Viel zu nah am Tabu

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Rotes Haar, tiefblaue Augen und verlockende Kurven: Matildas Anblick lässt den spanischen Tycoon Javier Alatorre sinnlich erschauern. Doch als sein Mündel ist die betörende junge Britin tabu für ihn! Er muss jetzt nur eins: spätestens bis zu ihrem nächsten Geburtstag einen passenden Ehemann für sie finden. Nur wie soll ihm das gelingen, wenn Matilda sich ihm leidenschaftlich widersetzt und jeden Kandidaten ablehnt? Begehrt sie ihn etwa ebenso heimlich wie er sie? Oder warum knistert es plötzlich immer erregender zwischen ihnen?


  • Erscheinungstag 11.06.2024
  • Bandnummer 2653
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524780
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Javier Alatorre stieg aus dem eleganten Mietwagen und trat genau in eine kalte, schlammige Pfütze. Fluchend sah er zuerst in den nassgrauen Himmel, dann auf seine ruinierten Schuhe.

Er konnte einfach nicht nachvollziehen, dass ein Mensch, dem im sonnigen Spanien jeder erdenkliche Komfort zur Verfügung stand, es vorzog, in dieser einsamen Wildnis zu leben.

Aber Matilda hatte es so gewollt, und nachdem sie eine Reihe schmerzvoller Erfahrungen gemacht hatte, hatte er eingewilligt. Weil er nett war. In den ganzen drei Jahren, die sie jetzt hier wohnte, hatte er sie in Ruhe gelassen. Und das würde er jetzt auch am liebsten tun.

Aber sie hatte genug Zeit gehabt, ihre Wunden zu lecken. Die Uhr tickte.

Er kannte Matilda Willoughby jetzt seit fast zehn Jahren, doch es war ihm nie gelungen, sie als seine Schwester zu betrachten. Auch wenn Ewan Willoughby ihm in der Zeit, als er mit Javiers Mutter erst zusammen und schließlich verheiratet gewesen war, ein echter Vater gewesen war.

Javier war sechzehn gewesen, als seine Mutter Ewan kennengelernt hatte, und obwohl sie sich fünf Jahre lang geweigert hatte, noch einmal zu heiraten, hatte er Javier von Anfang an wie seinen eigenen Sohn behandelt.

In jenen frühen Jahren war es Ewan gelungen, aus dem wütenden Teenager mit großem Gewaltpotenzial einen erfolgreichen, kultivierten Geschäftsmann zu machen. Er hatte Javier zu einem Studium ermutigt, ihm noch vor dem Studienabschluss einen Job bei WB Industries besorgt und ihn darauf vorbereitet, das Wirtschaftsimperium eines Tages zu erben. Ewan hatte Javiers Kanten geglättet, ihm beigebracht, was Selbstkontrolle bedeutet, und hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er heute war.

Matilda hatte er erst bei der Verlobung ihrer Eltern kennengelernt, ein schüchternes Mädchen, das auf ein Internat ging und sich lieber hinter seinem Vater versteckte, anstatt sich mit Javier zu beschäftigen.

Dann war das Unerwartete und Unfassbare passiert. Ewan war ganz plötzlich gestorben, ohne jede Vorwarnung. Javier hatte nicht nur seine Vaterfigur verloren und war dadurch plötzlich zum Eigentümer eines Unternehmens geworden, dessen Erfolg er für den Mann sichern musste, der es ihm hinterlassen hatte. Auf einmal war er auch der gesetzliche Vormund einer Sechzehnjährigen, die er kaum kannte. Die Male, die er sich in einem Raum mit Matilda befunden hatte, konnte er fast an einer Hand abzählen.

