Vier griechische Ärzte zum Verlieben (4-teilige Serie)

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NUR EIN BLICK IN DEINE AUGEN?
Beim Blick in Dr. Nikolaides’ meergrüne Augen schmilzt Cailey ungewollt dahin. Doch sie ist für einen Hilfseinsatz nach Mythelios zurückgekehrt, nicht, damit der reiche Arzt ihr erneut das Herz bricht. Denn sie weiß: Als Tochter der Haushälterin wird sie nie gut genug für ihn sein!

GEHEIMNIS UNTER GRIECHISCHER SONNE
Bei einem Hilfseinsatz in Griechenland begegnet Dr. Lea Risi dem faszinierenden Chirurgen Deakin Patera. Obwohl sie spürt, dass ihn ein dunkles Geheimnis umgibt, verzehrt sie sich immer mehr nach seinen Küssen. Doch wie kann sie die Mauer um sein Herz überwinden?

DIE HEILENDEN KÜSSE DES GRIECHISCHEN ARZTES
Ein Erdbeben erschüttert Mythelios: Die schöne Ärztin Erianthe will den Menschen auf der griechischen Insel helfen - und läuft Dr. Ares Xenakis in die Arme! Das Wiedersehen mit ihm reißt eine tiefe Wunde in ihrem Herzen auf. Kann Ares sie mit zärtlichen Küssen endlich heilen?

HILFSEINSATZ FÜR DIE LIEBE
"Naomi? Was tust du hier?" Dr. Christos Moustakas’ Herz schlägt höher, als seine Ex Naomi bei einem Hilfseinsatz in Griechenland auftaucht. Insgeheim verzehrt er sich mehr denn je nach der schönen Ärztin. Doch er weiß, dass er ihr nicht bieten kann, was sie ersehnt …


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717674
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Annie O'neil, Tina Beckett, Amalie Berlin, Amy Ruttan

Vier griechische Ärzte zum Verlieben (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Nur ein Blick in deine Augen … erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2018 by Annie O’Neil
Originaltitel: „One Night with Dr Nikolaides“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 125 - 2019 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Susanne Albrecht

Umschlagsmotive: monkeybusinessimages / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717735

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Theo sah den Materialwagen an der Untersuchungsliege vorbeirollen. Das Ächzen und Quietschen von Beton gegen Stahl ließ bei ihm alle Alarmglocken schrillen.

Als er nicht imstande war, die feine Nadel, nach der er greifen wollte, zu fassen zu bekommen, wusste er, was los war.

„Hoch mit dir!“ Er zog den kleinen Jungen, den er gerade behandelte, von der Liege an seine Brust. Dabei achtete er darauf, das frisch genähte Knie des Jungen nicht anzustoßen. „Du auch.“ Er winkte die Mutter des Kleinen heran, damit sie sich unter den Türrahmen stellte. Theo war froh über den modernen, verstärkten Stahlbetonrahmen, den sie für die Klinik gewählt hatten.

Die Frau war wie gelähmt vor Angst. Theo musste sie an sich ziehen, da dies der sicherste Ort im Gebäude war. Erdbeben kamen auf den griechischen Inseln eigentlich eher selten vor, doch diese Inselgruppe hatte in den vergangenen Jahren leider schon mehrere Erdbeben erlebt.

„Ich weiß, wie erschreckend das ist, aber du musst hierbleiben!“ Er hielt die junge Frau fest, die er noch von der Schule her kannte. „Alida, bitte.“

Er verstärkte seinen Griff, wobei er gegen einen Hustenreiz ankämpfte. Kalkhaltige Gipswolken traten durch das Schwanken der Wände aus der Trockenmauer.

„Die Klinik ist der sicherste Ort auf der Insel.“ Seine Stimme klang schroffer als beabsichtigt. Bisher hatte die Klinik noch nie einem echten Erdbeben standhalten müssen. Doch während die Sekunden zu Minuten wurden, wusste Theo, dass der Deal, den er mit seinem Vater gemacht hatte, richtig gewesen war. Stolz gegen Geld.

„Was ist los?“

Er hielt Mutter und Sohn fest in seinen Armen. Der Kleine klammerte sich an Theos Schultern und jammerte leise.

Alida wollte ihren Sohn nehmen und weglaufen. Vermutlich ein ganz natürlicher Instinkt, um das Leben des eigenen Kindes zu schützen.

Theos Lippen wurden schmal. Eine solche Kindheit hatte er nie gekannt.

Er hörte die Wellen hinter der Klinik hoch gegen die Felsen schlagen. Der befestigte Landungssteg musste längst nicht mehr zu sehen sein. Die normale, ruhige Betriebsamkeit in der Klinik war einem Durcheinander an Rufen, strikten Anweisungen, klingelnden Telefonen und Alarmsirenen gewichen.

Im Stillen dankte Theo dem Himmel für das Notfalltraining, das alle Mitarbeiter hatten absolvieren müssen. Er und die anderen – seine Brüder, wie er sie nannte –, wollten, dass niemand unnötige Schmerzen litt oder Angst hatte, wenn sie in die gemeinnützige Klinik von Mythelios kamen. Seine besten Freunde. Die, die für ihn einer Familie am nächsten kamen, nachdem sich seine eigene als eine bloße Illusion herausgestellt hatte.

Theo musste sie so schnell wie möglich anrufen. Diesmal wurde jeder von ihnen hier gebraucht. Falls er sie überhaupt erreichen konnte.

Ares war meistens im schlimmsten Drecksloch der Welt, wo er sein Bestes gab, um die Notleidenden dort medizinisch zu versorgen. Als Brandwundenspezialist war Deakin weltweit gefragt. Wer wusste schon, wo er sich gerade aufhielt. Und Chris, den Neurochirurgen, konnte man normalerweise in New York ausfindig machen. Falls er sich denn finden lassen wollte, was oft genug nicht der Fall war.

Für den verrückten Kalender mit Fotos einheimischer Männer, der dazu dienen sollte, Spenden zu sammeln, hatte er jedoch gerne posiert. Hoppla! Theo sah, wie genau jener Kalender durch den Raum flog und hinter dem Anmeldetresen zu Boden glitt. In diesem Monat war er selbst darauf abgebildet. Also kein großer Verlust.

Wieder versuchte Alida, ihm ihren Sohn zu entreißen und zu flüchten. „Das dauert schon viel zu lange!“

„Es ist gleich vorbei“, antwortete er beruhigend. Als ob er das so genau wüsste. Auf der Insel hatte es zwar schon einige kleinere Erschütterungen gegeben, aber noch nie so etwas wie das hier.

Obwohl Alida sich verzweifelt gegen ihn sträubte, ließ Theo sie nicht los. Hier ging es um die Patienten in seiner Klinik. Von dem Moment an, wenn sie durch den von Bougainvillea überwachsenen Eingang kamen, trug er die Verantwortung für sie. Auch wenn es endlos erschien, waren bisher vermutlich nur ein bis zwei Minuten vergangen. Doch jeder Moment davon hatte die Insel bis ins Mark getroffen.

Eine Frau schrie vor Schmerzen auf.

„Stellt euch in die Türrahmen!“, rief Theo, der mit seinen großen Händen Alidas Kopf und den ihres Sohnes abzuschirmen versuchte. Dass er die Situation nicht kontrollieren konnte, machte ihm schwer zu schaffen. Am liebsten hätte er seinen Frust laut herausgebrüllt.

„Ist es vorbei?“ Alidas Stimme war in dem allgemeinen Stimmenchaos kaum zu hören.

Theo schüttelte den Kopf. Wann würden die Nachbeben beginnen? Sofort? Am nächsten Tag? Das war die Grausamkeit der Natur. Man wusste es einfach nicht.

Genauso wenig konnte man wissen, ob die Eltern, die einen in die Welt gesetzt hatten, sich so beschützend verhalten würden wie Alida, oder einen im Stich ließen, so, wie seine es getan hatten.

Energisch verbannte er diese Gedanken. Die Leute hier im Krankenhaus brauchten ihn jetzt.

Laut rief Theo seine Anweisungen. Obwohl es sich um eine kleine Klinik handelte, waren bestimmt fünfzig Personen anwesend. Ärzte, Pflegepersonal, ambulante Patienten und einige ältere stationäre Patienten.

Wieder ertönte das Krachen der hohen Wellen und das Geheul der Erde, die gegen die von Menschen gemachten Gebäude kämpfte.

Bitte verschone die Klinik.

Er verstärkte seinen Griff um Mutter und Kind. Er fragte sich flüchtig, wie es wohl wäre, in einem solchen Moment seine eigene Frau und sein Kind in den Armen zu halten.

Ein weiteres Beben ließ den Boden unter ihnen schwanken und verscheuchte alle derartigen Gedanken. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben.

Theós. Bitte verschone uns.

2. KAPITEL

Falten, falten und feststecken.

Genau so, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte.

Perfekt.

Zufrieden mit ihrem Werk, lächelte Cailey, drückte einen Kuss auf ihren Zeigefinger und tippte ihn auf das Näschen des Babys. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter sie umarmte, um ihr zu gratulieren, ehe sie einen großen Teller Souvláki hervorholte, um mit ihr zusammen zu essen. Oder Bougatsa oder was sie sonst in ihrer winzigen Küche gerade Leckeres gezaubert hatte.

Mit dem Finger strich sie dem Säugling zart über das Gesichtchen. „Schau dich nur an, meine Kleine. So perfekt. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, auf das du dich freuen kannst. Und keine bösen griechischen Jungs, die dir das Herz brechen. Das ist meine Lektion für dich. Keine Griechen.“

„Versuchst du wieder, den Babys eine Gehirnwäsche zu verpassen?“

Cailey schaute auf, überrascht, weil sie nicht einmal gemerkt hatte, dass ihre Kollegin Emily in das Säuglingszimmer gekommen war. Je mehr Zeit sie mit den Kleinen verbrachte, desto mehr schien sie sich offenbar im Wolkenkuckucksheim zu verlieren!

„Ja.“ Sie lachte, ehe sie sich wieder dem Baby zuwandte und ihm mit ernsthafter Miene riet: „Keine Griechen. Und keine Ärzte.“

„Hey!“ Spielerisch knuffte Emily sie in die Rippen. „Ich habe gerade angefangen, einen Arzt zu daten, und ich gebe zu, dass es einen sehr angenehmen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet.“

„Was ist denn bitte falsch daran, Krankenschwester zu sein?“

„Gar nichts.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem scharfsinnigen Blick sah Emily sie an. „Mir scheint, da ist wohl jemandem von einem griechischen Arzt das Herz gebrochen worden.“

„Pffft.“

Emily lachte. „Alles klar.“ Sie ging zu einem der Bettchen und hob einen quengelnden Säugling heraus. „Na, komm schon. Raus damit. Wer war der große, böse griechische Arzt, der unserer hübschen Cailey das Herz gebrochen hat?“

„Niemand.“

„Lügnerin“, gab Emily lachend zurück.

Cailey zuckte nur die Achseln. Vielleicht war sie eine Lügnerin, aber dass sie ihre Heimatstadt, ihre Insel und ihr altmodisches Land verlassen hatte, um nach London zu gehen, hatte nur einen einzigen Grund gehabt. Nämlich, um einen ganz bestimmten Adonis mit kastanienbraunen Haaren und sehr grünen Augen zu vergessen.

Sie hob das frisch gewickelte Baby hoch, das in eine weiche, rosa gestreifte Decke gehüllt war, und drückte ihre Nase an sein Bäuchlein. Mmm, frischer Babyduft.

Cailey liebte ihren Beruf als Säuglingsschwester. Aber anstatt ihren Wunsch nach einem eigenen Kind zu mildern, schien dieser dadurch nur noch stärker zu werden.

Mit siebenundzwanzig war sie noch nicht zu alt, und Theo war auch nicht der einzige Mann auf der Welt. Jedenfalls ganz sicher nicht der Richtige für sie.

„Cailey?“ Heidi, die Stationsschwester, kam herein. „Entschuldige, wenn ich störe, aber ich dachte, du würdest das hier gerne sehen.“ Sie zeigte in Richtung Flur.

Cailey gab der kleinen Beatrice noch ein Küsschen, ehe sie sie in ihr Bettchen zurücklegte und Heidi in den Aufenthaltsraum folgte. Der Fernseher, der dort in einer Ecke stand, war eingeschaltet.

Ein Nachrichtenkanal. Der Lauftext am unteren Bildrand zeigte viele Zahlen. Todesfälle? Cailey blickte auf den Bildschirm. Da waren Gebäude, die sie kannte. Aber anders als sonst.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Emily ebenfalls hereinkam und nach der Fernbedienung griff, um den Ton lauter zu stellen. Zuerst konnte Cailey die Worte auf Englisch und die Bilder aus Griechenland nicht zusammenbringen.

„Ist das nicht deine Insel?“, fragte Emily. „Mythelios?“

Cailey nickte langsam, während sie allmählich begriff, was passiert war.

Ein Erdbeben. Tote. Rettungsaktionen.

Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Von den Bildern der Zerstörung wurde umgeschaltet zu einem Live-Interview, das im abendlichen Licht vor der Klinik geführt wurde.

Natürlich war er es. Wer sonst?

Dort in Großaufnahme und noch atemberaubender, als sie ihn in Erinnerung hatte, stand Dr. Theo Nikolaides, der alle medizinisch ausgebildeten Fachkräfte darum bat, in dieser Zeit der Not nach Griechenland zu kommen und zu helfen.

Cailey bemühte sich, seine Bitte nicht als arroganten Aufruf an die kleinen Leute aufzufassen, die kommen und die Drecksarbeit machen sollten, während er den Ruhm dafür einheimste. Nein, dies war eine Notsituation, und alle Hände wurden gebraucht. Egal, ob reich oder arm.

Sie blickte auf ihre eigenen Hände, ihre Finger, die das Arbeiten gewohnt waren.

„Cailey?“ Heidi berührte sie am Arm. „Alles in Ordnung mit dir?“

Nach und nach wurde Cailey bewusst, was diese Nachricht bedeutete. Menschen waren verletzt. Vielleicht sogar ihre Mutter. Oder ihre Brüder.

Sie musste dorthin.

Gleichgültig, wie sehr sie Theo verabscheute, wie sehr seine Worte tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen hatten – sie musste nach Hause.

„Mir geht es gut, aber meiner Insel nicht. Ich fürchte, ich brauche jetzt einige Zeit Urlaub.“

3. KAPITEL

Am liebsten wäre Cailey von der Fähre gesprungen und an Land geschwommen. Wegen der Erdbebenschäden an der Landebahn waren alle Flüge nach Mythelios gestrichen worden.

