Verloren in den Wogen der Leidenschaft

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Verwirrt und ohne Erinnerungen erwacht der Händler Jack an der Küste der Bretagne. Wie ist er hierhergekommen? Wer ist die schöne Fremde, die sich besorgt über ihn beugt und der er im Delirium einen Kuss raubt? Blanche Tanet pflegt ihn gesund und erklärt ihm, dass sein Schiff bei einem Überfall des berüchtigten Piraten „Weißer Wolf“ auf Grund gelaufen ist. Von Jacks altem Leben ist nichts mehr übrig außer einem Wrack. Am liebsten würde er sich mit der verführerischen Blanche eine neue Zukunft aufbauen, doch sie ist seltsam zurückhaltend. Welches Geheimnis verbirgt Blanche vor ihm


  • Erscheinungstag 05.04.2022
  • Bandnummer 376
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507486
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

März 1346

Wollt Ihr etwa behaupten, dass vor Anfang nächster Woche kein Schiff nach Saint-Malo abfährt?“

Mit beiden Händen stützte Captain John Sutton sich auf den Tisch, hinter dem der Hafenmeister auf seinem Stuhl saß und versuchte, sich trotz seines Ärgers zu beherrschen. „Ihr habt mir versichert, ich hätte nicht länger als zwei Tage zu warten!“

Um zu betonen, wie unrealistisch die Forderungen des Engländers waren, rollte der wackere Vertreter des Hafenamts mit den Augen, zuckte mit den Achseln und warf den Männern, die weintrinkend an der Feuerstelle versammelt waren, einen vielsagenden Blick zu. John unterdrückte einen Fluch, denn seit er vergeblich versuchte, eine Schiffspassage aufzutreiben, hatte er das Hafenamt von Concarneau eher als Gelegenheit für geselliges Beisammensein hiesiger Kaufleute und Seeleute kennengelernt denn als Ort, an dem man sich um den Schiffsverkehr kümmerte.

Wütend packte er die Tischkante mit beiden Händen und grub seine Fingernägel ins Holz. Ein Kapitän wie er brauchte sein eigenes Schiff, auf das eines anderen zurückgreifen zu müssen war das allerletzte Mittel. Nur zu gern hätte er diesem bretonischen Sturkopf mehr Respekt vor sich eingeflößt, doch wäre ihm das sicher nicht gut bekommen. Nicht, dass ihn das eigentlich groß bekümmerte. Seit dem Tod seiner geliebten Frau Margaret war er oft versucht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um ihr im Jenseits wiederzubegegnen.

„Die Zeiten sind schwierig“, fuhr der Hafenmeister ungerührt fort. „Der Krieg mit den Engländern hat nicht nur dem Handel geschadet. In der Bretagne haben viele …“

Er lehnte sich vorsichtig zurück, weil John, der gerade wegen der Probleme in der Bretagne so unter Zeitdruck stand, ihn zornig anfunkelte. Obwohl die englischen und die französischen Könige inzwischen einen Waffenstillstand vereinbart hatten, wurde der erbitterte Konflikt zwischen den Anhängern Charles de Blois’ und denen John de Montforts’ um die bretonische Herzogswürde fortgesetzt. Die Belagerung der Stadt Quimper durch die Franzosen, gefolgt vom Sieg der Engländer bei Cadoret, hatte auf beiden Seiten hohe Verluste gefordert. John de Monfort war letzten Herbst gestorben und hatte einen erst sechsjährigen Thronfolger hinterlassen. Es war daher ein vorübergehendes Machtvakuum entstanden. Während dieser Zeitspanne konnte John sicher nach England gelangen, daher seine Eile.

„Gerade wegen der Verhältnisse in der Bretagne muss ich meinen Geschäftspartnern in Bristol dringend Bericht über den Wein vom letzten Jahr erstatten. Es ist auch im Interesse der hiesigen Kaufleute, dass der Handel zwischen unseren Ländern nicht stärker als nötig beeinträchtigt wird.“

Er lächelte angestrengt und sprach mit erhobener Stimme, damit alle Anwesenden seine Worte hören konnten.

„Man versicherte mir, dass Concarneau eine florierende Hafenstadt sei und ich hier ohne Weiteres ein Schiff nach Plymouth finden würde. Jetzt wird von hier aus nicht einmal die bretonische Küste umschifft! Mein Informant war wohl schlecht unterrichtet. Doch wenn ich erst zu Hause bin, werde ich überall die Wahrheit sagen, damit es anderen Reisenden erspart bleibt, in diesem gottverlassenen Nest festzusitzen, so wie ich!“

Die Männer am Feuer, denen die Beleidigungen in Johns Rede nicht entgingen, begannen zu murren. Abfällige Bemerkungen über ihren Heimatort mochten sie nicht hinnehmen. Instinktiv ballte John die Fäuste und hoffte fast auf eine Schlägerei, um Dampf abzulassen und um für eine Weile zu vergessen, dass sein Herz schwer wie Blei war.

Der Hafenmeister, durch die Anwesenheit seiner Gäste angespornt, stand auf und kam hinter seinem Tisch hervor. Er reckte sich, um größer zu wirken – denn er war einen guten Kopf kleiner als der Engländer –, und richtete erneut das Wort an ihn.

„Es ist erst März, Monsieur. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch vielleicht innerhalb von zehn Tagen zu einer Passage auf einem Flussschiff verhelfen.“

Die Jahreszeit hätte für John nicht ungünstiger sein können. Bis er es schaffte, nach England auszureisen, würden sich die Anhänger des Herzogtums Montfort soweit wieder formieren, dass die Auseinandersetzungen mit dem Haus de Blois aufs Neue begannen. Ihm sank der Mut.

„Ich frage morgen wieder nach“, murmelte er resigniert und wandte sich mit kurzem Kopfnicken zum Gehen.

Der Hafenmeister, dem er in den letzten Tagen häufig Trinkgeld gegeben hatte, ohne damit etwas zu erreichen, schaute ihm enttäuscht hinterher.

Draußen fluchte John mit gedämpfter Stimme erst einmal kräftig auf Englisch, sodass ihn die Passanten befremdet musterten. Nach vier Jahren, die er vor allem in Frankreich verbracht hatte, klang seine Muttersprache auch in seinen Ohren hart. Schließlich sprach er fließend Französisch, was ihm seine tägliche Arbeit erleichterte. Er träumte sogar in der fremden Sprache. Doch bei dem Gedanken daran, was ihm sein selbstgewähltes Exil eingebracht hatte, befiel ihn unvermittelt heftiges Heimweh.

Der Hals war ihm wie zugeschnürt, und ihm kam die Idee, seinen Kummer in einer der Spelunken am Hafen zu ertränken, wo ein blonder Engländer wenig willkommen war und er vielleicht mit einer Prügelei rechnen konnte.

Als er sich aber in Richtung der verwinkelten Gassen bei den Ankerplätzen in Bewegung setzte, schloss sich ihm einer der Männer aus dem Hafenamt an.