Doch er hatte die unerwartete Verantwortung sehr ernst genommen und versucht dafür zu sorgen, dass ihr Leben ebenso ruhig verlief wie zu Lebzeiten ihres Vaters. Er hatte zugesehen, dass sie die Schule abschloss, sich um ihre unendlich komplizierten und umfangreichen Finanzen gekümmert und darum, dass sie in dem schönen Haus seiner Mutter wohnte, wenn sie gerade nicht an der Uni war. Gleichzeitig hatte er die Führung von Ewans Unternehmen übernommen und es noch erfolgreicher gemacht, als es ohnehin schon war.

Ewans Vermächtnis würde er immer ehren, daran würde auch seine unglückliche Kindheit nichts ändern. Eine Kindheit, die dafür verantwortlich war, dass er Kontrolle für so wichtig hielt.

Seufzend betrachtete Javier das kleine Cottage, das Matilda dem schönen Haus seiner Mutter in Valencia vorzog. Zu seiner Strategie, die Selbstkontrolle zu bewahren, gehörte es, sich von der erwachsenen Matilda fernzuhalten. Über die Gründe hiervor dachte er lieber nicht nach.

Er strich sein Jackett glatt und ging auf die Haustür zu. Wäre es ein schöner Tag gewesen, hätte er das Gebäude vielleicht pittoresk genannt. Heute jedoch wirkte es einfach nur grau. Dem Anblick der alten Natursteinmauern und des verfallenen wirkenden Dachs zufolge war es drinnen bestimmt eiskalt.

Aus Matilda war Javier noch nie richtig schlau geworden. Ihre Besessenheit von Pflanzen. Ihr liebes, vertrauensvolles Wesen. Ihr Wunsch, allein zu sein. Das hier.

Sicher, vor drei Jahren hatte sie unter einem großen Skandal gelitten, und ja, allein aufgrund der Höhe ihres Erbes zog sie Aufmerksamkeit auf sich. Aber Javier hatte nie verstanden, warum sie sich so versteckte, nur weil sich der Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, als intriganter, verlogener Goldgräber entpuppt hatte.

Die Presse war womöglich ein wenig ungnädig gewesen und hatte ihr übel mitgespielt, aber Javiers Meinung nach hätte die Tochter von Ewan Willoughby dickhäutiger reagieren müssen.

Doch er hatte getan, was Ewan seiner Einschätzung nach in dieser Situation getan hätte, und Matilda erlaubt, sich dieses kleine Cottage in den schottischen Highlands zu kaufen. Er hatte ihr den Raum gegeben, über die Zeit bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag frei zu verfügen.

Für Javier war es so leichter als zu der Zeit, da sie verliebt an Pietros Arm durch Barcelona flaniert war, wo sie bei denselben Veranstaltungen auftauchte wie Javier, eine Frau durch und durch und nicht mehr der Teenager, der einen Vormund brauchte.

Er musste Matilda nicht verstehen, um dafür zu sorgen, dass sie versorgt war und sich nach dem richtete, was ihr Vater in seinem Testament verfügt hatte. Denn Javier war ihr Vormund, egal wie alt sie war oder wie zurückgezogen sie lebte.

Bevor er die Haustür erreicht hatte, hörte er hinter sich Schritte. Als er sich umdrehte, erblickte er Matilda, die sich ihm auf einem schlammigen Pfad näherte.

Sie trug mehrere Schichten Wollpullover und – jacken, die kaum weniger verschlammt waren als der Pfad. Ihr lockiges rotbraunes Haar hatte sie wohl irgendwann einmal zusammengebunden, doch die meisten Strähnen hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen ihr in das gerötete Gesicht.

Er hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, vielleicht waren es auch eher zwei. Er hatte Weihnachten lieber auf Capri verbracht als zusammen mit den beiden Frauen im Haus seiner Mutter in Valencia.

Seit Matildas einundzwanzigstem Geburtstag, als er sie strahlend und glücklich an Pietros Arm gesehen hatte, weigerte Javier sich zu benennen, was ihn bei ihrem Anblick so aufwühlte. Das rote Haar, die tiefblauen Augen, die schlanke Figur. Sie war eine attraktive Frau, seine Reaktion auf sie reine Biologie.

