Verlobter - verzweifelt gesucht!

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Madison braucht einen Verlobten, und zwar sofort! Aber wie soll sie auf die Schnelle einen hervorzaubern? Vielleicht kann sie ja den charmanten Colin dazu überreden, sich als ihr Zukünftiger auszugeben … Hauptsachte, sie verliebt sich nicht in den Firmencasanova!


  • Erscheinungstag 08.04.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522274
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mit einer Hand voll Kleingeld bewaffnet steuerte Madison Kincaid auf den Pausenraum auf der gegenüberliegenden Seite der Empfangshalle bei Kincaid Personal Solutions zu. Sie hoffte inständig, dass der Süßigkeiten-Automat gut bestückt war. Den ganzen Tag schon war sie so nervös wie eine Koffeinsüchtige in einer Saftbar gewesen, und was ihre Geschmacksnerven jetzt brauchten, war etwas Reichhaltiges, Köstliches und Süßes.

Auf halbem Weg durch die Halle hörte sie eine Stimme aus dem Pausenraum. Sie erkannte sie sofort. Cindy aus der Buchhaltung. Ihr Akzent aus dem Südteil Chicagos war ebenso auffällig wie ihre übermäßig gebleichten und aufgedonnerten Haare.

„… und dann hat sie mir erzählt, dass sie gehört hat, Colin sei so fantastisch im Bett, dass …“ Bevor Cindy den Satz beenden konnte, bekam sie einen Lachanfall, und Madison blieb ruckartig stehen. Das Letzte, was sie heute – vor allem heute – hören wollte, war eine Lobeshymne auf Colin Benedicts Qualitäten im Bett.

Madison war nicht nur die Tochter des Chefs und Vizepräsidentin von KPS, sie galt vor allem auch als knallharte Geschäftsfrau, obwohl sie erst dreißig Jahre alt war. Sie wusste, wenn sie jetzt in den Raum hineinmarschierte, dann würde Cindy in ihrem unvermeidlichen Minirock schlagartig keinen Ton mehr von sich geben. Aber irgendetwas hielt Madison zurück. Und genau das sollte ihr zum Verhängnis werden.

Cindy bekam ihren Lachanfall in den Griff, und Madison ignorierte die Alarmsignale in ihrem Hinterkopf. Sie schlich sich näher an die Tür heran.

„Er war so gut, dass sich die Leute im Nebenzimmer wegen des Gekreisches am Empfang beschwert haben!“

Ihre Worte wurden mit entzückten Ausrufen und Gejohle honoriert. Und das war ein Glück. Denn so entging der 14:30-Pausenversammlung, wie Madison im Flur nach Luft schnappte.

Gekreische? Madison lehnte sich an die Wand und versuchte, es zu begreifen. Die wenigen Bettgeschichten, die sie bisher mit einem Mann erlebt hatte, führten nie zu mehr als ein oder zwei Seufzern und vielleicht einem verlegenen Kichern.

Es gab Anzeichen für ein Ende der 14:30-Pausenrunde – Tassen wurden gespült, Schranktüren zugeschlagen –, also huschte Madison zurück in ihr Büro. Leise schloss sie die Tür, griff nach einer Akte auf dem Tisch und blätterte sie erneut durch.

Das Resultat war so überzeugend wie vorher. Aber hatte sie den Schneid, so etwas durchzuziehen? War das zu überzogen? Zu verrückt, sogar für die heutige Geschäftswelt?

Nun ja, wahrscheinlich schon. Aber sie war verzweifelt.

War sie auch verzweifelt genug? Denn was sie gerade mitbekommen hatte, erleichterte es ihr nicht gerade, Colin einen Antrag zu machen. Einen kurzen Moment schweiften ihre Gedanken ab. Ob wohl jede Frau in Colins Bett aufschrie?

„Siehst du, Madison“, schalt sie sich selbst. „Deshalb solltest du nicht an Türen lauschen.“

Mit Abscheu warf sie die Akte zurück auf den Tisch und setzte sich. Was war schon dabei, wenn er eine Frau zum Schreien bringen konnte? Er war auch ein Dieb und ein Lügner, und sie sollte nach dem Telefon greifen und die Polizei rufen, anstatt hier zu sitzen und über Colins angebliche sexuelle Vorzüge nachzusinnen.

Madison griff nach dem Hörer, als es kurz anklopfte. Sie riss ihre Hand zurück, noch bevor ihr Vater öffnen und seinen Kopf durch die Tür stecken konnte.

