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Als alleinerziehende Mutter trifft es Kate Livingston doppelt hart, dass sie ihren Job als Kolumnistin verloren hat. Gemeinsam mit ihrem Sohn zieht sie sich für den Sommer zurück in das Ferienhaus der Familie am Lake Crescent, um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken. Doch erst durchkreuzt eine kleine Ausreißerin, die sich in dem Haus eingerichtet hat, ihre Pläne. Und dann zieht nebenan ein Mann ein, der ihr vom ersten Augenblick an schlaflose Nächte bereitet. Da beschließt Kate, etwas für sie ganz Ungewöhnliches zu tun: einfach alle Vorsicht in den Wind zu schießen und das Leben zu genießen - zumindest einen Sommer lang.


  • Erscheinungstag 10.08.2011
  • ISBN / Artikelnummer 9783862780846
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. TEIL

„... wie Sie sicher schon gehört haben, wird der Präsident einigen unserer tapferen Männer im Walter-Reed-Krankenhaus einen Besuch abstatten. Der Präsident möchte jenen Menschen danken, die sich dafür aufopfern, die Welt sicherer zu machen.“

Das Weiße Haus, Büro des Pressesekretärs

 

 

„Alle lieben Helden. Die Menschen stehen Schlange, um sie zu sehen, jubeln ihnen zu, rufen ihre Namen. Und Jahre später erzählen sie noch davon, wie sie stundenlang im kalten Regen gestanden haben, nur um einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, der sie gelehrt hat, ein wenig länger durchzuhalten. Ich glaube, in jedem von uns steckt ein Held, der dafür sorgt, dass wir ehrlich bleiben, der uns Kraft gibt und uns Wahrhaftigkeit lehrt.“

Spider Man 2

1. KAPITEL

Washington, D. C.

Heiligabend

 

Der Krankenwagen, der rückwärts ins Gebäude 1 setzte, sah aus wie jeder andere. Er schien von einer Routinefahrt zurückzukommen. Vielleicht holte er einen Patienten von der Intensivstation ab oder fuhr ein Traumaopfer zu einer Operation in den Lowery-Flügel. Das Ambulanzfahrzeug hatte alle notwendigen Aufkleber, um die Sicherheitskontrollen des Army Medical Centers zu passieren. Das Team trug die üblichen gestärkten weißen Hosen und Dienstparkas, an denen die Ausweise baumelten. Und auch der Patient sah ganz normal aus. Er war in eine Thermodecke eingewickelt und trug eine Sauerstoffmaske.

Sergeant Jordon Donovan Harris hätte ihn keines zweiten Blickes gewürdigt, wäre er nicht aus lauter Langeweile zum Shaw-Flügel hinübergeschlendert. Dort hatte er aus dem verglasten Zwischengeschoss alles im Blick.

Er konnte die Buchten für die Krankenwagen sehen und dahinter den Rock Creek Park und die Georgia Avenue. Die Bäume standen kahl und starr auf der Schneedecke, wie Tuschezeichnungen auf einem weißen Blatt Papier. Der Verkehr rollte über die Straßen, die zu den glitzernden Türmen der Landeshauptstadt führten. Das Walter Reed Army Medical Center war ein im georgianischen Stil erbauter Gebäudekomplex; die verschiedenen Flügel waren auf einem etwa fünfzig Hektar großen Gelände verteilt. Frischer Puderschnee verlieh der Szenerie einen zeitlosen Anstrich. Nur die Aktivitäten an den Notaufnahmetüren deuteten darauf hin, dass es sich hier um das wichtigste Militärkrankenhaus an der Ostküste handelte.

Auch wenn niemand in der Nähe war, wusste Harris, dass er beobachtet wurde. Es gab hier mehr Sicherheitskameras als in einem Kasino in Las Vegas. Ihm war das egal. Er hatte nichts zu verbergen.

Langeweile war ein willkommener Gast im Leben eines Rettungssanitäters. Die Tatsache, dass er hier herumstehen konnte, bedeutete, dass nichts schiefgegangen war, niemandes Welt durch einen Autounfall, einen ungeschickten Sturz, ein bösartiges Fieber, einen außer Kontrolle geratenen Liebhaber mit einer Waffe zerstört worden war. Für einen Rettungssanitäter, dessen Job es war, Menschen zu retten, hieß das: Er hatte nichts zu tun.

Sergeant Harris verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und zog eine kleine Grimasse. Seine Ausgehschuhe drückten. Heute trugen alle ihre Ausgehuniform; der Präsident war hier, um den Soldaten Mut zu machen und ein wenig weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Natürlich hatten nur einige wenige das Glück, ihn auch wirklich persönlich zu treffen. Seine Besuchsrunde war von den Secret-Service-Agenten und den höchsten Köpfen des Krankenhauses sorgfältig geplant worden, und das offizielle Pressekorps schirmte ihn gegen die normalen Menschen ab.

Also war Sergeant Harris ein wenig erstaunt, als er sah, wie eine Gruppe schwarzer Anzüge und militärischer Orden den direkt unter ihm befindlichen Fahrstuhl verließ. Seltsam. Die normale Route für offizielle Besucher beinhaltete die Station 57, wo die meisten verwundeten Veteranen lagen. Heute schien die Aufnahmestation mit auf dem Programm zu stehen. Sie war erst kürzlich dank einer großzügigen Spende von Grund auf renoviert worden.

Die Besucher eilten den blitzsauberen Flur entlang. Instinktiv richtete Sergeant Harris sich auf und bereitete sich darauf vor, zu salutieren – auch wenn niemand bemerken würde, ob er das tat oder nicht. Aber es war schwer, alte Gewohnheiten wieder loszuwerden.

Er entspannte sich ein bisschen. In seinem gläsernen Aussichtspunkt streckte er den Hals ein wenig, um einen Blick auf den mächtigsten Mann der Welt zu erhaschen. Doch alles, was er sah, waren die begleitenden Journalisten und die Entourage, die von einem Major der Armee angeführt wurde. Einen Augenblick später wurden alle von der Leiterin der Verwaltung mit einem breiten Lächeln begrüßt. Offensichtlich stand ihre Abteilung auch auf dem Besuchsplan.

Die Dame hieß Darnelle Jefferson und arbeitete hier schon seit einem Vierteljahrhundert. Eine Tatsache, die sie gerne jedem erzählte, der nicht rechtzeitig die Flucht ergriff. Wenn man sie jetzt so anschaute, würde man nicht denken, was die meisten Angestellten hier wussten: dass sie wie die meisten Zivilisten hier eine fürchterliche Nervensäge war, die dem Personal den ganzen Tag Scherereien machte und Berge von Papierkram verlangte, nur um ihre Existenz zu rechtfertigen. In ihrem roten Kostüm mit der gelben Schleife am Revers wirkte sie jedoch freundlich und effizient. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als das Undenkbare passierte und der Präsident einen Schritt zur Seite trat, um sich mit ihr fotografieren zu lassen.

Noch überraschender war, dass Mrs Jefferson danach die Leitung der Führung übernahm und die Gruppe den breiten, hell erleuchteten Korridor hinuntergeleitete. Zwei Kameramänner gingen neben ihnen her, die großen Linsen ihrer Kameras fingen jede Bewegung für die abendlichen Nachrichten ein. Die Gruppe hielt an dem ersten Aufnahmezimmer an, in dem ein verwundeter Soldat lag, der von einem anderen Krankenhaus hierher gebracht worden war. Sergeant Harris wusste, dass die offiziellen Bilder den Präsidenten mit dem Soldaten und seiner Familie in vertrauter Runde am Bett stehend zeigen würden. Nicht zu sehen wären hingegen der wachsame Secret Service oder die Fotoapparate und Mikrofone, die außerhalb der Kameralinsen in die Höhe gestreckt wurden.

Das ist das Showbiz, dachte Sergeant Harris. Er verstand nicht, wie man sich mit einem Leben in der Öffentlichkeit abfinden konnte. Ständig jedermanns kritischen Blick auf sich gerichtet zu fühlen war aus seiner Sicht eine ganz besondere Art der Folter.

Die Entourage machte sich wieder auf den Weg in Richtung Talbot Lounge, einen der kürzlich renovierten Wartebereiche, wo eine Nordmanntanne stand, die von einem der führenden Floristen Washingtons dekoriert worden war. Hier legte man für weitere Fotos eine erneute Pause ein. Sergeant Harris sah die Blitzlichter aufleuchten, hatte den Präsidenten aber inzwischen aus den Augen verloren.

An anderer Stelle in dem gleichen Flügel lag der gerade eingelieferte Patient in einem Aufnahmezimmer, das an zwei Seiten mit Draht verstärkte Glaswände hatte. Die Mannschaft, die ihn eingeliefert hatte, war bereits zum Empfangstresen geeilt, um ihren Report auszufüllen, und noch war kein Krankenhausmitarbeiter zu ihm gekommen, um die weiteren Aufnahmeformalitäten abzuwickeln. Den diensthabenden Mitarbeitern ging es sehr wahrscheinlich wie Sergeant Harris: Sie gingen ihrer Arbeit etwas langsamer nach, um einen Blick auf den Präsidenten werfen zu können. Der Patient lag alleine in seinem Zimmer. Keine Familie oder Freunde waren an seiner Seite, um ihm in dieser fremden Welt Trost zu spenden. Einige Menschen hatten einfach niemanden. Sergeant Harris selber wäre ein gutes Beispiel dafür, wenn es nicht Sam gäbe. Sie hatten sich vor Jahren während eines Einsatzes in Kunar kennengelernt, einer Provinz im Nordosten Afghanistans. Seitdem waren Sam Schroeder und er die besten Freunde. Sam und seine Familie bedeuteten Harris alles, und er sagte sich, dass das ausreichend war.