Mehr war es nicht.

Im Gehen schwang sie einen Korb, der bis zum Rand mit Pflanzen gefüllt war, und trotz des nassen, grauen Tages summte sie eine Melodie vor sich hin. Sie schien ihn nicht zu bemerken, bis sie praktisch direkt vor ihm stand.

„Javier.“ Sie blinzelte, allerdings ohne zu lächeln, wie sie es sonst tat, wenn sie sich begegneten. Wachsamkeit schlich sich in ihre Augen, als wüsste sie genau, warum er hier war.

Was das Ganze beschleunigen würde.

„Matilda. Du hast meine Anrufe ignoriert.“

„Und deine E-Mails“, ergänzte sie beinahe fröhlich. Sie drückte sich an ihm vorbei und ging zur Haustür. Sie schloss auf und trat die verschlammten Stiefel an der ebenso verschlammten Fußmatte ab.

Bei so viel Schmutz fürchtete Javier sich fast vor dem, was ihn im Inneren des Cottages erwartete.

„Du hättest dir nicht die Mühe machen müssen, hierherzukommen“, sagte Matilda und trat ins Haus. Sie hängte den Korb an einen Haken und begann sich aus ihren Wollschichten zu schälen.

Immerhin war es im Cottage schön warm, anders als er vermutet hatte. Aber zu behaupten, dass drinnen Unordnung herrschte, wäre eine Untertreibung gewesen. Vielmehr sah es aus, als sei ein wissenschaftliches Experiment aus dem Ruder gelaufen. Was ihn bei Matilda nicht überraschte.

„Ich wäre sehr viel lieber zu Hause geblieben, wo es trocken und warm ist, aber du hast ja, wie gesagt, nicht auf meine Anrufe und E-Mails reagiert.“

Sie seufzte vernehmlich, bevor sie einen Arm ausstreckte. „Soll ich deine Jacke nehmen?“

Javier sah auf die Wandhaken. An allen hingen nasse, verschmutzte Kleidungsstücke oder mit Erde und Pflanzen gefüllte Körbe. „Nein danke.“

Sie lachte. Anscheinend hatte sie hier draußen ihren Sinn für Humor wiedergefunden, und das war gut so. Jedenfalls war sie nicht mehr das blasse, am Boden zerstörte Mädchen, das sie vor drei Jahren gewesen war.

Damals hatte sie ihm gar nicht gefallen.

„Tee?“, fragte sie auf dem Weg in eine winzige Küche. Er hatte keine Ahnung, wie es ihr gelang, in dieser Unordnung überhaupt den Wasserkocher zu finden.

„Nein, Matilda. Mein Flugzeug wartet. Aber du kannst dir zum Packen so viel Zeit nehmen, wie du brauchst.“ Er blickte sich um. Überall Pflanzen, manche frisch, andere getrocknet und wieder andere irgendwo zwischen tot und lebendig. „Vielleicht können wir ja jemanden aus dem Dorf anheuern, der sich um deinen … Garten kümmert, solange du fort bist.“

„Ich habe nicht die Absicht, irgendwo hinzufahren, Javier“, entgegnete sie fest, nachdem sie den Wasserkocher hervorgezaubert hatte.

Die Entschlossenheit in ihrem Tonfall gefiel ihm nicht. Früher hatte Matilda ihm so gut wie nie widersprochen. Sie war zu lange allein gewesen, zu unabhängig geworden. Das war vermutlich besser, als der Fußabtreter anderer Menschen zu sein, passte aber gerade nicht zu seinem Vorhaben.

