Vier Jahre voller Sehnsucht

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Er war ihre große Liebe: Daniel Devaney! Doch in den schmerzlichsten Stunden ihres Lebens ließ er sie im Stich. Für Molly gab es nur eine Lösung: Trennung! Vier Jahre sind seitdem vergangen. Konnte die Zeit alle Wunden heilen? Als Danie in Mollys Restaurant als Anwalt Recherchen anstellen muss, sehen sie sich das erste Mal wieder. Wie damals überwältigt sie die Leidenschaft - nach wie vor sehnt sich Molly nur nach diesem attraktiven Mann. Daniel scheint es umgekehrt nicht anders zu gehen - seine stürmischen Küssen sprechen Bände. Obwohl Mollys Herz lichterloh brennt, zögert sie, dem Glück mit Daniel eine zweite Chance zu geben ...


  • Erscheinungstag 06.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777524
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es war ein paar Minuten nach Mitternacht. Für Molly Creighton endete ein ganz besonderer Tag. Jedes Mal, wenn dieser Tag kam, verspürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Herzen und in ihrer Seele. Es schmerzte so sehr, dass sie überzeugt war, es nicht mehr länger aushalten zu können.

Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, wie grausam und unberechenbar das Schicksal sein konnte. Als sie noch ganz klein gewesen war, hatte Molly ihre Eltern verloren, und sie hatte es der Fürsorge ihres Großvaters zu verdanken, dass sie den unsäglichen Schmerz über den Tod ihrer Eltern überhaupt verkraftet hatte. Jess war ein strenger Großvater gewesen, aber er hatte sie sehr geliebt. Er hatte ihr das Bewusstsein gegeben, mit allen Schwierigkeiten fertig werden zu können, die das Leben so mit sich brachte. Trotzdem gab es eine Sache, die sie nie hatte verwinden können. Ein Verlust, der sie so tief schmerzte, dass sie ihn nicht einfach abhaken und frohen Mutes in die Zukunft schauen konnte.

Und dabei schien es ihr gut zu gehen, wenn man es von außen betrachtete. Molly bewirtschaftete die Bar direkt am Hafen von Widow’s Cove in Maine, die schon ihrem Großvater gehört hatte. Sie hatte viele Bekannte und ein paar wirklich gute Freunde. Das Einzige, was ihr wirklich alles bedeutet hatte, gehörte jedoch nicht mehr zu ihrem Leben: Sie hatte ihr Baby verloren.

Und sie gab Daniel Devaney die Schuld daran. Daniel war ihre große Liebe gewesen, obwohl sie und er zwei grundverschiedene Menschen waren. Molly hatte – bis vor ein paar Jahren jedenfalls – das Leben immer mit offenen Armen willkommen geheißen, weil sie genau wusste, dass es manchmal verdammt kurz sein konnte. Daniel dagegen klammerte sich krampfhaft an Vorschriften und Gesetze. Seine Entscheidungen basierten auf Logik und Vernunft. Vielleicht hatte sie sich deshalb so unwiderstehlich zu ihm hingezogen gefühlt, denn sie hatte es in vollen Zügen genossen, seinen geordneten Alltag mit schönster Regelmäßigkeit durcheinander zu bringen. Außerdem hatte seine behutsame, aufmerksame Zärtlichkeit ihr immer fast den Verstand geraubt.

Sie hatten einander praktisch ihr ganzes Leben lang gekannt. Daniel war in Widow’s Cove aufgewachsen, obwohl seine Eltern jetzt in einer kleinen Stadt ungefähr dreißig Meilen außerhalb wohnten. Daniel und Molly waren zusammen auf die High School gegangen. Er war der Star im Footballteam gewesen und sie der Star auf jeder Party. Molly hatte ein paar belanglose Affären mit anderen Jungen gehabt, bevor sie sich schließlich in Daniel verliebt hatte. Ein einziges Date hatte ausgereicht, um mit ihrem wilden Partyleben Schluss zu machen. Ein einziger Kuss hatte ihr Schicksal besiegelt.