„Lust auf Abendessen? Es zieht mich zum Italiener.“

„Äh …“ Sie verdeckte die Akte mit ihren Ellenbogen. „Abendessen?“

„Genau. Essen. Heute Abend.“

„Oh. Äh … lieber nicht. Ich … ich muss noch die Einzelheiten für den Poodles-Auftrag auf die Reihe bekommen.“ Sie war nervös, und dies war die beste Ausrede, die ihr einfiel, doch Madison wusste sofort, dass sie damit nicht durchkommen würde. Harlon Kincaid kam nun ganz in ihr Büro hinein.

„Siehst du, Zuckerschnecke? Genau das ist der Grund, warum ich die Firma verkaufen will. Du solltest verabredet sein … Spaß haben. Einen …“

„… Mann finden“, führte Madison den Satz zu Ende.

„Na also, sind wir uns endlich einig“, scherzte ihr Vater. Er kam zu ihr und zwickte sie in die Nase. „Du brauchst ein Privatleben, Zuckerschnecke.“

Sie schob seine Hand weg. Zuckerschnecke. Sie konnte sich niemanden vorstellen, der weniger nach einer Zuckerschnecke aussah als sie, aber Harlon bestand darauf, sie mit ihrem alten Kosenamen anzusprechen. Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter. Damals hatte sie offenbar ein Party-Kleidchen gehabt, das duftig und niedlich ausgesehen hatte, und Harlon hatte es sehr an ihr gemocht. So war sie seine kleine Zuckerschnecke geworden. Als Kind hatte ihr dieser Spitzname das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Aber mit der Zeit wurde es peinlich – besonders nachdem immer deutlicher zu Tage trat, dass Madison die weiblich zarten Gesichtszüge ihrer Mutter nicht erben würde.

Madison kam eindeutig nach ihrem Vater. Sie hatte die gleiche helle Haut, die zu Rötungen neigte, und das gleiche dicke blonde Haar. Sie war auch so schlank wie Harlon – und so groß. Einen Meter fünfundachtzig mit einer vierziger Schuhgröße und – zu ihrem größten Bedauern – einem Hintern, der Kleidergröße vierundvierzig verlangte. Sie versuchte, das zu kaschieren, indem sie ihre Garderobe mit dunklen, klassischen Kostümen und flachen Halbschuhen bestückte, mit geschmackvoller, aber eher unweiblicher Geschäftskleidung. Sie zog sich aber nicht nur so an, sie lebte auch so. Kincaid Personal Solutions bedeutete ihr alles.

„Ich liebe diese Firma, genau wie du es immer getan hast“, sagte sie zu ihrem Vater. „Für dich war das Leben genug.“

„Hölle noch mal“, spottete Harlon, „ich habe die Firma vergöttert. Meine Zeit habe ich damit verpulvert, das Leben anderer Menschen auf die Reihe zu bringen. Ich bin nach der Pfeife von Kunden getanzt, die zu viel Geld und zu wenig Verstand haben, anstatt mich nach einer Stiefmutter für dich umzusehen.“

„Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin auch ohne groß geworden.“

Harlon lächelte sanft. „Das weiß ich doch, das weiß ich doch. Aber ich will, dass du glücklich bist“, erklärte er auf dem Weg zur Tür.

Madison seufzte tief und verdrehte die Augen. „Ich bin glücklich, Dad. Ich sage dir das immer wieder. Das Einzige, was mich unglücklich macht, ist der Verkauf der Firma.“

Die Hand schon am Türdrücker drehte Harlon sich um. Der Ausdruck in seinem großen, gut aussehenden Gesicht ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen. „Mädchen wie du brauchen ihre eigene Familie“, meinte er, „ein Leben außerhalb dieser Firma. Ich bin sechzig Jahre alt und gehe jetzt raus hier, um so ein Leben zu finden. Du bist halb so alt wie ich, und ich erwarte von dir, dass du das Gleiche tust.“

„Aber ich liebe mein Leben genau so, wie es jetzt ist!“, beharrte sie.