„Ob Absicht oder nicht, du wirst mit mir nach Spanien zurückkehren. In sechs Monaten wirst du fünfundzwanzig, und es gibt noch einiges zu tun, wenn du einen passenden Ehemann finden willst.“

Sie knallte den Wasserkessel auf die Herdplatte und sah Javier an. „Das alles kann doch nicht dein Ernst sein.“

„Ich bitte um Entschuldigung, cariño, aber ich habe nicht vor, dich zu heiraten. Also müssen wir einen anderen Mann für dich finden. Sechs Monate sind dafür nicht besonders viel Zeit.“

„Ehrlich, Javier.“ Sie bereitete den Tee mit fahrigen, wütenden Bewegungen zu. Das war nicht die Matilda, die er gewohnt war. „Ich weiß, dass mein Vater diese Verfügung in seinem Testament oder wo auch immer festgesetzt hat, aber ich habe nicht vor, mich daran zu halten. Kein Gericht auf der Welt würde mich dazu zwingen, und wer würde mich schon verklagen, nur weil ich Single bin?“ Wütend sah sie ihn an. „Du etwa?“

„Es ist das, was dein Vater wollte, also wird es auch so gemacht.“

„Aber er ist nicht mehr bei uns, oder?“

Javier wollte sich über Matilda ärgern, doch er hörte die Trauer in ihrem Tonfall, also bemühte er sich um Geduld, die Ewan stets als Tugend bezeichnet hatte, ihn jedoch nur schwer aufbrachte.

„Er hat sich in dieser Angelegenheit auf mich verlassen, Matilda. Es tut mir leid, dass ich deine Meinung hierzu nicht gelten lassen kann. Dein Vater wollte, dass du heiratest, also wirst du es tun. Aber habe keine Angst, ich werde dir helfen.“

„Aber natürlich nicht, indem du mich heiratest. Zu viele Gespielinnen in ganz Europa, richtig?“

„Ganz genau.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das die meisten Frauen zum Erröten gebracht hätte oder dazu, sich sofort zu entkleiden.

Matilda tat nichts von beidem. „Ich möchte nicht verheiratet werden. Und selbst wenn, wäre es unmöglich zu sagen, ob mein zukünftiger Mann mich liebt oder mein Geld.“

„Nicht alle Männer sind wie Pietro“, sagte Javier mit der begrenzten Sanftheit, die ihm zur Verfügung stand.

„Sprich seinen Namen nicht in meinem Haus aus.“ Matilda klang eher verletzt als wütend. Javier hatte nie verstanden, warum sie nicht mit mehr Zorn auf den Eklat reagiert und mehr Kampfgeist gezeigt hatte.

Ihm gegenüber schien sie ihn jedenfalls zu haben.

„Wir fliegen nach Spanien. Ich finde einen Mann für dich, der es nicht auf dein Geld abgesehen hat.“

„Du kannst mich nicht einfach nach Spanien verfrachten und erwarten, dass ich in sechs Monaten die große Liebe finde.“

Javier jedoch war der Ansicht, dass Matilda eher einen guten Partner brauchte als die große Liebe. Jemanden, in dem der Anblick des Cottages kein Entsetzen auslöste.

Ewan hatte Javiers Mutter auch nicht geliebt, auch wenn er sie gerettet hatte. Die beiden hatte Freundschaft verbunden, nicht Leidenschaft. Deshalb hatte seine Mutter ja auch so lange gezögert, Ewan zu heiraten. Der Liebe hatte sie nicht über den Weg getraut, denn Liebe war es gewesen, die Javiers Kindheit zur Hölle gemacht hatte.

Doch darüber würde Javier jetzt nicht philosophieren, denn er hatte ein konkretes Ziel. „Vielleicht nicht, aber wenn du hier weiter die Einsiedlerin spielst, findest du sie auch nicht.“

„Ich bin keine Einsiedlerin, sondern Botanikerin.“

„In Spanien habe ich einen großen Garten. Du kannst dich dort mit Botanik beschäftigen. Während du auf der Suche nach einem Ehemann bist.“

Matilda verdrehte die Augen, dann schloss sie sie. Sie holte tief Luft, die sie langsam wieder ausstieß. Als sie die Augen wieder öffnete, berührte ihn deren einzigartiges Farbe auf eigentümliche Weise. Er tat es als Frustration darüber ab, dass sie die Lage komplizierter als nötig machte.