Obwohl Daniel aufs College gegangen war und Molly nicht, war aus ihnen ein Liebespaar geworden. Jede freie Minute hatten sie miteinander verbracht. Sie war überzeugt gewesen, dass sie all seine Geheimnisse kannte. Aber das ganz große Geheimnis, das er tief in seinem Innern vergraben hatte und das ihm fast das Herz zerriss, das hatte sie nicht gekannt.

Vor vier Jahren war Molly schwanger gewesen. Mit überschäumender Freude hatte sie Daniel davon erzählt, und sie hatte nicht den geringsten Zweifel gehabt, dass er sich genauso freuen würde wie sie. Er hatte gerade sein Studium abgeschlossen und eine viel versprechende Karriere begonnen. Unzählige Male hatte er ihr gesagt, dass er sie mehr liebte als alles andere auf der Welt. Das Thema Ehe hatten sie zwar nie angeschnitten, aber sie war überzeugt gewesen, dass sie geradewegs darauf zusteuerten. Wenn die Schwangerschaft die Entwicklung ein bisschen beschleunigte, was konnte so falsch daran sein?

Doch ganz entgegen aller Erwartung war Daniel vollkommen entsetzt gewesen. Nicht, weil er sie nicht liebte, noch nicht mal, weil sie zu jung waren, wie er gemeint hatte, sondern weil er um keinen Preis Vater werden wollte.

Damals erst hatte er ihr das Geheimnis der Devaneys anvertraut. Das Familiengeheimnis, das ihm und seinem Zwillingsbruder Patrick fast das Herz zerrissen hatte. Patrick war so tief verletzt, dass er seit vielen Jahren kein Wort mehr mit seinen Eltern gewechselt hatte.

Daniel hatte Molly erzählt, dass seine Eltern, Connor und Kathleen Devaney, ihre drei ältesten Söhne skrupellos im Stich gelassen hatten und von Boston nach Maine gezogen waren. Nur Daniel und Patrick hatten sie mitgenommen. Jahrelang hatten sie die Zwillinge so aufgezogen, als ob es ihre einzigen Söhne gewesen wären. Vor ein paar Jahren erst hatte Daniel die Wahrheit erfahren. Zu dem Zeitpunkt war er achtzehn Jahre alt gewesen, und er hatte das Erlebnis im Grunde noch immer nicht verkraftet.

Wenn sein Vater in der Lage war, hatte Daniel zu Molly gesagt, seine drei ältesten Söhne von einem Tag auf den anderen im Stich zu lassen und sie der Fürsorge zu überlassen, wie konnte er, der Sohn, dann jemals daran denken, selbst Vater zu werden? Ein Kind, das von einem Devaney abstammte, konnte nicht viel Glück haben im Leben.

Molly hatte versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Sie war sich sicher, dass er ein wundervoller Vater sein würde. Schließlich war er Staatsanwalt und vertrat vor Gericht die Rechte der Kinder. Aber er hatte sich strikt geweigert, über die finanzielle Unterstützung hinaus irgendeine Rolle im Leben ihres gemeinsamen Kindes zu spielen. Beharrlich hatte er behauptet, dass sie – und das Baby – es ihm eines Tages sogar danken würde.

Molly war zu stolz gewesen, sich auf ein aussichtsloses Gefecht mit Daniel einzulassen. Sie war überzeugt, dass sie ihr Kind auch allein würde großziehen können, und sie hatte seine finanzielle Unterstützung mit scharfen Worten zurückgewiesen. Ihr Baby würde ein Creighton sein – und stolz darauf.

Vielleicht hätte alles genauso kommen können, wenn Daniel ihr nicht das Herz gebrochen hätte. Es machte den Eindruck, als ob ihr Körper längst eingesehen hätte, was ihr Herz noch nicht hatte wahrhaben wollen. Ein Leben ohne Daniel machte keinen Sinn. In jener Nacht, in der sie so heftig gestritten hatten, hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Sie hatte ihr geliebtes Baby verloren.

