Verrat des Herzens

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Ein eiskalter Handel macht Lady Ghislaine zur Frau des normannischen Ritters Guy de Courcy. Doch als süßer Wein und unerwartete Sehnsucht sie für eine Nacht in seine starken Arme treiben, begehrt sie ihn heiß – gegen ihren Willen! Denn noch muss sie fürchten, dass ausgerechnet Guy der Mörder ihrer besten Freundin ist …


  • Erscheinungstag 06.08.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502467
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die dünne Schnur, mit welcher Ghislaines Hände zusammengebunden waren, schnitten schmerzhaft in die Haut, und das Mädchen versuchte verzweifelt, sich von der Fessel zu befreien. Dabei schnaubte das schwere Schlachtross unter ihr so unwillig, dass sie inständig hoffte, das riesige Tier möge ihre ungeschickten Bewegungen nicht missverstehen.

„Wenn Ihr nicht genug Verstand habt, Mädchen, um Euch ruhig zu verhalten, werdet Ihr schnell merken, dass meine Gemütsverfassung noch viel weniger umgänglich ist als die des Pferdes“, knurrte ihr Entführer unwirsch, und Ghislaine kniff zornerfüllt die Augen zusammen. Liebend gern hätte sie dem Schurken die Antwort gegeben, die er verdiente, doch zu allem Überfluss hatte man ihr den Mund mit einem schmutzigen und nicht besonders gut riechenden Tuch verbunden und einen derben Strohsack über den Kopf gestülpt.

Der Bursche zog sie grob an seine Brust zurück und drückte dabei seine Finger hart in ihre Arme. Nun bohrten sich die Nieten seiner ledernen Halsberge so spürbar durch Ghislaines wollenes Gewand, dass ihr keine andere Wahl mehr blieb, als möglichst bewegungslos an der Stelle zu verharren, an der sie sich befand, zumal sie auch noch zwischen zwei muskelharten Oberschenkeln eingeklemmt war, die jede Möglichkeit, sich von ihrem Peiniger wenigstens ein Stückchen zu entfernen, von vornherein zunichte machten. Ergeben in ihr Schicksal, ließ sich Ghislaine an die Brust ihres Widersachers sinken.

Der Sack über ihrem Kopf benahm ihr fast den Atem. Man hatte sie zusammengeschnürt wie einen Strohballen und den Strick am Sattelknopf befestigt. Ghislaine hatte das Gefühl, von dem Hanfseil in Stücke zerteilt zu werden, und fragte sich, wie lange sie diesen Zustand wohl noch würde ertragen können. Es schienen Stunden vergangen zu sein, seitdem sie zum letzten Male frische Luft geatmet hatte.

Der Herzschlag des Mannes hinter ihr dröhnte laut in ihren Ohren. Inständig flehte sie den Himmel an, dem Klopfen Einhalt zu gebieten – nichts Schlimmeres, sondern es einfach nur aufhören zu lassen. Vater Thomas hatte sie zwar oft und eindringlich vor den Gefahren argwilliger Gebete gewarnt, aber Ghislaine war überzeugt, dass Gott ihr in diesem Falle ausnahmsweise einen solchen Wunsch nicht verdenken würde. Schließlich hatte sie ja ganz und gar nichts getan, um eine derartige Behandlung zu verdienen.

Nun ja, fügte sie in Gedanken hastig hinzu, zumindest habe ich nicht verdient, von einer Schar marodierender Geächteter verschleppt zu werden. Das Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, bestand ja lediglich darin, sich weiter von ihrem Hause entfernt zu haben, als tunlich gewesen wäre. Und wenn sie Edwins Warnungen nicht so leichtfertig in den Wind geschlagen hätte, wäre sie niemals in diese missliche Lage geraten.

Die Morgenluft war so frisch und trocken gewesen und hatte den mildesten Tag dieses etwas rauen Februars versprochen. Ghislaine war des langen Daheimhockens während endloser feuchtkalter Winterwochen müde gewesen, hatte ihr Pferd satteln lassen, Pfeile und Bogen von der Wand genommen und sich auf die Suche nach einem Reh oder vielleicht gar einer Hirschkuh gemacht. Der immer zu Nachsicht bereite Edwin war seiner eigensinnigen Herrin nur zögernd gefolgt und hatte sie immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass man erst kürzlich im Wald eine Gruppe Vogelfreier entdeckt habe.

Selbstverständlich hatte Ghislaine diese wohlmeinenden Warnungen überhört. Schließlich jagte sie das Wild des Earl of Chester, um es den hungrigen Dorfbewohnern zukommen zu lassen, und da würde der liebe Gott doch bestimmt ein Einsehen haben. Letztendlich hatten die Bauern ja keine Schuld an der Viehseuche, die ihre Herden fast völlig vernichtet hatte, und niemand außer ihr, am allerwenigsten der Earl, würde ihnen zu der notwendigen Nahrung verhelfen.

Als sie die Grenze zwischen ihrem Land und dem Gebiet des Earls erreicht hatten, spürte Ghislaine zum ersten Male eine unbestimmte Unruhe. Aber selbst in diesem Augenblick hatte sie ihrer Vorahnung keine Aufmerksamkeit geschenkt, bis das Unheil just in der Sekunde über sie hereinbrach, als sie sich nahe genug an eine Hirschkuh herangeschlichen hatte und nach einem Pfeil in dem Köcher tastete. Urplötzlich hatte sich eine große Hand auf ihren Mund gelegt, und irgendjemand zerrte sie in das dichte Unterholz.

Ghislaine hatte heftig zugebissen und um sich getreten, sodass ihr Entführer einen grimmigen Fluch ausstieß, bevor er ihr den Mund verstopfte und irgendetwas Dunkles über den Kopf zog. In Blitzesschnelle war sie zusammengeschnürt worden wie ein Bündel, wurde emporgehoben und ohne viel Federlesens auf den Sattel eines kräftigen Pferdes gebunden. Der Schurke hatte noch ein paar halblaute Befehle gegeben und seitdem kein Wort mehr gesprochen.

Anfangs war Ghislaine wie gelähmt vor Angst gewesen und hatte nicht gewagt sich zu rühren, um sich nicht den Zorn des Mannes zuzuziehen, der sich hinter ihr in den Sattel geschwungen hatte. Als sie schließlich erkannte, dass dieser gemeine Menschenräuber offensichtlich nicht gewillt war, sie sofort umzubringen, wurde ihr klar, dass man anscheinend irgendeinen anderen Zweck mit ihrer Entführung verfolgte.

In dem Land, das seit seiner Eroberung durch die Normannen noch nicht wieder recht zur Ruhe gekommen war, fand man nichts Besonderes daran, wenn junge Erbinnen entführt und eine gewisse Zeit gefangen gehalten wurden, bis man sie um ihrer Ländereien willen verheiratete. Doch was sie selbst betraf, so hielt Ghislaine eine solche Möglichkeit für wenig wahrscheinlich. Gewiss, sie besaß Äcker, Wiesen und Wald und auch ein burgartiges Herrenhaus, doch im Vergleich zu anderen nahm sich dieser Besitz eher bescheiden aus. Und überdies entsprach ihr Äußeres ganz und gar nicht dem Bilde einer Grundherrin. Im Allgemeinen ähnelte Ghislaine mehr einem ihrer Bauernmädchen, und ihr Entführer musste sehr gut informiert gewesen sein, wenn er gewusst hatte, wen er vor sich hatte.

In ihre trüben Gedanken hinein bemerkte Ghislaine plötzlich, dass der Reiter das Ross zum Stehen gebracht hatte. Etwas unsanft wurde sie aus dem Sattel gehoben und auf die Füße gestellt. Als man ihr den Sack vom Kopfe zog, konnte sie die Augen in dem ungewohnten Tageslicht nur mühsam blinzelnd öffnen.