In der Hoffnung, dem Präsidenten wenigstens einmal ins Gesicht schauen zu können, ging er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er wusste nicht, wieso ihm das so wichtig war. Vielleicht, dachte er, weil ich es nach einem Jahrzehnt im Dienst und weiteren vier Jahren hier im Krankenhaus verdient habe, meinen obersten Dienstherren einmal aus der Nähe zu sehen. Er hatte auch den Rundbrief bekommen, in dem angekündigt worden war, dass es später einen Empfang für die Mitarbeiter des Krankenhauses geben würde, aber auf das Gedränge dort hatte er wenig Lust.

Zwei Marines in blauer Uniform standen an der Doppeltür zur Station Wache. Sergeant Harris winkte mit seinem Klemmbrett und zeigte seinen Ausweis. Er wurde durchgelassen. Er musste so tun, als wäre er schwer beschäftigt, sonst würde man sehr schnell merken, dass er nur herumlungerte, um einen Blick auf den Präsidenten zu werfen. Etwas, das nicht gerne gesehen wurde.

Vor dem Zimmer mit dem Neuankömmling blieb Sergeant Harris stehen. Er nahm das Krankenblatt aus der Halterung an der Tür, schlug das Deckblatt um und gab vor, den Inhalt zu lesen.

Das Geräusch von Schritten und Stimmen wurde lauter, als die Gruppe mit dem Präsidenten sich näherte.

„... neue Herz-Lungen-Station ist mit den neuesten Überwachungssystemen ausgerüstet“, erklärte Mrs Jefferson gerade mit ernster Stimme. „Wir haben jetzt das führende Zentrum für klinische Versorgung, Forschung und Entwicklung des Landes ...“ Sie redete weiter, als würde sie von einem Blatt ablesen, und Sergeant Harris blendete sie einfach aus.

Die Besucher kamen näher. Endlich konnte Sergeant Harris einen Blick auf seinen Oberbefehlshaber werfen. Sein Gesicht trug den vertrauten, mitfühlenden Ausdruck, der ihm nun schon zum zweiten Mal die Stimmen des Volkes gesichert hatte. Der Präsident und die Krankenhausverwalterin trennten sich von der Gruppe. Darnelle Jefferson führte den mächtigsten Mann der Welt in den Raum, in dem der Neuankömmling lag.

Verdammt, dachte Sergeant Harris, Zeit zu verschwinden. Schnell – aber nicht zu schnell – schlüpfte er in einen Raum, der durch grüne Schwingtüren mit der Abteilung verbunden war. Durch die runden Fenster in der Tür konnte er durch die gläsernen Trennscheiben von zwei Zimmern hindurchschauen. Er konzentrierte sich auf den neuen Patienten und erwartete, ihn ganz alleine und ruhig in seinem Bett liegen zu sehen. Bestimmt war er zu Tode verängstigt und sich der Anwesenheit des Präsidenten nur wenige Meter entfernt gar nicht bewusst.

Nur: Der Patient war nicht ruhig. Für einen Herzpatienten schien er sogar ausgesprochen aktiv zu sein. Jetzt setzte er sich in seinem Bett auf und riss sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht.

Sergeant Harris studierte noch einmal die Patientenakte, die er sich von der Tür geschnappt hatte. Terence Lee Muldoon. Ein Kriegsveteran, der vom Militärkrankenhaus in Landstuhl in Deutschland hierher überführt worden war. Die Akte wies ihn als fünfundzwanzig Jahre alt aus. Verdammt jung für Herzprobleme.

In seiner Zeit hier hatte Sergeant Harris Tausende von Herzpatienten gesehen. Die Krankheit wurde immer von einer gräulichen Haut und einem offensichtlichen Ausdruck von Müdigkeit im Gesicht begleitet.

Nicht so bei diesem Patienten. Sogar aus der Entfernung und durch zwei Glasscheiben hindurch konnte Sergeant Harris sehen, dass sein Gesicht eine gesunde rosafarbene Tönung hatte und seine Bewegungen effizient und sicher waren.

In dem Moment hielt die Entourage im Flur an, und der Präsident und Mrs Jefferson betraten Muldoons Zimmer. Der Glaskubus war zu klein, um mehr Besucher zu erlauben, und so blieben die Bodyguards vor der Tür stehen und reckten die Köpfe, ließen ihre Blick hin und her schweifen und murmelte in ihre Mikrofone. Ein paar Fotografen drückten ihre Kameras gegen das Glas. Der Präsident schüttelte Muldoon zur Begrüßung die Hand, dann trat er für das obligatorische Foto ans Kopfteil des Bettes.

Es gab keinen bestimmten Augenblick, in dem Sergeant Harris entschied, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sah kein manisches Glitzern in den Augen des Angreifers, hörte kein hämisches Lachen wie im Film. Das wirklich Böse verhielt sich nicht so. Es war alles irgendwie ... gewöhnlich.

Es gab auch keinen besonderen Moment, in dem Sergeant Harris sich entschied zu handeln. Eine Entscheidung zu treffen beinhaltet einen Gedankenprozess, der einfach nicht passierte. Sergeant Harris – und der überraschte Präsident – hatte dafür einfach keine Zeit. Mit einem Druck auf den Knopf des stummen Alarms auf seinem Funkgerät schlüpfte er in den angrenzenden Raum. Er war jetzt nur noch ein Zimmer vom Präsidenten entfernt. Jede seiner Bewegungen wurde von Kameras aufgenommen, das wusste er. Doch weder der Präsident noch der Patient hatten ihn bisher bemerkt.

Sergeant Harris schrie nicht und machte auch keine schnellen Bewegungen. Der Patient war sich seiner Anwesenheit noch nicht bewusst, und er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Trotzdem musste er schnell sein, denn für die Überwachungskameras würde sein Verhalten sehr suspekt aussehen. Diejenigen, die ihn beobachteten, würden denken, er wäre ein Irrer – oder schlimmer noch, ein Attentäter.

Der Lauf der Ereignisse entfaltete sich mit seltsamer Unausweichlichkeit. Später – viel, viel später – würde Sergeant Harris sich die Videos der Überwachungskameras und der Presseleute ansehen und sich an nichts davon erinnern.

Nur Sekunden bevor die Mitarbeiter im Flur auf seinen stummen Alarm reagierten, riss der Patient die Thermodecke von sich und zerrte das Krankenhausnachthemd beiseite. Da runter waren mehrere Stangen Dynamit mit Tape an eine eng anliegende Weste geklebt.

„Wenn mich jemand angreift“, schrie er, „gehe ich hoch wie ein Feuerwerk. Und dabei nehme ich das gesamte Gebäude mit.“ Er sprang auf den Boden und starrte die entsetzte Menge auf der anderen Seite der Scheibe an. Seine Finger schlössen sich um den Zünder, bereit, den Sprengstoff explodieren zu lassen.

Der Präsident stand stocksteif da. Darnelle Jefferson stieß einen markerschütternden Schrei aus. Sergeant Harris erstarrte; er war zu erfahren, um sich von Angst beeinflussen zu lassen. Er erkannte die Tätowierung auf Muldoons Oberarm. Der eiserne Falke mit Schwert, das Abzeichen einer Spezialeinheit.

Also hatten sie es mit dem Abtrünnigen einer Sondereinheit zu tun, der genauso gut ausgebildet war wie Sergeant Harris. Ein professioneller Killer, der durchgedreht war. Der Attentäter hatte ihn immer noch nicht entdeckt. Er stolzierte vor der Glaswand auf und ab, während ein Dutzend Waffen auf ihn gerichtet waren.

Sergeant Harris unterzog die selbst gemachte Weste einer genaueren Betrachtung und fragte sich, wie zum Teufel sie der Besatzung des Krankenwagens entgangen sein konnte. Es schien sich um Plastiksprengstoff zu handeln. Der Zünder wurde per Druckknopf ausgelöst, der mit noch mehr Tape festgeklebt war. Wenn es nicht noch einen zweiten Zünder gab, den er von hier aus nicht sehen konnte, würde Muldoon die Sprengladung manuell auslösen müssen.

Außerhalb des Glaskastens verfielen Bodyguards und Marines in hektische Betriebsamkeit. In unzähligen Übungen war ihnen das richtige Vorgehen in solchen Situation eingeimpft worden. Erst das Schließen aller Ausgänge, dann Alarm in den Stationen sowie per Sirene auf dem gesamten Gelände. Sehr wahrscheinlich war die Sicherheitsstaffel in diesem Moment gerade dabei, das Gebäude zu umzingeln.

Mrs Jefferson gab einen erstaunlich kleinen Laut für eine so große Frau von sich, dann fiel sie in Ohnmacht und riss den Monitor für die Herzüberwachung mit sich. Er knallte auf den Boden und erschreckte Muldoon. Sergeant Harris war sich sicher, dass er jetzt panisch werden und auf den Zünder drücken würde. Doch seine linke Hand, die den Auslöser umklammert gehalten hatte, löste sich kurz, während er sich wieder sammelte.

Darnelle hatte Sergeant Harris ein sekundenlanges Fenster zum Handeln geöffnet. Es reichte ihm, zu wissen, dass er eine Chance hatte. Auch wenn es die einzige Chance war. Wenn er es vermasselte, würden sie alle geröstet werden. Oder korrekt gesagt: zu Konfetti zerfetzt.

Er brach durch die Schwingtür, voll auf die Hand des Attentäters konzentriert, die den Auslöser hielt. Mit seinem kompletten Körpergewicht warf er sich in einer einzigen fließenden Bewegung, die er oft trainiert, aber noch nie angewendet hatte, auf den Angreifer.

Mit einem Schrei fiel Muldoon, als Sergeant Harris dem Mann sein linkes Handgelenk brach, um ihn handlungsunfähig zu machen. Gemeinsam stürzten sie zu Boden. Durch den Schmerz seines gebrochenen Gelenks stand Muldoon unter Schock. Das war gut.