In der Kabine suchte sie Schutz vor dem Wind, nahm das Handy aus ihrer Tasche und wählte eine vertraute Nummer.

„Mama?“

Es knisterte und rauschte, und sie musste sich anstrengen, damit sie bei dem lauten Maschinengeräusch der Fähre überhaupt irgendetwas hörte.

„… Theo gesehen?“, fragte ihre Mutter.

Theo? Wieso fragte ihre Mutter ausgerechnet nach ihm? Cailey war auf die Insel zurückgekommen, um zu helfen, und nicht, um Fragen nach dem Schwarm aus ihrer Teenagerzeit zu beantworten. Es war mittlerweile zehn Jahre her, und doch musste sie sich von anderen Leuten immer noch fragen lassen, ob ihr Herz inzwischen geheilt wäre.

„Mama, wenn bei dir alles in Ordnung ist …“ Sie sprach betont langsam, „… dann gehe ich sofort zur Klinik.“

„Geh … Klinik … Theo … Brüder … kommen klar …“

Cailey starrte auf ihr Handy. Vor ihrem Abflug gestern Abend hatte sie kurz mit ihrer Mutter gesprochen. Daher wusste sie, dass von ihren Brüdern niemand verletzt war und sie sich an den Rettungsarbeiten beteiligten. Ihre Mutter hatte bereits eine Gruppe von Frauen organisiert, die in der Taverna für das leibliche Wohl der Rettungskräfte und der Überlebenden sorgten.

Wie sie immer wieder sagte, gehörte es zu den Aufgaben einer griechischen Mutter, in Krisenzeiten Essen zu kochen.

„Bis bald, Mama! Hab dich lieb“, rief Cailey ins Telefon, ehe sie auflegte.

Danach ging sie zurück an Deck und spähte zur Insel hinüber. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Einzelheiten des kleinen Hafens zu erkennen. Nach den vielen Blinklichtern zu urteilen, sah er eher aus wie eine Baustelle. Düster steckte sie das Handy wieder ein und setzte ihren Rucksack auf.

Die Nachrichten am Flughafen in Athen hatten sehr anschauliche Bilder gezeigt. Das Leben mancher Menschen würde nie mehr so sein wie vorher. Zwei Touristen waren bereits für tot erklärt worden, und es gab zahlreiche Verletzte.

Sobald das Schiff angelegt hatte, zog Cailey die Riemen an ihrem Rucksack fest und rannte los. Damals hatte sie diesen Rucksack wütend mit all den Sachen vollgestopft, von denen sie gehofft hatte, dass sie für das Klima in England geeignet waren.

Einige Gebäude wirkten beinahe unberührt, während andere nur noch ein Schutthaufen waren. Fieberhaft arbeiteten die staubbedeckten Einwohner von Mythelios daran, aus den Überresten ihrer Häuser zu retten, was noch zu retten war. Fensterrahmen, Betonblöcke. Mauersteine.

„Cailey!“

Sie blieb stehen und drehte sich um. Eine nur allzu vertraute Stimme. Kyros! Noch ehe sie den Namen ihres großen Bruders aussprechen konnte, wurde sie bereits gepackt und durch die Luft gewirbelt.

„Cailey mou! Mein kleiner Seestern! Wie geht es dir?“

Trotz der ernsten Lage lachte Cailey. Nie hätte sie gedacht, dass es sich so gut anfühlen würde, den Kosenamen aus ihrer Kindheit zu hören. Oder einfach nur den Geruch der Insel wahrzunehmen, die staubige Brust ihres Bruders und wunderbarerweise sogar auch den Duft nach frisch gebackenem Brot.

Beide blickten über die Straße. Das Einzige, was von der Bäckerei übrig geblieben war, waren die riesigen, uralten, gemauerten Öfen. Unbeirrt davon, dass er jetzt im Freien arbeitete, stand dort der beste Bäcker von Mythelios und holte gerade seine Brotlaibe heraus. Als wäre es das Normalste der Welt, mitten im Schutt seinem Beruf nachzugehen.

Lächelnd sagte Kyros: „Ich freu mich so, dass ich dich getroffen habe. Wir wollen gleich in die Berge rauf, um zu sehen, was wir dort tun können, um den Leuten in den weiter abgelegenen Häusern zu helfen.“ Er drückte sie fest an sich. „Wie geht es der erfolgreichen Karrierefrau in unserer Familie? Wissen die in deinem Londoner Krankenhaus eigentlich, was für ein Glück sie mit dir haben? Und hast du Theo schon gesehen?“

Kyros hielt sie auf Armeslänge von sich ab, um sie prüfend zu betrachten. Cailey bemühte sich, ihr Lächeln nicht zu verlieren. Wieso fragte ihre Familie sie ständig nach Theo? Was sollte das?

Kyros zog die Augenbrauen zusammen. „Du siehst aus, als würdest du da drüben nicht genug zu essen kriegen.“

„Mir geht es gut!“, wehrte sie rasch ab. Sie hatte mehr als genug auf den Rippen und keine Chance, ihre Rundungen im Zaum zu halten. Und wenn sie noch so oft nur wie ein Spatz aß. „In deinem Anzug muss es kochend heiß sein.“

„Du meinst, in dem da?“ Er drehte sich im Kreis. „Steht mir gut, oder?“

„Noch immer ein Angeber, wie ich sehe.“

„Absolut!“, gab Kyros mit einem scherzhaften Augenzwinkern zurück, ehe er rasch ernst wurde. „Aber jetzt sollte ich zeigen, wie gut ich als Rettungshelfer bin. Es werden noch immer mehrere Dutzend Leute vermisst. Hauptsächlich Touristen.“

„Ist es so schlimm, wie in den Nachrichten berichtet wird?“

Er nickte. „Noch schlimmer. Je mehr wir graben, desto mehr Todesopfer finden wir. Und es gibt viele Verletzte.“ Mit einem Nicken wies er die Straße entlang. „Die Klinik platzte aus allen Nähten, als ich das letzte Mal da war. Hast du schon mit Theo gesprochen?“

Cailey ignorierte die Frage. „Wie geht es Leon? Ich wollte Mama fragen, aber die Verbindung war zu schlecht.“

Sie brach ab, da ein sehr großer, sehr luxuriöser Geländewagen direkt neben ihnen anhielt. Das hintere Fenster wurde heruntergelassen, dann sah sie einen Mann mit silbergrauem Haar und eiskalten blauen Augen.

Du liebe Güte. Theos Vater war in den vergangenen Jahren erheblich gealtert. Einer der mächtigsten Männer der Insel war nicht imstande gewesen, die Zeit aufzuhalten.

Vermutlich das Einzige, was Dimitri Nikolaides nicht kann, dachte Cailey voller Bitterkeit.

„Ah, Miss Tomaras. Wie … interessant, Sie wieder hier zu sehen.“

Eissplitter schienen sie zu durchbohren, während sie sich an den Tag erinnerte, als er ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, was er und der Rest seiner Familie von ihr hielten.

Nichts als ein einfaches Hausmädchen. Mehr wird aus dir niemals werden.

Kyros lehnte sich über ihre Schulter. „Cailey ist gekommen, um hier zu helfen, Mr. Nikolaides. Sie ist jetzt eine erstklassige Krankenschwester.“

„Ach ja?“ Ein gönnerhaftes Lächeln erschien auf der Miene des alten Mannes. „Sie wollen zur Klinik?“

„Um dort auszuhelfen, ja.“

Obwohl er sich benahm, als würde ihm die Insel gehören, war dies natürlich nicht der Fall. Doch trotz ihres beruflichen Erfolgs gab es einen Teil von Cailey, der noch immer fürchtete, nicht gut genug, nicht intelligent genug, nicht begabt genug zu sein, um nach Hause zu kommen und irgendetwas anderes zu tun, als nur das Schicksal zu erfüllen, das Dimitri Nikolaides ihr vorhergesagt hatte.

„Bestimmt können Sie sich in irgendeiner Ecke nützlich machen. Es gibt ja jede Menge Schürfwunden und Kratzer, die behandelt werden müssen.“ Abschätzend maß Mr. Nikolaides sie mit Blicken, als würde er ein Rennpferd beurteilen.

Na ja, wohl eher ein Arbeitspferd. So betrachtete er ihre Familie, und das würde sich auch niemals ändern. Caileys Rücken versteifte sich, während sie sich mühsam zu einem Lächeln zwang.

„Entbindungsstation, nicht wahr?“

„Wie bitte?“

„Ich habe gehört, dass Sie anderen Frauen mit ihren Kindern helfen. Wie nett.“

Von den Frauen auf Mythelios wurde nichts anderes erwartet. Kochen, sauber machen, unterwürfig sein. Manchmal fragte Cailey sich, ob auf der Insel noch niemand gemerkt hatte, dass inzwischen das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen war. Eine Zeit, in der es Frauen gestattet war, intelligent zu sein, eine eigene Meinung zu haben und zu lieben, wen immer sie wollten.

Sie betrachtete die tiefen Linien und Falten im Gesicht des alten Mannes. Was hatte ihn so boshaft und gemein gemacht?

Nachdem er sie endlich von der Insel vertrieben hatte, hätte er doch eigentlich alles gehabt, was er wollte. Einen Sohn, den er mit den schönsten Erbinnen der Welt verheiraten konnte, die Tochter an einer medizinischen Elite-Universität. Zweifellos wusste er auch genau, wen diese heiraten würde. Die Tochter seiner Haushälterin war ja nun glücklicherweise von der Bildfläche verschwunden, sodass sie weder den Freundeskreis seiner Tochter besudeln noch die romantische Zukunft seines Sohnes gefährden konnte.

Cailey lächelte höflich. „Meine Familie engagiert sich überall dort, wo Hilfe nötig ist. Leons Polizeitruppe ist gerade unterwegs, um Menschenleben zu retten.“

„Sie dagegen wirken nicht allzu beschäftigt“, bemerkte Mr. Nikolaides, bevor er sich an Kyros wandte. „Und Ihre Mutter? Tut sie irgendwas, oder genießt sie nur ihr Rentnerdasein?“

Empört schnappte Cailey nach Luft. Ihre Mutter hatte sich ihr Gehalt auf dem Nikolaides-Anwesen redlich verdient, ebenso wie ihre Rente. Wieso sagte Kyros nichts dazu? Und warum schien es auch ihr die Sprache verschlagen zu haben?

In London hätte Cailey nie zugelassen, dass jemand so mit ihr sprach. Nicht nach all den Jahren, die sie darauf hingearbeitet hatte, Krankenschwester zu werden. Und ganz sicher nicht, nachdem sie so viele Jahre woanders gelebt hatte, um den Sohn eines Milliardärs zu schützen. Theo, an dessen Arm sie schon so viele reiche europäische Erbinnen in den Klatschzeitschriften gesehen hatte. Im Krankenhaus-Shop blätterte sie diese Magazine regelmäßig durch.

„Oh ja, Sie kennen uns, Mr. Nikolaides“, stieß sie schließlich gereizt hervor. „Wir von der Tomaras-Familie lieben es, den Dreck anderer Leute wegzuputzen.“

Mr. Nikolaides blinzelte verblüfft, dann lächelte er. „Ja, wir vermissen in der Tat die geschickte Hand Ihrer Mutter in unserem Haus. Ich hoffe, es geht ihr gut?“

„Könnte nicht besser sein“, entgegnete Cailey schroff.

„Mama geht es sehr gut, danke der Nachfrage, Mr. Nikolaides.“ Kyros verstärkte seinen Griff um Caileys Arm. „Aber jetzt müssen wir los. Gut zu sehen, dass Ihnen bei dem Erdbeben nichts zugestoßen ist.“

Damit führte er seine Schwester energisch weg von dem Geländewagen mit den verdunkelten Fensterscheiben. Dieser fuhr nun weiter durch die Trümmer, die überall auf der Hafenstraße verstreut lagen, als hätte einer der alten Götter aus einer Laune heraus Felsbrocken vom Himmel geschleudert.

„Was sollte das denn?“, sagte Kyros finster.

„Ach, nichts.“

Er konnte ja nicht wissen, dass Dimitri ihr damals fast eigenhändig die Koffer gepackt hatte. Er hatte Cailey aufgefordert, das Haus der Nikolaides nie wieder zu betreten – weder als Freundin seiner Tochter Erianthe noch als Haushaltshilfe für ihre Mutter. Und schon gar nicht sollte sie auch nur das Geringste mit Theo zu tun haben, seinem ach so kostbaren Sohn, der angeblich dazu neigte, eine übertriebene Gefühlsduselei für Bedürftige zu entwickeln.

Cailey umarmte ihren Bruder und sagte: „Ich bin bloß müde nach dem Nachtflug. Sobald ich mit der Arbeit anfange, ist alles wieder okay. Und es ist ein komisches Gefühl, die Insel so zu sehen.“

„Ich weiß.“

Sie spürte, wie seine tiefe Stimme in seiner Brust brummte und drückte ihn noch fester an sich. Wenn sie Kyros losließ, musste sie sich dem anderen Dämon von Mythelios stellen. Volle Punktzahl an Dimitri, dass er ihr gerade noch zuvorgekommen war.

Er sah alt aus. Die verbrauchte Art von Alter, die eher von emotionaler als von körperlicher Anstrengung herrührte. Bedeutete das, dass er doch menschlich war, irgendwo da drinnen?

Abgesehen davon hatte er ja nur das ausgesprochen, was Theo und seine Kumpel sowieso dachten. Und wahrscheinlich auch Erianthe, die nicht einmal den Mumm besessen hatte, sich vor der Abreise zu ihrem exklusiven Internat von Cailey zu verabschieden.

Ach, Schluss damit, die Schuld nur bei den anderen zu suchen, schimpfte Cailey mit sich. Schließlich hatte sie jedes Wort von Dimitri Nikolaides geglaubt, weil trotz allem ein Körnchen Wahrheit darin steckte. Sie war tatsächlich nicht so gescheit wie andere. Sie musste doppelt so hart arbeiten, um Dinge zu begreifen. Als sie endlich herausfand, dass sie Legasthenikerin war, hatte ihr das geholfen. Zumindest ein bisschen. Aber dennoch waren die medizinischen Fachbegriffe für sie nicht einfacher zu lernen gewesen. Nein, sie musste den Tatsachen ins Gesicht sehen. Sie entsprach nicht dem hohen Maßstab der Nikolaides. Daran hätte auch ein noch so intensiver Teenager-Flirt nichts geändert.

Eine Sirene ertönte und Rufe wurden laut, als ein Feuerwehrwagen neben ihnen anhielt.

Noch einmal drückte Cailey ihren Bruder an sich. „Fahr da raus und rette ein paar Menschenleben!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Kyros einen Kuss auf beide roten Wangen.