„Wenn Ihr den Wunsch habt, die nächste Stunde noch zu erleben, solltet Ihr den Mund halten, Mädchen“, knurrte eine dunkle Stimme unmittelbar hinter ihr. Auf noch unsicheren Beinen wandte sich Ghislaine erschrocken um und starrte den Mann an, der sie wie ein Turm überragte. Er war in der Tat groß, sehr groß. Sein dichtes schwarzes Haar hing ihm auf die Schulter, und seine kalten eisblauen Augen schienen sein Opfer förmlich zu durchbohren. Er war in einen weiten, fleckigen Mantel gehüllt, unter dem die lederne, nietenbeschlagene Halsberge hervorsah. Die Gefahr, die von seiner bösen schwarzen Seele drohte, war deutlich auf seinem Gesicht zu erkennen, und Ghislaine wusste sofort, dass er auch vor einem Mord nicht zurückschrecken würde.

Befriedigt von der furchtsamen Miene seines Opfers riss der Mann das Tuch von Ghislaines Mund und erwischte dabei eine Strähne ihres langen Haares. Ein Schmerzensschrei kam über ihre Lippen, und sofort wurde ihr wieder rücksichtslos die Hand auf den Mund gepresst.

„Zum Teufel, dummes Ding“, zischte der Mann wütend. „Ist Euch denn Euer Leben nicht lieb?“

Am liebsten hätte Ghislaine ihm wieder in die Hand gebissen. Doch sie verzichtete vorsichtshalber auf diese nutzlose Rache und maß stattdessen ihren Peiniger mit einem hasserfüllten Blick.

„Habt Ihr eigentlich schon immer eine so natürliche Liebenswürdigkeit besessen“, stieß sie mit blitzenden Augen hervor, „oder übt Ihr sie bei mir nur ein?“ Mit einer heftigen Bewegung warf sie ihr wildes goldrotes Haar über die Schulter, hob trotzig das Kinn und wartete auf den tödlichen Streich. Wenn sie schon umgebracht werden sollte, dann war es besser, wenn es schnell geschah.

Doch der dunkelhaarige Mann zückte kein Messer, wie Ghislaine erwartet hatte, sondern starrte sie nur mürrisch an. Dann wandte er sich an einen blondhaarigen Jüngling, der ein paar Schritte abseits stand. „Bist du sicher, dass sie die Richtige ist?“, fragte er, nur mühsam beherrscht.

Der Gefragte nickte wortlos, und so drehte sich der Mann wieder zu Ghislaine um.

„Also, Demoiselle de Launay, Ihr hängt offensichtlich nicht sehr am Leben – oder irre ich mich?“

Da er meinen Namen so genau kennt, dachte Ghislaine, war der Überfall also geplant. Sie schloss die Augen und suchte krampfhaft nach einer Erklärung für ihre Entführung.

„Oh“, sagte sie schließlich mit dem Ton des Bedauerns, „ich fürchte, es ist Euch ein Irrtum unterlaufen. Ich bin Demoiselle de Launays Kammermädchen Effie.“

Der Mann musterte sie mit zusammengekniffenen Augen von Kopf bis Fuß. „Effie ist klein, drall, blond und …“, fügte er mit boshafter Betonung hinzu, „hübsch. Ihr seid nichts davon.“

Diese Bemerkung war ein unmissverständlicher Versuch, Ghislaine aufzubringen. Doch sie verzog keine Miene. „Ich bin sicher, dass …“, begann sie stattdessen einen neuen Versuch.

Der Mann schnitt ihr indes mit einer unwilligen Geste das Wort ab. „Und ich bin sicher, dass Euer hübscher Begleiter dort drüben seinem Schöpfer früher gegenübersteht, als er erwartet, wenn Ihr nicht bereit seid, mit mir am selben Strang zu ziehen.“

Ghislaine wandte den Blick in die angewiesene Richtung und erblickte Edwin zwischen mehreren Bewaffneten. Auch er war mit groben Stricken gefesselt. Resigniert hob Ghislaine die Schulter und blickte zu ihrem Entführer empor. „Also gut“, sagte sie mutlos, „was wollt Ihr von mir?“

„Ich will, dass Ihr Euch wie eine Lady benehmt, sofern das möglich ist.“ Sein beißender Spott prallte nahezu wirkungslos an Ghislaine ab. Nur einen kurzen Augenblick hob sie hochmütig die Brauen. „Wir reisen nach Chester“, fuhr der Mann fort, „und ich möchte mit meinen Männern die Stadt so unauffällig wie möglich betreten.“

„Und was soll ich dort?“, fragte Ghislaine verblüfft. Sie konnte keinen Sinn darin entdecken.

„Ich habe die Absicht, mit dem Earl of Chester zu sprechen, und denke, dass er mein Anliegen in einem etwas gefälligerem Lichte betrachten wird, wenn ich sein Mündel mitbringe.“

So war sie also eine Geisel!

„Und wenn ich dieses Spiel nicht mitmache, bringt Ihr Edwin um“, ergänzte Ghislaine.

Der schwarzhaarige Räuber nickte kurz. „Ich hoffe, Ihr behaltet diesen Umstand im Gedächtnis, Demoiselle de Launay“, bemerkte er mit drohender Miene und wandte sich dann an die kleine Schar Bewaffneter, die in einigen Schritten Entfernung schweigend wartete.

Trotz ihrer mutigen Worte war Ghislaine von Furcht erfüllt. Edwins Leben hing von ihrer Bereitschaft ab, auf die Forderungen ihres Entführers einzugehen. Aber selbst wenn sie sich dazu erbötig zeigte, hatte sie doch erhebliche Zweifel, dass der Earl durch ihre Gegenwart günstig gestimmt werden würde. Ihre Vorliebe, seine Pläne zu durchkreuzen, hatten ihn schon des Öfteren in Harnisch gebracht, und wenn ihr Vater nicht einer seiner treuesten und vertrautesten Vasallen gewesen wäre, hätte er Ghislaine bestimmt schon vor Monaten in ein Kloster verbannt.

Wehmutsvoll blickte Ghislaine zu Edwin hinüber. Der Vater war nicht mehr am Leben, und im Augenblick hing ihr Leben von einem habgierigen Manne ab, der sich nicht der Mühe unterzog, seine Abneigung ihr gegenüber zu verbergen.

Spät am Nachmittag war die Stadt Chester erreicht, deren Sandsteinmauern in der tiefstehenden Sonne rosig schimmerten. Ghislaine seufzte erleichtert. Trotz ihrer Besorgnis wegen des weiteren Ganges der Dinge hoffte sie inständig, dass der Earl sie aus ihrer unglückseligen Lage befreien werde. Sicher war sie sich dessen jedoch keinesfalls. Ungeachtet ihres gegenseitigen Missfallens war er nun einmal ihr Vormund, aber Ghislaine wusste, dass er gegebenenfalls keine Skrupel hatte, mit einem Geächteten gemeinsame Sache zu machen, wenn es ihm nur half, seine Münzschatullen zu füllen.

Im Burghof ließen der Entführer und sein blondhaariger Begleiter die anderen Männer mit Edwin zurück und führten Ghislaine schweigend zu der großen Halle. Vor der schweren zweiflügligen Eichentür hielten sie an, und Ghislaine hatte kaum Zeit, den Staub von ihrem zerdrückten Mantel zu schütteln, bevor zwei kriegerisch aussehende Wachposten die Flügel weit aufstießen. Die sanften Töne einer Rotte, dem beliebten fünfsaitigen Zupfinstrument, hin und wieder übertönt von rauem Gelächter, drangen aus dem langen, schmalen Raum, der von Fackeln an den Wänden und unzähligen brennenden Kerzen in eisernen Leuchtern erhellt wurde.