Sergeant Harris hörte etwas, das wie ein Schuss klang. Dann hatte er das Gefühl, von einer Kanonenkugel getroffen worden zu sein. Verdammt, hatte der Hurensohn etwa doch die Explosion auslösen können?

Nein, aber den Zünder, wurde Sergeant Harris bewusst. Der Aufprall hatte ihn ausgelöst, aber er hatte fehlgezündet. Das waren gute Neuigkeiten. Die schlechten Neuigkeiten waren, dass die verpatzte Explosion ihn umbringen würde. Seine Gliedmaßen wurden sofort eiskalt, als wenn alles Leben aus ihm herausgesaugt worden wäre. Er war sich hektischer Aktivitäten um sich herum bewusst: der Präsident, der in Deckung ging, der Rausch, mit dem die hoch spezialisierten Jungs vom Secret Service sich an die Arbeit machten. Alarmsirenen schrillten, und irgendjemand schrie. Ein betäubendes Klingeln dröhnte in seinen Ohren. Der ätzende Geruch von Chemikalien drang in seine Lunge.

Die Welt löste sich in Doppelbilder auf, als Sergeant Harris’ Bewusstsein so langsam wegsickerte wie das Blut auf dem Boden. Geräusche zogen ein seltsames Echo hinter sich her, als wenn sie in einen Brunnen gerufen würden. „Stehen bleiben ...ehen bleiben ...ehen bleiben ...“ Der gebrüllte Befehl hallte in Sergeant Harris’ Kopf nach. „Niemand bewegt sich! ...egt sich ...egt sich ...“

Sein Puls ging schwach. In einer sich immer weiter ausbreitenden Blutlache liegend, stellte er sich vor, wie seine Systeme langsam herunterfuhren, eines nach dem anderen, wie das Licht in einem Theater, das nach dem letzten Vorhang erlischt. Er fühlte, dass er zitterte, oder vielleicht war es auch der Attentäter, der versuchte, sich unter ihm zu befreien. So zu sterben, dachte er, zu den Füßen des Präsidenten, das ist doch Scheiße! Das beleidigte seinen Sinn für Anstand. Sicher, es sollte ihm egal sein, wenn er erst einmal tot war. Es sollte ihm überhaupt egal sein. War es aber irgendwie nicht.

Sergeant Harris konnte sein Spiegelbild in der Linse der 360-Grad-Überwachungskamera sehen, die an der Decke angebracht war. Blut hatte sich wie ein Teppich unter ihm ausgebreitet. Es sieht immer schlimmer aus, als es ist, sagte er sich. Das sagte er seinen Patienten auch immer.

Der Schwärm stieß herab, ein wildes Durcheinander aus schwarzen Anzügen und Uniformen, als der Secret Service sich daranmachte, den Verrückten abzuführen und den Präsidenten in Sicherheit zu bringen.

Sergeant Harris war kalt, und er war auf dem Weg in die Dunkelheit. Er konnte fühlen, wie er sich selbst entglitt und in ein dunkles Loch fiel.

„Machen Sie Platz!“, rief eine laute Stimme. Die Worte hallten nach, dann verschwanden sie. „Dieser Mann braucht Hilfe!“

2. TEIL

„Der beste Weg, ein Problem aus der Welt zu schaffen, ist, es zu lösen.“

Alan Saporta, amerikanischer Musiker

2. KAPITEL

Port Angeles, Washington

Sommer

 

Die ganze Welt weiß doch, dass jede alleinerziehende Mutter auf der dringenden Suche nach einem Ehemann ist.“ Mable Ciaire Newman blinzelte durch ihre Katzenaugenbrille aus den Fünfzigerjahren.

„Sehr lustig“, erwiderte Kate Livingston, die ihr gegenübersaß. „Das sagst du jedes Jahr.“

„Weil du jeden Sommer herkommst und immer noch Single bist.“

„Vielleicht gefällt es mir, Single zu sein“, antwortete Kate.

Aus dem Fenster der Hausverwaltung schaute Mable Ciaire dem halbwüchsigen Jungen und seinem ausgewachsenen Beagle zu, die in Kates Jeep ein wildes Zerrspiel mit einer Socke veranstalteten. „Gehst du im Moment wenigstens mit jemandem aus?“

„Das erste Date bekomme ich hin. Das Problem liegt eher darin, die Männer zu einem zweiten Treffen zu überreden.“ Kate schenkte ihrer mütterlichen Freundin ein selbstironisches Lächeln, beinahe übermütig und gerade breit genug, um sich dahinter zu verstecken. Kate hatte Aaron mit zwanzig bekommen und schon immer sehr viel jünger ausgesehen, als sie wirklich war. Viele Männer waren überrascht, dass sie Mutter war. Aber wenn sie dann mitbekamen, wie anstrengend ihr Junge war, neigten sie dazu, sich gleich wieder auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden.

„Dann sind sie verrückt! Du hast einfach noch nicht den Richtigen getroffen.“ Mable Ciaire blinzelte ihr zu. „Im Haus von den Schroeders wohnt ein Mann, den du dir mal genauer ansehen solltest.“

Kate schüttelte sich übertrieben. „Ich glaube nicht.“

„Warte nur, bis du ihn siehst! Das wird deine Meinung ändern.“ Sie öffnete einen Schrank, in dem diverse Schlüssel hingen, und fand den mit Kates Namen darauf. „Ich hatte dich eigentlich erst morgen erwartet.“

„Wir haben uns entschieden, schon einen Tag früher herzukommen“, sagte Kate und hoffte, dass es keine weiteren Fragen geben würde. Auch wenn Mable Ciaire sie seit dem ersten Sommer ihres Lebens kannte, war sie noch nicht bereit, über das zu reden, was passiert war. „Ich hoffe, dass das in Ordnung ist?“

„Was sollte falsch daran sein, den Sommer einen Tag früher zu beginnen? Das Reinigungsteam und die Gärtner sind bereits bei euch gewesen. Ist die Schule denn schon zu Ende?“ Sie neigte leicht den Kopf, um einen besseren Blick auf Kates Jungen werfen zu können. „Ich dachte, die Kinder hätten noch eine Woche.“

„Nein, die letzte Glocke des Schuljahres klingelte gestern um Viertel nach drei, und heute ist die dritte Klasse für Aaron schon nicht mehr als eine schlechte Erinnerung.“ Kate suchte nach ihrem Schlüsselbund. In ihrer Tasche flogen tausend kleine Notizzettel umher, die sie brauchte, weil sie ihrem eigenen Gedächtnis nicht traute. Außerdem hatte sie so das Gefühl, organisiert zu sein und alles unter Kontrolle zu haben – auch wenn es die meiste Zeit über nicht stimmte. Für den Sommer hatte sie sich eine Fülle von Projekten vorgenommen. Sie musste das untere Badezimmer im Sommerhaus neu verfugen, die Fensterrahmen streichen, ganz zu schweigen davon, dass sie die Beziehung zu ihrem Sohn vertiefen, sich einen anderen Beruf überlegen und zu sich selbst finden musste.

In dieser Reihenfolge? Kate schüttelte unmerklich den Kopf. Sie musste sich doch sehr über ihre Prioritäten wundern.

„Und das ist in Ordnung für euch“, unterbrach Mable Ciaire ihre Gedanken, „so ganz allein in dem großen, alten Haus?“

„Klar! Wir kommen schon zurecht“, beruhigte Kate sie, auch wenn es sich komisch anfühlte, die Einzige aus der Familie zu sein, die diesen Sommer am See verbringen würde. Jedes Jahr pilgerten alle Mitglieder der Livingstons zu dem Ort am Lake Crescent, aber in letzter Zeit hatte sich einiges verändert. Kates Bruder Phil, seine Frau und die vier Kinder waren an die Ostküste umgesiedelt. Ihre Mutter hatte nach fünfjähriger Witwenschaft am Valentinstag erneut geheiratet und war zu ihrem neuen Mann nach Florida gezogen. Zurück blieben Kate und Aaron in ihrem Haus in West Seattle, einen ganzen Kontinent vom Rest der Familie getrennt. Manchmal fühlte es sich an, als wenn jemand ihre engen Familienbande heimlich zerschnitten hatte und nun nach und nach aufribbelte.

Diesen Sommer gäbe es nur sie beide in dem Haus mit den sechs Schlafzimmern.

Hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen! schalt sie sich und schenkte Mable Ciaire ein Lächeln. „Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“, fragte sie.

„Alles in allem ganz gut.“ Vor zwei Jahren hatte Mable Ciaire ihren Ehemann verloren. „An manchen Tagen – den meisten Tagen – fühle ich mich immer noch verheiratet, als wenn Wilbur mich nicht wirklich verlassen hätte. An anderen Tagen erscheint er mir so weit entfernt wie die Sterne. Aber mir geht es gut. Mein Enkel Luke verbringt den Sommer bei mir.“

Kate füllte das Formular für die Müllabfuhr aus. Der Sommer hing verführerisch lang vor ihr, eine goldene Kette leerer Tage, die sie mit allem füllen konnte, wonach ihr war. Ein ganzer Sommer nur für sie alleine. Sie konnte sich so viel Zeit nehmen, wie sie wollte, um herauszufinden, was sie mit ihrem Leben, ihrem Sohn, ihrer Zukunft anstellen sollte.

Mable Ciaire musterte sie eindringlich. „Du siehst ein bisschen abgespannt aus.“

„Ich bin nur ein wenig erschöpft, denke ich.“

„Also nichts, was ein Sommer am See nicht wieder richten kann.“

Kate zwang sich zu einem Lächeln. „Genau.“ Aber plötzlich schien ihr ein Sommer nicht mehr lang genug.

„Auf der Suche nach einem Ehemann, so weit kommt’s noch“, murmelte Kate vor sich hin, als sie den Jeep vor dem Supermarkt abschloss. Ein Fenster hatte sie einen Spalt breit offen gelassen, damit Bandit frische Luft bekam. Aaron rannte bereits auf den Eingang zu. Verdammt, dachte Kate und schaute einem Mann nach, der über den Parkplatz ging, im Moment würde ich mich schon mit einem One-Night-Stand zufriedengeben.

