Vier Tage und eine Polarnacht

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"Dein Ring steht für eine Lüge." Bis zu der entlegenen Forschungsstation in der Antarktis ist Dr. Lia Monterrosa gereist, um ihrem Ex den Verlobungsring zurückzugeben. Aber wie verhängnisvoll: West ist immer noch der Einzige, den sie jemals geliebt hat - jemals lieben wird!


  • Erscheinungstag 09.01.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536257
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dr. Lia Monterrosa hatte zwar nicht den Abenteuergeist ihrer portugiesischen Vorfahren geerbt, dafür redete sie gern und viel. Nach der langen, anstrengenden Reise schien keiner ihrer Begleiter so munter zu sein wie sie. Sie waren alle dick angezogen und schleppten ihr Gepäck durch die blitzsauberen Korridore der neuen Forschungsstation in der Antarktis, in der sie gerade eingetroffen waren und den langen Winter verbringen würden.

In den Gesprächen hatten die Männer und Frauen ihr unterschiedliche Gründe für ihren Aufenthalt hier genannt – viele waren einfach neugierig auf diese einmalige Erfahrung, andere glaubten, sich hier, in acht Monaten völliger Abgeschiedenheit, zusammen mit fünfzig Fremden, am besten auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Dies war für Lia der Vorteil ihrer Reise – von Menschen umgeben zu sein, die sie nicht kannten und deshalb auch keine Erwartungen an sie hatten. Sie musste weder besonders stark noch besonders angepasst sein.

Sie war gekommen, um hier ihren ehemaligen Verlobten zu finden. Ihn zu fragen, was in den vier Tagen passiert war, in denen sie nach Hause nach Portugal gereist und er zu dem Ergebnis gekommen war, dass er sie nicht mehr liebte und auch nicht mehr heiraten wollte. Warum er so kaltherzig gewesen war, spurlos zu verschwinden, während sie Angaben bei der Kriminalpolizei machte, um ihren als vermisst gemeldeten Vater zu finden.

Er hatte keine Nachricht hinterlassen. Er hatte einfach nur nicht mehr auf ihre Anrufe reagiert, und als sie sich freigenommen hatte und drei Tage vor der Hochzeit nach London gereist war, hatte sie festgestellt, dass seine Wohnung leer war und er seinen Job sowie seinen Mobilfunkvertrag gekündigt hatte. Ihr waren nur noch der wunderschöne Ring geblieben, den sie zusammen entworfen hatten, und eine große innere Leere.

Heute allerdings würde sie ihn nach zu vielen qualvollen Monaten wiedersehen. Wenn das Schicksal ihr wohlgesonnen war, würde er ihr Antworten geben. Und sie könnte endlich damit abschließen, was ihr damals versagt geblieben war.

Wie aufs Stichwort krampfte sich ihr Magen zusammen. Den Grund für das Ende zu erfahren würde ihr helfen, auch wenn ihr damit wieder einmal bewusst wurde, dass sie offenbar nicht gut genug war.

„Dr. Monterrosa, Sie sind in Gebäude C“, sagte nun die Frau, die sie alle einwies, und deutete auf eine Tür mit einem halbrunden Fenster. Nachdem alle stehen geblieben waren, fügte sie hinzu: „Da Sie am Ende des Sommers eingetroffen sind, verteilen wir Sie auf die freien Zimmer.“

Und wenn die anderen in etwas mehr als einer Woche abreisten, würde sie, Lia, die Einzige in diesem Gebäude sein. Nachdem Jordan und Zeke die Forschungsstation verlassen hätten. Nachdem West …

Lia wollte nach der Nummer fragen, doch die Frau kam ihr zuvor. „Die letzte Tür links, am Ende des Flurs.“

Lia schulterte ihre Reisetasche und betrat durch eine Tür einen weiteren, viel dunkleren Flur mit beigefarbenen Wänden und gleichfarbiger Auslegeware.