Es war Daniels Bruder Patrick gewesen, der sie in jener grauenhaften Frühjahrsnacht vor vier Jahren ins Krankenhaus gebracht hatte. Es war Patrick gewesen, der ihr die Hand gehalten und verzweifelt versucht hatte, sie zu trösten. Und Patrick trocknete ihr die Tränen, jedes Jahr im Frühling, wenn die Erinnerung an das schreckliche Ereignis sie wieder überfiel. Auch in diesem Jahr war er wieder bei ihr gewesen. Vor ein paar Minuten erst war er zu seiner Frau nach Hause gefahren. Was Daniel betraf, er und Molly hatten seit jener Nacht kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sie zweifelte daran, dass sie jemals wieder wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen würden, und sie gab sich selbst ebenso sehr die Schuld daran wie ihm.

Das bedeutete jedoch nicht, dass sie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Kein Tag verging, ohne dass sie einen Gedanken an ihren Verlust verschwendete. Schließlich hatte sie nicht nur ihr Kind verloren, sondern ihre gesamte Zukunft. Allein der Anblick von Patrick, der seinem Zwillingsbruder glich wie ein Ei dem anderen, hielt die Erinnerung an die Vergangenheit ständig wach.

Molly seufzte auf und wischte erneut mit ihrem Putzlappen über die Theke.

Ein leises Geräusch in einer Sitzecke der Bar erregte plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Widow’s Cove war nicht gerade ein Tummelplatz für Verbrecher, aber trotzdem griff Molly instinktiv nach der Flasche, die direkt vor ihr auf dem Tresen stand. Mit der Waffe in der Hand schlich sie vorsichtig in die Richtung, aus der das verdächtige Geräusch gekommen war.

Sie hielt den Flaschenhals fest umklammert und war bereit, mit aller Kraft zuzuschlagen, als ein zierliches dunkelhaariges Mädchen, kaum älter als dreizehn oder vierzehn, aus der Sitzecke hervorkroch. Mit panischem Blick schaute sie Molly an und entschuldigte sich überstürzt dafür, dass sie sich trotz Sperrstunde noch in der Hafenkneipe aufhielt.

Mollys Herz pochte immer noch wie wild, während sie die Hand mit der Flasche sinken ließ und versuchte, den wirren Worten des Mädchens irgendeinen Sinn zu entnehmen.

„Du meine Güte!“, sagte Molly. Unwillkürlich wich das Kind zurück, als ob es immer noch einen Schlag befürchtete.

„Keine Angst“, beruhigte Molly, stellte die Flasche auf den Tisch und streckte dem Mädchen beide Hände entgegen. „Alles ist okay. Niemand wird dir etwas tun.“

Das Mädchen starrte Molly unverwandt an. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber war, hüllte die Kleine sich in Schweigen.

„Ich heiße Molly. Und du?“

Schweigen.

„Ich habe dich hier noch nie gesehen“, sagte Molly und tat so, als ob das Mädchen geantwortet hätte. „Woher kommst du?“

Das Mädchen antwortete mit einem starren Blick aus weit aufgerissenen Augen.

„Willst du jetzt nicht reden? Na, auch gut. Eigentlich ganz angenehm, wenn man den ganzen Abend mit einem Haufen ungehobelter Kerle verbracht hat, die ihre Klappe nicht halten können, obwohl sie nichts als Blödsinn daherreden.“

Jetzt zuckten die Mundwinkel des Mädchens leicht. Es schien, als wollte sie ein Lächeln unterdrücken. Molly grinste. Sie freute sich, dass das Mädchen offenbar ganz ihrer Meinung war.

„Verstehe“, fuhr Molly fort. „Hast du Hunger? Die Küche ist schon geschlossen, aber ich könnte dir ein Sandwich machen. Ich kann dir Schinken und Käse anbieten. Oder Tunfischsalat. Oder Erdnussbutter und Salzgurken, mein Lieblingsessen.“

„Iiiih“, stieß das Mädchen unwillkürlich hervor und verzog angeekelt das Gesicht.