Der Mann trug das für die Gegend typische Outfit: ein schlichtes weißes T-Shirt, ausgewaschene Jeans, derbe Boots und eine John-Deere-Kappe. Er war groß und breitschultrig und ging, nein, schritt mit beinahe militärischer Haltung. Dazu trug er etwas längere Haare und eine Pilotensonnenbrille. Oder war das etwa ein Vokuhila da unter der gelbgrünen Kappe? Igitt! Aus der Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen. Gut, es sind nur die Haare, sagte sie sich, nichts, was nicht mit einem beherzten Griff zur Schere wiedergutzumachen wäre.

„Mom? Mom.“ Aarons Stimme durchbrach ihre Tagträume. Er rüttelte an dem Einkaufswagen, den er verwaist auf dem Parkplatz gefunden hatte.

„Du benimmst dich wie ein ungeduldiger Großstädter“, sagte sie.

„Ich bin ein ungeduldiger Großstädter“, erwiderte er.

Sie gingen an dem Schild mit dem riesigen lachenden Schweinchen vorbei, das den Eingang des Supermarktes bewachte, solange sich Kate zurückerinnern konnte. Auf der Angebotstafel stand: „ Geräucherter Schinken 99 Cent/Pfund“.

Worüber freust du dich so? dachte Kate und schaute das rosafarbene Schwein an. Drinnen machten sie und Aaron sich daran, die Vorräte für das Haus am See aufzufüllen, das seit dem Ende des letzten Sommers leer stand. Kate liebte dieses Ritual. Es war, als würde man noch mal ganz von vorne anfangen. Und dieses Mal, ohne ihre Mutter und ihren Bruder an der Seite, konnte sie alle Entscheidungen ganz alleine treffen. Was für eine Erfahrung!

„Mom? Mom.“ Aaron schaute sie finster an. „Du hörst mir überhaupt nicht zu.“

„Oh, tut mir leid, Großer.“ Sie suchte ein paar Pflaumen aus und legte sie in den Wagen. „Ich bin ein bisschen zerstreut.“

„Was du nicht sagst! Also bist du nun gefeuert worden oder nur vorübergehend entlassen?“, fragte er, während er sich an den Wagen klammerte und sich von ihr durch den Gang schieben ließ. Über den Berg Tüten und Kartons und Gemüsetüten hinweg schaute er sie unerbittlich an.

Sie erwiderte den Blick ihres neunjährigen Sohnes. Seine so seltsam erwachsen klingende Frage hatte sie völlig unvorbereitet getroffen.

„Vielleicht habe ich ja auch gekündigt“, sagte sie. „Darüber schon mal nachgedacht?“

„Nee, du würdest nie kündigen!“ Im Vorbeirollen schnappte er sich eine Tüte Bonbons aus dem Regal und warf sie in den Einkaufskorb.

Kate packte die Tüte wieder zurück ins Regal. Diese Bonbons hatten mehr Zähne gezogen als ein schlechter Zahnarzt. „Warum glaubst du, dass ich niemals kündigen würde?“, fragte sie erstaunt. Je älter er wurde und je mehr er zu einer eigenständigen Persönlichkeit heranwuchs, desto öfter sagte ihr Sohn Dinge, die sie überraschten.

„Weil es stimmt“, sagte er. „Du würdest nur selber kündigen, wenn dir etwas Besseres angeboten würde, und ich weiß, dass das nicht passiert ist. Das passiert nie.“

Kate trommelte mit den Fingern auf den Griff des Einkaufswagens, dessen Plastikoberfläche im Laufe der Jahre ganz zerkratzt war. Sie ging in den Gang mit den Konservendosen. „Ach“, sagte sie leichthin, „was lässt dich da so sicher sein?

„Weil du ausflippst“, informierte er sie.

„Ich flippe nicht aus“, widersprach Kate.

Aber sie tat es doch. Und wie! Nachts wanderte sie durchs Haus und starrte aus dem Fenster; oft blieb sie so lange wach, bis die Lichter am Fährterminal von Seattle ausgingen, nachdem die letzte Fähre eingefahren war. Das war die Zeit, in der sie sich besonders alleine und verängstigt fühlte. Die Zeit, in der die ewige Optimistin Kate der verzweifelten Kate Platz machen musste. Wenn sie Geschmack an Alkohol finden würde, wäre das vermutlich die Zeit, in der sie zur Flasche greifen würde. L’heure bleue, wie die Franzosen sie nannten. Die blaue Stunde zwischen Dunkelheit und Dämmerung. Das war die Zeit, zu der ihre unermüdlich fröhliche Fassade zerbrach und sie sich einer Tätigkeit hingab, die sie hasste: sich in Selbstmitleid baden. Das war ihre Zeit, sich bewusst zu werden, woher sie kam und wohin sie gehen wollte. Die Zeit, zuzugeben, dass es manchmal zu viel für sie war, Aaron alleine großzuziehen. Aber wenn die Sonne dann aufging, riss sie sich von dieser Stimmung los und stellte sich dem neuen Tag. Augen zu und durch.

„Wir sollten Sachen kaufen, die den WIC-Aufkleber haben“, verkündete Aaron und zeigte auf ein grün-schwarzes Etikett auf einem Stapel Thunfischdosen. „Chandler hat davon erzählt“, erklärte er. „Das ist ein start... Staat... Ach, irgendein Programm für arme Leute.“

Kate stellte die Thunfischdose, die sie in der Hand hielt, so schnell ins Regal zurück, als hätte sie sie gebissen. „Wir sind aber keine armen Leute.“

Ihr war nicht bewusst gewesen, wie laut sie gesprochen hatte, bis ein Mann am anderen Ende des Ganges sich nach ihr umdrehte. Es war der gleiche, den sie schon auf dem Parkplatz gesehen hatte, nur dass er jetzt nicht mehr so weit weg war. Unter seinem Bartschatten konnte sie einen starken Kiefer erkennen. Seine Sonnenbrille hatte er gegen eine normale Brille mit Horngestell eingetauscht, die an einer Seite mit Klebeband repariert worden war. In der kurzen Sekunde, in der sich ihre Blicke trafen, fiel ihr auf, dass seine Augen die Farbe und Tiefe von altem Whiskey hatten. Aber Klebeband? Was war er – ein Computerfreak?

Sie wirbelte auf dem Absatz herum, damit er die Röte nicht sah, die ihr in die Wangen schoss, und schob den Einkaufswagen schnell in die entgegengesetzte Richtung.

„Siehst du?“, sagte Aaron. „Deshalb weiß ich auch, dass du deinen Job niemals kündigen würdest. Dir wäre es viel zu peinlich, arm zu sein.“

„Wir sind nicht ...“ Kate zwang sich, stehen zu bleiben. Sie nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug. „Hör zu, Großer. Uns geht es gut. Besser als gut. Bei der Zeitung gab es für mich keine Entwicklungsmöglichkeiten, und außerdem war es sowieso an der Zeit weiterzuziehen.“

„Also sind wir nun arm oder nicht?“

Sie wünschte sich, dass er etwas leiser sprechen würde. „Nein“, versicherte sie ihm.

Tatsächlich hatte ihr Gehalt bei der Zeitung gerade so eben zum Leben gereicht; der Hauptteil ihres Einkommens kam durch die Mietwohnungen in Seattle, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Trotzdem hatte sie sich über den Job definiert. Sie war Journalistin. Und jetzt, wo man sie hatte gehen lassen, fühlte sie sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. „Aber weißt du, was die neue Jobsituation für uns bedeutet? Dass wir beide den ganzen Sommer zusammen verbringen können, nur du und ich.“ Sie betrachtete Aarons Mienenspiel und sprach weiter, bevor er sich zu sehr in seine Verzweiflung hineinsteigern konnte. „Oder hast du damit ein Problem?“

„Ja“, sagte er mit einem kleinen frechen Funkeln in den Augen. „Vielleicht habe ich das.“

„Klugscheißer“, neckte sie ihn und zog ihm die Baseballkappe über die Augen. Mein Gott, dachte sie, bevor ich mich versehe, wird der kleine rothaarige Junge mit den Sommersprossen so groß sein wie ich.

Der Stimmungsumschwung kam so schnell wie immer, ohne Vorwarnung und ohne dass etwas vorgefallen wäre. „Das ist doof“, nörgelte er plötzlich mit zusammengekniffenen Augen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Das wird ein doofer, langweiliger Sommer, und ich weiß gar nicht, wieso wir überhaupt hierhergekommen sind.“

„Aaron, fang gar nicht erst an ...“

„Ich fange nicht an.“ Er riss sich die Kappe vom Kopf und warf sie mitten in den Gang.

„Gut“, sagte sie und versuchte, jegliche Emotionen aus ihrer Stimme herauszuhalten. „Denn ich muss noch Verschiedenes einkaufen. Je mehr wir uns beeilen, desto schneller sind wir am See.“

„Ich hasse den See.“

Sie hoffte, dass er nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, lenkte den Wagen um ihn herum und erledigte die restlichen Einkäufe. Dabei versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie war. Sie erlaubte nicht, dass seine Unfähigkeit, sein Verhalten zu kontrollieren, sie kontrollierte. Wann würde es aufhören? Sie hatte Ärzte und Psychologen besucht, Hunderte von Büchern über das Thema gelesen, aber nirgendwo hatte sie eine Lösung für den Umgang mit Aarons Temperament und seinem Schmerz gefunden. Bisher schien die effektivste Waffe Zeit zu sein. Die Minuten erschienen ihr endlos, als sie durch die Gänge ging und ihn die ganze Zeit ignorierte. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte in seinen Kopf schauen, die Quelle seines Schmerzes finden und ihn heilen. Aber es gab weder Pflaster noch Salbe für die unsichtbaren Wunden, die er mit sich herumtrug. Gut meinende Mitmenschen merkten gerne an, ihm fehle ein Vater. Ach was, dachte Kate dann immer.

