

Die Aussicht, sich für sein rüdes Verhalten zu entschuldigen. Sicher nicht die, eine Gelegenheit zu haben, die Künstlerin wiederzusehen.

Elise Stimme draußen sorgte dafür, dass die Irritation über den Gedanken nicht allzu weit in sein Bewusstsein dringen konnte. Er streifte sich schnell ein frisches T-Shirt und Jogginghose über und lief die Treppe hinab.

„Haben Sie den Weg gut gefunden?“, fragte er die Nanny, während diese Sonya aus dem Auto half.

„Ja, kein Problem.“

„Hey, Sonnenschein.“ Jordan ging in die Hocke, um seine Schwester zu drücken. Die erwiderte das herzlich, winkte ihm dann zur Antwort mit einem Lächeln zurück. Mehr Antwort hatte er auch nicht erwartet. Dennoch schmerzte es ihn noch immer, wie wenig Worte sie nur noch benutzte. Je weiter ihr Hörvermögen zurückging, desto weniger schien sie Spaß am Sprechen zu haben. Die Ärzte hatten ihm versichert, dass dieses Verhalten normal sei; ihm zerriss es jedes Mal fast das Herz.

Dennoch schaffte er ein ehrliches Lächeln und ließ sie los, um ihr zu gesten, wie sehr er sich freute, sie zu sehen.

Sie grinste zurück. Sie waren eigentlich beide noch relative Anfänger in der Gebärdensprache, doch Sonya hatte ihn schon längst überholt. Sie war gerade mal sechs, aber die Sprache schien ihr vollkommen natürlich vorzukommen und jeden Tag kam sie und brachte ihm neue Worte bei.

„Sie sieht müde aus.“ Er erhob sich.

Elise nickte. „Und hungrig, ja. Es war eine lange Fahrt. Wir hatten zwar Proviant dabei, und Sonya hat die Fährfahrt großen Spaß gemacht, aber jetzt braucht sie etwas Richtiges zu essen.“

„Ich habe auf dem Weg eine Pizzeria gesehen. Ich lasse etwas bringen. Und danach gehts ins Bett.“ Jordan sprach laut genug, dass Sonya es verstehen würde, und sie nickte. Ihr Blick mochte müde sein, aber sie war eindeutig gleichermaßen aufgeregt.

„Sie freut sich auf ihr neues Zimmer“, erklärte Elise.

„Na, dann komm. Ich habe eine Überraschung für dich.“ Jordan streckte die Hand aus. Ungeplant, ungewollt, aber immerhin. Sonya würde es hoffentlich gefallen.

Tatsächlich konnte die Kleine es kaum erwarten, die Treppe hinaufzustürmen. Als sie dann im Zimmer stand, sprach ihr Blick Bände: Mit großen Augen sah Sonya sich um und trat näher an das Wandgemälde.

Elise machte Fotos mit dem Handy. „Das ist wirklich toll. Wie umsichtig von Ihnen, jemanden dafür zu engagieren.“

Er hob einen Mundwinkel. Wenn sie wüsste. Unwillkürlich glitten seine Gedanken zurück zu der dunkelhaarigen Fremden im bunt farbverklecksten Jeansoverall. Und zu dem Anblick, wie ihre Lippen gezittert hatten im Versuch, nicht zu weinen. Sein Kiefer mahlte.

„Danke!“ Sonya kam auf ihn zugerannt.

Jordan schluckte. Er ging auf die Knie, um die Kleine zu umarmen. Ja. Er schuldete jemandem eine verdammt große Entschuldigung.

Entweder ignorierte das Mädchen sie, oder es war versunken in einem Spiel. Jess hatte das Kind noch nie zuvor im Vineyard Vine’s Kids Club gesehen. Oder sonst wo auf der Insel.

Der Kids Club war ein beliebter Treffpunkt für die Kinder innerhalb des Gemeindezentrums. Es gab Kurse, Aktivitäten, Kinderbetreuung, Sport und sogar Schwimmkurse im Pool hinter dem Haus. Jess bot hier schon seit drei Jahren Kunstkurse für Kinder an.

Vielleicht eine neue Schülerin? Jess warf einen Blick zu der geschlossenen Bürotür. Ob die Mutter der Kleinen sie gerade anmeldete? Sie ging näher. Wie das Mädchen dabei aufschrak, machte ihr klar, dass es sicherlich kein Ignorieren gewesen war. Die Kleine hatte eine Hörbehinderung. Glücklicherweise hatte Jess über die Jahre ein wenig Gebärdensprache gelernt. Also ging sie in die Hocke und gestete ein „Hallo!“.

Das Mädchen strahlte sofort und winkte zurück.

Mein Name ist Jess.

Zur Antwort bekam sie Buchstaben gegestet: S-O-N-Y-A. Sonya , schloss das Mädchen ihre Namensgeste mit an. In der Gebärdensprache zeigte man eine Geste, die für einen selbst stehen sollte, um nicht jedes Mal die einzelnen Buchstaben zeigen zu müssen.

Hallo, Sonya, schön, dich kennenzulernen.

Ein weiteres Lächeln.

Jess kam ein Gedanke und sie deutete spontan zur Informationstafel. Wir machen zusammen ein Theaterstück, Mutter Gans. Ich leite es. Die Proben haben gerade angefangen. Hättest du Lust mitzumachen? Wir würden uns freuen.