„Das gilt auch für dich, Cailey.“ Er wuschelte ihr durch die ohnehin schon unordentliche Frisur – falls man das Bändigen ihrer wilden Locken mit einem Gummihaarband überhaupt eine Frisur nennen konnte. „Willkommen zu Hause.“

Lächelnd schaute sie ihn an, wobei sie hoffte, dass er ihr nicht anmerkte, wie sehr die Begegnung mit Dimitri Nikolaides sie aufgewühlt hatte. „Es ist schön, wieder hier zu sein.“

„Reicht das?“ Theo wollte so schnell wie möglich wieder zurück an die Arbeit. Ja, die Medien konnten helfen. Nein, er hatte keinen Moment Zeit.

Wie sein Gesichtsausdruck zeigte, hatte der Reporter begriffen, dass die Frage lediglich rhetorisch gemeint war.

Theo löste das Mikrofon von seinem Hemd und ging davon. Die Bitten der übrigen Reporter ignorierte er. Sie sollten lieber die Rettungskräfte bei ihrer schweren Arbeit filmen, während er überlegte, wie er seinen Patienten helfen und auch gleichzeitig dringend benötigte Hubschrauber anfordern konnte, um die schwersten Fälle nach Athen zu fliegen.

Natürlich könnte er seinen Vater anrufen, aber ein solcher Anruf hatte immer seinen Preis.

„Dr. Nikolaides?“

„Tut mir leid, ich habe keine Zeit für weitere Interviews.“

„Nein, ich gehöre nicht zur Presse. Ich bin Ärztin. Lea Risi.“

Er hielt inne und wandte sich um. Die Frau trug Urlaubskleidung, eine Baumwollhose und ein geblümtes Top. Ihr Akzent war nicht von hier, doch sie sprach fehlerloses Griechisch. Sehr nützlich in Anbetracht der vielen Touristen und Einheimischen, die in die Klinik strömten.

Eine Sekunde lang bedauerte Theo den Reiz dieses malerischen Hafenstädtchens, das Urlauber aus der ganzen Welt anzog. Wenn die Insel doch nur ein öder Felsbrocken mit einer geringen Bevölkerungszahl wäre …

„Dr. Nikolaides!“ Ein Sanitäter rief ihn aus dem hastig aufgebauten Triage-Bereich neben der Anmeldung.

Er winkte Lea. „Dann kommen Sie doch mit.“

„Wollen Sie denn nichts über meine Qualifikationen wissen?“ Sie musste laufen, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten.

„Eigentlich nicht.“ Theo kämmte sich mit den Fingern durchs Haar, ehe er die schulterlange Mähne mit einem Gummiband zusammenfasste, das er irgendwann im Laufe des Tages eingesteckt hatte. Er wusste nicht mehr genau, wann. Nach sechzehn Stunden Trauma-Arbeit verwischten sich die Einzelheiten.

„Ich bin Psychiaterin.“

Er nickte. Gut. Das hieß, sie besaß eine medizinische Ausbildung. „Wen wollen Sie? Alte oder Junge?“

„Wie bitte?“

„Wir kriegen Patienten von einem Pflegeheim und einer Schule rein. Beide wurden schwer getroffen. Mit unseren begrenzten Kapazitäten werden die Fälle direkt vor Ort eingeschätzt und dann zum Krankenhaus gebracht.“ Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Da Lea versuchte, ihm auszuweichen, verlor sie das Gleichgewicht, doch er hielt sie fest.

„Verzeihen Sie“, sagte er kopfschüttelnd. „Meine Manieren lassen heute sehr zu wünschen übrig.“

„Das verstehe ich vollkommen. Ich möchte bloß helfen.“

Er streckte die Hand aus. „Gut. Hilfe ist genau das, was wir im Augenblick benötigen. Theo Nikolaides.“ Während sie sich die Hände schüttelten, fuhr er fort: „Ich leite die Klinik. Gemeinsam mit einigen Freunden, die auch Ärzte sind.“

War Deakin diesen Monat in Paris oder in Buenos Aires? Christos auf jeden Fall in New York. Und Ares? Wer konnte das schon wissen?

Theo wünschte sich, sie wären alle Piloten. Er brauchte sie hier. Aber sie würden kommen, davon war er überzeugt.

„Schicken Sie mich einfach dahin, wo Sie mich am besten gebrauchen können …“

Lea wollte noch etwas sagen, als sein Blick plötzlich auf eine Frau mit wilden Locken fiel, die sich einen Weg durch die Menge vor dem blütenumrankten Eingang der Klinik bahnte.

Christos!

Es durchzuckte ihn wie ein Blitz.

Was machte Cailey Tomaras hier? Das letzte Mal, als Theo sie gesehen hatte …

„Doktor?“

„Entschuldigen Sie. Ich bin ziemlich fertig.“ Er tippte sich an die Schläfe. „Was sagten Sie, wie war Ihr Name?“

„Leonora Risi. Nennen Sie mich einfach Lea.“

Ihr mitfühlendes Lächeln sprach Bände. Sie wollte helfen, und momentan benötigte er jede Hilfe, die er kriegen konnte. Erneut glitt sein Blick an ihr vorbei. Cailey hatte die Insel verlassen, um Säuglingsschwester zu werden, oder? Schön für sie. Theo wusste, dass sie sich immer für Medizin interessiert hatte.

„Wenn ich lieber mit jemand anderem sprechen soll …“ Lea legte ihm die Hand auf den Arm.

„Nein, bei mir sind Sie richtig. Da ist nur jemand …“ Die ich vor zehn Jahren hätte küssen sollen. Mit der ich ein Date hätte haben sollen. Eine Frau, von der ich gedacht hatte, dass ich sie niemals wiedersehe.

Er blickte auf Leas Füße. Sie trug Riemchensandalen, die für die Arbeit im Krankenhaus nicht besonders geeignet waren. „Sie sind hier auf Urlaub?“

„Das war ich.“ Lea sah zu ihm auf. „Jetzt möchte ich helfen. Ich habe zwar keine Ausrüstung, aber ich hab diese beiden.“ Sie hob ihre Hände und drehte sie hin und her.

„Perfekt. Sehr gut.“ Vollkommen abgelenkt, schaute er wieder an ihr vorbei.

Caileys Gesicht war noch schöner geworden. Ihre Wangenknochen wirkten elegant, und ihre Lippen waren noch immer so unglaublich tiefrot.

War sie endlich nach Hause gekommen?

„Dr. Nikolaides?“, sagte Lea mit entschlossener Miene. „Ganz offensichtlich müssen Sie woandershin. Zwar habe ich schon eine ganze Weile keine Notfallmedizin mehr praktiziert, aber ich bin durchaus imstande, Schnittwunden und Prellungen zu versorgen. Wenn Sie mir die richtige Richtung zeigen, werde ich gleich mit der Arbeit anfangen.“

„Ja, natürlich.“ Energisch rief er sich zur Vernunft. Er war schließlich nicht dazu da, um Geister der Vergangenheit anzustarren. Es gab sehr reale, sehr dringende medizinische Fälle, die seine Hilfe benötigten. Und zwar jetzt sofort.

„Holen Sie sich doch am besten einen Notizblock von Petra“, schlug er vor. „Sie wird Ihnen alles Nötige geben, damit Sie sich durch die Schlange durcharbeiten und die Leute einschätzen können. Ein paar andere Ärzte arbeiten dort hinter dem Bogengang. Es ist alles ziemlich improvisiert, und für Intensivbehandlungen sind wir eigentlich nicht ausgestattet. Ich komme gleich nach. Und wir haben noch ein paar freiwillige Ärzte vom Festland, die sich um die weniger dringenden Fälle kümmern.“

Theo hob den Blick zu dem Oberlicht über ihnen, als ein Helikopter vorbeiflog. „Außerdem einen Rettungshubschrauber. Und wenn wir Glück haben, kriegen wir auch bald noch eine sehr tüchtige Krankenschwester.“

Lea drückte kurz seinen Arm, ehe sie zur Anmeldung eilte, um sich in die Arbeit zu stürzen. Falls sie noch etwas zu ihm gesagt haben sollte, hatte er es nicht mehr mitbekommen. Er wollte nur wissen, weshalb Cailey auf die Insel zurückgekehrt war, obwohl sie geschworen hatte, nie wieder zu kommen.

4. KAPITEL

„Na, wen haben wir denn hier? Wenn das nicht unsere kleine Weltverbesserin ist.“

Theo Nikolaides.

Cailey öffnete den Mund. So viele Stunden ihres Lebens hatte sie damit verbracht, sich zu überlegen, was sie zu ihm sagen würde, falls sie ihn jemals wiedersah. Doch jetzt fiel ihr kein einziges Wort mehr ein.

„Du bist also gekommen, um uns in unserer kleinen Provinzklinik zu unterstützen, ja?“

„Ich … äh …“

Kawumm! Ein Feuerwerk schien erst in ihrer Brust, dann in ihrem Bauch zu explodieren, und dann überall.

„Cailey? Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist doch nicht verletzt, oder?“

Und schon krachten die Schutzmauern zusammen, die sie so mühevoll aufgebaut hatte. Als Theo sie berühren wollte, wehrte sie seine Hand ab. Sie war nicht bereit für diese Stimme, diese Freundlichkeit.

Ihre Wangen glühten bei der Erinnerung an die hitzige Auseinandersetzung, die sie vor all den Jahren gehabt hatten. Cailey schluckte die unzähligen scharfen Erwiderungen herunter, die ihr auf der Zunge lagen. Stattdessen legte sie das kleine Baby, das sie hochgenommen hatte, wieder zurück in die Arme seiner Mutter.

Zeig ihm, dass du erwachsen geworden bist und etwas aus dir gemacht hast, ermahnte sie sich streng.

„Für mich sieht das nach einer oberflächlichen Wunde aus“, sagte sie zu der Frau. „Schnittwunden bluten oft stark. Drücken Sie eine Weile vorsichtig darauf, und dann wird der Doktor hier sich sicher so bald wie möglich um Sie kümmern.“

„Absolut.“ Mit einem Nicken wies Theo in Leas Richtung. „Dr. Risi wird gleich kommen, um den Fall zu übernehmen. Danach schicken wir sofort jemanden zu Ihnen und dem Kleinen.“

Wie gebannt beobachtete Cailey, wie er dem Baby zart mit dem Zeigefinger über die Wange strich. Wie konnte jemand, der so liebevoll war, es seinem Vater überlassen, an seiner Stelle zu reden?

Na ja, sie waren beide jung und dumm gewesen. Zumindest galt das für Cailey, und zwar in vielerlei Hinsicht.

Ein Bild schoss ihr durch den Kopf, wie Theo sie zu einem heißen, leidenschaftlichen Kuss an sich presste. Doch sie schob es rasch beiseite. Das gehörte alles der Vergangenheit an.

„Ach, ist ja lustig. Du erinnerst dich an mein Ziel.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Mission erfüllt. Ich bin tatsächlich hier, um euch zu unterstützen. Also, wenn es dich nicht stört, einen von den kleinen Leuten in die Arbeit einzuweisen, gehe ich dir gerne aus dem Weg.“

Seine meergrünen Augen schienen sich in ihre zu bohren. Wie oft hatte sie davon geträumt, seine attraktiven Gesichtszüge erst mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen … und dann mit den Lippen …

Theo musterte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck. Da Cailey sich unter diesem eindringlichen Blick unbehaglich fühlte, schaute sie weg.

„Und ich dachte, ein Erdbeben hätte dich daran erinnert, dass wir als Menschen alle gleich geboren sind“, gab er sanft zurück.

Dieser Punkt wäre an ihn gegangen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er glaubte, sie sei ihm intellektuell weit unterlegen.

Ironisch hob Cailey die Brauen. Sie hatte nicht jahrelang dafür geschuftet, um ihre Ausbildung zu bewältigen, nebenher zu jobben und ihr Studiendarlehen zurückzuzahlen, damit sie sich jetzt wieder heruntermachen ließ.

„Ich denke, du könntest dich am besten dadurch nützlich machen, dass du mit mir zusammenarbeitest. Komm mit!“ Theo griff nach ihrem Rucksack, drehte sich um und winkte ihr, damit sie ihm folgte. „Zuerst besorgen wir dir einen Schwesternkittel, und dann kannst du mir zeigen, was du draufhast.“

Er legte ihr seine Hand auf den Rücken und lotste sie durch die Menschenmenge, wobei er seinen eigenen Körper als Schutzschild gegen das Gedränge der vielen Leute einsetzte, die sich unbedingt behandeln lassen wollten.

Auch wenn Cailey erbost war, schien ihr Körper sehr eindeutig auf Theos Berührung zu reagieren. Dieses hochgewachsene, schlanke Exemplar männlicher Perfektion mit seinen langen Beinen und dem weißen Kittel streifte sie immer wieder. So, als hätten sie bereits eine Intimität miteinander erlebt, die über diesen einen perfekten Kuss hinausging.

„Ich denke, ich kann mir die Klamotten schon selbst besorgen, danke.“ Mit blitzenden Augen sah sie ihn an.

Belustigt erwiderte Theo: „Nein, kannst du nicht, weil du noch nie hier gewesen bist.“

„Ja, aber …“

„Nichts aber.“ Er lachte. „Du kannst aufhören, das Big-City-Girl zu spielen, Cailey. Du bist jetzt wieder zu Hause. Es wird Zeit, herauszufinden, was in meiner kleinen Koukla mou alles so steckt.“

Ihr Ärger verflog etwas, als sie neben ihm hermarschierte.

Hübsche Puppe. So hatte er sie damals immer genannt. Klar, Cailey war nur die Freundin seiner kleinen Schwester gewesen. Die Tochter der Haushälterin. Doch auch wenn sie nie darüber gesprochen hatten, war irgendetwas Besonderes zwischen ihnen gewesen. Etwas Magisches.

Sie war davon überzeugt gewesen, bis zu dem Augenblick, als sie gehört hatte, wie er zu seinen Freunden sagte, dass ein Nikolaides sich nie mit einer Putzfrau einlassen würde.

Und das war’s dann.

Der Zorn, der bei der Erinnerung daran in ihr hochkroch, verhinderte jedoch nicht das aufregende Prickeln, das sie durchströmte, während sie seine Hand an ihrem Rücken spürte. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie gegen diesen Mann jemals immun sein würde?

Er wich einer Trage aus, die eilig durch den überfüllten Korridor geschoben wurde. Cailey warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu.

Vielleicht war Theo nicht jedermanns Typ. Er hatte auch seine Fehler. Zum Beispiel eine kleine Narbe am Auge, die er sich bei irgendwelchen tollkühnen Aktionen in den Olivenhainen seines Vaters zugezogen hatte. Eine Haarmähne, die immer aussah, als könnte sie mal einen guten Schnitt vertragen. Und dann eine weitere kleine Narbe unter seiner Nase, durch die sein sinnlicher Mund noch kraftvoller wirkte. Sinnlich und männlich zugleich.