„Mom“, sagte eine ruhige, zerknirschte Stimme hinter ihr. „Es tut mir leid, Mom. Ich werde mich noch mehr anstrengen, nicht immer so böse und laut zu werden.“

„Das hoffe ich“, sagte sie, und wieder einmal brach ihr Herz ganz leise, wie immer, wenn sie miteinander stritten. „Es ist verletzend und peinlich, wenn du die Geduld verlierst und so laut herumschreist.“

„Ich weiß. Es tut mir leid“, wiederholte er kleinlaut.

Sie hatte ein Dutzend Ideen, vielleicht sogar mehr, wohin sie diesen lehrreichen Moment steuern könnte. Aber sie hatten auch gerade eine dreistündige Autofahrt von Seattle hinter sich, und sie konnte es kaum erwarten, endlich ins Haus zu kommen. Also sagte sie nur: „Wir brauchen noch Zutaten für S’mores.“

Erleichterung glättete seine Züge, und er war wieder er selbst: ein kleiner Junge, der so gern gefallen wollte. Der Junge, den die Lehrer an seiner Schule so selten sahen. Seine Gefühlsausbrüche waren heftig, aber auch schnell vorbei, ohne irgendwelche Nachwehen.

„Ich geh schon!“, rief er und rannte den Gang hinunter.

Einige Rituale im Haus am See waren tief in der Familientradition verankert und mussten auf eine genau festgelegte Weise getan werden. S’mores waren eines davon. Die süßen Sandwiches mussten immer mit Butterkeksen und ohne Zimt gemacht werden, und die klebrigen Marshmallows wurden in Mini-M&Ms gerollt – etwas anderes kam nicht infrage.

Wann immer es einen Abend mit S’mores gab, musste auch am Strand Scharade gespielt werden. Im Kopf ging Kate die Liste der vorgeschriebenen Aktivitäten durch und fragte sich, ob sie sich wohl an alle erinnern würde. Das Abendbrot wurde durch das Schlagen der alten Schiffsglocke angekündigt, die an der Veranda hing. Im Juli mussten sie Feuerwerk an dem wettergegerbten Straßenstand des Makah-Stammes kaufen, um es am 4. Juli zu entzünden. Um die Sonnenwende zu feiern, würden sie das alte Krocket-Set entstauben und so lange spielen, bis die Sonne gegen zehn Uhr abends unterging, wobei sie sich so in den Wettkampf stürzten, als hinge ihr Leben davon ab. Wenn es regnete, wurde das Scrabble-Brett herausgeholt, an dem genauso erbitterte Wettbewerbe ausgetragen wurden. Diesen Sommer war Aaron alt genug, um Canasta und Whist zu lernen. Allerdings wusste sie bei den meisten Spielen nicht, wie man sie mit zwei Personen spielen sollte.

Alle Traditionen aus dem Haus am See waren geboren worden, bevor Kate das Licht der Welt erblickt hatte. Mit der Feierlichkeit altertümlicher Rituale waren sie von Generation zu Generation weitergegeben worden. Ihr war aufgefallen, dass Aaron und seine Cousins – die Kinder von ihrem Bruder Phil – die Traditionen genauso begierig aufnahmen und weiterverfolgten, wie sie und Phil es als Kinder getan hatten.

Aaron kehrte mit Butterkeksen, Mini-M&Ms und Marshmallows zurück.

„Danke“, sagte Kate und legte die Sachen in den Wagen. „Ich glaube, das ist jetzt alles.“ Als sie durch den letzten Gang schoben, fiel ihr der Mann mit der John-Deere-Kappe wieder auf. Er schaute sich gerade interessiert die verschiedenen Angelköder an. Dieses Mal sah Aaron ihn auch. Für einen Moment spiegelte sich auf seinem Gesicht eine schmerzhafte Mischung aus Neugierde und Sehnsucht, als er näher heranging. Der Mann hakte seine Daumen in die hinteren Hosentaschen seiner Jeans, und Aaron tat es ihm nach. Je älter er wurde, desto mehr identifizierte sich Aaron mit Männern, wie es schien sogar mit Fremden im Supermarkt.

Kate ertappte sich dabei, wie sie das Objekt von Aarons Aufmerksamkeit ebenfalls interessiert musterte. Der Fremde war eine ungewöhnliche Mischung aus männlicher Attraktivität und hinterwäldlerischer Rauheit. Sie fragte sich, wie viel er vorhin wohl mitgehört hatte.

„Aaron“, sagte sie. „Wir müssen weiter.“ Sie drehte sich weg, um den Augenkontakt mit dem Fremden zu vermeiden, und gab vor, das Zeitschriftenregal durchzusehen. Was auch schon das höchste der Gefühle für sie war. Es war wirklich eine Schande, dass sie sich als Journalistin bezeichnete, aber überhaupt kein Interesse an den Medien hatte. Sie besaß keinen Fernseher, las keine Tageszeitungen und benahm sich im Großen und Ganzen überhaupt nicht so, wie man es angesichts ihres Jobs erwartet hätte. Ein weiteres persönliches Versagen ihrerseits. In ihrem ehemaligen Job hatte ihre ganze Arbeit darin bestanden, Seattles Modeszene zu beobachten.

„Die Stars der Reality-TV-Showswas tun sie heute?“, fragte People.

„Ein Thema, das mich brennend interessiert“, murmelte Kate.

„Lass uns die hier mit dem zweiköpfigen Baby nehmen.“ Aaron zeigte auf eine der Illustrierten. Kate schüttelte den Kopf, auch wenn ihr Blick von einem kleineren Foto gefangen genommen wurde, auf dem ein Mann mit kantigem Kinn und durchdringendem Blick abgebildet war. Er trug einen militärischen Haarschnitt und einen flotten Schnurrbart. „Amerikanischer Held von Terrorsekte entführt“, lautete die Schlagzeile.

„Lass uns eine Fernsehzeitung mitnehmen“, schlug Aaron nun vor.

„Wir haben keinen Fernseher.“

„Dann kann ich wenigstens sehen, was ich verpasse. Warte ... Schau mal, Mom!“ Er schnappte sich eine Zeitung aus dem Regal und reichte sie ihr. „Deine Zeitung.“

Kates Hände fühlten sich mit einem Mal eiskalt an, als wenn sämtliche Nerven abgestorben wären. Sie hasste das Pochen in ihrer Kehle, das Zittern ihrer Finger, als sie die Zeitung entgegennahm. Es ist nur eine dumme Zeitung, sagte sie sich. Es waren die Seattle News, ein dummes kleines Wochenblatt, vollgestopft mit Artikeln über örtliche Musikbands, Poetry Slams, Filmkritiken und oberflächlichen Kulturbeiträgen. Neben Produktion und Layout war ihr Spezialgebiet in den letzten fünf Jahren Mode gewesen. Sie hatte fässerweise Tinte über die Angewohnheit der Einwohner Seattles verschrieben, Birkenstocksandalen mit Socken zu tragen. Oder um die Vor- und Nachteile von Piercings gegenüber Tätowierungen als Fashionstatement gegeneinander abzuwägen.

Offensichtlich nicht genügend Fässer, wenn man Sylvia, ihrer Herausgeberin, glauben konnte. Anstatt einer goldenen Nadel für ihr fünfjähriges Engagement hatte Kate die Kündigung bekommen.

Die Zeitung raschelte, als sie zu „ihrer“ Seite blätterte. Hier, über dem Falz, hatte ihre Kolumne seit dem ersten Tag gestanden. Nun strahlte ihr „Style Girl“ entgegen. Kate knirschte mit den Zähnen. Style Girl, die sich Wendy Norwich nannte, hieß tatsächlich Elsie Crump und war gerade erst aus der Poststelle befördert worden. Ihr heutiges Thema waren Sprühbräune-Studios.

Am unteren Ende der Seite, in kleiner, kursiver Schrift, stand folgender Satz: „Kates Mode-Meinung nimmt sich eine Auszeit.“

Das war’s. Ihr gesamtes Berufsleben in nur sieben Worten zusammengefasst.

„Was heißt Auszeit?“, wollte Aaron wissen.

„So etwas wie Urlaub“, sagte sie und hasste den dicken Kloß, den sie in ihrer Kehle spürte. Sie schob die Zeitung ins Regal zurück. Nur dass ich aus diesem Urlaub nicht wieder zurückkomme.

„Kann ich den Kaugummi hier haben?“, fragte Aaron, dem ihr innerer Aufruhr offensichtlich entgangen war. „Er ist auch ohne Zucker.“ Er zeigte ihr eine flache Packung, die mehr Baseballkarten als Kaugummis enthielt.

„Klar“, sagte sie und fing an, ihre Einkäufe auf das Laufband zu legen.

Ein älteres Pärchen stellte sich hinter ihnen in die Schlange. Kate genügte ein Blick aus dem Augenwinkel, um zu sehen, dass die beiden schon immer zusammen waren. Sie hatten diese Leichtigkeit im Umgang miteinander, die aus Jahren des Zusammenlebens und Füreinandersorgens entstand, dieses spezielle Band, wo Gesten und Blicke ganze Sätze ersetzen konnten.

In Kate stieg eine fürchterliche Sehnsucht auf. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und hatte das Gefühl, dass sie eine der grundlegendsten Freuden des Lebens verpasste. Ihr hatte noch nie ein Mann gesagt, dass er sie liebte, und es auch gemeint. Sie wusste nicht, wie es war, einen echten Partner zu haben, einen besten Freund, jemanden, der an ihrer Seite war, egal, was passierte. Immerhin hatte sie einen Sohn, den sie anbetete, und eine Familie, von der sie unterstützt wurde. Dafür war sie dankbar und beinahe etwas beschämt, dass sie sich nach mehr sehnte, sich wünschte, dass die Dinge anders wären.