„Hab ich mir schon gedacht, dass dir das endlich eine Reaktion entlocken wird“, meinte Molly lachend. „Also gut. Keine Erdnussbutter mit Salzgurken. Aber du wirst mir sagen müssen, was du haben möchtest.“

Endlich entspannten sich die Schultern des Mädchens. „Käse und Schinken, bitte.“

„Mit Milch?“

„Wasser, wenn es keine Umstände macht.“

Immerhin, das Kind hat Manieren, dachte Molly anerkennend. Und ihrer Kleidung nach zu urteilen, kommt die Kleine aus wirklich guten Verhältnissen. Obwohl ihre Sachen vollkommen zerknittert waren, konnte man erkennen, dass sie die neuste Teenager-Mode trug. Ausgeblichene Designerjeans und ein knappes Hemd, das einen schmalen Streifen blasse Haut um ihre Hüften freigab.

„Ich kann das Sandwich auch bezahlen“, bot das Mädchen an, während es Molly in die Küche folgte.

„Das geht aufs Haus“, wies Molly zurück und suchte nach den Zutaten für ein üppiges Sandwich und nach einer Flasche Wasser.

Das Mädchen nahm das Sandwich sowie das Getränk und schaute Molly unsicher an. „Wollen Sie gar nichts essen? Sie haben doch den ganzen Abend über noch keinen Bissen zu sich genommen.“

Molly war überrascht. „Woher weißt du das?“

„Ich habe Sie ein bisschen beobachtet“, gab das Mädchen schüchtern zu. „Weil ich dachte, dass Sie mir vielleicht einen Job geben, wenn ich genau aufpasse.“

„Wie alt bist du?“

„Achtzehn.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Molly und runzelte missbilligend die Stirn. „Wie wäre es mit vierzehn?“

„Fast“, stieß das Mädchen unwillkürlich hervor.

„Also dreizehn“, schloss Molly und seufzte wieder auf. Vierzehn machte die Sache zwar nicht viel besser, aber dreizehn bedeutete auf alle Fälle einen Haufen Ärger. „Weißt du, ich gebe mir alle Mühe, nicht gegen geltendes Recht zu verstoßen. In meiner Bar beschäftige ich keine minderjährigen Mädchen.“

„Aber ich könnte doch wenigstens die Tische abwischen und Ihnen beim Putzen helfen, wenn die Bar geschlossen ist“, wandte das Mädchen ein. „Den Fußboden könnte ich aufwischen. Niemand wird mich zu Gesicht bekommen. Und das verstößt doch nicht gegen das Gesetz, oder?“

Rein formal gesehen hatte sie Recht, aber Molly würde den Teufel tun und eine minderjährige Ausreißerin in der Bar arbeiten lassen, ohne nicht zumindest ihren Namen und ein paar Fakten zu kennen.

„Ich mache dir einen Vorschlag. Du sagst mir, wie du heißt, und erzählst mir deine Geschichte. Und dann reden wir über den Job.“

„Mit vollem Mund spricht man nicht“, nuschelte das Mädchen und biss herzhaft in ihr Sandwich.

Molly amüsierte sich köstlich über die Verzögerungstaktik.

Das Mädchen würgte den Rest des Sandwichs hinunter und richtete den Blick dann auf den Käse und den Schinken, die immer noch auf der Theke standen. Molly begriff auf Anhieb, machte ein zweites Sandwich und hielt es dem Mädchen hin.

„Jetzt ist dein Mund leer“, sagte sie. „Ich warte.“

Die Fremde musterte Molly aufmerksam. „Okay“, gab sie schließlich nach. „Ich heiße Kendra.“

„Ohne Familiennamen?“

Kendra nickte. Ihre Augen blitzten trotzig. „Nur Kendra.“

„Wo kommst du her?“

„Von zu Hause.“

„Mit mir nicht, meine Liebe“, meinte Molly grinsend. „Etwas genauer, wenn ich bitten darf.“

Das Mädchen seufzte auf. „Aus Portland.“

„Ich kann wohl davon ausgehen, dass deine Familie in Portland jetzt halb verrückt ist vor Sorge?“

Sie zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich.“ Kendra gab sich alle Mühe, möglichst gelangweilt auszusehen.