Am entgegengesetzten Ende brannte ein riesiges Feuer, um das sich fünf oder sechs der besonders favorisierten Barone des Earls nebst einigen Frauen versammelt hatten. Aus der Kleidung und dem Gebaren der letzteren schloss Ghislaine, dass es sich bei ihnen wohl nicht um Damen von Stand handeln konnte. Der Earl war schließlich bekannt für seinen lockeren Lebenswandel.

Die verschwenderische Pracht des Raumes verschlug Ghislaine die Sprache. Schattenspiele, die von den flackernden Kerzen ausgingen, tanzten über die prunkvollen rotgoldenen Wandbehänge und gaben der Halle einen beeindruckend unwirklichen Anschein. Eine solche Üppigkeit war Ghislaine aus ihrem Alltag nicht gewöhnt, und dieser Eindruck wurde auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass die Binsen, mit denen der steinerne Fußboden bestreut war, wohl schon vor einiger Zeit hätten erneuert werden müssen, wie ihr muffiger Geruch verriet.

Ängstlich bahnte sich Ghislaine ihren Weg bis an das andere Ende der Halle, wo der Earl lässig in einem großen geschnitzten Armstuhl saß und träge die Ohren eines großen Jagdhundes zu seinen Füßen kraulte. An seinem enormen Fettbauch war er schon von Weitem unschwer zu erkennen.

Bei dem Eintritt der drei unerwarteten Besucher hatte sich Schweigen über die Halle gebreitet, und selbst die Barone wagten nur flüsternd, ihre Vermutungen auszutauschen.

Der Earl ließ aus seinen verschwommenen blauen Augen flüchtig den Blick über die Ankömmlinge schweifen und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder den reichlich gefüllten Zinntellern auf dem Tische zu. Während er mit seinen dicken weißen Fingern die Fleischstücke prüfte, verzogen sich seine Lippen in genüsslicher Erwartung.

Für die Waliser war Hugo d’Avranches Hugh der Fettwanst, für seine eigenen Leute hingegen Hugo Lupus, der Wolf. Aber keiner von ihnen unterschätzte dabei die gewitzte Schläue, mit deren Hilfe es ihm gelungen war, vor allen anderen die Gunst Wilhelms des Eroberers zu erlangen. Er war des Königs Lieblingsneffe und der mächtigste Mann im Norden Englands. Entschlossen, hinterhältig und rücksichtslos im Umgang mit seinen Vasallen stellte er hochmütig sein Emporkommen zur Schau. Die Grafschaft Cheshire hatte er sicher im Griff, und er war fest entschlossen, so viele Pfunde Silbers aus der Bevölkerung herauszupressen wie nur möglich.

Nachdem er seine Esslust fürs Erste gestillt hatte, tauchte Hugh die Finger in eine Schale mit Duftwasser und wischte sich danach sorgfältig und mit fast feierlicher Langsamkeit die Hände ab. Dann bedeutete er mit einer herrischen Geste, die Essensreste von der Tafel zu entfernen, und wandte sich mit einem unterdrückten Seufzer seinen unerwartet aufgetauchten Verpflichtungen zu.

„Also, de Courcy, welchem Anlass verdanke ich die Ehre Eures Besuches?“

Zu Ghislaines Überraschung ließ diese Anrede eine gewisse Vertrautheit erkennen. Woher um alles in der Welt mochte der Earl of Chester diesen geächteten Räuber kennen? Doch ungeachtet der ungezwungenen Worte war es unübersehbar, dass Hugo Lupus sie beide ohne das geringste Zeichen von Erfreutheit betrachtete.

„Ich bin gekommen, um Eure Gunst als Schutzpatron in Anspruch zu nehmen.“ In der dunklen, klangvollen Stimme des Geächteten schwang immer noch ein leises Grollen mit, und in den wenigen Worten lag nichts von der gewählten Höflichkeit, in der man gemeinhin mit einem Earl zu verkehren hatte.

Der Earl of Chester überhörte jedoch bewusst diese Missachtung. Er erhob sich schwerfällig, zog seine Cotte aus lavendelblauem Wollstoff glatt, steckte die Daumen hinter den mit Juwelen besetzten Ledergürtel und trat auf seine ungebetenen Gäste zu. Auf seinen Lippen lag ein gezwungenes Lächeln.

„Und womit habe ich mir diesen überaus glücklichen Umstand verdient?“

De Courcy runzelte missmutig die Stirn. Sein Begleiter jedoch erwiderte eilfertig das Lächeln und verneigte sich ehrerbietig, wobei die blonden Locken über sein hübsches Gesicht fielen.

„Mein Name ist Arnaud d’Everard, Mylord Chester. De Courcy bittet Euch um eine Aussprache.“

Hugh d’Avranches musterte seine Gäste noch einmal schweigend und nickte dann kurz.

„De Courcy wurde unbegründet eines Verbrechens beschuldigt“, fuhr der junge Mann fort, „und möchte in Cheshire unter Eurem Schutz verweilen, bis er die Möglichkeit bekommt, seinen Namen wieder reinzuwaschen. Da er in der Vergangenheit die Ehre hatte, Euch seine Unterstützung angedeihen zu lassen, setzt er seine Hoffnung darauf, dass Ihr ihm als Gegenleistung diese Gunst gewähren werdet.“ Die Stimme von d’Everard war sanft und wohltönend. Er war ganz offensichtlich kein niedriggeborener Vagabund.

Voller Unbehagen warf Ghislaine ihrem Entführer einen unsicheren Blick zu. Der Earl war in der Tat dafür bekannt, dass er alle Arten von Verbrechern unter seiner Schirmherrschaft beherbergte. Für eine entsprechende Gebühr war Hugo Lupus jederzeit bereit, Geächteten, die ihrer Untaten wegen hatten fliehen müssen, einen sicheren Unterschlupf in den riesigen Wäldern Cheshires zu bieten. Seine Schatullen mussten mit Silber angefüllt sein, denn in seinen Forsten wimmelte es nur so von Vogelfreien.

Aber nicht einmal des Königs Leute wagten es, die Grenzen von Cheshire bei der Verfolgung eines Flüchtigen ohne Brief und Siegel des Königs zu überschreiten, und Wilhelm wiederum mischte sich nicht gerne in die Angelegenheiten des Earls. Auf Grund dieser Zustände war heutzutage niemand mehr sicher, der einen längeren Ritt unternahm, und so nahm man auch an, dass Ghislaines Vater und Peter of Staveley vor ein paar Monaten Opfer dieser umherstreunenden Banden geworden waren. Deshalb machte der Earl nur noch ungern in aller Öffentlichkeit gemeinsame Sache mit den Geächteten, zumal seine Schatullen inzwischen von dem Gewinn aus diesen zweifelhaften Verbindungen fast überquollen.

Ghislaines Lippen waren trocken vor Erregung, und so nahm sie dankbar einen Becher Wein entgegen, den ihr ein Knappe auf einen Wink Hughs überreichte. Ein bohrendes Hungergefühl machte sich in ihrem Magen breit, denn sie hatte seit dem Morgen nichts mehr zu sich genommen.

„Und um was für ein Verbrechen geht es dabei?“ Hugo Lupus hatte urplötzlich seine gelangweilte Haltung abgelegt.

Auf de Courcys Stirn erschienen zwei tiefe senkrechte Furchen. „Um den Mord an einer Edelfrau – einer gewissen Margaret of Staveley.“

Die raue Stimme hallte in Ghislaines Ohren wider. Sie brauchte einen Augenblick, um das Gehörte zu begreifen: Margaret war tot, und der Mann, der des Mordes an ihr beschuldigt wurde, stand neben ihr!