Denn manchmal, wenn sie ein glückliches Pärchen sah, das sich umarmte, sich ineinander verlor, fühlte sie den tiefen Stachel der Einsamkeit. Verliebt zu sein sah so einfach aus. Dennoch war es ihr noch nie passiert.

Vor langer Zeit hatte sie von ganzem Herzen geglaubt, dass sie und Nathan ineinander verliebt waren. Zu spät hatte sie herausgefunden, dass das, was sie miteinander hatten, auf keiner festen Basis stand. Im Angesicht ihrer Schwangerschaft war ihre Beziehung zerbrochen, waren sie auseinandergetrieben wie zwei Eisschollen in der Antarktis.

Als sie den Einkaufswagen leerte, fühlte sie, wie der John-Deere-Kerl sie beobachtete. Sie war sich sicher, konnte die blitzenden Augen hinter der Sonnenbrille spüren. Er stand zwei Kassen entfernt und hatte ihr den Rücken zugewandt, aber sie wusste verdammt gut, dass er sie noch eine Sekunde zuvor angeschaut hatte. Sehr wahrscheinlich wollte er gucken, ob sie Essensgutscheine benutzte.

Das geht dich gar nichts an, dachte sie. Und du hast doch eine Vokuhila-Frisur. Sie starrte auf seine breiten Schultern.

Am Ende des Laufbands packte sie alles wieder in den Wagen, schaute zur Kasse und schluckte in Anbetracht der Summe. Nun ja, neu anzufangen brauchte etwas Startkapital. Sie zog ihre Kreditkarte durch die Maschine und bekam eine Fehlermeldung. Großartig, dachte sie und zog die Karte noch einmal durch. „Bitte wenden Sie sich an den Kassierer“, leuchtete eine Nachricht auf.

„Ich fürchte, meine Karte funktioniert nicht“, sagte sie und reichte ihre Karte über das Laufband.

Die Kassiererin nahm sie und tippte die Nummer per Hand ein. „Es tut mir leid, Ma’am, die Karte ist zurückgewiesen worden.“

Zurückgewiesen. Kates Magen zog sich zusammen, aber sie suchte und fand noch ein Lächeln. „Ich schreibe Ihnen einen Scheck“, sagte sie und zog ihr Scheckbuch hervor.

„Wir können leider nur Schecks von örtlichen Banken annehmen“, sagte die Kassiererin entschuldigend.

Kate warf einen Blick auf das Pärchen hinter ihr. „Dann bezahle ich eben in bar“, fluchte sie unterdrückt. „Sie nehmen doch Bargeld?“

„Hast du denn genug?“, fragte Aaron. Seine Stimme tönte durch den ganzen Supermarkt; Kate wusste, dass der Holzfällertyp sie hören konnte.

Sie kräuselte die Lippen und kramte vier Zwanzig-, einen Zehn- und vier Eindollarscheine und dreiunddreißig Cent hervor. Das war alles, was sie an Bargeld dabei hatte. Sie schaute noch einmal auf die Anzeige der Kasse. „Guck mal in deinen Taschen, Aaron“, bat sie ihren Sohn. „Mir fehlen zwei Dollar und neun Cents.“

Ich hasse es! dachte sie, während Aaron in seinen Taschen suchte. Ich hasse es.

Sie behielt ihr Lächeln bei, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, und vermied jeglichen Blickkontakt mit der Kassiererin und dem Pärchen hinter ihr.

„Ich habe einen Quarter und einen Penny“, tat Aaron kund. „Das ist alles.“ Er reichte ihr das Geld.

„Dann muss ich was zurücklegen.“ Kate wünschte, im Erdboden verschwinden zu können. „Es tut mir leid“, sagte sie an das ältere Pärchen gewandt. Sie streckte die Hand nach der Tüte Cheetos aus, ihrer gemeinsamen Lieblingssünde.

„Nicht die Cheetos! Alles, aber nicht die Cheetos“, flüsterte Aaron durch ebenfalls zusammengebissene Zähne.

„Lassen Sie nur“, sagte eine Stimme hinter ihr. „Ich mach das schon.“

Bevor Kate ihn anschaute, wusste sie, wer es war. Der Vokuhila-Mann, der zu ihrer Rettung eilte.

Sie atmete tief durch und drehte sich zu ihm um. Gehen Sie bitte, wollte sie sagen, ich brauche Sie nicht. Stattdessen sagte sie: „Danke, aber das ist nicht nötig ...“

„Kein Problem.“ Er reichte der Kassiererin zwei Dollar und ging dann mit seiner Einkaufstüte im Arm durch die Tür nach draußen.

„Hey, danke!“, rief Aaron ihm nach.

Der Mann drehte sich nicht um, tippte sich aber mit der Hand an den Schirm seiner Mütze, bevor er auf den Parkplatz trat.

Gründlich in Verlegenheit gebracht, packte Kate ihre Lebensmittel in Tüten und stellte diese wieder in den Einkaufswagen. Dann beeilte sie sich, den Supermarkt zu verlassen, und hoffte, den Mann noch zu erwischen, bevor er abfuhr. Sie entdeckte ihn in einem grünen Pick-up, der gerade den Parkplatz verließ.

„Das war nett von ihm, oder?“, sagte Aaron.

„Hm.“

„Du hast vergessen, dich bei ihm zu bedanken.“

„Ich habe es nicht vergessen. Ich war ... ich war nur so überrascht, und dann war er auch schon weg, bevor ich was sagen konnte.“

„Du warst nicht überrascht“, widersprach Aaron. „Du warst total verlegen.“

Sie öffnete den Mund, aber dann ließ sie die Schultern sacken. „Das war total peinlich“, gab sie zu und schenkte ihrem Sohn ein Lächeln. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich sollte sagen, wie selten und wunderbar es ist, Hilfe von Fremden zu bekommen.“

„Selten und wunderbar und total peinlich“, grinste er.

„Hilf mir lieber, die Lebensmittel zu verstauen, Quatschkopf! Mal sehen, ob wir es zum Haus schaffen, bevor das Eis geschmolzen ist.“

3. KAPITEL

Kates Jeep Cherokee hatte auch schon bessere Tage gesehen, aber er war das perfekte Auto für den See: robust genug, um es mit den ungeteerten Straßen und Schotterwegen aufzunehmen, die sich durch die Berge und den Wald der Olympic-Halbinsel wanden. Bandit begrüßte sie, als ob sie ein Jahr fort gewesen wären, nieste immer wieder und klopfte wie wild mit dem Schwanz auf den Sitz.

„Und jetzt auf zum See“, sagte Kate fröhlich. „Wir haben das Haus ganz für uns alleine. Wie findest du das?“

Aaron schnallte sich abwesend an und reagierte auch kaum auf Bandits feuchte Küsse. Kate fiel auf, dass sie wohl das Falsche gesagt hatte.

„Es wird ein ganz toller Sommer“, versicherte sie ihm.

„Bestimmt“, erwiderte er ohne großen Enthusiasmus.

Sie konnte die Anspannung in seiner Stimme hören. Auch wenn sie es nicht laut aussprechen würde, verspürte sie doch tief im Inneren genau das gleiche Gefühl.

„Sie haben dich meinetwegen gefeuert, oder?“, fragte Aaron mit verstörender Einsicht.

„Nein. Mir ist gekündigt worden, weil Sylvia ein unflexibler Stock von einem Menschen ist, die echtes Talent sowieso nie zu würdigen wusste. Termine und Bilanzen, das ist alles, was sie interessiert.“ Kate unterbrach sich selbst. Es gab keinen Grund, bei Aaron Luft abzulassen. Er wusste sowieso schon, dass sie wütend war. Besonders schmerzlich war es, dass Kate von Sylvia Latham, der Herausgeberin, entlassen worden war. Wie Kate war auch Sylvia eine alleinerziehende Mutter. Aber anders als Kate war sie die perfekte alleinerziehende Mutter mit zwei perfekten Kindern. Und weil dem so war, ging sie davon aus, dass auch jeder andere in der Lage sein sollte, Kinder und Karriere so elegant unter einen Hut zu kriegen wie sie.

Kate zog den Kopf ein wenig ein und verbarg ihren Gesichtsausdruck. Aaron verstand viel mehr, als die Leute gemeinhin von ihm dachten. Er wusste genauso gut wie jedes andere Kind, dass heutzutage alleinerziehende Mütter oft wegen ihrer Kinder nicht zur Arbeit gehen konnten. Warum verstand Sylvia das nur nicht? Weil sie das perfekte Kindermädchen für ihre perfekten Kinder hatte. Bis zum letzten Jahr hatten Aarons Oma und manchmal auch seine Tante auf ihn aufgepasst, wenn er krank war und nicht zur Schule konnte. Aber nachdem sie nun ans andere Ende des Landes gezogen waren, hatte Kate es ganz alleine schaffen müssen. Und versagt. Kläglich und unmissverständlich versagt.

„Ich muss eben noch die Bank anrufen und herausfinden, was mit meiner Kreditkarte nicht stimmt“, sagte sie und holte ihr Handy hervor. „Am See haben wir keinen Empfang.“

„Laaangweilig“, kommentierte Aaron und sackte im Sitz zusammen.

„Da hast du recht, Kumpel.“ Sie wählte die Nummer von der Rückseite ihrer Karte. Nachdem sie sich alle Optionen angehört hatte – „weil unsere Menüpunkte kürzlich verändert wurden“, wie die Automatenstimme ihr mitteilte –, musste sie eine absurde Kombination verschiedener Nummern eintippen, nur um zu erfahren, dass die Bank aufgrund der Zeitverschiebung bereits geschlossen hatte. „Alles okay“, versicherte sie Aaron. „Ich kläre das später.“ Sie lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze und atmete tief durch. „Oh, ich muss ja auch noch Georgie anrufen!“

Alle fünf Enkelkinder – die vier von Phil und Barbara plus Aaron – nannten Kates Mutter Georgie, manchmal sogar Georgie Girl.