Sonya hatte ganz offensichtlich den Inhalt verstanden und überlegte. Jess ließ ihr Zeit. Sie war sich sicher, dass man problemlos einen Part für Sonya anpassen können würde. Die Kinder waren noch so jung, dass sie auch ohnehin nur ein oder zumindest wenige Sätze nur zu sagen hatten. „Was meinst du?“, wandte sie sich wieder dem Mädchen zu, so, dass die Kleine ihre Lippen sehen konnte. „Möchtest du im Stück mitmachen?“

Die Bürotür hinter ihr wurde geöffnet und eine männliche, und verstörend bekannte Stimme erklang „Was in aller Welt …?“

Jess erhob sich und drehte sich um. Das konnte doch nicht wahr sein. Der unfreundliche Kerl vom Tag zuvor, der sie wegen der Burg angeschnauzt hatte. Und er sah diesmal sogar noch wütender aus.

Jordan war von dem plötzlichen Wiedersehen mit dieser Frau überrascht worden. Mehr noch aber überrollte ihn, was er dann gehört hatte. Hatte sie wirklich Sonya gefragt, ob diese an einem Theaterstück teilnehmen wollte? Wie konnte sie nur auf so eine miese Idee kommen? Der kurze Moment, in dem er sich gefreut hatte, sie wiederzusehen, sich bei ihr doch schon so bald entschuldigen zu können, verflog, als hätte es ihn nie gegeben.

„Was tun Sie denn hier?“ Jess stemmte die Hände in die Hüften, diesmal nicht so schnell mit ihrem Rückzug.

„Ich schreibe Sonya für den Schwimmunterricht ein.“ Was ging sie das überhaupt an? Warum erzählte er ihr das? Und warum war ihm so sehr danach, ihr auch noch zu erklären, dass der große Swimmingpool des Hauses und der nahe Atlantik der Grund für die Überlegung gewesen waren. Jordan schüttelte den Kopf. „Was haben Sie da gesagt? Theater? Sonya ist nicht interessiert.“

Jess verschränkte die Arme. „Achten Sie auf Ihren Ton. Und Sonya hat da ja wohl ein Wörtchen mitzureden.“

„Sie ist gerade mal sechs. Wie kommen Sie überhaupt dazu, sie das zu fragen?“

„Weil ich zufälligerweise hier Kursleiterin bin und auch die Leitung des Sommertheaters übernommen habe.“ Sie hielt inne, riss sich zusammen und streckte ihm die Hand entgegen. „Jess. Jessalyn Raffi.“

Aus reiner Höflichkeit heraus schüttelte er ihre Hand. „Jordan Paydan.“

Jess versuchte, das Gespräch wieder aufzunehmen. „Ihre Tochter schien durchaus Interesse …“

„Schwester. Sie ist meine Schwester. Halbschwester, um genau zu sein.“ Das geht sie doch gar nichts an. „Und sie hat kein Interesse.“

„Sie könnte dadurch andere Kinder kennenlernen.“

Die sich dann über sie lustig machen und ihr dumme Streiche spielen würden. Jordan würde das auf keinen Fall zulassen. Schon gar nicht nach allem, was geschehen war.

2. KAPITEL

Sonya hatte ihrem Bruder auf der gesamten Rückfahrt klargemacht, dass er sich schlimmer benommen hatte, als der fiese Bösewicht aus ihrem letzten Lesebuch. Er seufzte. Vielleicht hatte sie recht. Sehr sicher hatte sie das. Er hatte sich schon wieder daneben benommen. Wenn er ehrlich war, verstand er nicht, warum. Natürlich, er wollte Sonya beschützen. Er konnte nicht zulassen, dass sie von anderen Kindern ausgelacht wurde, und er konnte nicht verstehen, wie diese Frau so etwas leichtsinnig in Kauf nehmen konnte.

Der Gedanke daran ließ seine Wut noch einmal auflodern. Er musste Sonya beschützen. Egal vor wem. Wenigstens jetzt.

Aber alles, was er gerade tun konnte, war zuzusehen, wie Sonya aufgeregt gestend Elise von den Ereignissen erzählte und sich dann auch noch beide mit vorwurfsvollem Blick zu ihm umwandten.

„Okay, okay, ich gebe es ja zu!“ Er breitete entschuldigend die Arme aus. „Ich habe es schon wieder vergeigt.“

So gern er sich auf die Zunge gebissen hätte, es war zu spät. „Was meinen Sie mit ‚schon wieder‘?“ Nicht nur Elise sah ihn an.

Mist. „Es ist … Hmm. Sie war die Künstlerin, die das Bild oben gemalt hat. Und ich … war vielleicht etwas zu überrascht, um hier jemanden anzutreffen.“ Jordan seufzte. „Ich habe sie hinausgeworfen.“

„Sie haben was?!“

Er blickte zu Boden. „Ich war müde und ausgelaugt. Ich wollte einfach nur duschen und dann euch willkommen heißen. Und dann stand da diese fremde Frau plötzlich und … malte die Burg an die Wand…“ Himmel, klingt das bescheuert.

„Und heute haben Sie sie schon wieder angeschnauzt? Nur, weil sie Sonya in die Theatergruppe einlädt?“

Jordan wollte antworten, aber es fehlten ihm die Worte.

Glücklicherweise rettete ihn ausgerechnet Elise selbst aus der Situation. Sie wuschelte Sonya durchs Haar und gestete ihr. „Wasch dir die Hände, und dann gibt es Tee, ja?“

Die Kleine nickte schnell und verschwand nach oben.