„Wie heißt Ihr und was ist Euer Beruf, Monsieur, und was der Grund für Eure Eile?“, fragte dieser.

John störte es, so unverblümt befragt zu werden, und er fuhr unwillkürlich mit der Hand an den Griff seines Dolches – jedoch ohne ihn zu ziehen. Er musterte den Fragesteller, der einen dicken, mit Fell besetzten Umhang aus geöltem Leder trug, dazu den für Seeleute typischen Hut. Vielleicht war dieser Mann seine Rettung.

„Ich heiße Jack Langdon und bin ein einfacher Kaufmann“, antwortete er. „Zurzeit arbeite ich für einige Weinimporteure in Bristol, denen ich über Mengen und Qualität des hier angebauten Weines berichten soll. In England werde ich dringend erwartet.“

Das war nicht die ganze Wahrheit. Bis vor Kurzem war Captain John Sutton noch Berater des vom englischen König unterstützten Herzogs John de Montfort gewesen. Nach dessen Tod im Herbst des Vorjahres aber bereiste er als einfacher Bürger unter dem Namen Jack Langdon die bretonische Küste und meldete alles, was von Interesse sein konnte, einer anderen, geheimen Stelle.

Sein Begleiter strahlte eine solche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aus, dass John argwöhnte, es könnte eine Gaunerei im Spiel sein.

„Dann ist es ja ein Glück, dass wir uns treffen, Monsieur“, bemerkte der Mann. „Ich hörte, was dieser nichtsnutzige Sohn einer Hure behauptete, doch hat er keine Ahnung. Ich heiße Petrus Nevez und bin Captain auf der ‚Sant Christophe‘. Ich bringe über die Küstenroute Fracht in meinen Heimathafen Roscoff und setze beim ersten Tageslicht die Segel. Mein Schiff ist nicht groß, wenn Ihr aber zahlen könnt, habt Ihr eine Koje.“

John überlegte kurz. Roscoff lag ein gutes Stück näher an seinem Zielort. Dort konnte er ein anderes Schiff nehmen oder sogar auf dem Landweg nach Saint-Malo reisen.

„Macht es Euch denn nichts aus, zu dieser Jahreszeit zu fahren?“, fragte er.

Nevez grinste nur durchtrieben, und John bezweifelte, dass die Ladung geltendem Recht entsprach. Das würde er noch herausfinden, doch konnten sogar Schmuggler seiner Sache manchmal nützlich sein, wenn sie auf der richtigen Seite standen.

„Was sind Eure Bedingungen?“, fragte er.

Der Preis, den Nevez nannte, war unangemessen hoch, doch blieb John nichts anderes übrig, als scheinbar freudig den Handel mit ihm per Handschlag zu besiegeln und sich erklären zu lassen, wo der Ankerplatz des Schiffes war.

Darauf schlenderte Nevez zum Hafen hinunter, und John entschloss sich, zu seiner Unterkunft zurückzukehren anstatt eine Taverne aufzusuchen. Dort ließ er sich so dicht wie möglich am Feuer nieder und bestellte Wein und etwas zu essen bei Jeanne, der jüngsten Tochter des Gastwirts, die bei seinem Anblick den Kopf in den Nacken warf, ihre Brüste vorschob und lockend die Hüften bewegte. Ihr Lächeln schien John beinahe echt.

„Habt Ihr heute ein Schiff gefunden, Monsieur Langdon?“, fragte sie, während sie eine dampfende Schüssel mit sahniger Fischsuppe auftischte. John nahm den ersten Löffel und fand sie köstlich.

„Tatsächlich, Mademoiselle, heute hatte ich Glück. Bitte sagt Eurem Vater, dass ich im Morgengrauen abfahre.“

Jeanne machte einen Schmollmund und reichte ihm einen Becher mit Wein. „Wie schade“, meinte sie. „Euch sehe ich nicht gern abreisen.“

Und als John den Becher nahm, legte sie ihre Finger auf seine und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln, das jedoch durch die Berechnung in ihren Augen Lügen gestraft wurde. „Vielleicht wollt Ihr diese Nacht nicht allein verbringen?“, fragte sie.

John entzog ihr seine Hand und stellte den Becher neben seine Schüssel auf den Tisch. „Danke, aber nein. Meine Antwort ist dieselbe wie immer. Ich möchte mein Lager mit keiner Frau teilen.“

Wie ihre Schwestern hatte auch Jeanne sich ihm jede Nacht angeboten, seit er angekommen war. Dass er auch sie stets abwies, nahm sie ihm nicht übel, sondern fand in der Regel schnell einen anderen potenziellen Kunden. Heute aber setzte sie den Weinkrug ab, blieb neben ihm stehen und blickte ihn mit ihren dunklen Augen an.

„Monsieur Langdon, in Eurem Blick liegt so viel Sehnsucht. Und obwohl mein Preis fair ist, erteilt Ihr mir stets eine Abfuhr. Wie lange ist es her, dass Ihr eine Frau umarmt habt?“

Zu lange, dachte er im Stillen. In seinem Kummer nach dem Verlust seiner geliebten Frau glaubte er, nur zwischen zwei Wegen der Trauerbewältigung wählen zu können. Der eine war, im Schoß williger Frauen, deren Gesichter und Körper in seiner Erinnerung schnell verblassten, das Vergessen zu suchen. Und der andere war, streitbare Männer zu einem Kampf zu provozieren, damit die körperlichen Schmerzen nach einer Prügelei die seelischen verdrängten. John hatte sich entschlossen, die erste Möglichkeit außer Acht zu lassen, wenngleich er vor gut einem Jahr volltrunken im Bett einer kostspieligen Hure aufgewacht war. Davor hatte er sich, seit er Margaret verloren hatte, die er bitterlich vermisste, nur mit zwei anderen abgegeben.

Jeanne hätte sich wahrscheinlich für ein, zwei Stunden als erfahren und vielseitig genug erwiesen, um seine physischen Bedürfnisse zu befriedigen, konnte ihn aber nicht von der Qual erlösen, die sein Herz erfüllte.

„Seid nicht böse, Jeanne“, sagte er freundlich. „Ich habe meiner Frau Treue geschworen, und den Schwur möchte ich halten.“

Er griff nach dem zierlichen goldenen Kreuz, das er um den Hals trug, strich erst über die Verzierungen auf der Vorderseite und dann über die eingravierten Initialen ‚J‘ und ‚M‘ auf der Rückseite.

„Gehört das Eurer Frau?“, fragte Jeanne.

„Ja, so ist es“, antwortete er.

„Sie wartet wohl in England auf Euch?“

John musste schlucken und hob mit einem traurigen Lächeln den Kopf. „Im Jenseits erwartet sie mich.“

„Ich muss mich entschuldigen.“ Man sah Jeanne an, dass sie sich schämte.

„Das braucht Ihr nicht“, beruhigte er sie. „Ihr konntet es ja nicht wissen.“

Bevor er das Kreuz unter sein Hemd gleiten ließ, hob er es an seine Lippen.