Er strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit aus und das war schon früher so gewesen. Er tat, was er für richtig hielt. Egal, was andere dazu sagten. Dabei war er weder hochmütig noch arrogant, sondern wirkte eher so, als wüsste er, welche Dinge wirklich wichtig waren.

Zwar mochte Theo wie ein reicher, privilegierter Kerl reden, aber Cailey hatte immer gedacht, dass die Schatten in seinen grünen Augen eine ungeahnte Tiefe verrieten. Verborgenen Kummer, den er für sich behielt. Niemals hätte er einem anderen Menschen gegenüber sein Herz geöffnet.

Lächelnd wandte er sich zu ihr um. Es war typisch für ihn, dass er inmitten eines solchen Chaos die Ruhe selbst zu sein schien.

„Es ist nicht nötig, eine Führung durch die Klinik mit mir zu machen“, sagte Cailey.

„Aber ich nehme an, du möchtest vielleicht erst mal dein Top wechseln, oder?“

„Äh …“ Verblüfft blickte sie auf ihr weißes Top, das mittlerweile mehrere Schmutzstreifen zierten. Sie verdrehte die Augen. Kyros war von Kopf bis Fuß staubbedeckt gewesen.

In diesem Moment kam eine Krankenschwester herbeigeeilt und legte Theo die Hand auf die Brust, um ihn aufzuhalten. „Dr. Nikolaides, mit dem nächsten Krankenwagen werden fünf neue Patienten eingeliefert.“

„Fünf!“

Sie sahen sie an.

„Wir haben auf der Insel bloß zwei Krankenwagen, deshalb transportieren sie bei jeder Fahrt so viele Patienten, wie es geht“, erklärte Theo.

Während er mit der Krankenschwester sprach, blieb Caileys Blick an seinem Mund hängen. Alle Zähne waren gerade, bis auf einen einzigen schief stehenden, etwas links von der Mitte, der ihr schon immer gut gefallen hatte. Eine zusätzliche kleine Unvollkommenheit, die ihn seltsamerweise noch perfekter machte.

Als die Krankenschwester fragte, wohin die Patienten gebracht werden sollten, biss er sich auf die Lippen und überlegte. Und Cailey konnte die Augen nicht abwenden – es war wie in ihren früheren Teenager-Fantasien.

Schließlich gab er seine Anweisungen. „Mrs. Carnosi mit dem gebrochenen Arm soll in Kabine drei warten, bis ihr Gips ausgehärtet ist. Im ersten Stock liegt ein Mann, der einen Herzinfarkt hatte. Kann bitte jemand seine Frau unten am Hafen suchen? Ich glaube, sie hilft dem Bäcker. Die Vierjährige mit der Kopfverletzung könnte ein paar Wachsmalkreiden gebrauchen, um sich die Zeit zu vertreiben, weil die Fernseher ja nicht funktionieren. Am besten gleich für alle Kinder“, setzte er hinzu. „Wir haben welche in einem Vorratsschrank, und auch Papier. Das weiß ich. Ach ja, und ich habe eine Wasserlieferung organisiert. Also kann jeder, der in die Klinik kommt, eine Zweiliterflasche erhalten, um die Wartezeit zu überbrücken.“

Cailey war erstaunt. Theo hatte offenbar an alles gedacht. Und das, obwohl er gleichzeitig auch noch Patienten behandelte. Wo war der junge Mann von damals geblieben? Herablassend, elitär. Derjenige, der sich ohne Weiteres gegen sie gewendet hatte. Der sie dazu gezwungen hatte, zu knausern, zu sparen und zu lernen. Ihre Heimat zu verlassen mit dem Gefühl tiefster Scham, dass sie niemals gut genug sein würde für einen Mann wie ihn.

Hatte sie ihm all diese lange Zeit womöglich unrecht getan?

Aufmunternd drückte er ihr die Schulter, als ein Arzt den Platz der Krankenschwester einnahm und ihn bat, sich einige Röntgenbilder anzusehen. Ein mehrfacher Knochenbruch. Es ging um die Frage, ob sie hier in der Lage wären, die dafür erforderliche Operation durchzuführen.

Cailey, die sich Theos Hand auf ihrer Schulter nur allzu bewusst war, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ein elektrisierendes Kribbeln erfüllte ihren Körper, und ihr war zumute, als würden überall Funken fliegen. Nichts fühlte sich so an, wie es eigentlich sollte.

Sie schloss die Augen, um den warmen Ton von Theos sonnengebräunter Haut auszublenden. Seinen durchtrainierten Körper, die Berührung seiner Finger.

Sie stellte sich vor, wie dieser Mann ein Kind in den Armen hielt, einer Yiayia über die Straße half oder einen allzu wagemutigen Jungen ermahnte, dass er mit einem Gipsarm nicht schwimmen gehen durfte. Und ihr wurde ganz warm ums Herz.

Das ärgerte sie, denn eigentlich wollte sie keine Gefühle für Theo Nikolaides haben. Als Cailey entschlossen die Augen wieder öffnete, begegnete sie seinem Blick. Dabei versuchte sie so gut wie möglich zu ignorieren, dass er die längsten, dunkelsten Wimpern besaß, die sie je gesehen hatte. Außerdem hatte er einen deutlich sichtbaren Bartschatten. Ein Zeichen dafür, wie lange er bereits durcharbeitete. Tatsächlich verlieh ihm dies beinahe das Aussehen eines Rockstars.

Es bestand kein Zweifel, als erwachsener Mann schien Theo Nikolaides einen der griechischen Götter aus der Antike zu verkörpern. Zeus, Adonis, Apollo oder Eros.

„So, und jetzt sehen wir mal zu, dass du deine Sachen loswirst.“ Er schaute betont auf Caileys schmutziges Top. Doch sein Tonfall ließ auf etwas ganz anderes schließen als eine rein hygienische Maßnahme.

Flirtete er etwa mit ihr?

Als er sie so intensiv musterte, fühlte sie sich beinahe nackt. Sie spürte, wie der Baumwollstoff des T-Shirts ihren Bauch, ihre Brüste streifte, und dazu das Prickeln zwischen ihren Beinen, das nun wirklich absolut unangemessen war. Sie hatte sich doch geschworen, gegen Theos Ausstrahlung immun zu bleiben – abgesehen davon, dass Dutzende von Patienten in der Klinik warteten.

Als Theo sie mit einem so hungrigen Blick betrachtete, hatte Cailey das Gefühl, ein Feuerwerk würde in ihrem Innern explodieren. Zwischen ihnen schien eine geradezu greifbare elektrische Spannung zu vibrieren.

Das alles war komplett falsch. Die Menschen hier brauchten Hilfe, Patienten mussten medizinisch versorgt werden.

Noch nie hatte Theo sie auf diese Weise angeschaut. Als wäre Cailey die Erfüllung all seiner Träume.

In diesem Moment erleuchtete unvermittelt die Sonne die zentrale Glaskuppel der Klinik. Helle Strahlen fielen durch die Glyzinien, die das Dach überwucherten, und warfen ihre Tupfen aus Licht in den Raum. Ein Hauch von Gold und glitzernden Diamanten.

Als Theo den Kopf zur Seite neigte, wobei er sie noch immer ansah, hätte Cailey ihm sofort ihr Herz geschenkt. Es hatte schon immer ihm gehört, nur hatte er es nie gewollt.

Bevor sie etwas sagen konnte, streckte er den Arm aus, um den Weg zum hinteren Teil des Gebäudes freizumachen. Natürlich teilte sich vor ihm die Menge. So etwas passierte nun mal für die Nikolaides dieser Welt. Ebenso wie für die Pateras und Xenakis. Ganz zu schweigen von den Moustakas. Die vier Familien, die dank ihrer Geschäftsbeziehungen über den größten Teil des Vermögens der gesamten Insel verfügten.

Die Mopaxeni-Reederei. Der leuchtende Stern auf dem Ägäischen Meer und noch weit darüber hinaus. Alle Söhne dieser Geschäftsleute würden Millionen, wenn nicht sogar Milliarden erben. Was also tat Theo hier in diesem kleinen Provinzkrankenhaus, obwohl ihm die ganze Welt zu Füßen lag?

„Solltest du nicht eigentlich …?“

„Okay“, unterbrach er Cailey und deutete auf eine grüne Tür am Ende des Flurs. „Da rein.“

Sie wollte ihm ihren Rucksack abnehmen, doch er schüttelte tadelnd den Kopf. „Ich komme mit.“

Na toll. Genau das, wovon sie schon immer geträumt hatte. Tod durch übergroße Nähe zu der unerwiderten Liebe ihres Lebens.

Energisch stieß sie die Schwingtür zum Umkleideraum auf. Am besten brachte sie es so schnell wie möglich hinter sich.

Theo hatte keine Ahnung, woher seine lässig angeberische Haltung so plötzlich gekommen war. Er war erschöpft und funktionierte nur noch durch das Adrenalin in seinem Körper. Er brauchte dringend etwas zu essen, Kaffee, und trotzdem … Versuchte er etwa gerade zu flirten? Wahrscheinlich lag das nur am Stress. Oder vielleicht doch eher an der so erwachsen gewordenen Cailey Tomaras?

Einmal als Teenager waren sie alle um den Pool gerannt und hatten herumgealbert. Er hatte Cailey gepackt, sie war auf dem Gras ausgerutscht, und dann waren sie zusammen hingefallen, Arme und Beine ineinander verfangen. Da hatte es einen Moment gegeben … einen Kuss …

Schluss damit!

Es gab tausend andere Dinge, die er tun sollte, anstatt sich in Erinnerungen an eine Romanze zu verlieren, die es nie gegeben hatte. Zum Beispiel eine Viertelstunde schlafen, um sich zu erholen. Eine Visite auf den Stationen machen, die aus allen Nähten platzten. Überall dort einspringen, wo ein zusätzliches Paar Hände nötig war. Bei den Rettungsarbeiten helfen.

Und nicht eine hübsche Frau aus seiner Vergangenheit anstarren.

Sie sah hinreißend aus. Nicht mehr das schmale junge Mädchen, das im Schatten der lächerlich überdimensionalen Villa seines Vaters zu leben schien. Ein voller kirschroter Mund, tintenschwarzes Haar. Eine herrlich kurvige Figur, die Theo fast körperlich fühlen konnte. So, als hätte er sie bereits zu einer leidenschaftlichen Umarmung an sich gezogen.

Mit den Fingern fuhr er sich durch das lange Haar, während die Stimme seines Vaters in seinem Kopf widerhallte.

„Wenn du unbedingt ein primitives Leben als Inselarzt führen willst, kannst du wenigstens den guten Ruf der Familie aufrechterhalten. Ich werde es nicht dulden, dass du dich mit der geistig minderbemittelten Tochter einer Putzfrau auf der Insel herumtreibst.“

Schnell blickte er in Caileys Augen. Dunkel. Voller Temperament und Mitgefühl. Und wenn er sich nicht täuschte, sogar einer Spur von Angst.

Unwillkürlich zog sich sein Herz zusammen. Dass sie sich in seiner Gesellschaft so fühlte … Sein Vater war ein grausamer Mann. Warum er nicht begriff, dass Freundlichkeit, Verständnis und Anteilnahme im Umgang mit anderen Menschen wesentlich effektiver waren als die Art, wie er sich verhielt, konnte Theo beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Gegen Dimitris Hang, andere zutiefst zu verletzen, hatte er sich inzwischen ein dickes Fell zugelegt. Aber Cailey? Niemals würde er sie den schroffen Kommentaren aussetzen, die sein Babbo nur allzu gern austeilte. Aus irgendeinem Grund hatte sein Vater sie schon immer auf dem Kieker gehabt, daher musste Theo sie in seiner Nähe behalten. Auf diese Weise konnte er sie wesentlich leichter vor möglichen Kränkungen bewahren.

„Bist du bereit, dich sofort in die Arbeit zu stürzen?“

Misstrauisch sah sie ihn an. „Du willst doch wohl nicht hier stehen bleiben, wenn ich mich umziehe, oder?“

Er ließ den Blick über ihre Gestalt gleiten. Lange Beine, sinnlich runde Hüften mit einer hübschen Taille. Ein unerwartetes Begehren regte sich auf einmal in ihm. Was zum Henker sollte das denn? Jetzt war sicher nicht der richtige Zeitpunkt für solche Dinge.

„Ich drehe dir den Rücken zu.“

„Ja, klar.“ Resolut stemmte Cailey die Hände in die Hüften. „Von wegen. Sag, was du zu sagen hast, und dann …“ Sie machte eine Raus-mit-dir-Handbewegung.

„Na schön.“ Theo grinste belustigt, sie stellte ihre eigenen Regeln auf. Die alte Cailey wäre dazu viel zu schüchtern gewesen. Diese neue Cailey gefiel ihm immer besser.

Wieder spürte er die seltsame Empfindung unter seiner Gürtellinie, und sein Lächeln wurde noch breiter. Eine ziemlich intensive Wirkung für ein so unverhofftes Wiedersehen. Eine der positiven Seiten des Erdbebens. Vielleicht war Cailey ja inzwischen stark genug, um sich gegen seinen Vater zu behaupten.

Die Brauen hochgezogen, legte sie den Kopf mit einem Ausdruck zur Seite, der so viel besagte wie „Wann gehst du endlich?“

In Ordnung. Er hatte verstanden. „Also gut. Wie du wahrscheinlich schon weißt, war es ein heftiges Erdbeben, und diesen Teil der Insel hat es am schwersten getroffen. Viele ältere Gebäude haben der Stärke des Bebens nicht standgehalten. Es ist gestern Nachmittag passiert …“

„Das weiß ich alles“, unterbrach Cailey ihn ungeduldig. „Ich habe es in den Nachrichten gesehen. Am frühen Nachmittag. Ruhezeit. Viele Leute hielten gerade ihren Mittagsschlaf. Nur die Briten waren verrückt genug, in die Sonne rauszugehen. Du solltest wissen, dass ich Kinder- und Säuglingsschwester bin, das heißt …“

„Du arbeitest mit mir zusammen in der Notfallversorgung“, fiel Theo ihr ins Wort. Er war fest entschlossen, auf sie aufzupassen. Und das ging am besten bei ihm in der Notaufnahme.

„Ich habe seit über einem Jahr keine Traumapatienten mehr behandelt“, wandte sie ein.

„Aber du hast es gelernt. Und genau dort brauche ich dich. Ende der Diskussion“, erklärte er bestimmt.