„So kenne ich Sie nicht, Jordan. Ich weiß ja, dass Sie für Sonya alles tun wollen, aber Sie dürfen nicht so übervorsichtig sein. Das tut keinem gut, schon gar nicht Sonya.“

Sie war die Einzige, die so mit ihm reden konnte, das wussten beide. Jordan atmete durch. „Nach allem, was war, können Sie mich nicht verstehen?“

„Der Unfall ist Monate her, Jordan. Die Ärzte haben Ihnen doch gesagt, dass es nichts mit ihrem Hörverlust zu tun hat.“

„Sie sagen, er könnte es ausgelöst haben.“

„Das war eine der möglichen Theorien. Und Sie haben schon Ihr ganzes Leben für sie auf den Kopf gestellt.“

Er zuckte die Schultern. „Ich werde alles tun, was notwendig ist, um ihr dadurch zu helfen.“

„Dazu gehört, sie wie ein normales Kind aufwachsen zu lassen!“

„Das ist sie aber nicht.“

„Ach, Jordan.“

Er presste die Lippen zusammen. „Ich muss arbeiten.“

Elise nickte nur leicht und beließ es dabei. Sie drehte sich um und ging in die Küche, um für Sonya den versprochenen Nachmittags-Snack vorzubereiten. Was sie von dem Ganzen hielt, konnte Jordan sich jedoch denken.

Klasse. Drei Frauen an einem Tag gegen mich aufgebracht. Der Abend würde lang werden.

Er lehnte sich zurück und blickte nachdenklich zu der eierschalenfarbenen Wand gegenüber. Er musste sich entschuldigen. Mehr, als er geplant hatte. Er mochte von der Theater-Idee nicht begeistert sein, aber was in aller Welt war mit ihm los, wann immer er auf diese Frau traf?

Blumen. Blumen waren immer gut. Die dunkelhaarige Schönheit hatte sie eindeutig verdient. Und wenn er schon dabei war, konnte eine Entschuldigung mit Blumen wohl auch bei Sonya und Elise nicht schaden.

Jess war wieder mal spät dran. Die Kunstklasse begann in einer halben Stunde, und sie war noch nicht mal im Atelier. Wenn ein paar der Kinder wie immer früher kamen, wurde es höchste Zeit. Trotzdem glitten ihre Gedanken auf dem Weg noch einmal zurück zu den Bildern der Nacht. Es macht einfach keinen Sinn, schalt sie sich selbst. Was, bitte, sollte daran Sinn ergeben, von einem groben, unhöflichen Kerl zu träumen, der nicht den leisesten Funken Benehmen besaß? Oder das geringste Stückchen Empathie? Dessen Blick aus diesen tiefen, graugrünen Augen so hart sein konnte? Der einfach im Türrahmen stand, groß, geheimnisvoll. Dem sie im Traum so nah gekommen war, ihre Hände an seiner muskulösen Brust, die Fingerspitzen über die weiße Seide gleitend und jedes bisschen darunter spürend. Seine Lippen, die die ihren …

Hilfe! Jess schüttelte den Kopf, als könnte das ihren Geist beruhigen. Und ihren Körper. Nein. Der Kerl war unverschämt. Aggressiv. Aufbrausend. Genau.

Aber warum war er so? Was hatte ihn dazu gemacht? Wer war dieser Jordan Paydon, und was hatte ihn nach Martha’s Vineyard verschlagen? Touristen gab es eine Menge in den Sommermonaten, von reichen Schauspielern bis zu Spitzenpolitikern. Aber kaum jemand verlegte seinen Hauptwohnsitz hierher. Warum Jordan?

Und warum war er der Vormund seiner Schwester?

Jess war lange genug Lehrerin gewesen, um diverse Familienkonstellationen zu kennen. Aber das war doch wirklich außergewöhnlich. Nachdenklich trat sie in den Eingangsbereich des Gemeindezentrums.

„Da bist du ja endlich!“ Clara, die Leiterin, sah freudig auf.

Jess stutzte. „Bin ich zu spät? Der Unterricht beginnt doch erst.“

Die Ältere winkte ab. „Du hast noch Zeit. Aber wir sind zu neugierig: Wer ist der geheimnisvolle Fremde?“

„Bitte?“

„Komm.“ Clara ging in Richtung des Ateliers, und Jess folgte ihr nervös. Langsam wurde sie nervös, ob sie die Kursvorbereitungen in der verbliebenden Zeit schaffen würde.

Als sie den Raum betrat, blieb ihr Herz für einen Moment stehen: Der Beistelltisch neben ihrer Staffelei quoll geradezu über von dem Bouquet bunter, exotischer Blumen.

„Unglaublich, oder? Von wem sind die?“ Clara sah begeistert zu ihr.

Jess suchte nach Worten, wenigstens einem klaren Gedanken. Ob sie tatsächlich von ihm sein konnten? Aber warum sollte er das plötzlich tun? „Ich … habe keine Ahnung.“

„Aha.“ Clara glaubte ihr sichtlich kein Wort. „Na ja.“ Sie deutete auf den Strauß. „Dann schau vielleicht mal in die Karte.“

Jess legte ihre Stifte und Farben ab und betrachtete dann die Blumen: Lilien, Orchideen und Flieder. Der Strauß duftete wundervoll. Sie zog den Umschlag heraus, öffnete ihn, las die Worte auf dem feinen Papier:

Bitte akzeptieren Sie diesen Strauß als Zeichen meiner aufrichtigen Entschuldigung für mein unverzeihliches Benehmen. – Jordan Paydan

Sie schluckte. Die Worte waren einfach und sehr förmlich. Aber er hatte ihr Blumen geschickt. Nicht einfach angerufen oder sie irgendwann. Der Kerl, mit dem sie im College zusammen gewesen war, hätte nicht mal einen Gedanken daran gehabt. Aber dieser Jordan Paydon … Es schien ihm wirklich wichtig. Sie kannte den Blumenladen. Er bot immer schöne Gestecke an, aber dieses hier war eindeutig persönlich ausgesucht. Übertrieben. Deutlich. Ein einfacher Strauß hätte es getan. Was vielleicht eine unerwartete Unbeholfenheit in diesen Dingen verriet? Oder etwas anderes?