„Unsinn“, gab er ungerührt zurück. „Du brauchst einen Ehemann, und du wirst nie einen finden, wenn du hier weiter bis zum Hals in Arbeit steckst. Und das ist genau das, was passieren wird, wenn ich dir die Leitung dieser Firma überlasse. Du würdest hier verkümmern.“

Nachdem ihr Vater die Tür geschlossen hatte, nahm Madison die Akte wieder vom Tisch. „Danke, dass du mir die Entscheidung so leicht machst, Dad“, murmelte sie und stand auf. Mit der Akte unter dem Arm eilte sie zu Colin Benedicts Büro, das auf der anderen Seite der Empfangshalle lag.

Sie kam an den geschlossenen Türen von zwei weiteren Führungskräften vorbei, John Prince und Dana Hall. Mit Colin, Madison und Harlon waren sie fünf Geschäftsführer, die Kundenkonten überwachten und für die Akquisition neuer Aufträge zuständig waren, bis ihr Vater vor ein paar Wochen bekannt gegeben hatte, dass er nicht länger an neuen Kunden interessiert sei. Zuerst war Madison nicht beunruhigt gewesen. Sie hatte angenommen, dass er lediglich kürzer treten wolle, um dann irgendwann in den Ruhestand zu gehen. Madison würde als Präsidentin nachrücken. Doch in der vergangenen Woche hatte ihr Vater die Bombe platzen lassen, die jetzt ihr Leben zu ruinieren drohte.

Die Tür zu Colins Büro war wie üblich geöffnet. Colins Politik der offenen Tür war einer der Gründe für seine Beliebtheit. Einer der Gründe dafür, dass ihm jeder vertraute.

Colin schaute von dem Stapel Papiere auf und sah Madison vor sich stehen.

„Hallo, Zuckerhase“, begrüßte er sie mit leicht schiefem Lächeln.

Zuckerhase. Er nannte sie so, seitdem er für ihren Vater arbeitete. Anfangs war sie verknallt in ihn gewesen, aber welche pubertierende Siebzehnjährige hätte ihn wohl nicht unwiderstehlich gefunden? Es lag nicht nur an Colins breiten Schultern und seinem hinreißend jungenhaften Aussehen – wie ein Kennedy ohne Akzent. Er hatte sich außerdem von dem stattlichen Vermögen und der gesellschaftlichen Stellung seiner Familie losgesagt. Eine Mischung, die diesen piekfein gekleideten Revoluzzer in Madisons Augen zum Helden erhob.

Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis Colin sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Als er ihre Abneigung gegen den Spitznamen bemerkte, hatte er zunächst Verständnis geheuchelt, sie dann aber Zuckerhase getauft und behauptet, ihr Vater habe wohl einfach noch nicht bemerkt, dass sie über das Stadium einer Zuckerschnecke längst hinaus gewachsen war. Fortan behandelte ihn Madison wie einen unausstehlichen älteren Bruder, der das Pech hatte, nicht einmal aufgrund familiärer Bindungen auf Nachsicht hoffen zu dürfen.

Merkwürdigerweise hatte Madison in letzter Zeit das Gefühl gehabt, dass sie besser miteinander auskamen. Beim alljährlichen Abendessen auf der Osterfeier ihres Vaters hatte sie neben ihm gesessen und sich eigentlich ganz wohl gefühlt. Bei dieser Gelegenheit hatten sie gemeinsam die Idee für das Coleman Gallery Projekt ausgebrütet. Das Projekt wurde ein Erfolg, und sie beide hatten einmütig vom ersten Angebot bis zur Vertragsunterzeichnung zusammengearbeitet, ohne sich wie eifersüchtige Geschwister zu beharken. Na ja, das war jetzt natürlich Schnee von gestern. Colin war von einem unausstehlichen Kerl zu einem Haufen Abschaum mutiert.

Plötzlich war es ihr völlig gleichgültig, wozu seine Hände oder sonstigen Anhängsel fähig waren. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass du nach unserer kleinen Zusammenkunft noch Interesse an Kosenamen für mich hast, Colin“, erklärte sie kühl, während sie in sein Büro trat und die Tür schloss.

Colin runzelte die Stirn. „Klingt ernst.“

Sie gab ihm die Akte.

Schnell überflog er die erste Seite, während er weitersprach. „Wenn es hierbei um die Verhandlungen deines Vaters mit der Endicott Group geht … du weißt, dass er sich entschieden hat zu verkaufen. Ich bin davon genau so wenig begeistert wie du, aber …“ Er hörte plötzlich auf zu reden und setzte sich ruckartig auf. „Was zum Teufel …“, sagte er, als er die zweite Seite las.

„Genau das habe ich mich auch gefragt“, stimmte Madison ihm zu.