„Mach’s nicht so lang“, sagte Aaron. „Bitte.“

Kate tippte die noch unvertraute neue Nummer ein und wartete auf das Freizeichen. Eine Männerstimme antwortete.

„Hier ist Clinton Dow.“ Georgies neuer Mann meldete sich immer mit vollendeter Höflichkeit.

„Und hier ist Katherine Elise Livingston“, zog sie ihn ein wenig auf.

„Kate!“ Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „Wie geht es dir?“

„Ausgezeichnet. Wir sind in Port Angeles und gerade auf dem Sprung zum See.“

„Das klingt nach einem großen Abenteuer“, sagte er fröhlich. Man hätte nie vermutet, dass er ihre Mutter noch letztes Jahr gedrängt hatte, das Sommerhaus zu verkaufen. Es wäre nichts weiter als eine große, leere Verbindlichkeit, hatte er gesagt, die ihren Nutzen für die Familie schon längst überlebt hatte. Mit dieser Aussage hatte er beinahe die Zuneigung seiner neu erworbenen beiden Stiefkinder verloren. Das Haus am See gehörte schon seit den Zwanzigerjahren zu den Livingstons – viel länger also als ein verwitweter und einmal geschiedener Buchprüfer.

„Wir werden das Sommerhaus nie verkaufen!“, hatte Phil bestimmt. „Niemals! Ende der Diskussion.“ Es war Phil egal gewesen, dass er quer durchs Land nach New York gezogen war und nicht mehr so oft zum Haus kommen konnte. Für ihn, Kate und die Kinder bedeutete das Haus am See alles, was am Sommer magisch und besonders war. Es zu verkaufen wäre ein Sakrileg.

„Ich hole eben deine Mutter“, sagte Clint. „Schön, mit dir gesprochen zu haben.“

Während sie wartete, fuhr Kate den Jeep an den Rand des Parkplatzes, sodass sie über den Hafen schauen konnte. Sie hatte schon hunderte Male an dieser Stelle gestanden und den Blick genossen. Sie bekam einfach nie genug davon. Port Angeles war eine seltsame Stadt: ein bunter Haufen von billigen Motels und Diners, malerischen Bed and Breakfasts, Fußgängerzonen und holprigem Asphalt, teuren Restaurants und Läden am Wasser. Ein paar Mal am Tag schleppte die Fähre ihren vollgestopften Rumpf über die Juan-de-Fuca-Straße nach Victoria. Die Autofahrer standen teilweise stundenlang Schlange, um einen Platz an Bord zu ergattern.

„Du bist also auf dem Weg in die Wildnis“, unterbrach ihre Mutter fröhlich Kates Gedanken.

„Ja, nur wir beide“, antwortete Kate.

„Ich wünschte, du hättest Aaron für den Sommer zu uns gebracht“, sagte Georgina. „Wir sind nur eine Stunde Autofahrt von Disney World entfernt.“

„Was genau der Grund ist, warum ich ihn nicht zu euch gebracht habe“, erwiderte Kate. „Ich bin nicht so ein Disney-Fan.“

„Und Aaron?“

„Oh, der würde es lieben“, gab sie zu. „Er würde auch euch gerne wiedersehen.“ Sie schaute zu, wie ihr Sohn in den Einkaufstüten nach was zu essen suchte. Er fand die Papiertüte mit den Kirschen und machte sich daran, herauszufinden, wie weit er die Kerne aus dem Fenster spucken konnte. Bandit, der erstaunlich gute Manieren zeigte, wenn seine Menschen aßen, beobachtete ihn mit zurückhaltender, aber dennoch intensiver Konzentration. „Wir möchten diesen Sommer einfach gerne hier verbringen“, rief sie ihrer Mutter ins Gedächtnis zurück. „Das ist genau der Ort, wo wir sein sollten.“

„Wenn du das sagst.“ Georgina hatte das Haus am See nie so sehr geliebt wie der Rest der Livingstons, auch wenn sie ihrem verstorbenen Ehemann und den Kindern zuliebe immer gute Miene zum bösen Spiel gemacht und die Sommer hier verbracht hatte. Jetzt, da sie endlich neu verheiratet war, war sie mehr als glücklich, in Florida bleiben zu können.

„Ja, das sage ich“, erklärte Kate. „Ich kann endlich etwas Zeit mit meinem Sohn verbringen. Und ich will herausfinden, was ich einmal werden möchte, wenn ich groß bin.“

„Ihr werdet euch gegenseitig in den Wahnsinn treiben“, prophezeite Georgina.

Kate dachte an das neue Zuhause ihrer Mutter, ein luxuriöses Appartement an einem Golfplatz in Florida. Das würde sie in den Wahnsinn treiben.

Sie ließ Aaron noch kurz mit seiner Großmutter sprechen und rief dann Phil an. Sie erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter, auf dem sie eine Nachricht hinterließ. „Okay“, seufzte sie. „Jetzt haben wir uns bei allen gemeldet, die wichtig sind.“

„Das sind ja nicht sonderlich viele.“

„Es geht nicht um die Anzahl der Menschen, sondern darum, wie viel sie einem bedeuten“, bemerkte Kate. Bei dem Gedanken daran, wie sehr sie ihren Bruder und seine Familie diesen Sommer vermissen würde, wurde sie ganz wehmütig. Sie zeigte es jedoch nicht. Sie wollte, dass Aaron glaubte, den Sommer seines Lebens vor sich zu haben. Manchmal würde sie alles dafür geben, eine Schulter zum Ausweinen zu haben, aber sie würde niemals erlauben, dass ihr Sohn diese Rolle einnahm. Sie hatte andere Single-Mütter gesehen, die sich zur emotionalen Unterstützung auf ihre Kinder verließen, und sie fand das nicht fair. Das war nun wirklich nicht die Aufgabe von Kindern.

Letztes Jahr hatte sie einen Lifecoach konsultiert, der sie beraten hatte, wie sie ihr eigener Partner bei der Erziehung von Aaron und in ihrem Leben sein konnte. Er hatte ihr geraten, sich langen, ausführlichen Unterhaltungen mit sich selber hinzugeben. Es hatte nicht geholfen, aber wenigstens hatte sie sich mit jemandem unterhalten, den sie mochte.

„Bereit?“, fragte sie ihren Sohn, als sie das Telefon wegpackte. Sie lenkte den Jeep vom Parkplatz und fuhr auf den Highway 101 Richtung Westen. Die Douglastannen und Zedern wuchsen immer dichter, je weiter sie auf der Halbinsel vorrückten. Über sechzig Meter erhoben sich die moosbewachsenen Stämme über der zweispurigen Straße und erzeugten einen mystischen, kathedralenähnlichen Effekt, der Kate jedes Mal aufs Neue verzauberte. Die Nachmittagssonne glühte über ihnen und malte rotgoldene Muster auf die Straße.

Diese Straße entlangzufahren ließ in ihr das Gefühl wachsen, eine ganz neue Welt zu betreten. Dies war ein so abgelegener Ort, wo die Stille so breit und tief war wie die urtümlichen Wälder, die den See umgaben. Dank der Umsicht der Parkverwaltung hatte sich das Land hier nicht verändert. Aaron erlebte alles so, wie sie und Phil es als Kinder erlebt hatten und ihr Vater und Großvater vor ihnen. Sie erinnerte sich daran, auf dem Rücksitz des Kombis ihres Vaters zu sitzen, das Fenster heruntergerollt, die kalte Brise des Windes auf dem Gesicht und den fruchtbaren Geruch von Moos und Zedern in der Nase.

Ihr Bruder Phil war vier Jahre älter als sie und hatte damals die Gabe, sie so lange zu ärgern, bis sie weinte. Sie hatte ihm schon vor langer Zeit all die Torturen aus der Kindheit verziehen. Und wie von Zauberhand war ihr Bruder über die Jahre zu ihrem besten Freund geworden.

Fünf Meilen vom See entfernt fuhren sie über den letzten Hügel, auf dem man noch Handyempfang hatte, und zwar auf den Parkplatz von Grammy’s Cafe, wo man den besten Brombeerkuchen der Welt machte.

Am Straßenrand sah sie einen grünen Pick-up stehen. Sie fuhr langsam daran vorbei und sah, dass der Fahrer vornübergebeugt auf der Beifahrerseite stand. Vermutlich wechselte er einen Reifen.

Es war Mr John Deere. Der sie im Supermarkt ausgelöst hatte.

Sie trat auf die Bremse, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ebenfalls an den Straßenrand. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Reifen wechselte, und sehr wahrscheinlich brauchte oder wollte er auch keine Hilfe, aber sie hielt trotzdem an. Denn ob es ihr gefiel oder nicht, sie war ihm was schuldig.

„Was machst du?“, fragte Aaron.

„Bleib im Wagen!“, befahl sie. „Und lass auf keinen Fall Bandit raus.“ Sie stieg aus und ging zum Pick-up.

Hier, inmitten des Waldes, sah er noch interessanter aus als im Supermarkt. Ein Mann in seinem Element. Plötzlich fühlte Kate sich verletzlich. Das hier war ein einsamer Straßenabschnitt, und wenn er auf die Idee kommen sollte, sie anzumachen, hatte sie ein Problem. Ihr Bruder beschuldigte sie oft, zu naiv und vertrauensvoll zu sein, aber sie konnte nicht anders. Sie vertraute den Menschen und war selten enttäuscht worden.

„Bleiben Sie weg!“, rief er ihr zu, ohne von dem aufzusehen, was er tat. „Ich habe hier ein verletztes Tier.“

Definitiv keine Anmache.