Sie starrte de Courcy entsetzt und ungläubig an, während ihr sonst so frisches sommersprossiges Gesicht erbleichte. Der Mörder ihrer liebsten Freundin forderte Hilfe von Hugh d’Avranches und gab dabei auch nicht das geringste Zeichen von Reue oder Bedauern von sich. Irgendein unterdrückter Ausruf musste ihr dabei über die Lippen gekommen sein, denn erneut schienen die blitzenden Augen des Mannes sie sekundenlang zu durchbohren, ehe er den Blick wieder dem Earl zuwandte.

„Margaret war die Witwe von Peter of Staveley. Sie lebte im Osten der Macclesfield Hundred, wenn ich mich nicht irre?“, erwiderte Hugh d’Avranches langsam und nachdenklich. „Welche Angelegenheit hat Euch in dieses Gebiet geführt?“

De Courcy verzog keine Miene. „Ich hatte ein Haus gekauft, etwa einen halben Tagesritt von dem Anwesen der Staveleys entfernt.“ Seine Stimme war auf einmal nicht mehr so frisch und sein Ärger über diese Frage für jedermann erkennbar.

„Ich hatte davon keine Kunde“, erwiderte der Earl in einem so merkwürdigen Tonfall, dass Ghislaine sofort davon überzeugt war, dass er nichtsdestoweniger in diese Angelegenheit eingeweiht gewesen war. De Courcys entrüstetes Schnauben quittierte er jedoch lediglich mit einem hochmütigen Heben der Brauen.

Wer immer dieser Schurke sein mag, dachte Ghislaine, er muss jedenfalls von einiger Bedeutung für den Earl sein. Normalerweise blieb Hugh d’Avranches bei solchen ungeschliffenen Manieren nicht ruhig. Immerhin lag in seinen blassblauen Augen ein unübersehbarer Schimmer von Missvergnügen.

Nun sprang de Courcys jugendlicher Begleiter wieder in die Bresche.

„Er hat das Haus im vergangenen Jahr von Bigot de Loges gekauft“, erklärte er bereitwillig. „Die Dienste meines Freundes waren bei den Heerführern sehr gefragt gewesen, und er hatte nun das Bedürfnis, sich sesshaft zu machen. Kurz nach dem Julfest war er eingezogen, und wir statteten der Lady ein paar Tage später einen Höflichkeitsbesuch ab. Als wir sie verließen, war sie bei bester Gesundheit. Es erwies sich jedoch“, fuhr er zögernd fort, „dass Mistress Margaret und ihr Gesinde kurz nach unserer Verabschiedung bei einem Überfall getötet worden waren, und so wurden wir des Mordes beschuldigt. Der Bruder von Mistress Margaret, Henry of Dettingham, fordert unseren Kopf und hat das Haus meines Freundes in Besitz genommen.“

Langsam wurden Ghislaine die Zusammenhänge offenbar. De Courcy verdingte sich also als Kriegsknecht, und Margaret war von einem Söldner ermordet worden. Wieder musterte sie die grimmigen Züge des Mannes neben ihr. Es gab keinen Zweifel, dass er auch gegenüber einer Frau keine Gnade walten lassen würde. Was für ein Unmensch tötete wohl ein so sanftes und liebevolles Wesen wie Margaret!

Margaret war nur ein knappes Jahr mit Ghislaines Bruder Richard verheiratet gewesen, und die beiden jungen Frauen hatten eine ungewöhnlich enge und herzliche Freundschaft geschlossen, während Richard an dem Kriegszug gegen die Waliser teilnahm. Als Richard nicht mehr heimkehrte, rückten sie noch enger zusammen, obwohl die ruhige Margaret manchmal entsetzt war über Ghislaines wilde Abenteuer.

Ihr dichtes aschblondes Haar, die freundlichen blauen Augen und ihre zarte, schlanke Gestalt zogen viele Freier an. Doch zur Überraschung aller entschied sie sich für einen gesetzten Witwer in mittleren Jahren. Peter of Staveley war ein enger Freund ihres Vaters gewesen, und sie kannte ihn als einen klugen, edel denkenden Menschen, der sich nach einer Frau und einer Familie sehnte, denen er seine Liebe und seinen Reichtum zukommen lassen konnte. Nun weilten sie beide nicht mehr unter den Lebenden.

„Und Eure Leute?“, forschte der Earl weiter. Er erinnerte Ghislaine dabei an einen Habicht, der sich auf eine Beute stürzen wollte – allerdings einen etwas fetten Habicht.

„Zwanzig von ihnen überlebten den nachfolgenden Überfall Dettinghams auf mein Haus und warten nun auf ein Zeichen von mir.“ De Courcys Stimme war so kalt, dass Ghislaine ein Schauer über den Rücken lief.

Hugh d’Avranches strich sich durch sein silberblondes kinnlanges Haar. „Würdet Ihr wohl die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, wozu es eines solchen Zeichens bedarf?“ Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zum anderen Ende der Halle, bevor er sich wieder seinem Gast zuwandte.

Doch noch ehe de Courcy antworten konnte, stürzte Ghislaine, angetrieben von Zorn und wohl auch von zu viel des schweren Weines, auf ihn zu. „Warum?“, schrie sie ihm ins Gesicht. „Warum habt Ihr sie umgebracht?“

Jetzt richteten sich alle Augen auf sie, und die Weibspersonen rissen den Mund auf über diese Unverfrorenheit. Frauen hatten sich nicht in Männerangelegenheiten zu mischen. Es schien, als halte die ganze Halle den Atem an in Erwartung des ausbrechenden Gewitters.

De Courcy blickte das Mädchen an, das mit zornfunkelnden Augen und gehobenen Fäusten vor ihm stand. Trotz seiner Erschöpfung und seines Verdrusses konnte er nicht umhin, der jungen Frau eine gewisse Bewunderung zu zollen. Selbst von den Männern hätten es nur wenige gewagt, derart kühn aufzutreten.

„Ich habe dieses Verbrechen nicht begangen“, erwiderte er ruhig.

Doch gerade diese Ruhe reizte Ghislaine nur noch mehr. „Und warum seid Ihr dann hier?“

Jetzt wurde de Courcys Blick härter. „Meine Geschäfte betreffen den Earl of Chester“, erwiderte er kalt, aber noch in seine letzten Worte hinein erklang das heisere Lachen von Hugh d’Avranches.

„Ich hatte Euch gar nicht erkannt, Demoiselle de Launay.“ Er betrachtete verächtlich Ghislaines staubigen, zerdrückten Mantel und ihr zerzaustes Haar. „Ich dachte, Ihr gehörtet zu de Courcys Lagergefolgschaft.“

Diese spöttischen Worte trieben das Blut in Ghislaines Wangen, doch sie reckte dennoch trotzig das Kinn vor.

„So erhebt sich mir nun also die Frage“, fuhr der Earl gelassen fort, „nach dem Zwecke Eurer Anwesenheit in meiner Burg.“

„Demoiselle de Launay ist hier“, mischte sich de Courcy hastig ein, „um Euch zu … überreden, mir Euern Schutz angedeihen zu lassen.“

Hugh d’Avranches verzog die Lippen zu einem kaum merklichen Lächeln. „Und welchen Nutzen würde ich aus meinem Patronat ziehen?“, fragte er lauernd.