Colin überflog erneut eine Seite. „Aber dies hier ist eine Übersicht von Coco Alexanders Konten …“

„… und von den Beträgen, die du unterschlagen hast“, führte sie den Satz zu Ende. „Dieser zweite Bericht deckt auf, wie du es gemacht hast.“

Kincaid Personal Solutions half Menschen, ihre Probleme zu lösen. Kunden konnten Verträge für jede Art von Dienstleistung abschließen. Es wurde einfach alles angeboten, von der Vermögensberatung, über Buchhaltung, Gehaltsabrechnungen, Wirtschaftsprüfung, Rechtsberatung und Immobilienverwaltung bis hin zu sehr persönlichen Serviceleistungen wie der Einstellung einer Kinderbetreuerin mit ungarischen Sprachkenntnissen oder dem Aufspüren eines Verhaltenstherapeuten für den von Verlustängsten geplagten russischen Wolfshund.

Die Kunden waren so unterschiedlich wie die Dienstleistungen, die KPS anbot. Kunstgalerien, Restaurants, Boutiquen, Anwalts- und Architekturbüros gehörten ebenso dazu wie schwer arbeitende Akademiker und wohlhabende Müßiggänger, denen es nicht zuzumuten war, sich selbst um die Begleichung ihrer Stromrechnung zu kümmern.

Zu Colins Kundenstamm gehörten überwiegend Damen, die viel Wirbel veranstalteten, ihn mit Geschenken überschütteten und ihm einfach ihr Leben anvertrauten.

Das hätten sie wohl besser lassen sollen, so zumindest schien es jetzt.

Colin stieß den Stuhl zurück und stand auf. „Du erwartest doch nicht etwa von mir, dass ich diesen Mist hier ernst nehme?“

„Worauf du dich verlassen kannst“, fuhr sie ihn an. „Du bedienst dich von diesen Konten, und so weit ich es übersehen kann, tust du das schon seit Monaten.“

Ruckartig schüttelte er den Kopf. „Das ist verrückt, und du weißt es.“

„Da steht es, Colin.“ Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Akte, die ausgebreitet auf seinem Schreibtisch lag. „Du bist ziemlich geschickt vorgegangen. Ein paar Doppelbuchungen, ein paar aufgestockte Überweisungen hier, ein paar nicht autorisierte Abbuchungen da. Niemals so viel, dass man darüber stolpern würde, aber es addiert sich am Ende zu einem netten, kleinen Sümmchen. Wenn die Abrechnung von Fields in diesem Monat nicht fälschlicherweise an Coco geschickt worden wäre, hättest du bestimmt noch eine Zeit lang so weitermachen können.“

„Erzähl mir nicht, dass du mir unterstellst, mich auf ihre Kosten zu bereichern?“ Er zeigte mit seinem Daumen auf sich. „Ich kaufe mir meine Anzüge selbst, Madison, mit Geld, das ich mir verdammt hart erarbeite.“

„Sicher!“, gab sie verärgert zurück. „Wir wissen doch beide, dass du es nicht nötig hast, Cocos Kreditkartenrechnung zu manipulieren, um einen neuen Anzug von ihr zu bekommen.“

Colin starrte sie an. „Was soll denn das jetzt heißen?“, fragte er.

„Ich denke, du weißt, was das heißen soll. Aber mach dir keine Sorgen. Bisher klagt dich niemand wegen so etwas Profanem wie Abrechnungsbetrug an. Coco hat ein gutes Gedächtnis, und sie ist sich sicher, dass die Summe, die in dem letzten Monatsbericht von uns für Fields ausgewiesen wurde, mindestens drei mal so hoch war wie die Rechnung, die sie jetzt aus dem Laden bekommen hat. Sie will wissen, wie das sein kann. Ich habe ihr gesagt, dass dies möglicherweise ein Schreibfehler sei und ich mir die Sache anschauen würde.“

Als Erbin eines Fleischverpackungskonzerns gehörte Coco zu den reichen Müßiggängerinnen. Sie betrachtete Colin als persönlichen Schoßhund für die Betreuung ihrer Finanzen. Madison war überzeugt davon, dass die schon häufig geschiedene Coco ein Auge auf Colin geworfen hatte und ihn irgendwann für sich haben wollte. Das war vielleicht auch der Grund, warum er dachte, er könne mit seinen frisierten Zahlen davonkommen.