Dann schob er die Schüssel von sich und stand auf, denn der Appetit war ihm vergangen. „Gute Nacht, Mademoiselle.“

Den Krug nahm er mit in seine kleine Dachkammer, die er teuer bezahlte. Doch war sie ihm den Preis wert, um nicht mit neun anderen Männern im Schlafsaal nächtigen zu müssen. Beim schwachen Schein einer Kerze packte er seine Habseligkeiten zusammen. Dann schrieb er auf, was er als Kaufmann auf seiner Reise herausgefunden hatte, steckte den Bericht in einen Umschlag und verschloss diesen mit rotem Lack, in den er seinen Siegelring hineindrückte. Er adressierte den Brief an die Masters Fortin und Rudhale, die ein Weinlager in Bristol besaßen. Jeanne konnte ihn zur Sicherheit für den Fall, dass John es nicht persönlich bis zu seinen Auftraggebern schaffte, einem Flussschiff mitgeben. Er musste aber noch eine andere, geheime Meldung verfassen, die er niemand anderem anvertrauen durfte. Diese Meldung ritzte er kodiert in zwei kleine zusammengebundene Wachstafeln. Bei Gefahr konnte der Text durch Hitze unleserlich gemacht werden. Er verstaute sie sorgfältig zuerst in einem ledernen Etui und dann in einer wasserdichten, hölzernen Schatulle, die er einst als Geschenk von seinem Vater erhalten hatte.

Erst als alles vorbereitet war, erlaubte John Sutton sich, den Krug zu leeren und mit dem Kopf auf den Armen und Tränen in den Augen seiner Frau zu gedenken, die in der Erde von Devonshire begraben war.

Die Reise erwies sich als stürmisch, verlief alles in allem aber nicht unangenehmer als erwartet. Sie umrundeten einen Teil der bretonischen Halbinsel und erreichten danach offenes Wasser. John war wegen des Wetters froh, dass sie die lang geschwungene, zerklüftete Küstenlinie im Blick behielten.

Sie segelten mit einer Kogge, die Johns altem Schiff, der „King’s Rose“, ähnelte. Er vertrieb sich die Zeit mit der Crew, spielte, trank und lachte viel und staunte selbst über seine gute Laune. Vielleicht tat ihm Gesellschaft gut, die er hier suchte, statt sich, wie bisher, abzuschotten und nur bei einer Rauferei ein wenig lebendig zu fühlen. Er hatte England in Trauer den Rücken gekehrt und war sogar vor seinen Freunden geflohen, die ihn an glückliche Zeiten erinnerten.

Drei Tage, nachdem sie von Concarneau aus in See gestochen waren, verschlechterte sich das Wetter rapide. Die Wolken schluckten alles Licht, und das Gebälk des kleinen Schiffes ächzte unheilverkündend, als es sich gegen immer gewaltigere Wellen behaupten musste. Bei Anbruch der Nacht war der von Nevez versprochene Hafen nirgends in Sicht.

Von seiner kleinen Kajüte aus kämpfte John sich gegen den Wind zum Bug des Schiffes vor, wo Nevez und sein Maat besorgt auf die Küstenlinie zeigten, die am Horizont wie wild auf und ab schwankte.

„Einen solchen Sturm haben wir nicht erwartet“, knurrte Nevez.

Eine Böe zerrte an Johns Umhang. Er kniff die Augen zusammen, fröstelte und nahm einen tiefen Zug kalter Seeluft.

„Am besten suchen wir in Küstennähe Schutz“, schlug er vor.

Ein Brecher krachte gegen den Schiffsrumpf, das Schiff neigte sich bedrohlich zur Seite und warf die drei Männer gegeneinander.

„Nicht hier. Anderswo gibt es Höhlen in den Klippen, in denen ein Schiff bei Sturmflut sicher ankern kann“, antwortete Nevez. Johns Eindruck verstärkte sich, dass Schmuggel im Spiel war. „Aber in diesen Gewässern hier gibt es bretonische Piraten“, fuhr Nevez fort.

„Sie segeln unter dem Banner von Bleiz Mor, auf Französisch Loup de Mer, was in Eurer Sprache Seewolf heißt“, ergänzte der Maat.

„Er hat zwei Schiffe“, erklärte Nevez, „und beide erkennt man an den schwarzen Segeln, die mit weißem Fell verziert sind. Seit die Franzosen Quimper angegriffen haben, knöpft er ihnen alles ab, was er kriegen kann. Das heißt aber nicht, dass er eine weitere Beute wie uns verachten wird.“

Also war der Mann mit dem seltsamen Namen wohl eher ein Freibeuter und attackierte dieselben Feinde wie die Engländer. John würde seine Auftraggeber informieren, falls sie noch nichts von ihm gehört hatten. Da riss ihn ein Knirschen entlang des Rumpfes aus seinen Gedanken, das zu einem heftigen Rütteln wurde.

„Wir sind irgendwo aufgelaufen“, schrie er.

„Unmöglich“, schrie Nevez lachend zurück und packte John an der Schulter. „Seht Ihr das Licht auf den Klippen? Das bedeutet einen sicheren Hafen. Wir waren doch schneller als gedacht. Heute werden wir noch nicht absaufen.“

Jetzt bemerkte John es auch. Das Licht am noch fernen Ufer versprach Sicherheit. Doch hätte er sich gewünscht, das Schiff selber zu dirigieren, weil ihn das mahlende Geräusch am Schiffsboden aufs Höchste beunruhigte.

Nevez schrie einige Kommandos, und die „Sant Christophe“ neigte sich enorm zur Seite, als sie beidrehte und dann auf die Küste zusteuerte.

„Kommt zu mir runter, Monsieur Langdon“, lud Nevez ihn ein. „Ich habe eine schöne Flasche Wein in meiner Kajüte. Wenn Ihr die Sorte Euren Auftraggebern in England empfehlt, mache ich Euch einen guten Preis.“

„Ich komme gern, muss nur noch einen Brief beenden“, stimmte John zu.

Er stieg zu seinem Quartier hinab, das unten im Schiff lag und von den Mannschaftsräumen abgeteilt war. Beim Licht einer Laterne setzte er auf seinen Wachstafeln eine Notiz über das Piratenschiff und den seltsamen Namen Seewolf hinzu, zögerte aber, als es um Nevez ging. Sicherlich verdächtigte er ihn nicht zu Unrecht der Schmuggelei. Er wollte ihm seine Freundlichkeit jedoch anrechnen, weshalb er nur kurz darauf hinwies, dass in der Gegend grundsätzlich geschmuggelt wurde. Dann verschloss er alles in seiner Schatulle und verstaute den Schlüssel sicher in seinem Kleidersack neben einer zarten geflochtenen Strähne von Margarets maisblondem Haar. Traurig strich er darüber. Immer noch konnte er es nicht fassen, dass sie nicht wie früher auf ihn wartete, wenn er nach England zurückkehrte. Aus tiefstem Herzen bereute er, ihre hingebungsvolle Liebe als selbstverständlich hingenommen zu haben.