De Courcy runzelte die Stirn. „Alle meine gewöhnlichen Kenntnisse und Fähigkeiten stehen Euch vierzig Tage lang zur Verfügung.“

„Nun, ich glaube, Eure Kenntnisse und Fähigkeiten sind wohl eher ungewöhnlich“, erwiderte der Earl. „Aber eigentlich waren die üblichen vierzig Tage Ritterdienst nicht unbedingt das, was ich dabei im Auge hatte.“

De Courcy trat ungestüm einen Schritt vor, doch Arnaud d’Everard hielt ihn zurück. „Und was habt Ihr stattdessen im Auge, Mylord Chester?“, fragte er höflich.

Sein verbindlicher Ton schien das Wohlgefallen des Earls zu erregen. „Die Kriegszüge gegen die Waliser haben seit einiger Zeit viele meiner Quellen versiegen lassen. Ich halte deshalb sechzig Tage Ritterdienst für annehmbarer, und außerdem noch hundert Pfund in Silber.“

Hugh d’Avranches und Guy de Courcy blickten sich mit unverhohlenem Missfallen an, in welches sich jedoch auch eine Art Respekt mischte. Es würde sich schließlich für keinen von ihnen auszahlen, sein Gegenüber zu unterschätzen.

Mit einem kurzen Nicken bekundete de Courcy sein Einverständnis mit den genannten Bedingungen. „Ich habe meinerseits indes ebenfalls eine Forderung“, sagte er unwirsch und fuhr, als keine Antwort kam, fort: „Wenn ich und meine Männer sechzig Tage für einen Kampfeinsatz bereitstehen sollen, ist es nötig, uns eine bessere Unterkunft zu schaffen als den Wald von Macclesfield. Wir müssen irgendwo wohnen und täglich unsere Fertigkeiten auf dem letzten Stand halten, möglichst in einer abgelegenen Gegend ohne Nachbarn. Der Landsitz der Familie de Launay in Chapmonswiche scheint mir sehr passend dafür. Sobald ich meinen Namen wieder reingewaschen habe, kehre ich in mein eigenes Haus zurück. Die hundert Silberpfund gelten die gesamte Zeit ab, in der wir Euern Schutz benötigen.“

Der Earl holte schnaufend Luft und strich sich nachdenklich über die Stirn. „Hm, das bringt mich zurück zu Demoiselle de Launay“, sagte er spöttisch und warf Ghislaine einen geringschätzigen Blick zu. „Welche Rolle spielt sie nun tatsächlich in dieser Sache?“

„Sie sichert Euer Wohlwollen, Mylord Chester. Ich bin überzeugt, dass Ihr nichts tun werdet, was Ihr Ungemach verursacht.“ De Courcy hob scheinbar fragend die Brauen.

Auf den Earl machte diese unverhüllte Drohung jedoch nicht den geringsten Eindruck. „Und wenn ich nun nicht bereit bin, Euch vor den Häschern des Königs oder vor Dettingham zu schützen?“

„Meine Leute sind über die ganze Stadt verteilt. Wenn Ihr mein Ansuchen ablehnt, werden sie auf ein Zeichen hin die wichtigsten Gebäude in Brand stecken.“

Der Earl strich sich mit seinen kurzen, dicken Fingern über die prallen Wangen, während er über diese Möglichkeit nachdachte. „Ich werde mir die Angelegenheit durch den Kopf gehen lassen“, sagte er schließlich. „Nehmt inzwischen etwas Brot und Wein zu Euch.“ Er winkte einem Bedienten, der sich beeilte, dem Befehl nachzukommen.

De Courcy ergriff Ghislaines Arm, führte sie zu dem erhöhten Podest und wies ihr einen Platz zwischen sich und Arnaud an. In Ghislaine stieg wilder Zorn auf. Sollte sie jetzt gar neben dem Mörder ihrer besten Freundin sitzen und Liebenswürdigkeiten austauschen?

„Ist es eine Gewohnheit von Euch, unschuldige Mädchen meuchlings zu ermorden?“, begann sie zornbebend, denn sie hatte nicht die Absicht, den Mantel des Schweigens über Margarets Tod zu decken. Nicht einen Augenblick lang hatte sie an das Märchen von der Unschuld de Courcys geglaubt. Schließlich liefen ja auch nur diejenigen davon, die sich schuldig fühlten.

Die beiden Widersacher blickten sich mit unverhohlenem Abscheu an. De Courcy griff nach dem Becher und nahm einen Schluck von dem milden roten Wein. Jetzt war nicht die rechte Stunde, dass ein zänkisches rothaariges Weibsbild begann, ihn mit Fragen zu behelligen. Angewidert ließ er die Lider über die dunkelblauen Augen sinken.

„Da Euer Vater nicht mehr am Leben ist“, sagte er höhnisch, „gehe ich davon aus, dass Ihr ihn mit Eurer boshaften Zunge zugrunde gerichtet habt. Ich hege das tiefste Mitgefühl für ihn.“

Der Zynismus seiner Worte war einfach atemberaubend, und Ghislaine fand zunächst keine Worte. Aber selbst als sie den Mund wieder öffnen konnte, schloss sie ihn zunächst wieder bei der Erinnerung an das, was der Schurke neben ihr vorhatte.

„Eure liebenswürdigen Worte, Sir“, begann sie schließlich gleichwohl aufs Neue, „verbunden mit Euern angeborenen natürlichen Reizen, werden Euch an diesem Hof den Erfolg sichern. Ihr werdet Euch hier gewiss wie zu Hause fühlen.“ Die plötzlich eingetretene Stille hätte Ghislaine einen Hinweis darauf bieten können, dass sie dabei war, die Grenzen zu überschreiten. Aber sie dachte nur noch an Margaret.

„Mörder, Diebe und Vogelfreie bevölkern in großer Anzahl das Land. Ich bin überzeugt, auch Ihr werdet eine passende Höhle finden, in die Ihr Euch verkriechen könnt.“

Nun ließ de Courcy seine kräftige Faust auf die eichene Tischplatte fallen. „Sofern Ihr nicht die Absicht habt, Euch zu Eurem Vater zu gesellen, solltet Ihr endlich den Mund halten, Mädchen!“

Er war müde und erschöpft und fragte sich vergebens, warum sich ausgerechnet diese sommersprossige nichtssagende Jungfer dazu entschlossen hatte, mit ihrer spitzen Zunge gegen ihn anzugehen, wo doch sonst die Mädchen angstvoll zurückwichen, wenn er ihnen nur einen grollenden Blick zuwarf. Wahrscheinlich verwirrt die ständige Feuchtigkeit in dieser Gegend den Verstand der Menschen hier, dachte er und nahm einen erneuten Schluck von dem Wein. Zumindest dieser war annehmbar.

Unvermittelt kam ihm Hilfe von einer anderen Seite. „Ihr müsst es Demoiselle de Launay nicht verargen, Sir“, mischte sich eine schlanke, grauhaarige Frau ein, die einige Plätze entfernt von de Courcy saß. „Die Nachricht vom Tode Mistress Margarets hat sie offensichtlich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.“

De Courcy wandte schweigend den Blick in die Richtung, aus welcher diese Worte kamen. Nur ein kaum merkliches Nicken zeigte an, dass er sie verstanden hatte.

„Vielleicht solltet Ihr die näheren Umstände darlegen“, fuhr die Frau mit einem freundlichen Lächeln fort. „Es wäre dann für uns alle einfacher, diesen Vorfall zu begreifen.“

Jählings hob de Courcy den Kopf und starrte der Sprecherin ins Gesicht. Ghislaine hatte den unbestimmten Eindruck, als sei ihrem Entführer diese Frau bekannt, obwohl er kein Zeichen des Erkennens von sich gab. „Ich habe es nicht nötig, einer Frau gegenüber Erklärungen abzugeben“, erwiderte er mürrisch und streifte Ghislaine dabei mit einem verächtlichen Blick.