Colin sah sich die Akte erneut an und schaute dann auf. „Das ist einfach alles Unsinn, und ich kann dir beweisen, dass ich damit nichts zu tun habe. Ganz einfach.“

Er fing an, auf seine Tastatur einzuhämmern.

„Was tust du da?“, wollte sie wissen.

„Ich logge mich in die Konten ein. Ich werde dir zeigen, dass es für jede Belastung und jeden Geldzufluss eine Erklärung gibt.“

Er hatte das Passwort für sein Bankkonto eingegeben, klickte ein paar Mal auf die Maus und wartete, bis die Daten von seinem Konto hochgeladen waren. Die Überweisungen der letzten drei Monate erschienen auf dem Bildschirm. Er nahm die erste Seite von Madisons Bericht und verglich die Daten und Beträge. „Das gibt es doch nicht …“, murmelte er und warf sich in seinem Stuhl zurück. Er fühlte sich, als wenn ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst hätte.

Die Daten und Nummern stimmten überein. Für jede Scheinbuchung in dem Bericht gab es eine passende Überweisung auf sein Konto. Er drückte sich Daumen und Zeigefinger in die Augen. Was er auf diesem Bildschirm sah, konnte nicht stimmen. Das war unmöglich.

Aber als er erneut hinsah, hatte sich nichts verändert. „Das ergibt keinen Sinn.“

Er spürte eher, als dass er sah, wie Madison um den Tisch herum kam und ihm über die Schulter schaute. „Willst du immer noch behaupten, du bist unschuldig?“

Er stand so heftig auf, dass sein Bürostuhl herumschleuderte und hinter seinem Schreibtisch gegen die Wand knallte. Madison war nicht viel kleiner als er, sodass sie sich direkt in die Augen schauen konnten. Sie wich nicht zurück vor seiner plötzlichen Wut. Immer war sie stark gewesen, auch schon mit siebzehn Jahren.

Madison unterbrach schließlich den Blickkontakt und begann, vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. Dies war die Chance für den pathetischen Teil ihres Auftritts.

„Wie konntest du ihm das antun? Nach allem, was er für dich getan hat. Nachdem er dich in der Firma aufgenommen und dir alles beigebracht hat. Nachdem er …“

Als sie zum dritten Mal an ihm vorbeiging, packte er sie an den Schultern und stoppte sie ruckartig. „Verdammt, Madi, das könnte ich nie“, sagte er und sah in ihre kühlen, grauen Augen. Er hatte immer gefunden, dass sie ernst aussähen, aber heute war ihr Ausdruck eiskalt. Und da war noch etwas. Eiskalte Glut. Das war es. Das also war der Unterschied. Die Glut. Für einen Moment ließ er zu, dass seine Gedanken sich mit einer ganz anderen Madison beschäftigten als der, die er bisher gekannt hatte.

Jesus. War er verrückt? Sie klagte ihn der Unterschlagung an, und er dachte darüber nach, wie zart sie sich unter seinen Händen anfühlte.

„Du weißt, wie ich zu Harlon stehe. Er hat sich mir gegenüber mehr wie ein Vater verhalten als mein eigener – mehr als der ganze Haufen Volltrottel, die meine Mutter nach ihm geheiratet hat.“

Ihre Stimme wurde weicher. „Warum hast du es dann getan? Falls du Geld brauchst, du weißt, Harlon hätte es dir …“

„Falls ich Geld brauchen würde, Madison, müsste ich nur nach Hause gehen und mein Treuhandvermögen einfordern.“

„Zurück nach Lake Forest gehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Zu kompliziert. Wenn du dein Treuhandvermögen haben willst, dann musst du zurück in den Schoß der Familie.“

Wieder hatte sie Recht. Als er zehn Jahre alt war, hatte man ihn nach Lake Forest geschickt, einem von Chicagos noblen Randbezirken am Nordufer. Dort sollte er von seinem Großvater väterlicherseits aufgezogen werden, einem Mann, der für seinen eisernen Willen und seine harte Hand bekannt war. Der hatte bei seinen eigenen Kindern versagt und wollte dies auf keinen Fall bei seinem einzigen Enkel noch einmal erleben. Colin hatte sich ihm nicht gefügt und dafür eine Menge Schläge eingesteckt, aber er hatte sich geschworen zu verschwinden, sobald sein achtzehnter Geburtstag gekommen war. Es war der größte Tag in seinem damaligen Leben gewesen, als er seinem Großvater den Rücken gekehrt hatte, obwohl der hinter ihm herbrüllte, dass er keinen Penny aus dem Benedict-Vermögen erhalten würde, wenn er nicht sofort zurückkäme.