Seine Gedanken wurden von einem lauten Knirschen unterbrochen, das ihn erschrocken auffahren ließ. Ihm schien, als werde der Schiffsboden von unten aufgerissen. Entsetzte Schreie an Deck machten ihm klar, dass das Schiff offenbar auf Grund gelaufen war. Er rannte hinauf, wo Nevez mit wütendem Gesicht über der Reling hing.

„Das ist kein Leuchtturm! Wir wurden von Strandräubern hereingelegt“, schrie der Captain.

„Was ist zu tun?“, rief John erregt.

Nevez schlug mit der Faust auf die Reling. „Nichts können wir tun! Der Rumpf ist gebrochen. Wir haben nur ein kleines Beiboot, und davon abgesehen ist unser Leben jetzt unserem Schicksal überlassen.“

Um sie herum warfen die Seeleute Fässer und Truhen über Bord, an denen sie sich dann festhielten, um auf diese Weise an Land zu schwimmen.

„Schnell, kommt mit mir zum Boot“, schrie Nevez.

„Ich bin gleich da“, schrie John zurück, der über das sich bereits gefährlich neigende Deck und die Treppe zu seiner Kajüte hinuntereilte. Die Briefe an die Masters Fortin und Rudhale und den Bericht für den Stellvertreter des verstorbenen Herzogs, der als Repräsentant King Edwards III. in der Bretagne regierte, konnte er später neu schreiben. Aber Briefe von Margaret, die unwiederbringlich und ihm kostbar waren, durften nicht verloren gehen. Zwei Stufen auf einmal nehmend landete er bis zu den Knöcheln im Wasser. Er packte die Schatulle, dankbar dafür, dass sie klein genug war, um in seine Schultertasche zu passen. Den Riemen der Tasche nahm er quer, sodass die Tasche unter einem Oberarm hing, und zog den Umhang darüber.

Das Schiff schlingerte so stark in der Brandung, dass er nur mit Mühe wieder das Deck erreichte. Das Ruderboot mit Nevez hatte bereits abgelegt.

„Wartet auf mich“, schrie John.

„Schwimmt her zu mir“, gab Nevez schreiend zurück.

So weit er konnte, sprang John ins Meer hinaus, wo ihn das schwarze kalte Wasser in die Tiefe zog und ihm den Atem verschlug. Dann schoss er zur Oberfläche hinauf, und als er wieder Luft bekam, wurde ihm bewusst, wie sehr er an seinem Leben hing, auch wenn er das nicht mehr geglaubt hatte.

Es blieb ihm aber keine Sekunde, richtig durchzuatmen, weil eine große Planke gegen ihn geschleudert wurde. Sein rechter Arm von der Schulter abwärts war wie betäubt. So versuchte er, vor allem mit Schwimmbewegungen seiner Beine, das kleine Boot zu erreichen und stieß dabei an unter Wasser liegendes Gestein. Die felsige Küste lag also ganz nah, und das Boot konnte dort zerschellen.

„Fahrt ohne mich“, brüllte er.

Dann versuchte er, sich zum festen Boden durchzuschlagen, wurde aber erneut hart von einem Teil des Wracks getroffen. Die Brandung warf ihn kopfüber auf eine Felsnase und zog ihn wieder aufs Meer hinaus. Vom Stoß benommen wurde er noch einmal auf den Felsen geschleudert und kroch instinktiv bäuchlings aus der Reichweite der Wellen in Richtung des Lichts, das weit über die Klippen leuchtete.

Als er, am ganzen Körper zerschlagen, auf den Strand taumelte, fürchtete er zwar, den Strandräubern in die Hände zu fallen, konnte aber dem sicheren Tod durch Ertrinken nicht anders entgehen. Da stolperte er zu seinem Entsetzen über einen toten Körper, der angespült worden war.

Im schwachen Licht des Mondes konnte er kaum etwas erkennen, dabei war ihm schwindlig, und er sah alles doppelt. Als er sich an den Kopf fasste, klebte seine Hand vom Blut aus einer klaffenden Wunde, und ihm wurde schlecht.

Fast ohnmächtig schaffte er es ein paar Schritte weiter landeinwärts, wo der nasse feste Sand unter seinen Füßen zu grobem Kies wurde. Er verhedderte sich in seinen Umhang, fiel zu Boden und verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, vernahm er Stimmen. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber er wusste, dass die Strandräuber nahten.

Unter den tiefen Männerstimmen meinte John eine weibliche auszumachen, die nicht hierher zu gehören schien, wo nichts als Tod und Zerstörung herrschten. Er meinte, einen schwachen, aber deutlichen Blütenduft wahrzunehmen, der sich nur schwer mit dem Geruch nach Salzwasser und Blut vertrug. Die einzig plausible Erklärung schien ihm, dass er träumte oder am Ende wieder mit seiner Frau vereint war. Ein tiefer Frieden senkte sich auf ihn.

„Margaret?“, murmelte er. „Gleich bin ich bei dir.“

Die Augen fielen ihm zu, als alle Kraft aus ihm entwich, sodass ihm nichts blieb, als sich in sein Schicksal zu ergeben.

2. KAPITEL

Wütend knallte Blanche Tanet ihren Kamm auf die Frisierkommode, weil sie einen schwachen Rauchgeruch wahrnahm.

Sie eilte an ein Fenster in ihrer Kemenate ganz oben in ihrem Burgturm, von dem aus sie einen guten Blick auf die nahe Küste und das Dorf Plomarc’h hatte, und stellte fest, dass sie richtig lag. Die Fenster von St. Petroc’s, der Kirche auf der obersten Klippe über dem Dorf, waren hell erleuchtet und das Licht fiel bis aufs Meer. Von See aus mussten Fischer und Seeleute es für ein Signalfeuer halten. Die Kirche war wirklich weit davon entfernt, ihrem heiligen Auftrag zu dienen.

Blanche hatte sich gerade zu Bett begeben wollen, konnte aber nicht ignorieren, was da vor sich ging. Mit leisem Fluchen zog sie ihr Nachtgewand wieder aus und stattdessen Kniehosen, ein Männerhemd und ein ausgestopftes Wams an, darüber einen schweren Umhang. Zum Schluss schlüpfte sie in ihre hohen Lederstiefel und versteckte ihr langes Haar unter einem breitkrempigen Lederhut. So stieg sie die Treppen hinunter und nahm eine Fackel von der Wand, die in einem eisernen Ring steckte. Auf dem Weg zum Strand fing sie an, schneller zu laufen.

Dort fand sie etliche ertrunkene Männer, deren Leiber von den tosenden Wellen angespült worden waren. Als der Mond hinter den aufgetürmten schwarzen Wolken hervorkam, sah es wie auf einem Schlachtfeld aus. Der Anblick schlug Blanche auf den Magen. Die Galle kam ihr hoch. Sie schluckte sie hinunter und hob ihre Fackel. Während sie langsam am Ufer entlangging, spähte sie aufs Meer hinaus, wo man die schwarzen scharfzackigen Felsbrocken unter der Wasseroberfläche nur erahnen konnte. Über Jahrhunderte hatten sie unzähligen Menschen den Tod gebracht.