Die grauhaarige Frau neigte nachgebend das Haupt und schien weder überrascht noch verärgert über die abweisende Antwort zu sein.

„Im Übrigen gibt es nichts zu erklären“, nahm de Courcy wieder das Wort. Seine Stimme war kalt und ärgerlich zugleich. „Ich werde des Mordes an der Lady beschuldigt und weiß doch selbst nicht mehr darüber, als dass man mir deshalb mein Haus weggenommen und zehn meiner Männer getötet hat.“ Er senkte den Kopf und starrte in dumpfem Brüten vor sich hin.

Hugh d’Avranches hatte aufmerksam dieser Unterhaltung gelauscht und ließ nun vorsichtig den Blick zwischen der Frau und de Courcy hin und her wandern. „Ich glaube“, sagte er langsam, „dass wir zu einer gütlichen Lösung kommen können, die uns beiden Vorteile bietet.“ Seine kalten Augen ruhten einen Herzschlag lang auf Ghislaine, ehe er sich wieder de Courcy zuwandte.

De Courcy umklammerte den Weinbecher und starrte den Earl misstrauisch an. D’Everard jedoch schien zu spüren, dass es jetzt nicht angängig war, sich Hugo Lupus zum Feinde zu machen.

„Wir sind begierig, Eure Vorschläge zu hören, Mylord Chester“, sagte er eilfertig.

D’Avranches musterte sein Mündel mit betonter Freundlichkeit, doch Ghislaine erschauerte dennoch unter seinem berechnenden Blick. Der Earl bekam immer, was er wollte, und fragte keinen Deut danach, ob auf rechten Wegen oder auf unrechten.

„Ich denke“, fuhr Hugh d’Avranches lässig fort, „wir brauchen etwas mehr Vertraulichkeit, um die weiteren Einzelheiten zu besprechen.“ Befriedigt nahm er das ehrerbietige Neigen des Kopfes bei de Courcy zur Kenntnis. „Helene, meine Liebe, ich bin sicher, meinem Mündel würde ein Blick über den Fluss helfen, ihre Gedanken zu ordnen und ihre Erregung zu dämpfen.“ Er bedachte die grauhaarige Frau mit einer auffordernden Geste.

Als sich Ghislaine gehorsam erhob, streifte sie ihren Entführer mit einem beiläufigen Blick. Er hatte die Schultern sinken lassen wie in grenzenloser Müdigkeit. Erneut durchdrang sie Hass, und sie war erfreut, dass auch er zu leiden hatte. Mit hochmütiger Würde wollte sie das fragwürdige Tun der Männer hinter sich lassen, doch sie verfing sich mit der Schuhspitze in den Binsenmatten und konnte sich mit hochrotem Kopf gerade noch abfangen. Als sie den Saal verließ, hatte sie das ungute Gefühl, als würde der Earl diese Gelegenheit wahrnehmen, seinen Rachedurst an ihr zu stillen.

2. KAPITEL

Als die schwere Eichentür wieder hinter ihnen geschlossen worden war, wandte sich Ghislaine zu Helene um. Doch die Worte erstarben ihr auf der Zunge, als sie die tödliche Blässe ihrer Begleiterin bemerkte.

„Kann ich etwas für Euch tun?“, fragte Ghislaine besorgt und legte Helene den Arm um die Schulter. Doch die grauhaarige Frau schüttelte nur wortlos den Kopf und schloss die Augen. Ihre Schultern fühlten sich so zart und zerbrechlich an, dass man das Gefühl hatte, die Knochen könnten unter einer festen Berührung zu Bruch gehen.

„Möchtet Ihr vielleicht einen Becher Wein zur Stärkung?“, flüsterte Ghislaine ängstlich.

„Nein, nein, es wird gleich vorüber sein. Ich danke Euch für Eure Fürsorge, Ghislaine.“ Langsam kehrte die Farbe in Helenes Gesicht zurück, und zu Ghislaines grenzenloser Erleichterung stahl sich sogar der Hauch eines Lächelns auf ihre Lippen. „Ich denke, die frische Luft wird das ihrige dazu tun“, murmelte sie, legte die Hand auf Ghislaines Arm und ließ sich behutsam die vielen Steinstufen hinanführen, die zur Spitze des Bergfriedes führten.

„Sind wir uns vielleicht irgendwann einmal begegnet?“, erkundigte sich Ghislaine neugierig, als sie auf dem letzten Treppenabsatz eine kurze Pause einlegten. Es war ungewöhnlich, dass eine Fremde sie beim Vornamen anredete.

„Nein“, erwiderte Helene etwas atemlos. „Aber ich habe Eure wilden Streiche mit Interesse verfolgt“, fügte sie scherzend hinzu und ließ den Blick aus den ausdrucksvollsten braunen Augen, die Ghislaine je gesehen hatte, auf ihrer Begleiterin ruhen. „Mein Name ist Helene de Beauregard. Ich habe Euch nie zuvor gesehen, obwohl ich Eure Mutter gut kannte.“ Auf einen zweifelnden Blick Ghislaines hin hob sie leicht die Schulter. „Nun, es ist schon eine Zeit lang her. Der Verlust muss sehr schmerzlich für Euch gewesen sein. Sie war eine ganz außergewöhnliche Frau.“

Ghislaine nickte traurig, während sie die Tür zum Ausguck öffnete. Ein Schwall frischer Salzluft empfing sie auf der Turmspitze. Die zwei Wächter, die an der Brustwehr lehnten, musterten die beiden Frauen ohne besonderes Interesse, ehe sie sich wieder ihrer Unterhaltung zuwandten. Ghislaine und Helene nahmen ebenfalls keine weitere Notiz von ihnen, sondern genossen die herrliche Aussicht, die normalerweise ein Alleinrecht der Soldaten auf dem Hauptturm war, und atmeten tief die reine Luft ein, die der Wind von der walisischen Grenze herüberwehte.

Die letzten Strahlen der Abendsonne lagen auf dem Land, durch das sich der Fluss Dee in vielen Windungen schlängelte und die alte Stadt im weiten Bogen umfing. Ghislaine starrte über das glitzernde Wasser hinüber nach Wales, während sich am westlichen Horizont die dunklen Abendwolken zusammenballten. Die Erinnerung an ihren Bruder Richard bedrückte ihr Herz. Vor kaum einem Jahr war er im Kampf gegen die Waliser gefallen, und sie vermisste ihn schmerzlich. Wie viele gute Männer hatten ihr Leben in jenen wilden Bergen gelassen!

Als sich Ghislaine wieder zu ihrer Begleiterin umwandte, bemerkte sie, dass Helene in dem kalten Wind fröstelte, da sie über ihrer Cotte keinen wärmenden Mantel trug. Fürsorglich nahm sie den eigenen Umhang ab und legte ihn um Helenes schmale Schultern.

„Ihr seid Eurer Mutter sehr ähnlich“, sagte Helene und drückte dankbar Ghislaines Hände. „Auch sie erwies ihren Mitmenschen allezeit Freundlichkeiten.“ Lächelnd blickte sie in Ghislaines sommersprossiges Gesicht.

Ghislaine jedoch schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich ähnele meiner Mutter überhaupt nicht“, sagte sie zurückhaltend. Schließlich hatte der Vater das in den letzten sieben Jahren unaufhörlich behauptet und dabei immer wieder betont, wie sehr er das bedauerte.

„Im Aussehen und in der Figur sicherlich nicht“, erwiderte Helene freundlich. „Aber auch sie sorgte sich stets um andere, ohne danach zu fragen, was die Leute darüber dachten.“ Einen Augenblick lang starrte sie blicklos ins Weite. Gedankenverloren schlang sie dabei den Mantel enger um ihre zarte Gestalt, so als könne sie sich auf diese Weise vor ihren Erinnerungen schützen.