In Matildas Nähe war es immer Frustration, die er verspürte, denn etwas anderes durfte es nicht sein. Selbstbeherrschung. Darin war niemand besser als Javier Alatorre.

„Javier, ich weiß es zu würdigen, dass du dir trotz der vielen Arbeit, die die Leitung des Unternehmens meines Vaters mit sich bringt, und deiner vielen Affären in ganz Europa die Zeit genommen hast, hierherzukommen. Aber ich bin völlig zufrieden damit, einfach hierzubleiben. Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu heiraten, und obwohl ich mich sehr darüber freue, wie ernst es dir mit dem letzten Willen meines Vaters ist, muss ich doch sagen, dass er, sosehr ich ihn auch geliebt habe und vermisse, nicht perfekt war. Die Bedingung in seinem Testament ist falsch. Sollte ich jemals heiraten, dann wann ich möchte und wen ich möchte. Weil es mein freier Wille ist.“

Javier seufzte. Schon vor Jahren hatte Matildas Vater ihm beigebracht, das Temperament unter Kontrolle zu halten, das sein monströser leiblicher Vater ihm vererbt hatte. Den schwelenden Zorn in ihm, das Monster, nicht herauszulassen.

Aber Matilda stellte ihn auf eine harte Probe. Am liebsten würde er sie anbrüllen. Ihre bunten Blumentöpfe an die Wand werfen, sodass sie in tausend Splitter zersprangen.

Doch er gab den Impulsen, die er seinem gewalttätigen leiblichen Vater verdankte, nicht nach. Niemals würde er Matilda einem solchen Grauen aussetzen. Das war der Grund, warum er sie sich Tausende Meilen weg wünschte.

In den kommenden sechs Monaten musste er alle Selbstbeherrschung, all seine Geduld aufbringen. Denn er durfte Ewan nicht enttäuschen. Also holte er tief Luft und lächelte.

„Leider täuschst du dich, Matilda. Du hast keinen freien Willen.“

Seit acht Jahren musste Matilda jetzt schon ohne ihren Vater leben, und sie vermisste ihn noch immer schmerzlich. Doch das bedeutete nicht, dass sie ihn nicht auch verfluchte wegen dem, was er ihr angetan hatte.

Javier Alatorre als Vormund zu haben, der stets drohend über ihr schwebte, war nie besonders angenehm gewesen, aber in diesem Moment hasste sie ihn. Die meiste Zeit hatte er sie in Ruhe gelassen. Nur während ihres Studiums in Barcelona hatten ihre Wege sich öfter gekreuzt, doch damals war sie immer in Begleitung von Pietro gewesen. Und das hatte ihr irgendwie ein Gefühl der Sicherheit gegeben.

Nicht dass sie in Javiers Nähe nicht sicher wäre. Aber immer angespannt. Denn sie wusste nie, wo sie bei ihm stand. Er konnte so … undurchsichtig sein.

Doch das spielte keine Rolle, weder früher noch heute. Auf den Trümmern ihres damaligen Lebens hatte sie sich ein neues aufgebaut. Sie war nicht mehr die Frau, der man das Herz gebrochen hatte und deren Gesicht auf der Titelseite jedes Klatschblattes zu sehen gewesen war.

Sie hatte sich in das Studium ihrer geliebten Pflanzen gestürzt, um sich ein Leben zu schaffen, das sie glücklich und für die Öffentlichkeit unsichtbar machte.

Vielleicht hatte sie der Umstand, dass sie den Kontakt zu ihren Freundinnen von früher abgebrochen hatte und seit drei Jahren mehr oder weniger nur noch mit ihrer Stiefmutter Elena kommunizierte, dafür gesorgt, dass sie ein wenig einsam war. Aber daran würde auch eine lachhafte, von Javier eingefädelte Ehe nichts ändern.