Auf den Wellen tanzten Weinfässer, von der Flut hin und her geworfen. Also schien ein Handelsschiff hier auf Grund gelaufen zu sein. Um Blanche herum holten die Dorfleute das Strandgut aus der See, das sie teils auf Karren luden, teils einfach davonschleppten.

Sie fragte sich, ob sie wohl die Einzige war, die angesichts der Art, wie mit den Toten umgegangen wurde, Gewissensbisse verspürte. Dann erkannte sie einen gedrungenen Mann, der bis zu den Knien im Wasser stand, um ein Fass an Land zu ziehen. Es war Andrey, ihr angeheirateter Cousin und ihre rechte Hand auf ihrem Schiff „Weißer Wolf“.

Blanche schnitt ihm den Weg ab, und er ließ seine Beute fallen.

„Wer hat befohlen, die Lichter anzuzünden?“, forschte sie.

Andrey runzelte die Stirn und spuckte in weitem Bogen ins Meer.

„Was glaubst du wohl? Ronec natürlich.“

Unwillkürlich packte sie ihre Fackel fester. Die Ländereien von Jagu Ronec grenzten an ihre. Dazu war er Captain und Teilhaber ihres zweiten Schiffs „Weißer Falke“. Er war reich, mächtig, und – wie Blanche erst herausgefunden hatte, nachdem sie schon Verbündete waren – grausam und gewissenlos. Sie wünschte, ihn nie in ihren Kreuzzug gegen die französischen Streitkräfte einbezogen zu haben, weshalb ihre Stimme ungewollt zornig wurde.

„Und du hast ihm gehorcht?“

„Ich nicht“, antwortete Andrey. „Aber die Mannschaften sind es langsam leid zu warten, bis du Befehl zum Segeln gibst. Und es schmeckt ihnen nicht, dass sie nur französische Schiffe angreifen dürfen. Außerdem gehen sie sowieso von einer Übereinstimmung zwischen dir und Ronec aus.“

Blanche bekam einen roten Kopf. In Andreys Worten schwang Missbilligung mit, und das nicht ohne Grund. Ronec hatte sich zwar schon in weit größerem Ausmaß ihrer Gunst erfreuen dürfen als sie eigentlich beabsichtigt hatte, einer Heirat aber widersetzte sie sich. Der Unzufriedenheit der Dorfbewohner musste sie sich allerdings annehmen.

„Tragt die Toten zur Burg hoch“, gebot sie. „Sie sollen ein anständiges Begräbnis haben.“

Andrey nickte und gab die Order an einige Männer weiter, die er zu sich rief. Er war Blanche gegenüber absolut loyal, und sie war sicher, dass die Toten mit Respekt zur letzten Ruhe gebettet würden.

Blanche rollte nun das schwere Fass allein das abschüssige Ufer hoch, wo schon anderes Strandgut aufgetürmt lag. Die Art und Weise, wie es erbeutet worden war, war eine Schande, doch wollte sie nichts davon verkommen lassen, wenn es ihren Pächtern noch von Nutzen sein konnte.

Für einen Augenblick schöpfte sie Atem neben einem Toten, der weiter oben als die anderen angespült worden war, und nahm ihren verrutschten Hut ab. Der Mann lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, einen Arm in seinem schweren, nassen Umhang verfangen, was so aussah, als ob er auf einer Sandbank schliefe.

Er war kein Jüngling mehr, jedoch noch nicht so alt wie Andrey. Blanche schätzte ihn auf ungefähr dreißig, nur wenige Jahre jünger als sie selbst. Unwillkürlich dachte sie an ihren ersten Ehemann Mael, der viel zu früh von ihr gegangen war. Der Tote sah zwar völlig anders aus, aber der Gedanke, dass auch ihm viele Lebensjahre gestohlen worden waren, brachte sie aus der Fassung. Sie bedauerte ihn von Herzen.

Sie kniete sich neben ihn und beleuchtete sein Gesicht mit ihrer Fackel. Als er noch am Leben war, musste er gut ausgesehen haben, und es belastete sie, dass er auf solch gewalttätige Weise aus dem Leben gerissen worden war. Eine klaffende Wunde zog sich von der rechten Augenbraue über seine bleiche Schläfe bis in sein dunkelblondes Haar.

Die Schnürbänder seines Hemds waren aufgegangen, sodass seine Brust unbedeckt war. Dort, zwischen feinem hellbraunem Haar, entdeckte Blanche beim flackernden Fackelschein eine goldene Kette. Vorsichtig zog sie ein zierliches Kreuz hervor.

Um zu verhindern, dass die Plünderer es ihm einfach vom Hals rissen, steckte sie die Fackel in den Sand, hob den Kopf des Mannes an und nahm ihm sanft die Kette ab. Auf der Vorderseite des Kreuzes leuchteten kleine Rubine. Blanche kümmerte sich sonst wenig um die Schätze, die sie von den Franzosen erbeuteten. Ihr einziges Anliegen war, sowohl der bretonischen Sache als auch ihren Pächtern von Nutzen zu sein. Aber das Kleinod dieses Mannes wollte sie zum Andenken an sein Leben aufbewahren. Sie legte seinen Kopf vorsichtig ab, und weil niemand davon wissen sollte, streifte sie das Kreuz selbst über und ließ es in ihr Mieder gleiten, wo es sich zwischen ihre Brüste schmiegte. Ein Schauder lief an ihr herunter bei der Berührung mit dem Anhänger, der eben noch auf der Haut des ertrunkenen Mannes gelegen hatte.

Plötzlich begannen die Lider des Mannes zu zucken, und mit einem schwachen Stöhnen öffnete er die Augen. Blanche war überrascht, welche Freude sie empfand und wie sehr es sie erleichterte, dass er noch am Leben war. Als er einen Schwall Wasser aushustete, drückte sie mit beiden Händen fest auf seine Rippen, um ihm zu helfen, worauf er vor Schmerz die Zähne fletschte und zischend die Luft einsog. Blanche ärgerte sich, dass sie ihm wehgetan hatte, strich sanft über seine Wangen und versuchte, seinen Kopf bequemer zu lagern. Da blickte er sie erneut verwirrt, aber eindringlich an. Seine Augen waren von hellem Blau, doch voller Schmerz, und sie hielten Blanches Blick gefangen.

Beim Anblick ihrer vollen schwarzen Locken, die ungebändigt auf ihre Schultern fielen, lächelte der Mann und flüsterte etwas in einer Sprache, die sie für Englisch hielt.

„Ich kann Euch nicht verstehen“, antwortete sie auf Bretonisch und wiederholte es auf Französisch.

Darauf griff er ungeschickt nach ihrem Haar, sodass Blanche erschreckt zurückfuhr, wie sie sich allen Männern gegenüber verhielt, die ihr ungebeten zu nahekamen. Als er dabei aber leicht über ihr Gesicht strich, begann ihr Herz schneller zu schlagen.