Clara klatschte vor Aufregung in die Hände. „Na? Von wem sind sie?“

„Tut mir leid, da ist nichts Romantisches dran. Sie sollen nur eine Entschuldigung sein.“

„Eine Entschuldigung?“ Die Enttäuschung war Clara anzusehen. „Wofür?“

„Es ist eine neue Familie nach Martha’s Vineyard gezogen. Die ersten Treffen zwischen uns liefen … na ja, sagen wir, nicht so gut.“ Jess sah auf die Karte. „Ich muss ihm irgendwie sagen, dass ich ihm verzeihe. Ich glaube, er hat das Mädchen gestern zum Schwimmunterricht angemeldet. Wir müssten seine Kontaktdaten haben.“ Ihr fiel nicht mal auf, dass sie nur von ‚ihm‘ sprach.

„Gestern? Du meinst Jordan?“

Jess sah auf. „Du kennst ihn?“

„Die Meisten hier kennen ihn. Oder wissen zumindest von ihm. Jordans Mutter ist hier geboren und aufgewachsen. Sie war oft hier und hat Sportunterricht bekommen. Als sie erwachsen war, ist sie nach New York City umgezogen, um ein erfolgreiches, internationales Model zu werden. Das ist aber eine ziemlich traurige Geschichte.“ Clara seufzte, blickte noch einmal zu den Blumen. „Keine Romantik dahinter, wie schade. Na ja. Zumindest sind sie sehr hübsch. Eine nette Geste.“

Jess nickte und winkte dem ersten eintreffenden Kind zur Begrüßung zu. Nett. Richtig. Das war es, und so war es gemeint. Nicht mehr. Wahrscheinlich gab es sogar irgendeine Freundin oder gar Ehefrau, die ihn dazu gedrängt hatte, sich zu entschuldigen. Der Gedanke ließ Jess schlucken.

Jordan stieß genervt den Atem aus. Er brauchte Luft. Oder etwas zu essen. Irgendetwas. Er verließ fluchtartig das elegante Büro, das er für sich in dem neuen Haus eingerichtet hatte. So großzügig es geschnitten war, ihm fehlte der Ausblick, den er von seinem Büro in Manhattan gewohnt war. Er hatte sich glücklicherweise genügend Freiheiten erarbeitet, um selbst bestimmen zu können, wann er dort anwesend sein musste. Aber aus Manhattan auf eine Insel vor Neuengland zu ziehen, war eine riesige Umstellung. Für Sonya war es das wert, keine Frage. Nur brauchte er gerade eine Pause davon.

Vor seinem inneren Auge funkelten ihn hellbraune Augen an, dunkle, seidige Locken wirbelten mit der Bewegung, als sich die Frau von ihm fortdrehte.

Ob sie die Blumen schon bekommen hatte? Ob sie ihr gefallen hatten? Er hatte schon häufig Frauen Blumen geschickt. Diesmal jedoch brannte er irgendwie darauf, die Reaktion zu wissen.

Jordan presste die Lippen zusammen. Er könnte gut verstehen, wenn sie sie in hohem Bogen aus dem Fenster geworfen hatte. Auch wenn das schätzungsweise nicht ihre Art war. Sie war eher der Typ, der die Blumen lieber verschenkte. Was die Reaktion per se für ihn nicht besser machte.

Wenn er nur nicht so überrascht gewesen wäre von ihrer Gegenwart und ihrem Angebot an Sonya. Allein daran hatte es gelegen. Nicht an seinem seltsamen Gefühl der Freude, sie wiederzusehen. Für das gab es ja auch gar keinen Grund. Es ging einfach um Sonya. Sie war wichtig. Ihre Kunstlehrerin sollte ihm egal sein.

Obwohl er es sich mehrfach in Gedanken einzureden versuchte, blieb es irgendwie wenig überzeugend. Aber warum verhielt er sich ihr gegenüber so? So … dämlich? Anders konnte er es nicht nennen.

Jordan sah aus seinen Gedanken auf. Moment. Das Gemeindezentrum? Er konnte sich nicht erinnern, bis hier her gelaufen zu sein.

Sein Blick blieb an einem Fenster hängen. Jessalyn Raffi. Ohne es zu wollen, beobachtete er, wie sie von einem Tisch zum nächsten ging, um mal hier, mal da den Kindern bei ihren Projekten zu helfen. Ihr Haar war locker hochgesteckt, Farbe war wieder auf ihren Händen und ihrer Schürze. Fast wie bei ihrem ersten Treffen. Sie hatte etwas Freies, einen Bohemian-Stil, der sie nur noch sexyer machte.

Was zur … Was dachte er da?

Jordan wollte gerade gehen, als sie aufblickte. Sie hatte ihn entdeckt. Toll. Wie musste das jetzt wirken, wie er draußen vor dem Zentrum stand und sie beobachtete? Hoffentlich nicht auch noch gruselig.

Ihm stockte der Atem, als sie statt ihn wieder anzufunkeln oder irgendwas ihn tatsächlich anlächelte. Und was für ein Lächeln es war.

Er musste etwas tun. Einfach stehen bleiben war keine Option. Jordan gab sich einen Ruck und ging los. In das Zentrum. Direkt zum Atelier.

„Ich … war gerade spazieren“, begann er, so wenig unbeholfen wie möglich. Reiß dich zusammen!