Cailey öffnete den Mund, um zu protestieren. Doch als sie seine unnachgiebige Miene sah, zuckte sie nur die Achseln.

„Wie viele Verletzte? Hat man schon eine Ahnung von dem Ausmaß?“, erkundigte sie sich dann.

„Hunderte.“ Kopfschüttelnd fuhr er fort: „Die genauen Zahlen kenne ich nicht. Mehrere hundert Unglücksopfer mindestens. Die Insel hat eine Gesamtbevölkerung von fünfzehn- bis zwanzigtausend, daher könnten es durchaus noch mehr sein. Die Patienten kommen mit Verletzungen jeder Art. Von Schnittwunden und Prellungen bis hin zu … na ja …“ Er dachte an den alten Mann, der am Vormittag einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hatte, und brach ab.

Cailey nahm seine Hand. „Meinst du nicht, dass du mal eine Pause brauchst? Du siehst total fertig aus.“

„Na, vielen Dank. Du nimmst wohl kein Blatt mehr vor den Mund, stimmt’s?“

Sie lächelte nur.

Da ging die Tür auf, und sofort hörte man wieder das lautstarke Chaos von draußen.

„Dr. Nikolaides?“ Eine Krankenschwester eilte herein. „Ein Rettungshubschrauber ist im Anflug, um einige Patienten abzuholen. Wir brauchen Sie, damit Sie die Übergabe abzeichnen. Und der Krankenwagen ist auch gerade gekommen.“

„Selbstverständlich.“ Rasch zeigte er auf einen Wandschrank. „Dort findest du Kittel und Hosen in allen Größen. Komm zu mir in die Notaufnahme, sobald du dich umgezogen hast. Das ist eine Anweisung.“

5. KAPITEL

Entrüstet starrte Cailey auf die Stelle, wo Theo eben noch gestanden hatte.

Er kommandierte also noch immer jeden herum, als wüsste er alles besser. Nun ja, in diesem Fall stimmte das wohl auch.

Eine Anweisung.

Typisch Nikolaides. Bloß weil sie Krankenschwester war und es nicht geschafft hatte, zum Medizinstudium zugelassen zu werden, und für ihre Ausbildung doppelt so lange gebraucht hatte wie alle anderen …

Stopp! Es wäre besser, das alles nicht wieder aufzuwühlen. Cailey merkte, wie ein heftiges Herzklopfen ihr plötzlich in den Kopf zu steigen schien und alles andere verdrängte. Sie zwang sich, mehrmals tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen.

Du bist Krankenschwester, sagte sie sich. Die Patienten warten. Hier geht es nicht um dich oder Mr. Bossy.

Die Notaufnahme war nicht der beste Einsatzort für sie, dennoch hatte sie schon dort gearbeitet, wenn auch zugegebenermaßen einmal verbunden mit einer kleinen Panikattacke. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie würde es schaffen, und zwar ohne in Panik zu geraten. Auf gar keinen Fall wollte sie die Insel ein zweites Mal mit einer Niederlage verlassen.

Schnell wusch Cailey sich und zog sich um. Sie war nach Mythelios zurückgekehrt, um zu helfen. Und nicht, um in Theo Nikolaides’ Nähe zu sein, in der Hoffnung, dass er Notiz von ihr nahm. Dieser Zug war längst abgefahren.

Als Cailey die Notaufnahme betrat, herrschte in der Abteilung der pure Wahnsinn. Die Anzahl der Leute hatte sich verdoppelt, alles war noch lauter und die Stimmen waren schriller als zuvor.

Sie erschrak. Das hier war etwas ganz anderes als die ruhigen, gedämpften Flure auf ihrer Entbindungsstation in England. Dort half ihr die heitere Umgebung, nicht nervös zu werden. Vor allem, wenn sie Eintragungen schreiben, sich mit neuen Arzneimitteln befassen musste oder sonst irgendwelchen neuen Wörtern. All das kostete sie zusätzliche Zeit, weil ihr Gehirn die Dinge anders verarbeitete.

Meistens hatte sie ihre Legasthenie gut im Griff, aber das hier war ein absolut chaotisches Durcheinander. Cailey musste all ihren Mut und ihr Wissen zusammennehmen, um die Situation zu meistern.

„Alles klar? Bist du bereit?“ Theo legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie aufmunternd an sich.

Einen Augenblick lang vergaß sie alles um sich herum, während sie tief seinen Duft einatmete.

Ob er ihre Angst spüren konnte? Hatte er bemerkt, wie blass sie geworden war, als sie in die Notaufnahme kam? Das Zittern ihrer Hände, ehe Cailey sie fest ineinander verschränkt hatte, um es zu verbergen?

Er baute sich vor ihr auf und legte seine großen Hände auf ihre Schultern. „Denk immer daran: Ich bin bloß ein schlichter Landarzt und du eine Krankenschwester aus einer riesigen Großstadt. Du schaffst das, Koukla mou. Okay?“

Das Kosewort hüllte sie ein wie eine warme Decke. Cailey blickte in Theos dunkelgrüne Augen, die ihr etwas von seiner Kraft vermittelten. Sie spürte, wie ihr Atem allmählich ruhiger wurde.

„Ich weiß, hier drin scheint es völlig verrückt zuzugehen“, fuhr er fort. „Und das stimmt auch. Aber diese Situation ist für uns alle neu, und jeder tut sein Bestes. Wir behandeln einen Patienten nach dem anderen. Einverstanden? Immer nur einen nach dem anderen.“

Sobald ihre Blicke sich trafen, pochte ihr Herz wie wild. Ihr war zumute, als würde Theo bis auf den Grund ihrer Seele schauen, wo er ihre schlimmsten Ängste sah. Deshalb zeigte er ihr, dass er da war, um sie zu unterstützen. Egal, was passierte.

Dann führte er Cailey zu einer Trage, die gerade von zwei Einsatzkräften in eine Kabine gebracht wurde.

„Cailey, das hier ist Artemis Pepolo. Dieses mutige Mädchen kenne ich schon seit ihrer Geburt.“

Die dunkelhaarige Fünfzehnjährige nickte kaum merklich, während ihr Körper schmerzlich angespannt war.

„Artemis wurde gerade gerettet, nach einer ziemlich unschönen Nacht unter einem Dachbalken. Aber du hast durchgehalten, Süße, stimmt’s?“

Das junge Mädchen atmete schnell und abgehackt, und ihre Lippen wurden zusehends blasser. Sie versuchte zu lächeln, schrie stattdessen jedoch vor Schmerzen auf. Ihr Arm lag in einem merkwürdigen Winkel, und durch eine leichte Berührung an ihrem Hals stellte Cailey einen sehr schnellen Puls fest.

„Pneumothorax?“, fragte sie leise.

Theo, der bereits Handschuhe übergestreift hatte, tastete den Brustkorb von Artemis ab und nickte. „Ja, sehr gut. In diesem Fall ein traumatischer Pneumothorax. Die Dachbalken des Hauses haben sich bewegt, als die Rettungskräfte sie rausgeholt haben. Dadurch sind ein paar Rippen gebrochen. Keine Zeit zum Röntgen. Kannst du dir bitte Handschuhe anziehen, sie mit Sauerstoff versorgen und sie für eine Thoraxdrainage vorbereiten?“

Mit geschlossenen Augen rief Cailey sich die Tafel ins Gedächtnis, die sie sich gemacht hatte, um sich den Ablauf für dieses Verfahren einzuprägen. Mit Bildern konnte sie immer besser lernen als mit Worten. Glücklicherweise hatte sie es sofort wieder präsent.

Nachdem sie sich Handschuhe aus einer Schachtel auf der Ablage übergestreift hatte, legte sie Artemis eine Sauerstoffmaske an, wobei sie sich vergewisserte, dass das Mädchen durch den Schlauch mit ausreichend Sauerstoff versorgt wurde. Danach holte sie sich eine Schere von einem Materialwagen, um das T-Shirt der Patientin aufzuschneiden. Schließlich schloss sie die Monitore an, prüfte die Werte und legte ein Abdecktuch auf den Oberkörper des Mädchens. Ein mittelgroßes Viereck unterhalb des Herzens ließ Cailey frei, das sie dann mit einer sterilen Lösung sorgfältig abtupfte.

„Ich werde zuerst eine lokale Betäubung verabreichen und dann einen Pigtail-Katheter in den zweiten Interkostalraum einführen“, sagte Theo.

„Keinen Drainageschlauch?“, fragte sie.

Er steckte den gedrehten Schlauch auf einen Metalldraht. „In den meisten Krankenhäusern wird heutzutage ein Pigtail-Katheter verwendet. Das ist wesentlich weniger schmerzhaft für den Patienten.“

Das klang weder spöttisch noch gönnerhaft, sondern nur wie ein Arzt, der seine Vorgehensweise erklärte. Nein, noch besser. Ein Arzt, der bewies, dass das Wohlergehen seiner Patienten bei ihm an erster Stelle stand.

Fachgerecht führte Theo die Nadel in den Pleuraspalt ein, und als er Caileys Blick begegnete, lächelte er.

„Ha, ich hab’s getroffen. Ich kann spüren, wie die Luft entweicht.“ Mit einem sanften Lächeln sah er Artemis an. „Halt durch, Süße. Gleich haben wir’s geschafft.“ Er befestigte eine Spritze an der Nadel. „Ich sauge noch kurz ab, um sicherzugehen, dass wir die gesamte eingedrungene Luft rauskriegen.“

Sobald er zufrieden war, führte er den dünnen Draht und den Schlauch ein, als hätte er dies schon tausend Mal getan. Innerhalb von Sekunden saß der Katheter an Ort und Stelle, der Draht wurde herausgezogen, und Cailey schloss den Katheter an eine Pleurasaugdrainage an.

„So, Artemis. Jetzt darfst du dich ein bisschen ausruhen, und dann bringen wir dich an einen etwas ruhigeren Ort, um deinen Arm zu untersuchen, ja?“ Theo zog die Handschuhe aus, lächelte Cailey zu und wies mit dem Kopf zum Hauptbereich der Notaufnahme. „Bereit für den Nächsten?“

Sie war beeindruckt. Für jemanden, der sich als schlichten Landarzt bezeichnete, beherrschte er sein Handwerk hervorragend.

Cailey zog den Vorhang um Artemis’ Liege zu. Danach wartete sie, bis Theo die Patientenakte an eine andere Krankenschwester weitergab, die dafür zuständig war, bereits behandelte Patienten vom Traumabereich in andere Zimmer zu verlegen.

„Hast du Notfallmedizin studiert?“, fragte Cailey.

„Ja“, bestätigte er. „Ich dachte, wenn ich in diesem Krankenhaus manchmal alleine bin, sollte ich auf alles vorbereitet sein.“

„Du machst das hier allein?“

„Nicht ganz. Wir haben Assistenzärzte aus Athen, die eine Zeit lang hier arbeiten. Aber sie finden das Inselleben schnell langweilig und wollen wieder zurück aufs Festland. Und die Jungs kommen auch immer wieder mal abwechselnd und zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr hierher. Im Augenblick ist nur gerade keiner von ihnen da.“

Damit meinte er wohl Chris, Deakin und Ares. Die anderen Mopaxeni-Kumpel, mit denen er gemeinsam die Klinik aufgebaut hatte. Sie hatten geradezu ein Wunder vollbracht. Das hier war weit entfernt von dem baufälligen alten Krankenhaus, in dem sie als Mädchen gewesen war. Und Theo hatte nichts von dem elitären Snob an sich, den sie erwartet hatte.

„Na schön, wie gut kennst du dich mit Brüchen aus?“, fragte er dann.

Knochenbrüche, Platzwunden, Quetschungen innerer Organe, Herzrasen, ein großes Blutgerinnsel, die Liste ging endlos weiter.

Womit auch immer er Cailey konfrontierte, sie blieb zugewandt, aufmerksam und lernwillig. Natürlich fehlten ihr einige Kenntnisse, was bei jemandem, der nicht auf Notfallmedizin spezialisiert war, vollkommen normal war. Doch sie zeigte sich als absolut kompetent und schien manchmal sogar seine Gedanken vorauszuahnen.

Wenn Theo etwas benötigte, beispielsweise eine besondere Kanüle, einen speziellen Faden, das richtige Skalpell, dann hielt sie die Dinge bereits in der Hand, ehe er danach fragen konnte.

Als er den Vorhang der nächsten Patientin öffnete, hielt er inne. Ah, Marina Serkos. Mit ihr war er zusammen zur Schule gegangen, bis sein Vater die hiesige Grundschule für unpassend gehalten und ihn aufs Internat geschickt hatte.

„Sieht aus, als wäre es bald so weit.“

Das war Theos einziger Schwachpunkt – die Baby-Untersuchungen. Eigentlich sollte er sich darüber freuen, dass ein neues Leben auf die Welt gebracht wurde. Aber jedes Mal, wenn er eine schwangere Patientin sah, konnte er nur noch denken: viel Glück. Du wirst es brauchen.

Nicht gerade eine tolle Bestätigung für glückliche Familien. Aber bei den Nikolaides hatte das Thema „glückliche Familie“, nie eine Rolle gespielt. Nichts war wichtiger gewesen als der äußere Schein. Niemand außerhalb der Familie wusste, dass Theo adoptiert war. Und niemand, nicht mal seine Schwester, würde jemals von seinem heimlichen Schwur erfahren, niemals Kinder in diese Welt zu setzen.

Er und seine Schwester hatten immer nur als Schachbrettfiguren gedient. In einem Spiel ohne Regeln.

„Theo?“ Cailey half Marina auf die Untersuchungsliege und rollte das Ultraschallgerät herbei. „Willst du die Untersuchung durchführen?“

Beide Frauen sahen ihn mit einem etwas seltsamen Ausdruck an.

Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. „Bitte entschuldigen Sie, Marina. Es war ein langer Tag.“

„Marina macht sich Sorgen wegen des Babys“, sagte Cailey.

Ach ja, natürlich. Das war ihr Fachgebiet. Theo nickte ihr zu, damit sie die Sache übernahm. Er war erleichtert, dass er nicht Oh und Ah machen musste, sobald man auf dem Bildschirm eine kleine Faust erkannte oder das Kind im Mutterleib während der Untersuchung einen Schluckauf bekam. In seinen düsteren Momenten fragte er sich, ob Fortpflanzung das Einzige war, was der einheimischen Bevölkerung einfiel, um sich in den öden Wintermonaten die Zeit zu vertreiben.

„Zum Glück hat sie kein stumpfes Trauma erlitten. Aber als die Erde bebte, hat sie wohl gerade einen dringend notwendigen Mittagsschlaf gehalten“, fügte Cailey hinzu.