Offenbar hatte den Fremden diese kleine Anstrengung völlig erschöpft, und der Arm, den er gehoben hatte, zitterte, weil er mit seinen Kräften am Ende war. Blanche war sich sicher, dass er nicht mehr lange am Leben bleiben würde, auch wenn er noch einmal aus seiner Ohnmacht erwacht war. Der Blutverlust und der erlittene Schock würden ihn noch in dieser Nacht sterben lassen. Sie wäre gern davongelaufen, doch fühlte sie sich schuldig, weil ihre Leute die Verantwortung für den Tod des Mannes trugen. So nahm sie seine zittrige Hand und legte sie tröstend an ihre Wange, weil sie fand, dass er es verdiente, dass sie ihm in seiner letzten Stunde beistand.

Da versuchte er, sie zu sich herabzuziehen, neigte seinen Kopf nach hinten und öffnete die Lippen, als wolle er sie küssen. Dabei vergrub er seine Finger in ihren Locken. So vertraulich war die Berührung, dass ihr das Herz bis zum Hals klopfte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie und strich ihm das wirre Haar aus dem Gesicht.

Unerwartet versenkte er seinen Blick in den ihren und schenkte ihr ein Lächeln von so überwältigender Zärtlichkeit, dass sie tief gerührt war. Seit Langem hatte niemand sie so liebevoll angesehen. Wehmütig schloss sie die Augen, beugte sich hinunter zu ihm und küsste ihn sanft auf die Stirn. Er aber hob überraschenderweise den Kopf und fand in einer schnellen Bewegung, die sie ihm nicht zugetraut hatte, mit seinen Lippen ihren Mund.

Sie schmeckten nach Salzwasser, und sein Kuss war wilder und leidenschaftlicher, als Blanche es jemals erlebt hatte. In seinem verzweifelten Verlangen spürte sie den Versuch eines Sterbenden, in seinen letzten Stunden noch etwas Trost zu finden, sodass sie keine Kraft fand, ihm zu widerstehen, als er sie an sich zog. Vielmehr erwiderte sie nun seinen Kuss und ließ ihre Lippen in einem Augenblick gegenseitig empfundenen Leids auf seinen ruhen.

Als sie merkte, dass seine Kraft endgültig versiegte, entzog sie sich ihm mit Tränen in den Augen und legte seinen Kopf vorsichtig auf dem Boden ab.

Wieder lächelte er.

„Bald bin ich bei dir, mein Engel“, flüsterte er auf Französisch und schloss die Augen.

Blanche lächelte unter Tränen. Der Engel, von dem er sprach, war wohl eine geliebte Person gewesen. Hätte er aber geahnt, wer da auf ihn niederblickte, hätte er einen anderen Ausdruck für sie gefunden. Wenn auch um ihr Land zu retten, so tötete sie wie Yael, die alttestamentarische Retterin Israels, andere Menschen und ging oft grausam wie die heidnische Isebel zu Werke. Nach Blanches eigener Meinung war sie nicht besser als Maria Magdalena, bevor diese dem Heiland begegnete.

Die Hand des Fremden erschlaffte. Blanche legte sie behutsam an ihre Brust und hielt sie dort fest. Vorsichtig inspizierte sie mit der anderen seine Kopfwunde, die bis auf den Knochen reichte, und bemühte sich, ihm dabei keine weiteren Schmerzen zuzufügen, obwohl sie glaubte, dass er in seinem Zustand zunehmend nichts mehr spüren konnte. Dennoch stöhnte er schwer atmend auf und krümmte sich zusammen, als sie die Wunde berührte. Noch war Leben in ihm, und wenn die Kraft, mit der er sie geküsst hatte, seinen Körper nicht ganz verließ, konnte es noch Hoffnung geben.

„Andrey, komm und hilf mir“, rief sie laut. „Es gibt einen Überlebenden.“

Andrey trat mit festem Schritt hinzu.

„Oh, den erledige ich besser schnell“, meinte er und griff nach dem Dolch an seinem Gürtel.

„Nein!“ Blanche sprang auf und wehrte ihn mit ausgestreckten Armen ab. „Wir bringen ihn in die Burg und bereiten ihm ein Lager.“

Auch wenn der Schiffbrüchige die Nacht kaum überstehen würde, wollte sie nicht, dass er sein trauriges Ende hier am Strand fand.

Andrey sah sie bestürzt an. „Aber wir wissen nichts über diesen Mann. Er könnte für Charles de Blois spionieren. Willst du wirklich einen solchen Kerl beschützen?“

Blanche baute sich vor ihm auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und schob die Schultern herausfordernd nach hinten. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass ihr das Imitieren männlicher Überlegenheitsposen Respekt verschaffte.

„Die Burg gehört mir, rede mir nicht in meine Entscheidungen hinein!“

Um ihn wieder zu besänftigen, schenkte sie ihm einen freundlichen Blick und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Ich weiß, dass es vernünftig ist, was du sagst, aber sieh ihn dir an. In diesem Zustand kann er uns nicht gefährlich werden, selbst wenn er wirklich ein Spitzel ist. Hol einen Karren und hilf mir, ihn zu transportieren, aber sprich nicht darüber. Es sollen möglichst wenige Leute davon wissen.“

Das galt besonders für Ronec. Als sich ihre Blicke trafen, merkte Blanche, dass Andrey dasselbe dachte. Er nickte, mit ihrer Bitte nun einverstanden.

Als er auf dem nassen Sand davonstapfte, bückte Blanche sich und nahm die Hand des fremden Mannes. Sie wollte zumindest herausfinden, wem er zu Treue verpflichtet war.

„Wie heißt Ihr?“, fragte sie. „Könnt Ihr sprechen?“

Er öffnete die Augen und flüsterte etwas Unverständliches.

„Euer Name“, ermunterte sie ihn und hielt ihr Ohr an seinen Mund. „Wer seid Ihr?“

Er murmelte etwas, das wie Jacques klang, dann verlor er wieder das Bewusstsein.

Als Andrey mit dem Karren da war, schaffte er zuerst Platz zwischen all dem Zeug, das schon darauf lag. Blanche schlug den Umhang des Fremden zurück, fand den Beutel, den er unter dem gesunden Arm trug und nahm ihn ab. Darin fand sie eine flache Schatulle aus dunklem Holz.

„Wenigstens bringt er etwas Beute“, bemerkte Andrey mit einem Grinsen.

Im Schein der Fackel betrachtete Blanche das schlichte, leicht abgenutzte Kästchen, das wohl Dokumente oder Schmuck aufbewahrte.

„Vielleicht enthält es den Schlüssel zu seiner Vergangenheit“, sagte sie nachdenklich.

„Einen Schlüssel dazu haben wir aber nicht“, sagte Andrey und lachte über sein Wortspiel. „Am besten knacken wir es.“

Aber Blanche verstaute den Beutel samt der Schatulle auf dem Karren.

„Dafür haben wir später noch Zeit. Bring es erst einmal in Sicherheit“, befahl sie.