„Habt Ihr sie gut gekannt?“, forschte Ghislaine mit wiedererwachter Neugier. Sie wusste, dass die ganze Liebe der Mutter ihren Mitmenschen gegolten hatte. Oft hatte sie mit dem Vater im Streit gelegen, wenn es um die Fürsorge für kranke Bedienstete oder dahinsiechende Bauersleute ging, denen sie ihre liebevolle Aufmerksamkeit zuwandte. Und die Menschen im Haus und auf den Dörfern liebten sie ebenfalls ob dieser Güte. Niemals aber hatte der Vater diesen Wesenszug seiner verstorbenen Frau in die Erinnerung gerufen. Er hatte ihr Andenken geehrt, obwohl es nicht ihr wahres Bild wiedergab.

„Ziemlich gut“, erwiderte Helene schließlich wie nach einem tiefgründigen Nachdenken. „Sie kam zu mir wegen eines Leidens, das allen Versuchen, es zu kurieren, widerstand. Die Behandlung nahm eine lange Zeit in Anspruch, und wir lernten uns dabei näher kennen.“ Wieder blickte sie schweigend in die Ferne, obwohl Ghislaine gespannt auf weitere Mitteilungen wartete.

„Mein Vater mochte es nicht, wenn sie tagelang von daheim fort war“, nahm sie das Thema wieder auf in der Hoffnung, Helene damit zu einer Fortführung ihrer Erzählungen zu veranlassen.

„Ja“, erwiderte Helene unerwartet kurz, „das mochte er tatsächlich nicht.“ Dann presste sie die Lippen aufeinander, und es war unübersehbar, dass sie zumindest fürs Erste nicht mehr bereit war, mehr dazu zu sagen. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Frauen.

„Habt Ihr das Wissen um die Heilung von Krankheiten von ihr übernommen?“, fragte Helene endlich, als die Stille begann, drückend zu werden.

Ghislaine hob die Schulter. „Ein wenig schon, aber ich fürchte, ich habe nichts von ihrer Sanftmütigkeit geerbt.“ In ihren Worten lag eine so zu Herzen gehende Selbstanklage, dass Helene hell auflachte.

„Aber ihren Mut habt Ihr gewisslich geerbt. Und nach dem, was ich in den letzten Jahren über Euern missmutigen Vater gehört habe, habt Ihr diesen Mut auch dringend gebraucht.“

Um Ghislaines Mundwinkel zuckte es verräterisch. Seit dem Tode des Vaters hatte es noch kaum jemand gewagt, so respektlos von ihm zu reden. „So ist es“, erwiderte sie lachend. „Aber ich fürchte, ich habe auch viel von seinem Temperament geerbt. Dieser Umstand hat ihm häufig Sorgen bereitet.“

Einen Augenblick lang stimmte Helene in Ghislaines helles Lachen ein, bis ein plötzlicher Windstoß sie unbarmherzig zauste und ihr den Atem benahm. Die beiden Frauen rückten enger zusammen, um sich vor der kalten Luft zu schützen, und Ghislaine spürte dabei zu ihrer Überraschung, dass sie begann, herzliche Gefühle für diese fremde Frau zu hegen, die sie doch vor kaum mehr als einer Stunde erst kennengelernt hatte. Helene tadelte nicht ständig oder verurteilte ihr Tun und Reden. Stattdessen schien sie einen Sinn für Humor zu haben, den man bei den ehrenwerten und frommen Damen bei Hofe im Allgemeinen bitter vermisste.

Heimlich prüfend musterte Ghislaine ihre Begleiterin. Helene de Beauregard war nicht besonders groß, schlank und wies noch deutliche Spuren vergangener Schönheit auf. Dichte schwarze Wimpern umrahmten ihre dunklen Augen, während ihr üppiges Haupthaar bereits ergraut war. Die rosige Haut ihres Gesichts war mit feinen Linien durchzogen. Ghislaine schätzte ihre Jahre auf Mitte der Vierzig, und das war ein beträchtliches Alter für eine Frau bei Hofe. Ihre Ausdrucksweise und ihre Manieren waren vornehm und selbstbewusst. Alles in allem war sie beileibe nicht das, was man von den Gefolgsleuten des Earl of Chester erwartete.

Also tat sich Ghislaine keinen Zwang an. „Lebt Ihr hier in Chester?“, fragte sie unverblümt.

Bei diesem deutlichen Mangel an listigem Geschick spielte ein leichtes Lächeln um Helenes Lippen. „Nein“, erwiderte sie, „mein Gut liegt einen halbes Tagesritt im Südosten von Chester. Ich bin hierhergekommen, um mit dem Earl über Grenzstreitigkeiten zu reden.“

Grenzstreitigkeiten waren eine häufig auftretende Angelegenheit, und Ghislaines Spannung lockerte sich sichtlich. „Dann lebt Ihr wohl nicht weit entfernt von Chapmonswiche?“

Helene schüttelte den Kopf. „Ich wohne in Omberleigh. Es ist nur ein kleines Anwesen mit ein paar Feldern und einem Dorf, aber es reicht aus für meine Bedürfnisse. Ein paar Bewaffnete schützen uns vor möglichen Überfällen, und in diesen rauen Zeiten bin ich besonders glücklich darüber.“

„Und Euer Gemahl?“, erkundigte sich Ghislaine, ohne nachzudenken. Als sie jedoch den schmerzlichen Ausdruck auf Helenes Antlitz bemerkte, hätte sie liebend gern diese Worte zurückgenommen.

„Mein Gemahl ist tot“, entgegnete Helene leise.

„Oh, das tut mir sehr leid“, murmelte Ghislaine verlegen. Wann würde sie nur endlich lernen nachzudenken, bevor sie den Mund aufmachte?

Helene nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Macht Euch keine Gedanken. Ich bin jetzt zufrieden mit meinem Los.“

Als Antwort kam ein abgrundtiefer Seufzer. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass Margaret tot ist“, stöhnte Ghislaine.

Helene blickt zu dem Mädchen auf, das sie um eine gute Haupteslänge überragte. „Ihr habt der Toten sehr nahe gestanden, nicht wahr?“, fragte sie behutsam.

Schweigend nickte Ghislaine und strich sich die vom Wind zerzausten Locken aus der Stirn. „Sie war die einzige Freundin, die ich je gehabt habe. Für leider nur kurze Zeit war sie mit meinem Bruder Richard verheiratet, und danach schloss sie die Ehe mit Vaters Freund Peter of Staveley. Womit verdient nur ein so lieber und sanfter Mensch wie Margaret ein so schreckliches Schicksal?“ Ghislaine wischte sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel. „Stets hat sie nur Gutes getan und sich um alles gekümmert. Erst sind ihr beide Ehemänner weggestorben, und nun wurde auch sie noch getötet. Das ist furchtbar ungerecht!“ Unvermittelt wandte sie sich um und kehrte ihrer Begleiterin den Rücken.

Helene legte mitfühlend die Hand auf ihren Arm. „Wie alt seid Ihr eigentlich?“, fragte sie nach einer Weile.

„Neunzehn Sommer“, erwiderte Ghislaine halblaut.