„Dann ruf sie auf der Stelle an“, verlangte Molly. „Das ist absolute Bedingung, wenn du hier bleiben willst. Deine Eltern müssen wissen, dass dir nichts zugestoßen ist.“

Plötzlich stiegen dem Mädchen Tränen in die Augen. „Ausgeschlossen“, stieß sie krampfhaft hervor. „Auf keinen Fall.“

„Was um Himmels willen ist denn passiert?“, fragte Molly anteilnehmend. Plötzlich schoss ihr eine unglaubliche Vermutung durch den Kopf. „Du bist doch nicht etwa schwanger?“

„Haben Sie den Verstand verloren?“, gab Kendra entrüstet zurück. „Ich bin doch noch ein halbes Kind!“

Molly war sichtlich erleichtert. „Warum bist du dann von zu Hause abgehauen? Meiner Erfahrung nach gibt es für jedes Problem eine Lösung. Man muss sich nur zusammensetzen und über die Sache reden.“

Kendra taxierte Molly mit prüfendem Blick. „Haben Sie auch mit dem Mann geredet, der Ihnen das Herz gebrochen hat?“

Unwillkürlich zuckte Molly zusammen. „Was soll das?“

„Sie haben geweint. Vorhin, als Sie die Bar geschlossen haben. Sonst hätte ich mich schon viel früher bemerkbar gemacht. Menschen weinen nur, wenn man sie verletzt. Also, haben Sie nun darüber geredet oder nicht?“

Molly dachte daran, dass Daniel sich strikt geweigert hatte, auch nur ein einziges Wort über die Angelegenheit zu verlieren. Und nach ihrem heftigen Streit war sie diejenige gewesen, die ihm die kalte Schulter gezeigt hatte. Er hatte zwar versucht, sich bei ihr zu entschuldigen – bestimmt hatte Patrick darauf bestanden –, aber sie hatte ihm gesagt, er solle gefälligst aus ihrem Leben zu verschwinden. Dann hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

„Haben Sie nicht, stimmt’s?“, frohlockte Kendra. „Warum also sollte ich es tun? Nur weil ich ein Kind bin?“

„Kann sein“, gab Molly zu, beeindruckt von der scharfen Logik des Mädchens. „Aber ich komme in Teufels Küche, wenn ich dir einen Job gebe und dich hier herumlungern lasse. Dem Gesetz nach bist du minderjährig, ganz egal, ob du der Meinung bist, dass du alt genug bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen.“

Kendra schaute sie an. Ihr Blick wirkte viel zu erwachsen für ihr Alter. „Wenn Sie mir keinen Job geben, muss ich wieder auf die Straße“, erwiderte sie schlicht. „Können Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren? Vielleicht sind die Leute in der nächsten Kneipe nicht so nett zu mir.“

Verdammt noch mal, fluchte Molly innerlich. Natürlich konnte sie das nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. „Maximal eine Woche“, erklärte sie bestimmt. „Und du erzählst mir, was los ist. Ich helfe dir, die beste Lösung für dein Problem zu finden.“

„Wenn das heißen soll, dass ich meine Eltern anrufe, das können Sie gleich abhaken“, beharrte Kendra starrköpfig.

Molly war ganz anderer Meinung, behielt es aber lieber für sich. „Wir werden sehen. Wann hast du eigentlich das letzte Mal gegessen?“

„Ein Trucker hat mir heute Morgen ein paar Doughnuts spendiert“, erklärte Kendra. „Es war eine Frau. Sie hat zufällig auf dem selben Rastplatz gehalten wie mein Bus. Irgendwie muss ich ihr Leid getan haben, weil sie mir die Doughnuts ganz spontan angeboten hat. Ich hätte sie auch selbst bezahlen können, aber ich hielt es für klüger, mein Geld zusammenzuhalten, weil ich nicht wusste, wann ich einen Job finde.“ Nachdenklich schaute sie Molly an. „Was zahlen Sie eigentlich?“

„Das werden wir morgen früh besprechen.“

„Aber die Mahlzeiten sind inklusive, oder?“

Molly unterdrückte ein Grinsen. „Ja.“

„Kann ich auch hier schlafen?“

„Ja. Bist du in deinem früheren Leben zufällig Versicherungsvertreterin gewesen?“

Lässig zuckte Kendra die Schultern. „Ich sehe nur zu, dass ich zu meinem Recht komme. Wer außer mir sollte das sonst tun?“

Stimmt, dachte Molly insgeheim. Welchen Preis hatte sie selbst zahlen müssen, bis sie diese Lektion endlich begriffen hatte?