Sie musterte ihn über die bis zum Rand mit Pflanzen vollgestellte Arbeitsplatte hinweg. Bei manchen handelte es sich um Experimente, andere hielt sie nur aus Freude daran. Es faszinierte sie, wie sie wuchsen, was sie brauchten, um zu wachsen. Und was sie letztendlich tötete.

Und inmitten all diesem Grün und dem Wachstum und in ihrem Cottage stand der Mann, den ihr Vater mit viel zu viel Macht über sie ausgestattet hatte.

Elena wäre die bessere Wahl gewesen. Mattie hatte ihren Vater nie für einen Chauvinisten gehalten, aber dass er Javier zu ihrem Vormund gemacht und ihm alle Entscheidungsgewalt über ihre Finanzen und Zukunft übertragen hatte, roch doch sehr nach Frauenfeindlichkeit.

Jetzt war Javier hier und tat so, als könnte er alles entscheiden. War mit seinen breiten Schultern und den fesselnden dunklen Augen in ihren Raum eingedrungen.

Er hatte schon immer gut ausgesehen, auch als er ein wütender junger Mann gewesen war. Doch da lauerte etwas unter dem guten Aussehen und all dem Charme, den einzusetzen er sehr erfolgreich gelernt hatte.

Eine gefährliche Unterströmung. Etwas Bedrohliches … Sie konnte selbst nicht sagen, warum, aber sie hatte immer schon gewusst, dass es besser war, sich von ihm fernzuhalten oder zumindest eine Art Puffer zu haben wie Pietro oder Elena.

Bis jetzt war ihr das wunderbar gelungen.

Doch nun forderte er von ihr, mit ihm nach Spanien zu kommen. Damit er sie herumzeigen konnte wie eine preisgekrönte Kuh.

„Und wie gedenkst du mich nach Spanien zu kriegen, Javier? Unter Zwang?“

„Wie bitte?“

„Ich möchte hier nicht weg. Du sagst, ich hätte keinen freien Willen. Wie willst du mir diesen Willen nehmen? Wie willst du mich dazu zwingen, etwas zu tun, das ich nicht tun will? Wie willst du – sowohl rechtlich als auch ethisch – bestimmen, wen ich heirate? Hast du verborgene Marionettenspieler-Fähigkeiten, die es so aussehen lassen, als sagte ich Ich will zu dem Mann, den du ausgesucht hast? Kannst du mich hypnotisieren und so dazu bewegen, vor den Altar zu treten?“

Sein Blick war kühl, seine Miene ausdruckslos, bis auf den schmalen Mund. Er trug eine Maske gelangweilter Indifferenz, aber er war hier. Er akzeptierte kein Nein. Also war es keine Indifferenz.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du früher so dramatisch warst. Die Einsamkeit bekommt dir nicht.“

„Im Gegenteil. In der Einsamkeit habe ich zu mir selbst gefunden. Ich verdanke ihr alles. Und ich glaube nicht, dass eine Ehe mir irgendetwas geben könnte. Ich weigere mich, Javier. Ich werde nicht mit dir nach Spanien fliegen. Ich werde mir keinen Mann suchen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag mit einem Pfarrer auftauchst und verlangst, dass ich dich heirate. Wir befinden uns also in einer Sackgasse.“

Jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, wurde sie das Bild nicht mehr los. Javier, der sie heiratete. Der mit ihr inmitten all der Pflanzen in ihrem Cottage lebte. Die gefährliche Energie, die er ausstrahlte, selbst wenn er vorgab, völlig entspannt zu sein und nur zu ihrem eigenen Besten zu handeln, würde sie beide verbrennen.

Nicht dass es jemals so weit kommen würde. Javier mochte vielleicht das Andenken an ihren Vater ehren, aber jemanden wie sie würde er niemals heiraten.