Blieb der Mann am Leben, würde sie ihn um Erlaubnis fragen. Starb er, würde sie es von Andrey aufbrechen lassen und ihre Neugier befriedigen. Sie half, den Fremden vorsichtig aufzuheben und auf den Karren zu legen. Wie bei einer Marionette fielen seine Beine kraftlos auseinander, und Blanche zog sie gerade, bevor sie dem Karren folgte. Andrey schob ihn die Böschung hoch und durch das Tor auf der Seeseite der Burg in den Hof. Leise Zweifel stiegen in ihr auf.

„Bring ihn nicht in einen der Schlafsäle“, entschied sie. „Sicher finden wir Platz für ihn in einem der Lagerräume in den Kellern an der Außenmauer.“

So wurde der Verletzte dort auf einer Pritsche mit Strohmatratze untergebracht. Andreys Rat, einen Diener zu rufen, der sich um ihn kümmern sollte, folgte Blanche nicht.

„Je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser“, wiederholte sie, ließ sich von Andrey aber noch eine schmerzlindernde Arznei aus Ale und Kräutern bringen.

In Wahrheit fühlte Blanche sich für den Fremden verantwortlich und wollte sich zunächst selbst seiner Pflege widmen. Durch ein schmales vergittertes Fenster fiel das Mondlicht auf sein tödlich blasses Gesicht. Sie zerrte an seinem nassen Hemd und zog es ihm über den Kopf. Schon lange hatte sie keinen Mann mehr entkleidet, und sie war froh, dass dieser nicht in der Lage war, sie zu belästigen. Mit ihrer Hand erfühlte sie den kaum wahrnehmbaren Schlag seines Herzens unter den Muskeln seiner breiten Brust. Welch kräftige, hochgewachsene Gestalt da zitternd vor ihr lag entdeckte sie, als sie eine Decke über ihn breitete und zusätzlich dicke Wolfspelze darauflegte. Dann versuchte sie, ihm ein paar Löffel Medizin einzuflößen.

Sollte er die Nacht überleben, wäre es für sie ein Wunder. In dem Bewusstsein, alles ihr Mögliche getan zu haben, verließ sie ihn und legte sich in ihrem eigenen Bett schlafen.

3. KAPITEL

Das Sonnenlicht fiel in langen Strahlen an die Wände und wanderte nach und nach langsam über den Mann auf der Pritsche. Nur weil das Licht inzwischen sein Gesicht erreicht hatte, wusste er, dass die Zeit verging. Er fühlte sich so zerschlagen, dass er sich nicht bewegen mochte. Der verklumpte, streng riechende Strohsack unter ihm verdiente kaum die Bezeichnung Matratze, und woher der eigenartige Geruch nach Weizen kam, war ihm ein Rätsel. Er fühlte sich fremd.

Seine Kopfschmerzen mussten wohl von heftigen Schlägen herrühren, er hatte Prellungen und war so geschwächt, dass ihm beim Versuch, seine schmerzenden Schläfen zu betasten, der Schweiß ausbrach. Er trug einen Verband, war also wohl verwundet und später verarztet worden, aber ihm fehlte jede Erinnerung an das, was passiert war und warum er sich an diesem Ort befand.

Einige Erinnerungsstücke aus Gerüchen, Schreien und Krachen von zerberstendem Holz konnte er nicht zu einem vollständigen Bild zusammensetzen.

Als er mühsam den Kopf in den Nacken legte, erkannte er, dass das kleine Fenster oben in der Wand vergittert war. Das konnte nur bedeuten, dass er ein Gefangener war, und Panik erfasste ihn. Immerhin weckte sie seine Lebensgeister. Es trieb ihn zur Tür, um dagegenzuhämmern, aber als er aufzustehen versuchte, gaben seine Beine nach und er fiel hin. Auf dem kalten Steinfußboden merkte er, dass sein Oberkörper nackt war. Wenn er alle Fakten zusammenzählte, konnte das hier nur ein Keller sein. Diesen Schluss zu ziehen kostete ihn große Anstrengung und half ihm nicht wirklich weiter, aber während ihm wieder schwindlig wurde, war er doch froh, nicht völlig den Verstand verloren zu haben.

Zuerst begann er, laut auf Englisch zu rufen, erinnerte sich dann dunkel an eine andere Sprache und wiederholte seine Rufe auf Französisch. Als jedoch niemand kam und er wieder etwas Kraft gesammelt hatte, kroch er auf die Pritsche zurück und unter die Decke. Die Pelze zog er fröstelnd bis zum Kinn hoch. Es blieb ihm nichts übrig als zu warten, bis seine Häscher ihn aufsuchten. Sogleich schlief er wieder ein.

Als er erwachte, schien die kupferne Abendsonne warm durch die Gitter des Fensters, und er konnte das Meer riechen. Dazu nahm er schwachen Blütenduft wahr, den er freudig tief einatmete.

Dann hörte er jemanden den Riegel zurückziehen. Doch als er seinen Kopf heftig in Richtung des Geräuschs drehte, schwindelte ihn. Vor seinen Augen flimmerte es.

So konnte er nur hören, wie jemand den Raum durchquerte und einen Gegenstand auf einen Tisch stellte. Am liebsten hätte er die Person angegriffen und wäre geflohen, wusste aber, dass er dazu nicht in der Lage war. Vorsichtig öffnete er die Augen und reckte den Hals. Ein schlicht gekleidetes junges Mädchen hatte einen Krug abgesetzt.

„Wo bin ich?“, fragte er auf Englisch und dann mit lauterer Stimme: „Helft mir!“

Seine Stimme klang heiser, denn seine Kehle war völlig ausgetrocknet. Das Mädchen schrie auf, sprang vor Schreck einen Schritt zurück und stieß den Krug um. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, war sie schon hinausgelaufen und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Dann hörte John den Riegel zuschnappen und wusste, dass er gefangen blieb. Mit leisem Stöhnen leckte er sich über die trockenen Lippen. Er hatte unerträglichen Durst und einen leeren Magen. Wieder drehte sich der Raum vor seinen Augen, und er sank in einen unruhigen Schlaf.

Bald erwachte er von dem Geräusch des Riegels, der zurückgezogen wurde. Erneut trat jemand ein und ging leise summend zum Tisch hinüber. Diesmal war John so klug, sich nicht zu rühren und unbemerkt durch halb geschlossene Lider hinüberzuspähen. Eine zweite Frau, wohl eine andere Magd, hochgewachsen und in einen fließenden dunkelbraunen Überrock gekleidet, hantierte dort mit einem Tuch und einer Waschschüssel.

Als sie an sein Lager trat, schloss er die Augen ganz, damit sie nicht merkte, dass er wach war. Zuerst nahm sie ihm den Verband ab, wusch die Kopfwunde und widmete sich nach und nach den vielen anderen Schrammen, die sein Körper abbekommen hatte. Sie war vorsichtig und bewegte ihre kühlende Hand fast wie eine Liebkosung auf seiner bloßen Haut, bis er unvermittelt scharf die Luft durch die Zähne einsog. Trotz der Pein, die ihm seine Verletzungen bereiteten, durchlief ihn unerwartet ein Lustgefühl. Nun konnte er keinen Schlaf mehr vortäuschen und schlug die Augen auf.