Es waren die traurigsten Augen, die Daniel Devaney jemals gesehen hatte. Er saß im Büro an seinem Schreibtisch und betrachtete das neuste Plakat eines vermissten Kindes. Kendra Grace Morrow hatte große, dunkle Augen, die ihn ängstlich anschauten. Die Informationen auf dem Fax besagten, dass sie erst dreizehn Jahre alt war, aber für ihr Alter sah sie viel zu klug und viel zu erwachsen aus.

Man nahm an, dass sie sich irgendwo in Maine aufhielt, nachdem sie vor zwei Wochen von ihrem Zuhause in Portland ausgerissen war. Mit Sicherheit waren ihre Eltern kurz davor, aus Sorge den Verstand verlieren. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Wie immer, wenn er das Plakat mit einem vermissten Kind anschaute, tat es Daniel in der Seele weh. Aber in diesem Fall gab es wenigstens keinen Zweifel daran, dass die Kleine aus freien Stücken abgehauen war. Sie war bestimmt nicht entführt worden. Der Zettel, den sie hinterlassen hatte, war relativ nichts sagend. Sie hatte einfach ihre Sachen gepackt und war abgehauen. Ein paar Meldungen über den Aufenthaltsort des Mädchens waren bei der Polizei eingegangen, und jedes Mal hatte es geheißen, dass sie allein unterwegs sei.

Jugendliche Ausreißer hatten offenbar keinen Begriff davon, dass sie sich in große Gefahr begaben. Oder aber die Lage im Elternhaus war so schrecklich, dass jede Veränderung als Verbesserung empfunden wurde. Im Fall Kendra Morrow kannte Daniel zwar keine Details, aber eines hatten alle Ausreißer gemeinsam: Die Kinder brauchten Hilfe. Und jedes Mal, wenn ihm ein Kind in Not begegnete, fragte er sich, ob es wohl auch Plakate mit den Bildern seiner drei älteren Brüder gegeben hatte. Die Brüder, von denen er keinen blassen Schimmer gehabt hatte, bis ihm auf dem Dachboden seines Elternhauses zufällig ein Haufen alter Fotos in die Hände gefallen war. Seine Eltern hatten die drei ältesten Kinder von einem Tag auf den anderen der Fürsorge überlassen.

Was mochten Ryan, Sean und Michael nur gedacht haben, als sie eines Tages feststellen mussten, dass Connor und Kathleen Devaney sie im Stich gelassen hatten? Wie lange hatte es gedauert, bis sie nicht mehr weinen mussten? Wie lange hatte es gedauert, bis sie nicht mehr darauf warteten, dass ihre Mom und ihr Dad vorbeikommen und sie mit nach Hause nehmen würden? Hatten sie es gut getroffen mit ihren Pflegefamilien? Oder hatte die Kinder- und Jugendhilfe versagt, genauso wie seine eigenen Eltern?

Vor kurzem hatte er seine Brüder zum ersten Mal getroffen. Sie hatten es peinlichst vermieden, das heikle Thema anzuschneiden. Aber irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würden sie sich der Vergangenheit stellen müssen. Auch er und Patrick waren zutiefst verletzt gewesen, nachdem sie die volle Wahrheit über ihre Familie entdeckt hatten.

Patrick hatte es sogar noch weniger verkraftet als Daniel. Er war von einem Tag auf den anderen zu Hause ausgezogen und hatte seither kein Wort mehr mit seinen Eltern gewechselt. Auch zu Daniel hatte er erst vor kurzem wieder Kontakt aufgenommen, als er das erste Wiedersehen mit Ryan, Sean und Michael arrangiert hatte. Patrick hatte erwartet, dass Daniel, weil er mit den Eltern in Kontakt geblieben war, ihm den Grund für die dramatische Entscheidung seiner Eltern nennen konnte. Aber Daniel tappte genauso im Dunkeln wie alle anderen auch, denn seine Eltern weigerten sich strikt, über die Vergangenheit zu sprechen.