Colin war nicht zurückgekommen.

Ein paar Jahre später schrieb er sich für Abendkurse an der Universität von Chicago ein und arbeitete an der Bar eines Ladens in Dearborn in der Nähe des Finanzviertels. Harlon Kincaid kam regelmäßig zum Mittagessen. Es war der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft. Harlon hatte ihn dazu überredet, Vorlesungen in Betriebswirtschaft und Rechnungswesen zu belegen. Ein Jahr später bot er Colin einen Job an.

Harlon Kincaid war ehrgeizig, ohne skrupellos zu sein, vor allem aber war er ehrlich und freundlich. Alles Charakterzüge, die Colin noch bei keinem Vater kennen gelernt hatte. Wie ein Schwamm sog er zehn Jahre lang Harlons Kenntnisse und seine Zuneigung auf. Er hatte sich den Titel eines Leitenden Kundenberaters hart erarbeitet. Seine Verbundenheit sowohl mit Harlon als auch mit KPS hatte mit jeder Stufe auf der Karriereleiter zugenommen. Seinen Mentor übers Ohr zu hauen – oder die Firma –, kam für Colin nicht in Frage. Obwohl er und Madison über die Jahre so ihre Differenzen gehabt hatten, versetzte es ihm einen Stich, dass sie annahm, er wäre in der Lage, so etwas zu tun.

„Solche Belege können manipuliert werden. Jemand kann sich in meinen Computer gehackt haben und …“

Sie schüttelte den Kopf. „Du guckst wirklich zu viele Filme.“

Er schob die Hände in die Taschen und musste sich eingestehen, dass es hoffnungslos war. Zumindest wenn man diese Sache so beurteilte wie Madison. „Du bist sicher, dass ich das getan habe?“, fragte er sie erstaunt.

Sie reckte ihr Kinn empor. „Fakten sind Fakten.“

Diese Bewegung brachte ihn beinahe zum Lachen. Sie war sich ihrer selbst immer schon so sicher gewesen, egal, was sie tat und was sie wollte. Colin hatte Madison von Anfang an mit Ehrfurcht betrachtet. Obwohl er bereits vier Jahre allein durchs Leben gegangen war, bevor er mit zweiundzwanzig bei KPS anfing, war Madison mit ihren damals siebzehn Jahren erwachsener gewesen als er. Aber er sah auch, dass aus der Entschiedenheit Härte geworden war. Langsam konnte er einige der Beweggründe von Harlon, die Firma zu verkaufen, nachvollziehen.

Colin ächzte bei dem Gedanken. Harlon. Was würde er dazu sagen? Er hatte Colin vertraut, war für ihn da gewesen, als er sonst niemanden hatte.

„Madi, ich muss dich um etwas bitten. Halte diese Akte für ein paar Tage zurück, bevor du damit zu Harlon gehst. Gib mir etwas Zeit herauszufinden, wer das getan hat und warum.“

Es ist so weit, dachte Madison. Ihr Einsatz. Jetzt oder nie.

„Ich bin nicht in der Stimmung, Geschenke zu verteilen“, sagte sie mit einer Ruhe, die sie selbst überraschte, denn ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. „Aber vielleicht gestatte ich dir, einen Aufschub zu kaufen.“

„Kaufen?“, fragte er überrascht. „Und womit sollte ich das tun?“

„Steck mir einen Ring an den Finger, und du kannst so viel Zeit haben, wie du brauchst.“

Wieder sah er sie mit diesem schlitzohrigen Lächeln an. „Zuckerhase, fragst du mich, ob ich dich heirate?“

Sie schüttelte den Kopf. „So schlimm ist es nicht. Eine nette, ausgedehnte Verlobungszeit reicht mir.“

Das Lächeln erstarb beinahe, als er sie anstarrte.

„Wahr ist, Colin, dass ich diese Firma verliere, wenn ich meinen Vater nicht davon abbringen kann, sie zu verkaufen. Er sagt, er will das tun, weil ich mehr Privatleben brauche. Er ist sicher, dass ich nie einen Mann finden werde, wenn ich die Leitung der Firma übernehme.“

Colin starrte sie an. In seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle. Er schwankte zwischen Unglauben, Nachdenklichkeit und – da war sie sich sicher – widerwilliger Bewunderung. „Also besorgst du dir einen Ehemann.“

„Einen Verlobten“, korrigierte sie ihn.