„Schön.“ Jess lächelte. „So kann ich mich bei Ihnen bedanken.“ Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Strauß auf ihrem Tisch. „Die Blumen sind wirklich wundervoll, danke. Aber es wäre nicht nötig gewesen.“

Er schüttelte den Kopf. „Schön, dass sie Ihnen gefallen. Aber eine Entschuldigung war definitiv überfällig.“

Jess biss sich auf die Lippen, zögerte. Der Anblick hätte ihn fast noch weiter abgelenkt. „Nein. Beim ersten Mal hatten Sie auf jeden Fall recht. Ich war in Ihrem Haus, unangekündigt, und habe einfach entschieden, was mit dem Zimmer dort geschieht. Sie hatten alles Recht, wütend zu sein. Es tut mir leid.“

Die umgekehrte Entschuldigung machte es ihm nun irgendwie trotzdem nicht leichter.

Jess fuhr fort. „Manchmal überkommt mich einfach eine Idee, wissen Sie, und dann denke ich nicht nach und mache einfach.“

Etwas, das in seiner Welt eigentlich nie vorkam. Er war immer derjenige mit der guten Struktur, der Planung bis ins kleinste Detail. Umso mehr überraschten ihn seine eigenen Worte: „Darüber wollte ich ohnehin mit Ihnen reden.“ Er wollte was?

Jess zog den Kopf ein. „Klar. Ich werde Marie sagen, dass jemand dorthin muss und die Wand neu streichen. Ich komme für die Kosten auf. Ich würde es auch selbst machen, aber im Moment …“

Er wischte das mit einer Handbewegung weg. „Nein. Das möchte ich gar nicht.“

Jess stutzte überrascht.

„Sie haben gesagt, dass die Burg noch nicht fertig ist. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie gerne vorbei und kümmern Sie sich darum. Bezahlt, natürlich, das ist nur fair.“

Jess starrte ihn an. „Das … hätte ich nun echt nicht erwartet.“

Jordan schluckte. Nun, wenn er ehrlich war, er auch nicht.

3. KAPITEL

Keine zwei Tage zuvor hätte sie jeden für verrückt erklärt, der ihr erzählt hätte, dass sie zurückkehren würde in dieses Haus, geschweige denn, um das Bild fertigzustellen. Jess konnte immer noch nicht glauben, dass sie jetzt wieder in dem Zimmer stand und den Rest der Szene aus ihrem Kopf an der Wand vorskizzierte.

Jordan war irgendwo im Haus. Sie spürte seine Anwesenheit, auch wenn sie nicht wusste, wo er war. Immer mal wieder blickte sie über die Schulter, vielleicht ein bisschen in der Hoffnung, er würde dort im Türrahmen erscheinen wie beim ersten Mal. Bisher blieb sie allein. Eigentlich sollte sie zufrieden sein, einfach in Ruhe ihr Bild malen zu können. Ihre Idee doch noch umsetzen zu können. Und dennoch fehlte er.

Was rede ich mir da ein? Es gab keinen Grund, so zu empfinden. Sie konnte nicht urplötzlich für einen vollkommen Fremden Gefühle empfinden. Selbst mit ihrem Ex-Verlobten Gary hatte es sich langsam und über eine längere Zeit entwickeln müssen, und seit ihm hatte sie nur einmal etwas mit jemandem gehabt. Etwas, denn es hatte sich im Nachhinein als Sommeraffäre herausgestellt. Ihre Hoffnungen, es könnte mehr werden, waren jäh zunichte gemacht worden. Er war einfach mit einem Auf Wiedersehen am Ende der Saison verschwunden. Statt eines Wiedersehens hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Ein Grund mehr, sich nicht Hals über Kopf auf Jordan Paydan einzulassen.

Mantraartig sagte sie sich immer wieder, dass sie hier nur ihren Job machte. Fast war sie selbst davon überzeugt, als plötzlich seine Stimme hinter ihr erklang.

„Der Burggraben fehlte noch, ich verstehe.“

Wie warm seine Stimme klingen konnte. „Der und die Zugbrücke.“ Sie nickte. Und musste den Pinsel absetzen, weil ihre Finger zu zittern begannen, als er ins Zimmer trat. Etwas in ihr wünschte sich, er würde noch einen Schritt weiter zu ihr kommen. Einen weiter gehen. Einen. Vielleicht zwei. Was war es, das diesen Mann so anziehend erschienen ließ?

Jess runzelte die Stirn. Und was sagte es über sie aus. Oder viel mehr, über ihre früheren Beziehungen? Mittlerweile wusste sie, warum diese gescheitert waren. Gary war nicht der Richtige gewesen, er hatte nie wirkliches Interesse gehabt, nicht an ihr, nur an dem Bild, das er von ihr gehabt hatte. Und er hatte sich noch weniger entschuldigen können, egal, wie falsch er auch gelegen hatte. Nach ihrer turbulenten Kindheit hatte sie sich einfach ein ruhiges, stabiles Zuhause gewünscht. Mittlerweile war ihr das klar.

Was nicht so durchschaubar war, war dieser Mann. Außer dass er seine Schwester um jeden Preis beschützen wollte, wusste sie nichts von ihm.

„Das macht Sinn“, kommentierte der derweil lächelnd weiter. „Wenn schon ein Burggraben, braucht man auch eine Zugbrücke darüber.“ Jordan stand nun direkt neben ihr, und Jess atmete Jess den erdigen Duft ein, der ihn umgab. Ein sicher teures Aftershave, gerade genug davon, um seine ganze Ausstrahlung noch zusätzlich zu unterstreichen. Sie wandte sich zu ihm um, sah die fein definierten Muskeln unter dem T-Shirt, dessen Ton die Farbe seiner Augen hervorhob und noch faszinierender als ohnehin schon wirken ließ.