Obwohl Daniel mit seinen Eltern in Kontakt geblieben war, hieß das nicht, dass er nicht trotzdem wütend auf sie war. Und seinen Brüdern gegenüber fühlte er sich schuldig, weil er zu den beiden Söhnen gehörte, die bei den Eltern hatten aufwachsen dürfen.

Es gab eine Sache, die Daniel ganz sicher seinen Eltern zu verdanken hatte: Hätten er und Patrick den Verrat an seinen drei älteren Brüdern nicht aufgedeckt, hätte er sich höchstwahrscheinlich nicht für den Beruf entschieden, den er jetzt ausübte. Er half Kindern und Jugendlichen in Not. Er kämpfte für deren Rechte, er vermittelte zwischen den Kindern und ihren Eltern, oder er kümmerte sich darum, dass sie in liebevollen Pflegefamilien unterkamen.

Immer hielt er sich genauestens an die Vorschriften. Störende Gefühle pflegte er in ein vorgefertigtes Schema zu pressen, um sie handhabbar zu machen. Manchmal funktionierte es. Manchmal auch nicht. Und Kendra Morrows verzweifelter Blick bedeutete ihm, dass es dieses Mal nicht funktionieren würde. Der Blick des Mädchens konnte einen Eisberg zum Schmelzen bringen. Inständig hoffte er, dass es nicht in die falschen Hände geraten war.

Als das Telefon klingelte, schob er erleichtert seine trübsinnigen Gedanken beiseite. „Devaney.“

„Daniel, hier ist Joe Sutton aus dem Polizeihauptquartier. Hast du das Plakat mit Kendra Morrow schon gesehen?“

„Es liegt gerade vor mir auf dem Schreibtisch.“

„Ich war eben in Widow’s Cove zum Mittagessen“, erzählte der Beamte.

Allein der Name der Stadt trieb Daniel den Schweiß auf die Stirn. Dort gab es nur einen Ort, wo man Mittagessen konnte: Mollys Hafenkneipe.

„Ich glaube, Kendra Morrow versteckt sich bei Molly Creighton in der Kneipe“, fuhr Joe fort. „Weißt du, welche ich meine? Die, wo es die beste Fischsuppe von ganz Maine gibt.“

„Ja, im Jess’s. Bist du sicher, dass es Kendra war?“

„Wenn nicht sie, dann ihr Double.“

„Und warum hast du sie nicht mitgenommen?“, wollte Daniel wissen. Er und Joe hatten schon mehrere Dutzend Fälle gemeinsam bearbeitet, und Daniel schätzte den sicheren Instinkt des älteren Kollegen.

„Vorhin habe ich ihre Akte durchgeblättert, und mir scheint, da stimmt irgendwas nicht“, erklärte Joe Sutton. „Ich dachte, dass du dich vielleicht mal mit dem Mädchen unterhalten solltest, während ich mich danach erkundige, warum sie überhaupt weggelaufen ist. Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass Gefahr im Verzug ist, hätte ich sie gleich mitgebracht, aber sie wird nicht wieder abhauen. Molly wird schon ein Auge auf sie haben. Und ich wollte sie nicht aus ihrer Umgebung reißen, bevor ich nicht genau weiß, was passiert ist. Kannst du gleich rüberfahren und mit ihr reden?“ Offensichtlich wollte Joe keine Zeit verlieren.

„Bin schon unterwegs“, versprach Daniel, heftete das Fax mit dem Bild in seinen Kalender und steckte ihn in seine Tasche. „Ich komme später bei dir vorbei. Soll ich dir das Mädchen nicht doch mitbringen, wenn es sich wirklich um Kendra handelt? Wenn sie bemerkt, dass wir ihr auf den Fersen sind, wird sie vielleicht wieder ausreißen.“

„Nein“, beschwichtigte Joe. „Sag Molly Bescheid, nur für den Fall, dass sie keine Ahnung hat, wer sich da bei ihr eingenistet hat. Bei ihr ist Kendra in Sicherheit.“

„Molly lässt eine Dreizehnjährige in ihrer Bar schuften“, erinnerte Daniel verkniffen.