„Und du denkst, das wird Harlon von dem Verkauf abbringen?“

„Wer sollte diese Firma besser führen können als der Goldjunge vom Nordufer und die Tochter des Chefs?“

Er lachte kurz auf. „Das muss ich dir lassen, Zuckerhase. Das hast du dir ziemlich clever überlegt. Ist das nicht trotzdem ein bisschen weit hergeholt?“

Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. „Ich bin bereit zu tun, was getan werden muss, um die Endicott Group – oder sonst wen – davon abzuhalten, seine Hand auf diese Firma zu legen.“

„Und du bist bereit, auf Methoden wie diese zurückzugreifen, um das zu erreichen?“

Er starrte sie an, als käme sie von einem anderen Stern. Und das tat sie vielleicht auch. Eine Frau vom Planeten der Nicht-so-Fabelhaften.

Sie betrachtete ihn interessiert. Einen Meter neunzig groß, sehr männlich und gleichzeitig elegant. Er hatte breite Schultern, einen muskulösen Oberkörper und lange, kräftige Beine. Seine Maßanzüge passten perfekt zu seinem von allen erdenklichen Sportarten wie Segeln und Ski fahren durchtrainierten und gebräunten Körper. Er kam definitiv vom Planeten der Oh-so-Fabelhaften. Ihrer beider Gene waren eigentlich nicht zur Vermischung vorgesehen. Würden die Mädels im Pausenraum mit ihren Bagels und dem Kaffee diese Geschichte glauben?

Oh mein Gott! Es war egal, was die Mädels im Pausenraum dachten. Aber würde ihr Vater ihnen diese Geschichte abkaufen?

Sie war so aufgeregt gewesen wegen dieses Antrags an Colin, dass sie ganz vergessen hatte, dass er nicht unbedingt der am schwersten zu Überzeugende war.

Madison steckte die Hände wieder in ihre Hosentaschen und ging hinüber zum Fenster, um ihre Stirn gegen die Scheibe zu drücken. Sie war warm von der Maisonne. Frühling in Chicago. Fünfzehn Stockwerke unter sich sah sie Menschen auf der LaSalle Street, die schon ohne Jacken unterwegs waren.

Wie oft schon war sie diese Straße entlanggegangen? Hier war sie zu Hause, viel mehr als sie es je in dem Apartment in Dearborn gewesen war, in dem ihr Vater noch immer wohnte. Nach dem Tod von Madisons Mutter war Harlon mit ihr dorthin gezogen, um näher an den Büroräumen in der LaSalle Street zu sein. Ursprünglich hatte er vorgehabt, so mehr Zeit mit Madison zu verbringen. Aber Madison hatte schnell einsehen müssen, dass sie nur dann etwas von ihm hatte, wenn sie bei KPS war. Sie lernte, sich still zu verhalten und zuzuhören. Und sie erkannte, dass es besser war, sich nützlich zu machen, als nur dekorativ herumzusitzen. Das war auch gut so, denn irgendwie wusste Madison schon damals, dass sie nie zu den besonders dekorativen Frauen zählen würde. Mit fünfundzwanzig Jahren war sie Vizepräsidentin der Firma. Das war jetzt fünf Jahre her. Seitdem bereitete sie sich darauf vor, irgendwann Präsidentin zu werden.

„Ich fing an, nach der Schule und in den Ferien herzukommen, als ich sieben Jahre alt war“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. „Mit fünfzehn bekam ich mein erstes Gehalt. Diese Firma zu verkaufen heißt für mich auch, meine Kindheit zu verkaufen.“

Wütend unterdrückte sie die Tränen. Sie würde ganz sicher nicht vor Colin heulen. Sie atmete tief und langsam ein, hob den Kopf und drehte sich wieder zu ihm um.

„Also … hier ist mein Angebot“, sagte sie ruhig und überzeugend, als wäre dies irgendein Geschäft. „Du stimmst der Verlobung zu, zahlst das unterschlagene Geld zurück, wir bringen die Konten in Ordnung, lassen ein paar Papiere verschwinden und das war es.“

Sie erwartete eine Auseinandersetzung, zumindest eine Diskussion. Stattdessen fragte er: „Wann brauchst du meine Antwort?“

Autor

Nikki Rivers
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