„Ach, Ihr seid aufgewacht“, sagte sie auf Bretonisch, und ihm dämmerte, in welchem Teil der Welt er war.

„Ihr habt Marie Angst eingejagt“, richtete die Frau harsch das Wort an ihn und sah ihn mit ihren dunklen Augen so streng an, dass John den Blick nicht so schnell vergessen sollte. „Sie kam zu mir gerannt und weinte, weil Ihr sie mit unsinnigem Gerede erschreckt habt.“

John schluckte und setzte an, seine Sicht der Dinge zu erklären, kam aber nicht dazu, den Mund auch nur aufzumachen.

„Sagt nichts“, befahl sie. „Wartet.“

Darauf holte sie eine Schale aus Ton vom Tisch, stützte den Kranken mit einer Hand im Nacken und hielt ihm das Gefäß an die Lippen. Es war voll Apfelwein, und er trank gierig alles aus.

Als sie dann seinen Kopf niederlegte und dabei leicht über seinen Hals fuhr, erwachte, wieder unerwartet, heftiges Begehren in ihm. Ein leises Stöhnen vermochte er nicht zu unterdrücken, das sie aber für einen Schmerzenslaut hielt und nun eher mit Sorge als mit Strenge auf ihn hinabblickte. John konnte sich nicht erklären, warum sie ihm dabei so vertraut vorkam, als hätte er sie schon einmal gesehen. Er konnte die Erinnerung, die schemenhaft blieb, nicht greifen, fühlte sich aber dieser Frau, zu der es ihn unerklärlich stark hinzog, verbunden. Es erging ihm wie einem Nachtschmetterling, der nicht weiß, warum die Flamme ihn anzieht.

„Könnt Ihr nun besser sprechen?“, fragte sie.

„Ich hatte nicht vor, die Magd zu erschrecken“, krächzte er.

„Das höre ich gern. Ich würde niemandem Schutz gewähren, der Vergnügen daran findet, junge Mädchen einzuschüchtern.“

Offenbar war er ihr fremd, und er fragte sich erneut, warum er sich so intensiv zu ihr hingezogen fühlte.

Als er die Stirn runzelte, musste sie lächeln. „Macht Euch nichts draus. Marie ist ein törichtes Ding und fürchtet sich schon, wenn nur eine Katze hinter ihr maunzt.“

Er strengte sich an, seinen verschwommenen Blick zu schärfen, konnte die Frau auch kurz etwas klarer sehen, verlor den Fokus aber schnell wieder. Ihrer hohen melodiösen Stimme nach hätte man sie für ein Mädchen halten können, aber sie stand nicht mehr in der Blüte der Jugend. An den Augen und am Mund hatten sich feine Fältchen eingegraben wie auch eine Zornesfalte über ihrer geraden markanten Nase. Der strenge Gesichtsausdruck musste ihr wohl zur Gewohnheit geworden sein.

John merkte, dass er ihre Stellung falsch eingeschätzt hatte. Das eng anliegende grüne Gewand unter ihrem Überrock mit den weiten Ärmeln war um den Halsausschnitt und an den Manschetten reich bestickt, und unter dem Band aus Leinen, das sie um die Stirn trug, blitzten goldene Kämme hervor, die ihr volles schwarzes Haar an beiden Seiten in Wellen feststeckten. Sie trug drei kostbare Ringe an ihren Fingern.

Darüber hinaus zeigte die Frau in Haltung und Miene, dass sie das Kommandieren gewöhnt war. Im Moment schien sie eine Reaktion auf ihre Worte zu erwarten.

„Mein Kopf schmerzt, und ich kenne diesen Ort nicht“, brachte er mit rauer Stimme heraus. „Was ist mir geschehen?“

Da sie die Stirn krauszog, vertiefte sich die Falte zwischen ihren schwarzen Augenbrauen.

„Wisst Ihr denn nicht mehr, wie Ihr hierhergelangt seid?“, fragte sie.

„Ich erinnere mich an nichts, Madame“, murmelte er und vermied jede Bewegung mit dem Kopf, um bei Bewusstsein zu bleiben. „Könnt Ihr es mir erklären?“

Sie antwortete nicht sofort, sondern musterte ihn misstrauisch. Da setzte er sich, so gut er es vermochte, auf und ergriff bittend ihre Hand. Ihre Augen weiteten sich, und er merkte, wie ihre Finger förmlich erstarrten. Ohne zu wissen warum, hob er die andere Hand und berührte sanft ihre Wange, worauf die Güte, mit der sie ihn versorgt hatte, mit einem Schlag verschwunden war.

„Nehmt Eure Hand weg“, fuhr sie ihn in eisigem Ton an und riss sich los. Ihre Miene verfinsterte sich.

„Verzeiht mir“, bat er und fiel mit leisem Keuchen auf sein Kissen zurück. „Doch wenn Ihr etwas wisst, bitte ich Euch dringlichst, es mir zu sagen.“

„Was ich weiß, kann ich Euch erzählen. Aber seid gewarnt, Monsieur: Ohne meine Zustimmung darf mich kein Mann berühren, und das gilt auch für Kranke.“

„Ich habe verstanden“, antwortete John betreten.

Sie lächelte angespannt, ließ sich auf ihre Knie nieder, zupfte mit ein paar anmutigen Handgriffen ihre Kleider zurecht und faltete ihre Hände im Schoß.

„Ihr fuhrt auf einem Schiff.“

Schon machte sie eine Pause, wobei sie ihn nicht ansah. Mit ihrem verschlossenen Gesicht wirkte sie wachsam, aber trotz ihrer reizvollen, scharf gezeichneten Gesichtszüge war auch etwas Zerbrechliches an ihr. Er beobachtete sie, wie sie im hellen Sonnenlicht dasaß und ihre Augen durch den Raum wandern ließ.

„Was weiter?“, hakte er nach und hätte gern ihren Arm genommen, aber er war gewarnt.

„Das Schiff lief auf Grund. Wir haben Euch zwischen den Trümmern und den Ertrunkenen am Strand gefunden.“ Sie beugte sich vor und sah ihn so forschend an, als könnte sie durch seine Kleidung hindurch- und in ihn hineinsehen. „Wisst Ihr wirklich gar nichts mehr? Wie heißt Ihr denn?“

Als John merkte, dass er seinen Namen nicht mehr kannte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder.

„Ich kann mich nicht erinnern“, stieß er bestürzt hervor, und der Schweiß brach ihm aus. Die Frau aber musterte ihn erneut voller Argwohn.

Autor

Elisabeth Hobbes

Elisabeth Hobbes‘ Karriere als Autorin begann damit, dass sie mit ihrem ersten Roman 2013 beim „So You Think You Can Write“-Wettbewerb des Verlagshauses Harlequin Enterprises den dritten Platz belegte. Sofort wurde sie von Harlequin, dem Mutterhaus von CORA, unter Vertrag genommen und hat seitdem acht historische Romane veröffentlicht.

Obwohl das...

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