„Bleib locker“, riet Joe lachend. „Das Kind serviert Fischsuppe. Um die Wahrheit zu sagen, es verschüttet mehr, als es serviert. Dagegen ist nichts einzuwenden. Irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, dass Kendra bei Molly blendend aufgehoben ist. Wir sollten inzwischen in Erfahrung bringen, was sie von zu Hause vertrieben hat.“

Eine ziemlich eigenwillige Auslegung der Dienstvorschriften, dachte Daniel, aber er biss sich auf die Zunge und schluckte seine Einwände hinunter. Es war Joes Fall. Jedenfalls so lange, bis das Vormundschaftsgericht eingriff. Dann würde Daniel schon zu verstehen geben, was er von einer Frau hielt, die eine minderjährige Ausreißerin in ihrer Kneipe arbeiten ließ, ohne die zuständigen Behörden zu informieren.

„Der Mann, mit dem du gerade gesprochen hast“, meinte Kendra zu Molly und warf ihr einen panischen Blick zu, „das war ein Bulle. Das sieht man hundert Meilen gegen den Wind.“

„Das war Joe Sutton“, erwiderte Molly. „Ja, er ist ein Bulle. Aber ein guter. Alle paar Wochen kommt er vorbei und isst einen Teller Fischsuppe. Wenn er dich gesucht hätte, hätte er mit mir gesprochen. Außerdem ist er jetzt verschwunden. Also hat er dich nicht erkannt.“

„Vielleicht hat er nur seine Handschellen vergessen“, mutmaßte Kendra.

„Meine Liebe, er wird dich nicht in Handschellen abführen. Schließlich bist du keine Kriminelle. Von Joe hast du nichts zu befürchten.“

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, als die Tür aufging und Daniel Devaney in die Bar stürmte. Mollys Einschätzung nach hatte Kendra von Daniel zehn Mal mehr zu befürchten als von Joe Sutton, denn Daniel pflegte sich strikt an die Vorschriften zu halten.

„Verschwinde in die Küche“, befahl Molly und schob sich vor Kendra, um sie vor Daniel zu verbergen. „Und sieh zu, dass dich niemand zu Gesicht kriegt. Sag Retta, dass Daniel hier ist. Sie wird sofort kapieren, was das zu bedeuten hat. Dir erkläre ich es später.“ Molly griff nach Kendras Hand und drückte sie fest. „Vertrau mir. Alles wird gut.“

Kendra folgte Mollys Blick, bis sie Daniel entdeckte. „Ist er auch ein Bulle?“

„Nein, schlimmer. Er ist Staatsanwalt.“

„Dann kommt er meinetwegen?“

„Höchstwahrscheinlich.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, aus welchen Gründen Daniel Devaney sonst ihre Bar stürmen sollte. Nicht, nachdem sie ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass er bei ihr nicht erwünscht war. „Halte dich nur außer Sichtweite. Mit Daniel Devaney werde ich schon fertig.“

Nachdem Kendra in die Küche verschwunden war, ging Molly mit dem Bestellblock in der Hand zu Daniels Tisch hinüber. Sie setzte eine betont sachliche Miene auf und unterdrückte die Erregung, die ihr bei seinem Anblick sofort wieder durch die Adern flutete. Um Kendras willen nahm sie sich vor, gelassen zu bleiben.

„Lange nicht gesehen“, grüßte sie. „Toll, dass du hier mal wieder auftauchst. Ich dachte, dass du inzwischen schickere Kneipen bevorzugst.“

„Das habe ich nie behauptet.“

Autor

Sherryl Woods
Über 110 Romane wurden seit 1982 von Sherryl Woods veröffentlicht. Ihre ersten Liebesromane kamen unter den Pseudonymen Alexandra Kirk und Suzanne Sherrill auf den Markt, erst seit 1985 schreibt sie unter ihrem richtigen Namen Sherryl Woods. Neben Liebesromanen gibt es auch zwei Krimiserien über die fiktiven Personen Molly DeWitt sowie...
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