Die beiden Frauen blickten lächelnd auf den großen Babybauch.

„Siebter Monat?“, fragte Cailey.

„Achter“, antwortete Marina besorgt. „Das Baby hat die ganze Zeit getreten, aber als das Bett zusammengebrochen ist, habe ich … Ooooh.“ Da ihr Tränen in die Augen traten, stieß sie hörbar den Atem aus, um sich zu beruhigen. „Seitdem habe ich kaum mehr eine Bewegung gespürt.“

Cailey zog sich frische Handschuhe über. „Na, dann wollen wir uns das Kleine doch gleich mal anschauen.“ Ihr Tonfall wirkte fröhlich und kompetent. Genau das, was eine ängstliche werdende Mutter brauchte. Cailey hielt Theo die Ultraschallsonde hin.

„Nein, nein. Mach du nur. Das ist dein Spezialgebiet“, wehrte er ab.

„Sie sind Geburtsmedizinerin?“ Marinas Miene hellte sich auf.

Ein Schatten huschte über Caileys Züge. Enttäuschung? Traurigkeit? Doch als sie sich Marina wieder zuwandte, war ihr nichts mehr anzumerken. „Nein, ich arbeite als Krankenschwester auf einer Neugeborenenstation in einem Londoner Krankenhaus.“

„Ich nehme an, es besteht keine Chance, dass Sie hierbleiben wollen, oder?“ Marina warf Theo einen entschuldigenden Blick zu. „Verzeihen Sie, Dr. Nikolaides. Aber manchmal ist es einfach schön, mit einer Frau darüber sprechen zu können.“

Er nickte. Das war ihm durchaus bewusst. Aber hier handelte es sich nun mal um eine kleine gemeinnützige Klinik mit einem begrenzten Budget auf einer Insel, auf der nur die wenigsten Ärzte das ganze Jahr über leben wollten. Er bemühte sich stets, zumindest einmal im Monat eine Geburtsmedizinerin herzuholen. Aber aufgrund von Wetterbedingungen, finanziellen Beschränkungen und vollen Terminkalendern funktionierte das nicht immer.

Theo konnte es seinen Kollegen nicht verdenken, wenn sie es ablehnten, große finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, um ein Kleinstadtleben zu führen – ein unbegrenzter Vorrat an Mythelios-Olivenöl inklusive.

Großstadtkrankenhäuser, finanzstarke Forschungsinstitute – das waren die Orte, die begabte medizinische Fachkräfte anzogen. Wie zum Beispiel Cailey, die nach London gegangen und dort geblieben war. Und seine besten Freunde hatten die Insel ebenfalls verlassen. Jetzt auch noch das Erdbeben, und … Ach, es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken.

Trotz oder so etwas in der Art war der einzige Grund, weshalb Theo geblieben war. Eine unerbittliche Machtprobe oder ein seltsam schräger Waffenstillstand zwischen ihm und seinem Vater.

Rasch schüttelte er diese Gedanken ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf Caileys Untersuchung. Was seinen Vater betraf, gab es für Theo keine Antworten auf seine Fragen. In der Medizin hingegen schon, weshalb er fast seine gesamte Zeit in der Klinik verbrachte. Lange Schichten waren allemal besser als das Familienleben der Nikolaides.

Cailey hatte mittlerweile das Top von Marina hochgeschoben. Gerade wollte sie einen großen Klecks Gel auf den Bauch geben, da hielt sie inne. „Haben Sie in den letzten paar Stunden irgendwas gegessen oder getrunken?“

Zunächst schüttelte Marina den Kopf, doch dann sagte sie: „Ja, ich habe viel getrunken, weil ich mich von meinem letzten Ultraschall noch daran erinnerte, dass ich eine volle Blase haben sollte. Dazu gehört bei mir im Moment allerdings nicht viel!“

„Das wundert mich nicht.“ Lachend hielt sie die Geltube hoch. „Bereit für die Kälte?“

Als das kühle Gel ihre Haut traf, zuckte Marina unwillkürlich zusammen. Sie lachte verlegen. „Dies ist meine dritte Schwangerschaft. Man sollte meinen, ich wäre inzwischen daran gewöhnt.“

„Unsere Haut gewöhnt sich nie an plötzliche Kälte.“ Cailey setzte die Sonde auf der gegenüberliegenden Seite von Marinas Bauch an und begann mit der Ultraschalluntersuchung. „Dann schauen wir mal, wie es dem Kleinen geht.“

Theo verschränkte die Arme. Es war schön, sich zur Abwechslung im Hintergrund halten zu können. Er schaute zu, wie Cailey in eine Rolle schlüpfte, die ihr gut stand. Er wusste nicht, warum sie sich ihren Traum, Ärztin zu werden, nicht erfüllt hatte und sich stattdessen für die Säuglingspflege entschieden hatte. Doch die Ruhe und Selbstsicherheit, die sie jetzt gerade ausstrahlte, zeigte ihre professionelle Kompetenz. Bestimmt wollte ihr Londoner Krankenhaus sie unbedingt behalten. Engagierte und hoch qualifizierte Pflegekräfte waren Gold wert.

Sobald der rauschende Herzschlag zu hören war, atmeten alle erleichtert aus.

Die Blicke der beiden Frauen trafen sich, und sie lachten, ehe sie auf den Bildschirm schauten. Dort konnte er die zusammengerollte Gestalt eines Kindes sehen, das am Daumen lutschte.

Theo griff nach Marinas Patientenakte, die Petra trotz des chaotischen Durcheinanders gefunden hatte. „Soll ich mitschreiben?“

Die Frauen drehten sich zu ihm um, fast erstaunt, dass er noch da war.

„Gerne. Ist ja ein echter Luxus, wenn ein Arzt die Werte notiert“, gab Cailey mit einem Lächeln zurück.

„Nimm es einfach als kleines Dankeschön für deine großartige Hilfe heute.“

Sie wandte sich wieder dem Monitor zu. „Die gute Nachricht ist: Wir haben einen starken, regelmäßigen Herzschlag von hundertdreißig.“

„Ist das nicht ein bisschen niedrig?“

„Hm, es ist zwar am unteren Ende der Skala, aber noch vollkommen innerhalb des Normalbereichs. Alles unter hundert oder über hundertsiebzig würde Anlass zur Besorgnis geben.“ Mit einem scherzhaften Zwinkern meinte sie zu Marina: „Ihr Baby ist offenbar hart im Nehmen! Ich gehe davon aus, dass Sie alle Ultraschalluntersuchungen der Geburtsvorsorge wahrgenommen haben?“

„Ja, Dr. Nikolaides achtet sehr darauf.“

Theo nickte und hielt sein Klemmbrett hoch als Zeichen dafür, dass er bereit war, die Untersuchungsergebnisse zu notieren. Solche Plaudereien mit werdenden Müttern machten ihn nervös. Meist kam es dann zu den unvermeidlichen Fragen: Wann wollen Sie denn heiraten? Eine Familie gründen? Einen kleinen Sonnenschein auf die Welt bringen, den Ihre Eltern verwöhnen können? Derartige Gespräche versuchte er nach Möglichkeit immer zu vermeiden.

Cailey warf ihm einen missbilligenden Blick zu, der besagte: Sei nicht so ungeduldig. Doch sie teilte ihm den Blutdruck des Babys in demselben ruhigen Tonfall mit, in dem sie mit Marina sprach.

Sie stellte die Wachstumswerte des Babys fest, verglich sie mit den vorhergehenden Werten und verkündete, sie seien ausgezeichnet. Dann untersuchte sie den Blutfluss zwischen der Plazenta und dem Baby und überprüfte die Fruchtwassermenge.

Cailey zeigte auf den Bildschirm. „Wissen Sie, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“

Marina nickte. „Ja, noch ein Junge. Wenn dieser hier kommt, bin ich endgültig in der Unterzahl.“ Besorgt setzte sie hinzu: „Das heißt, falls alles in Ordnung ist?“

„Nach allem, was ich erkennen kann, bewegt er sich völlig normal. Wahrscheinlich haben Sie gestern einen großen Schock bekommen, und vielleicht hat er gespürt, dass sie ein bisschen Ruhe brauchen. Es klang jedenfalls ziemlich erschreckend.“

„Ja, das war’s auch. Aber jetzt, da ich weiß, dass es meinem Baby gut geht, bin ich beruhigt.“ Lächelnd sah sie Cailey an. „Haben Sie eigene Kinder?“

Theo warf Cailey einen schnellen Blick zu, weil er wusste, wie unangenehm ihm diese Frage war.

„Nein“, antwortete sie schlicht. Sie legte die Ultraschallsonde beiseite und wischte Marinas Bauch ab.

Ärger stieg in Theo auf, während er die letzten Eintragungen schrieb. Nein? Das war alles?

Als plötzlich außerhalb der Kabine laute Stimmen ertönten, fuhren alle drei zusammen. Es wurde nach einem Defibrillator und mehr Blut gerufen.

„Bitte entschuldigen Sie mich, meine Damen. Da muss ich wohl hin“, sagte Theo.

„Soll ich hier erst mal alles aufräumen?“ Cailey rollte das Ultraschallgerät zur Seite.

„Ja, gerne. Dann sehen wir uns gleich draußen?“

Sie nickte.

„In Ordnung.“

Nach so wenigen Stunden hatte er sich schon viel zu sehr daran gewöhnt, sie an seiner Seite zu haben.

Das war gar nicht gut. Denn jeder, der ihm zu nahe kam, würde auch seinem Vater zu nahe kommen. Und das ging immer schlecht aus.

6. KAPITEL

„Wir haben wieder einen normalen Blutdruck. Regelmäßiger Puls.“

Das Team um Theo klatschte erleichtert Beifall. Der fünfundsechzigjährige Patient, ein einheimischer Lehrer, hatte den Rettungskräften geholfen, Schutt wegzuräumen. Doch dann hatte sich seine jahrelange Liebe zu gebratenem Tintenfisch und honigsüßem Gebäck böse gerächt.

Trotz ihrer Erschöpfung fühlte Cailey sich wie berauscht. Seit Jahren hatte sie nicht mehr bei einem Herzstillstand geholfen, und dieses Mal war es ein großartiger Erfolg gewesen. Theo hatte Unglaubliches geleistet und war dabei vollkommen ruhig und gelassen geblieben.

Während ein Pfleger den Patienten in den Aufwachraum brachte, sagte Cailey bewundernd: „Das war fantastisch!“

Theo lächelte sie an. In seinen grünen Augen lag eine tiefe Befriedigung, die er nach diesem schwierigen Eingriff und dem damit verbundenen Adrenalinschub empfand. Noch nie hatte er attraktiver ausgesehen als gerade jetzt.

Unvermittelt wurden ihr die Knie weich, und sie verlor das Gleichgewicht. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Theo sie in seine Arme und suchte Schutz unter einem Türrahmen.

Als Cailey die Augen öffnete, sah sie nur seinen Mund. Diese winzige Narbe, die sie so gerne küssen würde und … Hör auf damit! Sie holte tief Luft, wobei sie zu ihrem Schrecken merkte, dass ihre Brüste an seinen Oberkörper gepresst waren.

Theo rührte sich nicht. Oh je, gefiel ihm das etwa? Gefiel sie ihm?

Ihre Gedanken überstürzten sich.

Sie spürte Theos Oberschenkel an ihren. Seine Hüften. Sie waren einander so nahe. Cailey spürte sogar seinen Atem an ihren Lippen.

Schließlich wagte sie es, ihn anzusehen.

In seinen Augen sah sie tausend Botschaften. Hoffnung. Interesse. Verlangen. Verwirrung.

Kein Wunder, auch sie war vollkommen verwirrt. Wieso hielt er sie hier unter dem Türrahmen fest?

„Nachbeben.“

„Wie bitte?“ Verständnislos schüttelte Cailey den Kopf. Doch dann hörte sie ein allgemeines Stöhnen in der Notaufnahme, als das nächste Beben auftrat.

Theo schloss sie noch enger in die Arme, seine hochgewachsene, schlanke Gestalt war wie ein Schutzschild. Außerdem umfasste er mit den Händen ihren Kopf und hielt ihn an den festen Türrahmen gedrückt, während sie darauf warteten, dass die Erschütterung vorbeiging.

Als es so weit war, trat er zurück, als wäre nichts gewesen, und strich Cailey ein paar widerspenstige Locken hinters Ohr.

„Alles in Ordnung mit dir, Süße? Brauchst du eine Pause? Es kommen einige Ärzte zur Ablösung vom Festland rüber.“ Er warf einen Blick auf die Wanduhr. „In ungefähr zwanzig Minuten.“

Seit wann nannte er sie Süße?

Theo unterdrückte ein Gähnen.

„Ich denke, wenn hier irgendjemand eine Pause verdient hat, dann du“, entgegnete sie entschieden. Sie drückte seinen Arm.

Das war ein großer Fehler. Weg mit diesem Kribbeln und den Schmetterlingen im Bauch!

„Du siehst müde aus, Cailey.“

„Nein, du!“

Er verdrehte die Augen, was so viel bedeutete wie: „Na klar bin ich müde, aber ich bin für das Krankenhaus verantwortlich.“

Auf einmal hatte sie das seltsame Bedürfnis, ihm etwas Gutes zu tun. Er war großartig darin, sich um andere zu kümmern. Aber wer kümmerte sich um ihn?

„Cailey.“

„Theo?“

Die Arme verschränkt, bedachte er sie mit einem typischen Großer-Bruder-Blick. „Du solltest dich ausruhen.“

Auch Cailey kreuzte die Arme. Allmählich machte ihr dieses Wortgeplänkel richtig Spaß. Abgesehen davon, dass es ihr dabei half, die Gefühle zu verbergen, die gerade auf sie einstürmten.

Sehnsucht. Verlangen. Schmerz. Lust.

Eigentlich hatte sie geglaubt, all das begraben zu haben, als sie damals das Flugzeug nach London bestiegen hatte.

„Na schön, Cailey. Wer wird deiner Meinung nach die Klinik am Laufen halten, wenn ich jetzt gehe?“ Triumphierend sah er sie an. Er dachte, damit hätte er ein schlagendes Argument vorgebracht.

Sie blickte an ihm vorbei und lächelte, da genau in diesem Moment eine Gruppe von mehr als einem Dutzend Ärzten mitsamt Notfallausrüstungen durch die Doppeltür zur Notaufnahme hereinkam. Frisch und munter. Bereit zum Arbeiten.

„Die Leute da.“

„Was?“ Theo drehte sich um und erkannte, dass sich die Lage geändert hatte.

„Ich denke, damit ist die Sache geklärt“, stellte sie fest. „Wir werden uns beide eine Pause gönnen.“

„Wo wohnst du?“ Theo war genauso überrascht von seiner Frage wie Cailey.