„Was der Earl auch immer beschließt“, fuhr Helene fort, „Ihr müsst ihm unbedingt gehorchen, denn in seinem Zorn kann er gnadenlos sein.“ Mitfühlend betrachtete sie Ghislaines traurige Miene. „Für Eure Leute könnte es schlimm ausgehen, wenn Ihr ihm widersteht.“

Ghislaine ließ mutlos die Schultern sinken. „Ja, ich weiß. Aber der Gedanke, mein Leben entweder hinter Klostermauern verbringen zu müssen oder mit irgendeinem widerwärtigen Kerl verheiratet zu werden, ist nicht gerade ermutigend.“

Mit einer fast demütigen Geste hob Helene die Hände. „Den wenigsten Frauen bleibt eine Wahl“, sagte sie leise, „und …“, sie unterbrach sich, so als suchte sie nach den passenden Worten, „und nicht alle Männer sind unerträglich.“ Der leicht scherzhafte Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, veranlassten Ghislaine zu einem Lächeln. „Oder habt Ihr etwa gar schon einen bestimmten im Sinne?“

Ghislaine wurde rot wie eine reife Kirsche. „Was … was wollt Ihr damit sagen?“, stammelte sie, obwohl sie die Frage nur zu genau verstanden hatte. Aber noch wusste sie nicht, wie weit sie dieser fremden Frau wirklich trauen konnte. „Ich kenne eigentlich nur meinen Diener Edwin“, begann sie schließlich zögernd. „Seit zehn Jahren umsorgt er mich. Er hat mir beigebracht, mit Pfeil und Bogen zu schießen, zu reiten und zu angeln. Ja, er hat mich sogar gelehrt, mit einem Dolch umzugehen.“ Ihre Augen strahlten bei diesen Worten vor unschuldiger Freude. „Ich weiß nicht, wie oft er mir das Leben gerettet hat. Ich habe dafür seine Wunden verbunden und ihn gepflegt, wenn er krank war. Und die Mädchen, die er sitzen gelassen hat, habe ich getröstet, und wenn er zu viel Ale getrunken hatte, habe ich ihm einen Sud von Rainfarn bereitet. Das ist alles“, schloss sie mit Nachdruck. Natürlich war es noch nicht alles, aber Ghislaine war sich nicht sicher, ob Helene ihre anderen Unternehmungen mit ebenso viel Humor betrachten würde wie diesen Bericht. Schließlich würde nicht jede normannische Edelfrau das Beschaffen von Nahrung für das hungernde englische Landvolk als eine passende Beschäftigung für Angehörige ihres Standes ansehen.

Helene musterte das Mädchen voller merklicher Zweifel. Die Berichte über so manche Zwangslage, in die Ghislaine bei ihren wilden Abenteuern mit dem Diener geraten war, hatten die Runde in der Grafschaft gemacht, und Edwin war schließlich ein gut aussehender junger Mann. Aber das Mädchen schien nichtsdestoweniger die Wahrheit zu sagen. „Nun“, sagte sie, „ich hatte eigentlich nicht Edwin im Auge, sondern jemand anderes. Aber vielleicht habe ich mich geirrt.“

Ghislaines Wangen wurden noch röter. „Es gibt keinen anderen“, widersprach sie so heftig, dass Helene sicher war, mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen zu haben.

Deshalb überhörte sie auch geflissentlich Ghislaines Leugnen und begann, von dem plötzlichen Wunsch beseelt, jenen geheimen Favoriten herauszufinden, die möglichen Anwärter aufzuzählen. „Die meisten sind in der Tat großsprecherische, pöbelhafte Burschen“, sagte sie nachdenklich, „und die anderen sind fast alle schon verheiratet. Robert of Montalt ist wahrscheinlich doch zu alt, und Gerard de Rospernaise interessiert sich mehr für seine Junker. Cadimane de Soubeyron könnte einem Mädchen wie Euch schon gefallen, aber seine geringe Körpergröße dürfte ein Problem dabei sein.“ Vorsichtig warf sie Ghislaine einen prüfenden Blick zu. „Aber Walter de Belleme“, rief sie erfreut, „ist hübsch und stattlich. Er wäre eine einleuchtende Möglichkeit.“

Ghislaine wurde vor Verlegenheit knallrot. „Ich kenne ihn doch kaum“, widersprach sie. „Sicherlich, er war stets sehr freundlich zu mir, aber darüber hinaus ist er immer … immer sehr auf die guten Sitten bedacht gewesen.“

Helene de Beauregard wiegte den Kopf. „Walter pflegt merkwürdige Freundschaften. Andererseits glaube ich nicht, dass sich einer der Ritter den Wünschen des Earls widersetzen würde. Nun“, sagte sie freundlich, „Ihr müsst Eurem Los in die Augen sehen. Es wird schon nicht so schlimm werden.“ Um ihren Mund spielte ein trauriges Lächeln. „Frauen müssen sich nun einmal dem Willen ihres Vaters oder ihres Gemahls beugen. Aber Ihr könnt Trost in Eurem Heim und Euren Kindern finden. Und mit der Zeit entsteht vielleicht sogar eine gewisse Zuneigung …“ Wieder lag auf Helenes Zügen jener abwesende Ausdruck.

Neugierig geworden, konnte Ghislaine ihre Frage nicht mehr länger zurückhalten. „Hattet Ihr auch keine Wahl?“

Nachdenklich strich sich Helene über die Stirn. „Doch, ich hatte die Wahl zwischen Ehe und Kloster. Aber für mich stand diese Frage ohnehin nicht. Der Mann, den mein Vater für mich ausgewählt hatte, war jung und hübsch, und ich habe mich gern für ihn entschieden.“

„Und seid Ihr glücklich mit ihm geworden?“ Ghislaine musterte aufmerksam ihre Begleiterin. Die Zeit schien sehr rücksichtsvoll mit ihr umgegangen zu sein, obwohl Helene ein spürbarer Hauch von Einsamkeit umgab, der sie nie verließ.

Helene hob ein wenig die Schulter. „Im gewissen Sinne schon. Ich hatte Kinder, ein schönes Heim. Mein Gemahl war … gut versorgt.“ Trotz der anerkennenden Worte lag doch ein trauriger Ton in ihrer Stimme. „Das Kloster wäre nichts für mich gewesen.“ Sie quittierte diese Feststellung mit einem Lächeln, so als amüsiere sie sich insgeheim darüber. „Mögt Ihr Kinder?“, wandte sie sich unvermittelt an Ghislaine.

„J…ja“, stammelte Ghislaine, verwirrt über diese direkte Frage. „Ich würde meine Kinder schon liebhaben … so Gott will.“

Ihre Antwort schien Helene zu beschäftigen, und so nutzte Ghislaine die Gelegenheit, ging zu der zinnenbesetzten Brustwehr und blickte flussaufwärts zu dem kleinen Hafen, in dem ein geschäftiges Treiben herrschte. Aus allen Teilen der Welt schienen Schiffe in Chester anzulegen. Sie brachten Gewürze, Stoffe, Wein, Pelze, lebendes Vieh und noch manche anderen Waren, für die begüterte Leute viel Geld ausgaben. Gerade eben wurden Kisten und Ballen aus einem großen Schiff an Land gebracht.

„Mein Vater pflegte immer zu sagen“, nahm sie das Gespräch mit Helene wieder auf, „ich wäre besser als Junge geboren worden, und manchmal denke ich, dass er recht damit hatte.“ Ghislaine atmete tief die frische Salzluft ein, als genieße sie diesen Augenblick der Freiheit. „Bisweilen habe ich mir gewünscht, in den Krieg ziehen zu können oder auf die Meere hinauszusegeln.“ Sie blickte sehnsüchtig auf den Hafen hinab. „Ich wollte immer gern tun, was mir beliebte, so wie mein Bruder Richard. Und doch denke ich jetzt auch hin und wieder darüber nach, wie es wohl wäre, ein eigenes Kind zu haben …“ Ihre Stimme erstarb zu einem verwirrten Schweigen.

Autor

Elizabeth Henshall
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