Sie sah einen halbwüchsigen Waschbär auf der Seite liegen, der heftig strampelte und ein fürchterliches Geräusch von sich gab. Mit einem Paar Waldarbeiterhandschuhen versehen, versuchte der Mann, die zischende, kratzende Kreatur in einen Leinensack zu stecken, aber der Waschbär war damit offensichtlich überhaupt nicht einverstanden.

Obwohl sie ihn gebeten hatte, im Auto zu bleiben, stieg Aaron aus. Bandit jaulte im Jeep.

Kate packte Aarons Schulter und hielt ihn an ihrer Seite fest. „Können wir irgendwie helfen?“

„Das ist ... verdammt!“ Der Mann sprang zurück und untersuchte seine behandschuhte Hand.

„Hat er Sie gebissen?“, fragte Kate.

„Er hat’s versucht.“

„Haben Sie ihn angefahren?“, wollte Aaron wissen. Sein Kinn zitterte. Er hasste es, wenn Tiere verletzt wurden.

„Nein. Ich habe ihn so gefunden“, erwiderte der Mann.

Er hob das erste Mal den Blick von dem verletzten Waschbären und sah die beiden an. Die Sonnenbrille verbarg seine Reaktion, aber sie sah, dass er sie aus dem Supermarkt erkannte. Irgendetwas – ein kaum spürbares Anspannen seines Körpers – reagierte auf sie.

„Wird er sterben?“, fragte Aaron.

„Ich hoffe nicht. In Port Angeles ist eine Wildtierrettungsstation. Wenn wir es schaffen, ihn dahin zu bringen, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie ihn retten können.“

„Wie kann er sich denn noch so heftig wehren?“, wunderte Kate sich. „Er ist halb tot.“

„Das sieht nur so aus. Und außerdem ist der Überlebensinstinkt sehr mächtig, wenn er sich bedroht fühlt.“

„Hey“, sagte Aaron und wühlte im Heck des Jeeps herum. „Sie können unsere Kühlbox haben.“

Kate half ihm, die 40-Liter-Box auszuleeren, die genug Platz für einen noch nicht ganz ausgewachsenen Waschbären bot. Gemeinsam trugen sie die Kühlbox und stellten sie umgekehrt auf den Waschbären. Er krabbelte darunter herum, aber der Mann schaffte es, den Deckel unter Kühlbox und Waschbär zu schieben. Langsam und vorsichtig drehten sie zu dritt die Kühlbox um, bis sie wieder richtig herum stand, dann schlössen sie den Deckel.

„Wird er darin ersticken?“, sorgte sich Aaron.

Kate öffnete den Ablaufhahn. „Für das kurze Stück wird es gehen.“

Der Mann lud die Kühlbox in seinen Pick-up. Die Ladefläche war übersät mit Werkzeug, Dosen mit Schiffslack und einer Kettensäge. Hinter dem Fahrersitz gab es einen Gewehrständer, in dem statt Waffen, Angeln und ein Kaffeebecher steckten. Als der Mann sich umdrehte, erhaschte Kate einen guten Blick auf sein Gesicht. Sogar mit der Brille hatte er diese raue Männlichkeit, die ihr die Knie weich werden ließ – starke Gesichtszüge, ein wie gemeißelter Mund, der Fünfuhrschatten auf den Wangen. Oh Kate, dachte sie, du bist wirklich armselig.

„Danke“, sagte er.

Aaron richtete sich auf die unbewusste Weise auf, wie er es immer tat, wenn ein Mann in der Nähe war. Kate zerzauste seine Haare. „Ich freu mich, dass wir helfen konnten.“

„Wohnen Sie hier in der Nähe?“, fragte der Fremde. „Kann ich Ihnen die Kühlbox vorbeibringen, wenn ich fertig bin?“

Kate spürte ein leichtes Zögern in sich. Es war nie eine gute Idee, einem Fremden zu sagen, wo man wohnte. Vor allem wenn es sich um ein abgeschiedenes Haus am See handelte, wo niemand einen hören konnte.

„Ich wohne im Haus der Schroeders“, sagte er, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. „Das steht am Lake Crescent.“

Das Schroeder-Haus. Als sie klein war, hatte sie mit Sammy und Sally Schroeder gespielt. Und hatte Mable Ciaire Newman diesen Mann nicht erwähnt? Hatte sie. „ Warte nur, bis du ihn siehst1’, das waren ihre Worte gewesen. Außerdem hat der Mann gerade einen Waschbären gerettet, dachte Kate. Wie schlecht konnte er da wohl sein?

„Wir wohnen nur eine Viertelmeile die Straße runter“, erklärte sie ihm. „Ich bin Kate Livingston, und das ist mein Sohn Aaron.“

„Schön, euch kennenzulernen. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht die Hand gebe, aber ich habe gerade ein Wildtier angefasst.“

Aus irgendeinem Grund fand Kate das lustig und kicherte wie ein Schulmädchen. Mit viel Mühe gelang es ihr, sich wieder zusammenzureißen. „Dann sind Sie also einer der Schroeders?“, fragte sie.

„Nein, ich bin ein Freund der Familie“, erwiderte er. „JD Harris.“

„JD?“, wiederholte Aaron.

„Für dich Mr Harris“, berichtigte ihn Kate.

„Jeder nennt mich JD, Aaron eingeschlossen“, widersprach der Mann.

Aaron stand noch ein bisschen aufrechter und reckte die Schultern. Kate starrte JD Harris weiter an. Da war etwas ... es war verrückt, aber sie war sicher, dass er sie hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille einer eingehenden Musterung unterzog und vielleicht sogar mochte, was er da sah. Und anstatt davon beleidigt zu sein, verspürte sie einen Anflug von gegenseitigem Interesse.

„Ich mach mich mal besser auf den Weg“, sagte er und drehte sich um. „Ich bringe Ihnen die Kühlbox später vorbei.“

Na und? dachte Kate, als sie den ersten Gang im Jeep einlegte und den Wagen wieder auf die Straße lenkte, vielleicht habe ich ihn falsch interpretiert. Und wenn schon! Sein Bild ging ihr nicht aus dem Kopf, als sie die Fahrt in Richtung Westen fortsetzte. Er faszinierte sie. Sogar die Sonnenbrille verlieh ihm eine unerwartete Sexiness, die sie an ihren geheimsten aller geheimen Traummänner erinnerte: Johnny Depp.

Reiß dich zusammen! befahl sie sich. Er war sehr wahrscheinlich mit Frau und Kindern hier. Das wäre sogar sehr schön, denn er hätte bestimmt großartige Kinder, mit denen Aaron spielen könnte.

Ihr Sohn kniete rückwärts auf dem Sitz und schaute dem grünen Pick-up nach, der in die andere Richtung davonfuhr. „Meinst du wirklich, dass der Waschbär überleben wird?“

„Erwirkte sehr lebendig“, antwortete Kate.

Am östlichen Ende des Sees verengte sich die Straße. Die Gemeinde am See war in der Vergangenheit gefangen. Vor Jahrzehnten hatte Präsident Roosevelt den Lake Crescent und seine Umgebung zum Nationalerbe erklärt und als Nationalpark ausgewiesen. Nur die wenigen, die hier bereits lebten, durften ihre Grundstücke behalten; die Umbau und Renovierungsmaßnahmen an den Gebäuden unterlagen strengen Vorgaben. Die malerischen Häuschen und Cottages und die hier und da ins Wasser ragenden Bootsstege unterstrichen mit einem Hauch von Exklusivität die Besonderheit dieses Sommerortes. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Die Familien am See blieben meist für sich. Mable Ciaire Newmans Hausverwaltung kümmerte sich um die Häuser, inklusive das der Livingstons.

Kate bog von der schmalen Straße ab und fuhr zwischen zwei riesigen Fichten durch. Aaron sprang aus dem Wagen, um die quer über der Einfahrt gespannte Kette zu lösen. Ganz aufgeregt, endlich hier zu sein, sprang Bandit ihm hinterher.

Sogar dieses kleine Ritual war Teil der Familientradition. Die Kette wurde immer vom ältesten Kind im ersten Auto geöffnet. Dieses Kind hatte bereits den alten, stumpfen Schlüssel in der einen und eine Dose WD-40 in der anderen Hand, weil das Schloss über den feuchten, dunklen Winter unvermeidlich eingerostet war. Aaron öffnete das Schloss und ließ die dicke Eisenkette auf die Kiesauffahrt fallen. Dann trat er einen Schritt zur Seite und ließ seine Mutter mit einer altmodischen Verbeugung passieren.

Kate hob den Daumen und fuhr vor. Nun war der Sommer offiziell eröffnet.

Den Hund dicht auf den Fersen, rannte Aaron die Einfahrt hinunter. Sie war mit Pinienzapfen und Ästen bedeckt, die in den Winterstürmen abgebrochen waren. Als das Grundstück in Sicht kam, verspürte Kate ein erwartungsvolles Gefühl, das ihr aus ihrer Kindheit vertraut war. Ein mit Farnen bedeckter Hain, von denen einige die Größe von VW Käfern hatten, füllte den Waldboden an der Einfahrt. Mit den durch die Blätter fallenden Sonnenstrahlen sah er aus wie eine magische Gartenlaube. Kates Großmutter hatte ihr immer erzählt, dass dort Feen lebten, und Kate hatte ihr geglaubt.

Ein bisschen glaube ich es heute immer noch, dachte sie, während sie beobachtete, wie ihr Sohn und der Hund einen kleinen Freudentanz aufführten.

Die Einfahrt wurde breiter, und die Bäume zogen sich zurück und ließen das Sonnenlicht durch. Und vor ihr, wie ein Edelstein auf einem Stück smaragdgrüner Seide, stand das Haus.

Autor

Susan Wiggs
<p>Susan Wiggs hat an der Harvard Universität studiert und ist mit gleicher Leidenschaft Autorin, Mutter und Ehefrau. Ihre Hobbys sind Lesen, Reisen und Stricken. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik.</p>
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