Ihre Augen trafen sich.

Sie war schon immer mehr für dich als nur die Freundin deiner Schwester.

„Ich konnte noch nichts organisieren. Meine Brüder haben in den Rettungsmannschaften mehr als genug zu tun.“ Cailey wurde rot und senkte den Blick, ehe sie murmelte: „Und ich glaube, bei meiner Mum ist kein Platz, jetzt da sie …“

„Was?“ Theo nahm sie bei den Schultern, damit sie ihn ansah. „Geht es Jacosta gut? Ist ihr Haus heil geblieben?“

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie zuckte die Achseln. „Sie behauptet es, aber ich habe die Wohnung noch nicht gesehen.“

„Wohnung? Ich dachte, ihr lebt in einem Haus?“

„Früher ja, aber …“ Schnell wandte Cailey sich ab, da ihr nun die Tränen über die Wangen liefen.

„Aber was?“ Theo wurde die Brust eng. „Weigert sich mein Vater etwa, ihr die Rente zu bezahlen? Soll ich mit ihm reden?“

Dieser verdammte Kerl! Der geizigste Milliardär auf der ganzen Welt. Obwohl Theo nicht allzu viele davon kannte, wusste er doch, dass Geld den Grundcharakter eines Menschen noch stärker zum Vorschein brachte. Ob freundlich, habgierig, gütig oder grausam, das spielte keine Rolle.

„Nein, das ist es nicht. Als ich nach London gegangen bin, hat sie das Haus verkauft.“ Mit einem fast trotzigen Gesichtsausdruck wischte sie die Tränen fort.

Offenbar steckte mehr hinter dieser Sache, doch Cailey gab ihm keine Gelegenheit, weiter nachzufragen.

„Ihre jetzige Wohnung ist sehr klein, aber in Ordnung. Mum geht es gut. Uns allen geht es gut. Der Tomaras-Clan ist wie immer vollkommen glücklich und zufrieden. Abgesehen von dem Erdbeben.“ Mit erhobenen Augenbrauen und einem kleinen Lächeln schaute sie Theo an. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sich die Schatten der Vergangenheit in ihrer Miene widerspiegelten.

Also waren anscheinend nicht alle Angehörigen des Tomaras-Clans glücklich.

„Na schön. Falls sie keinen Platz für dich hat, wohnst du eben bei mir“, sagte er.

„Was? Nein!“ Cailey wich zurück und hob abwehrend die Hände. „Nein, das ist völlig unnötig. Du hast …“

„Unsinn.“ Theo fragte sich, warum er ihr in London nie begegnet war. Immerhin hatte er dort auch studiert. Sie hätte ihn anrufen können. Oder wenigstens Erianthe, die immer noch dort lebte.

Im Stillen fluchte er. Er hätte Cailey im Auge behalten sollen, und von jetzt ab würde er das auch tun. „Ich bin für dich verantwortlich.“

„Ach, und wieso?“

„Weil ich es sage.“ Grandiose Antwort, dachte er selbstironisch.

Wie nicht anders zu erwarten, wirkte Cailey wenig überzeugt.

Was sollte er ihr sagen? Dass sie seinem Vater nicht begegnen durfte, ohne dass Theo an ihrer Seite war, damit er sie vor ihm schützen konnte? Es war die Wahrheit. Genauso wie die Tatsache, dass er es nicht ertragen würde, falls Caileys Familie wegen irgendeiner Aktion seines Vaters gezwungen worden war, das Haus zu verkaufen.

Theo wusste, dass sein Vater ihn trotz seiner Härte irgendwo tief versteckt im Innersten seines Herzens liebte. Auch wenn er nur adoptiert war. Andererseits galt Dimitris Schwur immer noch, Theo dafür bezahlen zu lassen, dass aus ihm nicht der Sohn geworden war, den er gewollt hatte.

Man hätte annehmen sollen, er wäre stolz, einen Sohn zu haben, der Arzt war. Ein Arzt, der die Inselbewohner heilte und unterstützte, mit deren Hilfe die Familie reich geworden war. Aber nein. Theo hätte lieber in die Fußstapfen seines Vaters treten und die Leitung der Mopaxeni-Reederei übernehmen sollen, um die Kassen der Familie noch weiter zu füllen.

„‚Weil ich es sage‘ ist kein Argument“, gab Cailey zurück.

Er überlegte. Sie war eine temperamentvolle, leidenschaftliche Frau. Kein Wunder, dass sie nichts für eine solche dominante Männertaktik übrig hatte.

„Du hast hart gearbeitet, und morgen wird es genauso anstrengend wie heute“, sagte er. „Also bitte, komm mit in mein Haus und ruh dich dort aus.“ Schon besser.

„Ich übernachte nicht bei dir.“

Theo lachte ungläubig. Wie hatte er ihre Sturheit vergessen können?

„Oh doch“, entgegnete er in einem Ton, der keine Widerrede duldete. „Meine Klinik, meine Regeln. Du arbeitest für mich, und wenn du das auch weiterhin tun willst, brauchst du ausreichend Ruhe. Ich habe ein Gästezimmer mit einem guten Bett, in dem du schlafen kannst. Meiner Meinung nach gehörst du dahin, und zwar jetzt.“

„Das glaube ich kaum“, gab Cailey hitzig und mit hochroten Wangen zurück.

Die Schultern gestrafft, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Dann räusperte er sich und versuchte es noch einmal. „Hol deine Sachen. Ich nehme dich mit zu mir nach Hause.“

„Theo, ich komme schon klar. Wirklich.“

Er lächelte. Die liebevolle Art, wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, überraschte ihn. Aber darauf konnte er aufbauen. „Ich fürchte, da lasse ich nicht mit mir handeln, Cailey. Du kriegst ein Bett zum Schlafen und vielleicht auch einen heißen Kakao. Ende der Diskussion.“

Sie sah aus, als wollte sie protestieren, gab dann zu seinem Erstaunen jedoch plötzlich nach.

„Na gut. Du hast gewonnen. Aber wir müssen noch bei Stavros’ Taverna vorbeigehen, damit ich meine Mutter begrüßen kann“, sagte sie. „Danach ein paar Stunden Schlaf, und dann komme ich wieder hierher, so wie alle anderen auch.“

„Abgemacht.“ Theo streckte die Hand aus, und als Cailey einschlug, hob er ihre Hand und drückte einen Kuss darauf.

Cailey rannte beinahe zum Umkleideraum, um ihren Rucksack zu holen. Sie hatte das Gefühl, als würden Funken aus ihren Sneakers sprühen.

Was passierte hier gerade?

Theo war ganz anders, als sie ihn sich in ihrer Fantasie vorgestellt hatte. Nicht im Geringsten wie sein Vater.

Im Umkleideraum eilte sie zum Waschbecken und starrte sekundenlang auf ihren Handrücken, ehe sie sich mehrmals einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.

Allerdings bedeutete der echte Theo eine viel größere Gefahr für sie als der böse Theo, zu dem sie ihn in den vergangenen Jahren gemacht hatte. An nur einem einzigen Tag hatte er die sorgfältig verschlossene Wunde in ihrem Herzen wieder aufgerissen.

Dieser Mann war einfach perfekt.

Das lange Haar, in dem sie nur zu gerne ihre Finger vergraben wollte. Seine unglaublich grünen Augen, der athletische Körperbau. Dieser Mund, der zum Küssen einlud. Und außerdem war er auch noch ein hervorragender Arzt, was Cailey mindestens ebenso sexy fand. Rücksichtsvoll, einfühlsam, tatkräftig und ein wohlwollender Kollege.

Kein einziges Mal hatte er sie gönnerhaft behandelt oder ihr einen missbilligenden Blick zugeworfen, wenn sie gezögert hatte, weil sie nicht sicher war, welche Ampulle oder welches Skalpell er gerade benötigte. Tatsächlich war das nur selten vorgekommen, denn vom ersten Patienten an hatte Theo es geschafft, dass Cailey ihre Fähigkeiten in Bestform zeigen konnte.

Und jetzt sollte sie die Nacht in seinem Haus verbringen.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild.

Hatte sie ihn im selben Licht gesehen wie seinen Vater? Theo hatte ihr nicht gesagt, dass sie verschwinden oder einen Bogen um ihn machen sollte. Ja, sie hatte gehört, wie er sich mit seinen Freunden darüber amüsiert hatte, dass ein Nikolaides niemals ein Hausmädchen heiraten würde. Das hatte sie tief getroffen. Aber es war Dimitri gewesen, der ihr befohlen hatte, sich von Theo fernzuhalten. Und sie war jetzt kein Hausmädchen mehr.

Außerdem hatte zwischen ihnen schon immer eine gewisse Anziehung bestanden, das ließ sich nicht leugnen.

Doch was wäre, wenn er nur mit ihr flirten wollte, um sie hinterher wieder zurückzuweisen? Cailey wusste, dass er sie niemals heiraten würde, aber sie war im Triumph zurückgekommen. Sie war Krankenschwester in einem exklusiven Londoner Krankenhaus, und sie hatte heute ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ihre Mutter hatte die Zahlungen der Nikolaides-Familie nicht mehr nötig, daher konnte Cailey auch nicht mehr damit erpresst werden. Es schockierte sie auch heute noch, dass Dimitri damals gedroht hatte, er würde ihre Mutter feuern, falls Cailey seine Familie nicht in Ruhe ließ.

Etwas flammte in ihr auf, und sie beschloss, Theos Einladung anzunehmen. Ein bequemes Bett und den heißen Kakao hatte sie sich redlich verdient.

Zwar war es nicht seine Schuld, dass ihre Mutter das Haus der Familie verkauft hatte, um Cailey bei der Finanzierung ihrer Ausbildung zu unterstützen. Aber es war definitiv seine Schuld, dass er so unglaublich nett war und sie daher keinen Grund fand, nicht bei ihm zu übernachten. Falls Dimitri davon Wind bekam und versuchen sollte, irgendwie Rache dafür zu nehmen, würde sie die Insel verlassen und nie wieder einen Gedanken an diese beiden Männer verschwenden.

„Bist du so weit?“ Theo kam in den Umkleideraum, schwang sich mit einer Hand Caileys Rucksack über die Schulter und legte dann schützend den anderen Arm um sie, während er sich gemeinsam mit ihr seinen Weg durch die Menschenmenge zum Ausgang bahnte.

Es war nicht zu fassen. Sogar zerknitterte OP-Kleidung stand ihm gut. Und wahrscheinlich würde er auch nackt hinreißend aussehen. Nicht, dass Cailey sich das je vorgestellt hätte. Nun ja, jedenfalls nicht oft.

Er stieß die Tür auf, noch immer den Arm um sie gelegt. „Vom Regen in die Traufe.“

Zuerst verstand Cailey nicht, was er meinte. Doch nur wenige Schritte von der Klinik entfernt wurde sie mit ganz neuen Dingen bombardiert.

Lärm. Das schrille Kreischen schwerer Maschinen, mit denen jahrhundertealte Steine und Balken zertrümmert wurden. Von Scheinwerfern erhellt, sah sie die zerstörten Überreste der Häuser und Geschäfte, die durch das Erdbeben praktisch in sich zusammengefallen waren.

Sofort bekam Cailey ein schlechtes Gewissen. Wegen all dem hier war sie zurückgekommen, und nicht, um sich irgendwelchen Rachefantasien gegenüber dem reichsten Mann der Insel hinzugeben.

Unter Theos Arm fröstelte sie unwillkürlich.

„Ist dir auch warm genug?“ Seine Stimme war sanft im Gegensatz zu dem harten Klang von Sägen auf Metall und dem Staccatogeräusch der Presslufthämmer auf Beton.

„Mmm.“ Cailey war zwar etwas verwirrt, aber ihr war definitiv nicht kalt. Sein Arm vermittelte ihr genug Wärme.

Ein Schauer überlief sie erneut bei der Vorstellung, dass sein Vater sie so sehen könnte. Schließlich hatte er sie einmal gewarnt, und dies hier bedeutete einen krassen Verstoß gegen seinen Befehl von damals.

Aber das war schon so lange her.

„Willst du meine Jacke?“

„Nein, mir geht’s gut.“

Ängstlich. Aufgeregt. Und etwas erregter, als sie eigentlich hätte sein sollen. Aber irgendwie hatte sie ein seltsames Gefühl von … Ganzheit. Als ob ihre Rückkehr nach Mythelios und die Begleitung von Theo Nikolaides genau das war, was in ihrem Leben bisher gefehlt hatte.

„Bist du sicher?“ Er ließ seine Hand zu ihrer Taille hinuntergleiten und führte sie um einige Trümmerstücke herum, die von einem Geschäft herabgestürzt waren, an dem sie gerade vorbeigingen. Die Besitzer saßen drinnen. Sie hatten ihre Klappstühle neben einer leeren Holzkiste aufgestellt, auf der eine Kerze und eine halb leere Flasche Ouzo standen. Der Mann und die Frau hoben ihre Gläser, als sie Cailey und Theo erblickten.

„Jamas!“, riefen beide ihnen zu. Dann kippten sie ihren Schnaps hinunter und verzogen das Gesicht wegen des würzigen Geschmacks.

Prost? Im Ernst? Während ihr Haus um sie herum eingestürzt war?

„Jamas!“, erwiderte Theo und lächelte Cailey zu. Doch dann zog er sie rasch beiseite, um ein paar zermatschten Wassermelonen auszuweichen, die unter einer zusammengebrochenen Markise herausgerollt waren.

„Ihr macht das Beste aus der Situation?“, rief er dem älteren Ehepaar zu.

Fröhlich antworteten sie mit dem griechischen Sprichwort: „Alles zu seiner Zeit, und im August Makrelen!“

Gegen ihren Willen musste Cailey lachen. „Sie sind auf jeden Fall sehr optimistisch.“

Achselzuckend meinte Theo: „Wahrscheinlich haben sie schon Schlimmeres erlebt.“

Erstaunt wich sie zurück, sodass seine Hand leicht an ihrem unteren Rücken ruhte. So, als wären sie schon seit Langem ein Paar. „Schlimmer, als dass ihr Laden kurz vor ihrem Ruhestand einstürzt?“

Theo reckte das Kinn. „Erstens: Solche Leute gehen nie in den Ruhestand. Zweitens: Durch die Beziehung zwischen Arzt und Patient versteht man manchmal besser, was für die Leute wirklich schlimm ist, und wofür es sich lohnt, sein Glas zu erheben.“

Ah. Der Blick aufs große Ganze. Vielleicht hatten sie ein Kind verloren, gegen Krebs gekämpft oder einen schweren Unfall überstanden. Was immer es gewesen sein mochte, jedenfalls waren die beiden offensichtlich schon mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert worden. Und dieses Mal, nach dem schweren Erdbeben, das mindestens ein Dutzend Todesopfer gefordert hatte, hatten sie überlebt. Also, warum sich dann nicht gegenseitig zuprosten?