Und darum war das alles hier reine Zeitverschwendung. Das würde er sicher einsehen und gehen.

„Möchtest du zum Abendessen bleiben?“, fragte sie in der Hoffnung, dass die Aussicht auf etwas so Heimeliges und Gemütliches – Zustände, die er laut seiner Mutter hasste – ihn in die Flucht schlagen würde.

Da stand er, mit eiskaltem Gesichtsausdruck und gleichzeitig einer so heißen und zornigen Ausstrahlung, die nur ihrer Fantasie entspringen konnte.

Er sprach leise und harsch. „Wenn du es nicht tust, Matilda, streiche ich dir alle Gelder. Auch deine Anteile an WB Industries. Dann hast du nichts mehr.“

Einige Sekunden lang starrte sie ihn einfach nur an. Sie war wie betäubt. Das war vermutlich der Schock. Die Wut würde sich später einstellen, aber im Moment war Matilda dafür noch zu überrumpelt. Denn Javier vergaß einen wichtigen Teil der Bestimmung ihres Vaters.

„Das Testament besagt, dass du mich heiraten musst, wenn ich an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag noch ledig bin. Du kannst mir nicht einfach die Mittel streichen, Javier. Du wirst mich heiraten müssen.“

Doch er schüttelte den Kopf. Weil er glaubte, er hätte das Sagen. Weil er glaubte, nicht sie würde über ihr Leben bestimmen, sondern er.

„Du hast eine Stunde zum Packen, Matilda.“

2. KAPITEL

Javier war kein Freund von Drohungen, doch allmählich verlor er die Geduld. Wenn diese Frau den Willen ihres Vaters missachtete, konnte er auch ungemütlich werden. Sie würde das vielleicht unfair finden, er aber nicht.

Würde Ewan ein solches Vorgehen gutheißen? Javier wusste es nicht. Aber es war auch nie sein Ziel gewesen, genau wie Ewan zu sein. Der hatte ihm beigebracht, man selbst zu sein und die eigene Stärke zu nutzen, um ein Imperium zu führen.

Und seine Tochter zu beschützen.

Die in ihrer winzigen Küche vor Wut schäumte, mit verschlammten Anziehsachen und unordentlich. Und überraschend widerborstig.

„Ich kann die Stoppuhr einschalten, wenn nötig.“

Sie verengte die beeindruckend blauen Augen. Diese Version von Matilda kannte er nicht, doch das war unerheblich.

„Du kannst zur Hölle fahren“, schnaubte sie und stürmte an ihm vorbei in ein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

„Das ist kein besonders reifes Verhalten, Matilda!“, rief er ihr hinterher.

Durch die Tür hindurch hörte er ein Geräusch. Hoffentlich hatte sie mit dem Packen begonnen. Ihm war egal, ob sie dazu Lust hatte, solange sie es einfach tat.

Ihre Reaktion hatte ihn tatsächlich überrascht. Zwar hatte er nicht erwartet, dass sie vor lauter Freude Luftsprünge machen würde, aber geglaubt, sie würde die Notwendigkeit der Heirat akzeptieren.

Stattdessen schien sie diese Vorstellung für einen Witz zu halten. Für etwas, das sie nicht tun musste, weil kein Gericht sie dazu zwingen würde. Nun, da hatte sie recht, aber er würde Ewan nicht enttäuschen.

Javier fand seinen Vorschlag nur fair, denn schließlich konnte sie sich ihren zukünftigen Ehemann selber aussuchen, wenn auch nicht zu dem Zeitpunkt, der ihr vorschwebte. Sie war diejenige, die sich unvernünftig verhielt, und sie würde mitspielen und ihre kleinen unerwarteten Revolten unterlassen müssen.

Apropos Revolte: In dem kleinen Zimmer war es seit geraumer Zeit verdächtig still.