Jess atmete aus und konzentrierte sich auf andere Themen. Irgendwie. „Sagen Sie, darf ich Sie fragen, warum Sie Ihre Meinung geändert haben? Ich meine wegen des Bildes?“ Die Antworten, die ihr einfielen, waren auf eine bestimmte Art nicht sonderlich beruhigend.

„Das ist relativ einfach.“ Er hob nur die Schultern. „Sie hatten recht. Sonya hat sich sofort darin verliebt. So viel Begeisterung überzeugt, dass man vielleicht falsch gelegen haben könnte.“ Er lächelte schief.

„Ich freue mich sehr, dass es Sonya gefällt. Ich bin zugegebenermaßen auch etwas erleichtert, weil ich, naja, ich dachte erst, dass Sie vielleicht versuchen würden, irgendetwas gut zu machen. Wie mit den Blumen.“

Er lachte leise. „Nein. Die Blumen waren die Entschuldigung. Das hier zeigt, dass ich falsch lag. Sonya wird begeistert sein, wenn sie sieht, dass es fertig ist. Es wird sicher eine schöne Überraschung für sie.“

„Oh, sie ist nicht da?“

„Nein. Elise ist mit ihr einkaufen.“

Elise. Also gibt es doch eine Frau in seinem Leben. Natürlich, es war doch naheliegend: gutaussehend, erfolgreich, nett. Männer wie Jordan blieben nicht lange allein.

Das geht dich überhaupt nichts an. Jess nickte zu seinen Worten und lächelte so gut sie konnte.

„Jedenfalls danke, dass Sie Ihren Samstag dafür opfern, hier fertig zu werden.“

„Ich tue das gern.“ Da konnte sie schon wieder offener lächeln. Sie liebte das Malen ja wirklich, und Sonya hatte sie direkt in ihr Herz geschlossen. „Sie müssen mir erzählen, was Sonya sagt, wenn sie es sieht.“ Wenn sie wieder zu Hause war, allein in ihrem Leben, und so tun konnte, als gäbe es Jordan Paydan gar nicht. Oder als wäre er nur einer von vielen. Als ob.

„Sie wird es definitiv lieben. Sie war sofort begeistert, und das jetzt wird es sicher perfekt machen. Ich kann mir jetzt schon ihr Strahlen vorstellen.“

Wie schön er dabei lächeln konnte. „Ja, ihre Freude ist wirklich ansteckend.“ Auf Jordans erneutes Lächeln und Nicken hin wagte sie sich einen Schritt weiter. Hoffentlich verschwand der Anblick damit nicht direkt wieder. „Deshalb hatte ich sie auch gefragt, ob sie im Theater mitmachen möchte.“

Jordan hielt inne, wurde diesmal aber nicht wütend. „Jess“, begann er. – Er nannte sie Jess! Und mit sanfterer Stimme noch dazu. – „Verstehen Sie doch, warum ich es nicht will …“

„Vielleicht sollten Sie ihr die Entscheidung überlassen.“ Was soll das jetzt? Kannst du nicht einmal die Klappe halten? „Entschuldigung. Ich habe es nicht so gemeint.“

„Nein, entschuldigen Sie sich nicht. Wir scheinen beide dazu zu tendieren, Dinge zu sagen, die wir besser zurückgehalten hätten.“

„Ja, vielleicht.“ Der Moment war vorbei. Das spürte sie deutlich. Das hast du ja wieder toll hingekriegt.

„Ich sollte zurück an die Arbeit“, entschuldigte er sich dann auch tatsächlich. „Ich muss fertig werden. Elise wollte heute Abend frei haben.“

„Frei?“ Jess stutzte.

Er schmunzelte schief. „Mache ich einen so schlechten Eindruck, dass es seltsam klingt, wenn ich meinen Angestellten einen freien Abend gönnen möchte?“

Angestellte. Jess’ Gedanken blieben an dem Wort hängen und wollten aus irgendeinem Grund hüpfen. Elise war eine Angestellte, wahrscheinlich Nanny, nicht seine Freundin! Das änderte wieder alles. Nein. Das ändert nichts. Sie schüttelte innerlich den Kopf. Das Ende ihrer Verlobung und das knappe Lebwohl ihrer Sommerliebe waren genug gewesen. Sie wollte das kein drittes Mal erleben. Und sie hatte das dumpfe Gefühl, mit einem Jordan Paydan würde es für ihr Herz in so einem Fall sicherlich noch schlimmer werden.

Er schien ihr Schweigen nicht ganz deuten zu können, verabschiedete sich nur noch einmal und verließ den Raum. Jess winkte ihm hinterher. Seit der Nachricht über Elise ein wenig fröhlicher.

Die Zahlen auf der Tabelle machten so wenig Sinn wie noch nie.

Jordan fuhr sich genervt durchs Haar. Wenn er ehrlich war, war ihm mittlerweile klar, warum er die Zahlen nicht verstand. Er wusste nur nicht, warum. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu der Frau, die unten im Haus ein Wandbild für seine Schwester fertigstellte. Ihre Lippen, ihr Lächeln, ihre Augen; das Strahlen darin, wenn sie von Kunst sprach: Jordan hatte jedes Detail von ihr vor Augen. Ebenso wie ihm klar war, dass sie allein im Haus waren. Er könnte sie ansprechen, einfach zumindest etwas Zeit mit ihr verbringen und sie näher kennenlernen. Aber was sollte das bringen?