Cailey schaute zurück zu dem Paar. Sie füllten sich fröhlich die Gläser nach und lachten leise. Es geschahen eben manchmal schlimme Dinge, doch es kam darauf an, wie man damit umging.

Zum Beispiel, ob man sich von einem Mann Angst einflößen ließ, der nicht mehr die finanzielle Kontrolle über ihre Familie besaß. Oder von seinem Sohn, der einfach perfekt zu sein schien.

7. KAPITEL

„Cailey-oula!“

Theo nahm seine Hand von Caileys Taille, als die Stimme ihres Bruders das Stimmengewirr in Stavros’ Taverna übertönte.

In Griechenland war es nichts Außergewöhnliches, sich gegenseitig auch durchaus physisch seine Zuneigung zu zeigen. Aber jetzt, nach dem Unglück, war Theo bewusst geworden, dass seine Gefühle als großer Bruder und Beschützer sich wandelten. Er wollte sie küssen.

Der Klang von Leons Stimme löste bei Cailey ein so strahlendes Lächeln aus, wie Theo es seit ihrer Ankunft noch nicht gesehen hatte. Fröhlich, lebhaft und mit leuchtenden Augen, als hätte sie nicht gerade zwölf Stunden harter Arbeit hinter sich.

Da regten sich auf einmal sehr eindeutige Empfindungen in seinem Körper. Oh ja, er hatte entschieden romantische Absichten.

„Kyros! Leon!“

Cailey verschwand förmlich in einer doppelten brüderlichen Umarmung. Hier herrschte ein solches Gedränge, dass es schien, als hätte sich die halbe Bevölkerung der Insel auf der blumenberankten Veranda von Stavros eingefunden. Erstaunlicherweise war die Veranda vom Erdbeben verschont geblieben.

Es fand ein stichwortartiger Informationsaustausch zwischen den Geschwistern statt, um den Theo sie fast beneidete. Ehefrauen? Sehr gut. Wo? Essen verteilen, wie alle anderen auch. Stavros und Jacosta hatten es organisiert. Und wo war Mama? Sie brachte gerade ihr berühmtes Souvlaki unter das Volk.

Mit einem genüsslichen Seufzen küsste Cailey ihre Fingerspitzen und hob sie zu dem sternenklaren Nachthimmel. Theo knurrte der Magen. Auch er hatte früher vor Begeisterung über Jacostas Souvlaki geseufzt, wenn sein Vater nicht zu Hause war und Theo sich in der Küche zu den Hausangestellten wagen konnte.

„Theo! Wieso stehst du da hinten ganz allein?“ Jacosta erschien neben ihren Kindern und winkte ihn mit offenen Armen heran. Wie immer war sie unvoreingenommen, herzlich und liebenswürdig.

Doch zum ersten Mal in seinem Leben zögerte er. Es war merkwürdig, denn plötzlich fühlte er sich wie ein Fremder auf seiner eigenen Insel. Das war ihm noch nie passiert. Genauso wenig wie dieses Verlangen, einer Frau, die er seit seiner Kindheit kannte, die Kleider vom Leib zu reißen.

Das Erdbeben hatte vieles verändert.

„Komm her! Komm!“ Ehe er sich versah, wurde er von Jacosta umarmt. Nachdem sie sich auf beide Wangen geküsst hatten, wurde er mit den üblichen Fragen überschüttet. „Geht es dir gut? Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung? Wie geht es deiner Mama? Ich habe gehört, sie hat sich den Knöchel verstaucht. Achtet sie darauf, ihn hochzulegen? Und deinem Vater? Ich habe ihn vorbeifahren sehen und dachte, das wäre ein gutes Zeichen. Deinen Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten? Iss etwas. Iss. Schau dich nur an, du bestehst ja bloß aus lauter Haut und Knochen. Du musst unbedingt was essen!“

Lachend ließ Theo sich erneut von ihr umarmen. Widerstand war zwecklos, wenn sie ihren dritten Sohn an sich drückte.

Bestimmt wäre sein Leben anders verlaufen, wenn eine Familie ihn aus Liebe und nicht aus Machtstreben adoptiert hätte. Bei dem Gedanken versteifte er sich unwillkürlich, und Jacosta gab ihn frei.

Seine Abwehrreaktion schützte ihn vor seinen Gefühlen. Vor dem unvermeidlichen Schmerz, der ihn erfüllte, wenn er auch nur daran dachte, eines Tages eine eigene Familie zu haben.

„Theo.“ Mit dem Zeigefinger winkte Jacosta ihn dicht zu sich heran. Dabei waren Cailey und ihre Brüder noch viel zu sehr mit Erzählen beschäftigt, als dass sie irgendetwas mitbekommen hätten.

„Ich hoffe, du passt gut auf meine Tochter auf.“ Sie lächelte. „Sie tut so, als wäre sie mutig, aber in Wahrheit ist sie sehr sensibel.“

Jacosta warf ihm einen Blick zu, der besagte: ‚Du kennst sie genauso gut wie ich. Also sei lieb zu ihr.‘

Auf einmal ertönte lauter Jubel, und Cailey drehte sich rasch zu ihnen um. „Sie haben die Tochter von Stavros’ Cousin gefunden!“

„Wunderbar.“ Jacosta legte beide Hände wie im Gebet zusammen und blickte zum Himmel hinauf.

„Mama!“ Cailey umarmte sie innig. „Warum weinst du denn?“

„Ich bin einfach so glücklich. Und so erleichtert, alle meine Kinder hier bei mir zu haben.“ Sie streckte beide Arme nach Cailey aus und rief auch ihre Söhne zu einer allgemeinen Familien-Umarmung herüber.

So etwas würde es in meiner Familie nie geben, dachte Theo düster. Sein Vater hatte lediglich angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er einen Hubschrauber gechartert hatte, um seine Mutter zur Behandlung ihres Knöchels und ihrer Nerven aufs Festland fliegen zu lassen. Und dann hatte er Theo gefragt, ob er mit seiner Klinik immer noch den Schein wahren wollte.

Theo konnte es nicht fassen, dass sein Vater immer noch nicht begriffen hatte, wie sehr er sein Leben als Inseldoktor liebte. Nein, er war kein Spezialist wie seine Freunde, die anderen Goldjungen der Mopaxeni-Gründer. Aber er lebte für seinen Beruf. Es gefiel ihm, Zimmerleuten und Fischern zu helfen, und er kümmerte sich gerne um alte Yiayias oder sogar um Milliardäre. Nicht, dass sein Vater sich je dazu herablassen würde, eine Behandlung bei ihm in Anspruch zu nehmen. Das wäre viel zu persönlich. Es wäre so, als würde er den Sohn brauchen, von dem er behauptete, dieser sei nichts weiter als eine große Enttäuschung für ihn.

Theo kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. Er war müde und hungrig. Es hatte keinen Sinn, so emotional auf eine Familie zu reagieren, in der sich alle gerne umarmten, nur weil es in seiner eigenen Familie nicht so war.

„Komm her, Theo!“ Jacosta winkte ihn zu ihrer kleinen Gruppe herbei. „Gib mir einen Kuss, und dann geh rein und mach dich nützlich. Hol diesem armen Mädchen ein bisschen Souvlaki.“

Es folgte ein rascher, gedämpfter Wortwechsel zwischen ihr und Cailey. Davon schnappte Theo die Worte Sofa und zusätzliche Decken auf. Cailey warf ihm einen schnellen Blick zu, ehe sie schuldbewusst wieder ihre Mutter ansah. Mit hochgezogenen Brauen schaute Jacosta zu ihm hinüber, ehe sie vielsagend lächelte.

„Ich habe zu Hause auch was zu essen, Jacosta“, sagte er.

„Was stimmt denn nicht mit unserem Essen hier?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Meine Souvlaki hast du doch noch nie abgelehnt.“ Argwöhnisch musterte sie ihn.

Diesen Ausdruck hatte er schon früher bei ihr gesehen. Meistens dann, wenn sein Vater wegen irgendeiner Kleinigkeit explodierte und Cailey anwesend war. Jacosta hatte ihre Tochter immer schnell hinter sich geschoben, um sie vor Dimitris Wutausbrüchen zu schützen. Mit gesenktem Kopf hatte sie sich stets entschuldigt und jede Beschimpfung von ihm eingesteckt.

Diesen Blick von ihr mochte Theo ganz und gar nicht. Er war nicht wie sein Vater, und er hatte bestimmt nicht die Absicht, Cailey zu verletzen.

„Schon gut, Mama. Freiwillige Helfer haben uns Essen in die Klinik gebracht“, schaltete Cailey sich ein. „Warum essen wir nicht als Familie alle zusammen, wenn das hier vorbei ist? Dann haben wir auch einen guten Grund zum Feiern.“

„Paidi mou!“ Fassungslos hob Jacosta die Hände. „Ist es denn kein Grund zum Feiern, dass meine Tochter nach Hause gekommen ist? Dass noch Leben durch die Adern deiner Brüder fließt? Und dass das Souvlaki deiner Mama von all den lieben Menschen hier mit Begeisterung verspeist wird, aber mein eigenes Fleisch und Blut will nicht mal den kleinsten Happen davon essen, um wenigstens ein bisschen was auf die Rippen zu bekommen?“

„Doch natürlich, Mama, aber …“ Cailey rieb sich die Stirn, wobei sie Theo einen hilfesuchenden Seitenblick zuwarf.

Theo verbarg ein Lächeln. „Es ist ein langer Tag gewesen“, sagte er beschwichtigend zu Jacosta.

„Also sollte sie was essen!“

„Ich muss unbedingt schlafen, Mama!“

„Lass sie gehen, Mama.“ Mit zwei Pappkartons, aus denen es köstlich nach Jacostas Souvlaki duftete, drängte Kyros sich durch die Menge. Er gab seiner Mutter einen Wangenkuss, ehe er Cailey fröhlich zuzwinkerte und ihr die Schachteln in die Hand drückte.

„Und jetzt haut schon ab!“ Er machte eine Handbewegung, als würde er Hühner verscheuchen. „Ruht euch aus und kommt danach wieder zurück, um noch mehr Leute zusammenzuflicken. Ich will hier nicht schuften wie blöd, um Leute zu retten, wenn ihr dann in der Klinik bei der Arbeit einschlaft.“

Doch plötzlich wurde sein schmutzbedecktes Gesicht ernst. „Der Neffe meiner Frau wird noch vermisst. Er ist vor dem Beben zum Spielen rausgegangen, und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Eine Rettungsmannschaft ist unterwegs, um nach ihm zu suchen.“

Teilnahmsvoll drückte Cailey ihm den Arm. „Das tut mir so leid. Wie alt ist der Junge?“

„Sechs.“

Einen Moment lang hielten alle inne, da sie an die möglichen Konsequenzen dachten. Noch war das Wetter nicht allzu heiß, aber im Frühjahr konnten die Temperaturen manchmal ganz unerwartet in die Höhe schnellen. Je länger jemand irgendwo feststeckte, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er stark dehydriert war. An das, was dann kam, wollte niemand denken.

„Na gut.“ Jacosta klatschte in die Hände. „Also ab mit euch. Ruht euch aus. Morgen früh bringe ich euch Joghurt und Obst.“

Cailey holte tief Luft, um zu protestieren, unterließ es dann jedoch, weil sie wusste, dass es ohnehin keinen Sinn hatte. Stattdessen ließ sie sich noch einmal von ihrer Mutter umarmen, es wurden wieder zahlreiche Küsse ausgetauscht, und schließlich durften sie und Theo ihren Weg fortsetzen.

„Deine Mutter ist eine Naturgewalt.“

„Das ist noch milde ausgedrückt“, erwiderte Cailey trocken. Auf einmal stockte ihr der Atem, und ihr gesamter Körper schien zu reagieren, als Theo seine Hand wieder auf ihren unteren Rücken legte. Bald bog er mit ihr in eine kleine, mit Bäumen gesäumte Straße ein, die von der Hauptstraße des Städtchens abging.

Sie war erstaunt. Theo schien mit den Einheimischen wesentlich besser zurechtzukommen, als sie vermutet hatte. Keine vornehme Distanz, keine klaren gesellschaftlichen Grenzen zwischen ihm und den Leuten.

Hatte er sich wirklich so sehr verändert? Von dem arroganten Teenager, der seinen Freunden von den reichen Erbinnen erzählte, die sein Vater ihm zur Heirat in Aussicht gestellt hatte, zu diesem liebenswürdigen, großzügigen und bescheidenen Mann?

Im Augenblick waren jedenfalls keine Erbinnen in Sicht. Außerdem waren die Fotos von Theo mit irgendwelchen gertenschlanken Blondinen am Arm in den Klatschzeitschriften zuletzt auch immer seltener geworden.

Von der Seite warf Cailey ihm einen verstohlenen Blick zu, während er einem kleinen Mädchen übers Haar strich. Die Kleine war herausgelaufen gekommen, um ihm stolz den Verband an ihrem Arm zu zeigen, den er ihr vor ein paar Stunden angelegt hatte. Er hockte sich hin, betrachtete den Verband aufmerksam und lobte sie dann dafür, dass sie so gut darauf aufgepasst hatte.

Das war wirklich sehr süß von ihm.

Sobald Cailey seine Hand wieder an ihrem Rücken spürte, flammte ein Funke in ihrem Innern auf, der offensichtlich nie wirklich ausgelöscht gewesen war. Nach einer Weile verlangsamte Theo schließlich seine Schritte und ließ die Hand sinken.

Vor einem großen Holztor blieb er stehen und kramte in seiner Tasche herum, vermutlich auf der Suche nach seinem Hausschlüssel. Dabei fiel ihm das wirre Haar ins Gesicht und verdeckte die Wangen mit dem dunklen Bartschatten.

Da er Caileys Blick auf sich bemerkte, schaute er auf. Dann lächelte er sie an und holte mit einer schwungvollen Geste etwas aus seiner Tasche. „Tada!“

Sie war verblüfft. Ein Mini-Schraubenzieher?

„Der beste Freund eines Mannes“, erklärte er.

Autor

Amy Ruttan
Amy Ruttan ist am Stadtrand von Toronto in Kanada aufgewachsen. Sich in einen Jungen vom Land zu verlieben, war für sie aber Grund genug, der großen Stadt den Rücken zu kehren. Sie heiratete ihn und gemeinsam gründeten die beiden eine Familie, inzwischen haben sie drei wundervolle Kinder. Trotzdem hat Amy...
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