Javier versuchte, sich den Grundriss des Cottages vorzustellen, und seufzte. Gedanklich wappnete er sich gegen die Kälte und trat vor die Haustür.

Es überraschte ihn kaum, dass er Matilda dabei ertappte, wie sie auf der Rückseite des Cottages durch ein Fenster kletterte. Sie hatte sich umgezogen. Zwar trug sie noch immer langweilig braune, unförmige Kleidung, die gut zum Wandern geeignet schien, doch wenigstens war sie sauber. Genau wie die Stiefel. Ihr wildes Haar hatte sie unter eine Kappe geschoben. Sie sah aus wie ein Straßenkind aus längst vergangenen Zeiten.

Vor allem, als sie sich umdrehte und Javier böse ansah. In einer Hand hielt sie einen Beutel, in der anderen ein Taschenmesser.

Er hob eine Augenbraue. „Was hast du vor? Willst du mich abstechen?“

Sie hob das Kinn, aber es war offensichtlich, dass sie sich körperlich noch nie hatte verteidigen müssen, denn sie hielt das Messer zu ungeschickt, als dass es bedrohlich wirkte. Das wusste keiner besser als er.

„Vielleicht.“

„Du schaffts es nicht einmal, einer Fliege etwas zuleide zu tun, Matilda.“

„Fliegen versuchen ja auch nicht, mein Leben zu ruinieren.“

„Die Einsamkeit ist dir nicht bekommen. Du spielst dich auf wie in einem Drama, überhaupt nicht wie du selbst.“

„Doch, vielleicht bin das genau ich.“

„Wie schade. Früher warst du viel heiratsfähiger.“

„Mein Ziel ist es aber nicht, heiratsfähig zu sein, sondern glücklich.“

Etwas an dem Wort glücklich versetzte ihn in Rage, doch er war kein Mensch, der sich seiner Wut hingab. Jedenfalls nicht mehr. Das verdankte er Ewan Willoughby. „Wärst du nicht viel glücklicher, wenn du den letzten Willen deines Vaters erfülltest? Ich jedenfalls wäre es. Hör jetzt auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Wenn du nicht mehr Gepäck mit nach Spanien nehmen möchtest, ist das deine Sache. Du hast genug Geld, dir zu kaufen, was du brauchst. Gehen wir.“

„Das ist doch Wahnsinn, Javier. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, aber wenn du auch nur einen Funken Verstand hättest und einfach …“

Er trat auf sie zu. Sie hob das Messer, wusste aber nicht, wie man es hielt, um damit Schaden anzurichten. Sie hatte wirklich das Leben einer verwöhnten und behüteten Prinzessin genossen. Hatte keine Ahnung, was nötig war, um sich vor einem Angriff zu schützen.

Was ihn noch wütender machte. Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen, doch er hielt die Hände bei sich, als er sich zu ihr vorbeugte.

„Dein Vater hat mir in gewisser Weise das Leben gerettet, Matilda.“ Jedes Wort klang wie eine Drohung. „Ihm verdanke ich, dass ich heute bin, wer ich bin. Also werde ich nicht einfach gehen. Ich lasse die Sache nicht auf sich beruhen. Ich werde einen Weg finden, dich zu verheiraten. Dabei kannst du ein Wörtchen mitreden oder ich suche selber jemanden für dich aus, ohne dein Zutun. Ich werde nicht ruhen, ehe du nicht verheiratet bist. Ist das klar?“

Ihre Augen waren groß geworden, aber sie war nicht vor ihm zurückgewichen, versuchte nicht, vor ihm wegzulaufen, wie er es beinahe erwartet hatte, wenn ihre Augen auch verdächtig schimmerten.

„Ich weiß, dass du ihn sehr geliebt hast“, sagte sie mit rauer Stimme. „Genau wie ich. Aber dass er mir das hier angetan hat, war falsch von ihm.“ Ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie biss darauf. 

Autor

Lorraine Hall
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