Jordan presste die Lippen zusammen. Sie hatte sicherlich einen Freund. Frauen wie sie blieben nicht lang allein. Gut, er kannte sich damit nicht wirklich aus, seine Beziehungen waren bisher eher oberflächlich geblieben. Trotzdem. Sie war einfach anders. Aber auch das kam für ihn nicht infrage. Nicht in seiner Situation. Und schon gar nicht, nachdem er fast ein Jahr lang hatte zusehen müssen, wie sein Vater von dessen neuer Frau hemmungslos betrogen worden war. Und seine eigene Freundin hatte ihn verlassen, als sie erfahren hatte, dass er von nun an auf ein kleines Mädchen aufzupassen hätte. Oder, wie sie es genannt hatte, dass es ihm aufgedrückt worden war.

Er verzog das Gesicht in der Erinnerung. Das hatte gesessen. Er verstand noch immer nicht, wie sie überhaupt so hatte reagieren können. Sonya war sicherlich die Letzte, die irgendwas für irgendwas konnte.

Nein. Er atmete durch und versuchte wieder, seine Gedanken zu ordnen. Eine Beziehung kam schlichtweg nicht infrage. Auch nicht mit einer Künstlerin, die mit ihrer Art regelrecht eine Brise frischen Wind in sein Leben zu bringen schien, wann immer er sie sah. Oder eher Sturm. Deren Haar so seidig glänzte, sich sicherlich so wundervoll anfühlen würde. Deren Lippen so anziehend waren, dass er sie am liebsten sofort küssen würde.

Das kann doch nicht wahr sein! Jordan setzte sich abrupt auf. Er rief die Tabelle wieder auf und zwang sich, sich zu konzentrieren.

Eine Stunde später gab er auf.

Das vorsichtige Klopfen an seiner Tür kam dann auch gerade recht. Oder gerade nicht?

Er erhob sich, um die Tür persönlich zu öffnen. Himmel, wie konnte diese Frau nur mit einem Indie-Tuch um die Haare und farbverkleckstem Jeansoverall so dermaßen bezaubernd wirken.

„Entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich fertig bin.“

Jordan ließ das „Wie schade“ nicht über die Lippen. Genauso wenig wie die Frage, wann er sie wiedersehen konnte. Stattdessen nickte er nur. „Sehr gut. Einen Moment, ich hole nur mein Scheckbuch.“

Jess hielt ihn am Arm. Ein Schauer lief durch seinen ganzen Körper. Was müsste er tun, damit die Berührung andauern würde?

„Nein, warten Sie. Das ist nicht nötig.“

Er sah sie irritiert an. „Bitte? Soll ich es überweisen?“

„Nein. Ich möchte kein Geld dafür. Ich habe es gern getan.“

Jordan schluckte. Er hatte noch nie jemanden erlebt, der etwas ohne finanzielle Gegenleistung für ihn getan hätte. Außer seiner Eltern natürlich. Ein paar Freunde. Aber das hier? Er hatte die ursprüngliche Wandbemalung nicht bestellt, aber er hatte sie gebeten wiederzukommen.

„Es ist wirklich in Ordnung, Jordan.“ Jess lächelte. „Sonya freut sich, und das ist alles, was ich mir wünsche.“

„Ich weiß nicht. Sie haben sich so viel Arbeit gemacht. Wenigstens die Materialien …“

„Kommt nicht infrage. Ich hatte es von mir aus angefangen, und ich liebe, was ich tue. Warum sollte ich Geld dafür nehmen? Es ist ein Geschenk für Sonya, Punkt.“

Jordan nickte akzeptierend. So ungewohnt und beeindruckend es war, seine Gedanken waren schon längst nicht mehr beim Thema der Bezahlung. Sie wollte gehen. Unter anderen Umständen hätte er sie schon längst zum Abendessen eingeladen. Oder sie gefragt, ob sie ihm die Stadt zeigen könnte. Oder was auch immer. Jess wandte sich zum Gehen, und er machte einen schnellen Schritt nach vorn. „Brauchen Sie Hilfe mit Ihren Sachen?“

„Ich habe schon alles ins Auto gepackt, danke.“

Er nickte wieder. „Dann … sind Sie wohl soweit.“

Jess sah ihn fragend an, zögerte ihrerseits.

Ihr „Ich finde selbst hinaus“ kam gleichzeitig mit seinem „Ich bringe Sie zum Wagen.“

Stille.

Jordan presste die Lippen zusammen, irritiert über sein eigenes Verhalten. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, der souverän Präsentationen hielt und problemlos die wichtigsten Reden hinter sich brachte, er stand da und stammelte Sätze vor dieser Frau zusammen.

Wie süß ihre Sommersprossen sind.

Er atmete aus, sah zur Seite. „Ich … Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Ich sollte wohl wirklich zurück an die Arbeit.“ Es ging um Sonya. Wenigstens einmal musste er sich für sie zusammenreißen. Wenigstens diesmal.

Er schluckte, als sie sich mit einem Nicken umdrehte und ging.

Yeah. Was für ein Leben. Jess verzog das Gesicht, während sie sich allein auf der Couch in ihre Decke kuschelte und auf dem Tablet einen Film suchte.

Auf Martha’s Vineyard gab es an sich genügend zu tun, mit seinen Pubs und Restaurants und allem. Freunde hatten sie vorhin sogar eingeladen auszugehen. Aber ihr war nicht danach gewesen. Sie hatte ohnehin schon seit längerem keine Lust mehr, die Nächte durchzumachen und dann den halben Tag zu verschlafen. Aber jetzt kam dazu, dass sie eine Auszeit brauchte. Eine Auszeit von den Gedanken an Jordan.

Es half nicht, dass just in dem Moment ihr Handy klingelte und seine Nummer anzeigte. So gar nicht. Jess atmete nervös durch und zwang sich zu einem ruhigen Tonfall. „Ja, hallo?“

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem?“

Jess sah an sich hinunter. Jogginghosen, T-Shirt, und auf dem Tisch ein Eisbecher Minz-Schokoladen-Geschmack als Abendessen.

„Nicht wirklich. Worum geht es denn?“

„Wir würden Sie gern treffen. Sonyas Reaktion war doch anders als erwartet.“

Jess wurde blass. Oh, nein! Ihr Kopf ging rasend schnell das Gemälde durch, ob sie etwas falsch gemacht haben könnte. Oder vielleicht war es doch nicht Sonyas Geschmack gewesen? Vielleicht hätte der Drache lieber grün sein sollen? Und wie hatte sie überhaupt glauben können, dass Jordan von sich aus wegen ihr anrufen könnte.

„Was hat sie denn gesagt?“, fragte Jess unsicher nach.

„Dass sie es absolute Oberklasse findet und sich unbedingt persönlich bedanken möchte. Hätten Sie Lust, zum Abendessen vorbeizukommen?“

Jess war sprachlos. Nach dem Schrecken war die Freude über Sonyas Reaktion nur umso größer. Rein deswegen natürlich, nicht wegen der Aussicht, Jordan wiederzusehen. „Abend … essen?“

„Wenn es Ihnen nicht passt …“

„Nein! Es passt. Es passt sicherlich. Ich hatte noch nichts fürs Essen geplant. Außer Eiscreme. Mint-Chocolate. Was eigentlich nicht als Abendessen zählt, das ist mir klar. Aber manchmal braucht man das einfach, oder? Außerdem war es direkt auf dem Weg, ich habe sie von Bimby’s. Waren Sie schon mal dort? Die haben das beste Eis diesseits des Atlantiks. Und Minigolf. Und einen Streichelzoo. Und …“ Sie stoppte abrupt, als ihr auffiel, wie sie diesen Mann gerade zutextete.

Aber er lachte leise. „Danke für den Tipp. Das werden wir sicher mal ausprobieren. Heute Abend wollten wir aber grillen. Sonya macht mit gerade einen Salat. Bis Sie hier sind, ist alles fertig.“

Jess zögerte. Sie sollte ablehnen. Sie sollte ihn am besten nie wieder treffen. Außerdem müsste sie sich noch einmal umziehen. „Ich würde mich freuen“, rutschte es ihr heraus, bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte.

„Schön. Dann können wir wenigstens etwas zurückgeben für die Freude, die Sie Sonya gemacht haben.“

Ja, genau. Es war nur wegen Sonya. Nicht wegen ihr, nicht wegen ihm, und so war es auch am besten. „Danke. Ich freue mich darauf. Ich könnte in einer halben Stunde da sein?“

„Perfekt. Sonya wird sich freuen.“

Jess atmete durch. Sonya. Genau. Sie freute sich ja auch darauf, die Kleine zu sehen. Nur die Kleine. Punkt.

„Oh, Jess?“

„Ja?“ Sie war sofort ganz Ohr.

„Bringen Sie die Eiscreme mit, ja? Ich liebe Schoko-Minze.“

4. KAPITEL

Jordan legte auf und atmete durch.

Eine Einladung zum Abendessen. Sonya war vor Freude klatschend hochgesprungen, als sie das fertige Bild gesehen hatte. Das war es doch wert. Er, der Planer, hatte auf das Strahlen seiner kleinen Schwester hin spontan vorgeschlagen, Jess einzuladen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn er ehrlich war, freute er sich darauf. Er wollte Jess wiedersehen. Er wollte mit ihr und Sonya gemeinsam den Abend verbringen. Einen der ersten Abende in ihrem neuen Zuhause.

Zufrieden legte er die Spieße auf den eingemauerten Steingrill und sah sich um. Ihm war, als sei es das erste Mal. Als sähe er alles zum ersten Mal. Er seufzte leise. Wirklich alles war anders hier, als er es gewohnt war. Schön, keine Frage. Sonst hätte er es nicht gekauft: Der Grillbereich lag zwischen der Terrasse und dem Garten selbst. Ein kristallblauer Swimmingpool stellte mit seinen zwei Wasserfällen das Herzstück des Gartens dar. Das Türkis ging über in warme, graue Steinfliesen, welche zu der doppelten Schiebetür zur Küche des Haupthauses führten. Elise wohnte etwas entfernt in dem Verwalterhäuschen, das man von hier aus auch gut sehen konnte.

Noch etwas war anders: Zum ersten Mal fragte er sich, wie seine Wohnung bei einer Frau ankommen würde. Oder eher, konkret, ob dieses Anwesen Jess gefallen würde.

Im Eiskühler wartete italienischer Frascati. Allein dafür hatte er fast eine Stunde im örtlichen Weingeschäft verbracht und überlegt, was ihr wohl zusagen könnte.

Jordan fuhr sich kopfschüttelnd durchs Haar. Er versuchte tatsächlich, Jess zu beeindrucken. Er hatte noch nie versucht, eine Frau zu beeindrucken. Sein Grübeln wäre noch weitergegangen, wäre es nicht schlagartig in Freude umgeschwungen, als er ihre Stimme vom Haus her hörte. Er drehte sich um, um ihr und Sonya entgegenzusehen.

„Das riecht lecker. Ich hoffe, es ist in Ordnun...

Autor

Nina Singh
Nina Singh lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und einem sehr temperamentvollen Yorkshire am Rande Bostons, Massachusetts. Nach Jahren in der Unternehmenswelt hat sie sich schließlich entschieden, dem Rat von Freunden und Familie zu folgen, und „dieses Schreiben doch mal zu probieren“. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens. Wenn...
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