Dr. Weston MacIntyre würde damit rechnen, dass sie ihm angriffslustig begegnete, und das hatte einen gewissen Reiz, weil sie damit ihre Gefühle überspielen konnte.

Ihre beste Freundin und Beinahe-Trauzeugin Jordan, mit der sie zusammen Medizin studiert hatte, hatte sie an dem Tag angerufen, als West in der Fletcher Station aufgetaucht war. Nach der geplatzten Hochzeit hatte Lia Trost bei Jordan gefunden, denn sie hatte nicht einmal gewusst, ob West überhaupt noch lebte. Sie hatte Monate Zeit gehabt, um sich auf diese Begegnung vorzubereiten, sich jedes Wort zurechtgelegt, doch nun ließ die Vorstellung, auch nur etwas davon zu sagen, sie nur den Kopf schütteln. Niemand, der um die halbe Welt reiste, um einen anderen Menschen zu finden, konnte behaupten, er hätte denjenigen nicht vermisst. Hätte sich keine Sorgen gemacht.

Als Lia um eine Ecke ging, sah sie einen großen, breitschultrigen Mann mit einer schwarzen Strickmütze und einem ebensolchen Bart, einen Schlüssel in der Hand, vor den letzten beiden Türen stehen. Und er blickte in ihre Richtung.

Erneut krampfte sich ihr Magen zusammen, und hätte sie sich nicht an ihrem Rollkoffer festgehalten, hätten ihre Beine ihr vermutlich den Dienst versagt.

Es war West.

Ihr Verlobter, der immer wie aus dem Ei gepellt gewesen war. Ihr Ex-Verlobter. Doch nun wirkte er ziemlich abgerissen.

Plötzlich musste Lia an all die Male denken, die sie auf ihn zugegangen war. Bei ihrer ersten Begegnung in dem Krankenhaus in London, als man die Assistenzarztstelle für den frischgebackenen Chirurgen intern besetzen wollte. Während sie sich dem Schwesternzimmer näherte, in dem er saß, hatte sein Blick unverhohlenes Interesse verraten, bis er ihren Namen gehört hatte. Sie hatte sich auch zu ihm hingezogen gefühlt, es aber verdrängt, bis sie ihn nach drei Tagen gefragt hatte, ob er mit ihr ausgehen wollte.

Die Londoner Lia war furchtlos, zumindest nach außen hin. Denn das erwarteten alle von ihr.

Nun hob sie das Kinn, während sie die anderen Erinnerungen zu verdrängen versuchte. An die gemeinsame Suche nach der perfekten Kirche für ihre Hochzeit. An seine Blicke, in denen das Versprechen auf eine gemeinsame Zukunft gelegen hatte.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um anschließend umso schneller zu pochen. Und dann wurde ihr übel.

West betrachtete sie nur starr. Sein Blick war intensiv, verriet jedoch keine Liebe.

War dies der Moment? Dem Brennen in ihren Augen nach zu urteilen, ja. Passierte es, noch bevor sie ihr Gepäck abgestellt hatte?

Sie war noch nicht bereit.

Sie musste irgendetwas sagen. Schließlich hatte sie die lange Reise genau deshalb auf sich genommen. Um sich endlich von der Last zu befreien, die der Ring an ihrer linken Hand symbolisierte. Die widersprüchlichsten Emotionen tobten in ihr. Erleichterung. Bedauern. Das Gefühl, verraten worden zu sein.

Hätte sie auf dem Schiff überhaupt etwas Schlaf gefunden, hätte sie nachdenken können. Dann hätte sie jetzt den Blick abwenden können und kein Rauschen in den Ohren gehabt.

Die Lia, die er kannte, hätte ihn angeschrien. Ihn vielleicht geohrfeigt. Ihm Antworten abgenötigt. Irgendetwas. Doch die Frau, die sie jetzt war, konnte es nicht.

Während West sich offensichtlich von dem Schock erholte, gab sie es auf, nach den richtigen Worten zu suchen, und wartete darauf, dass er irgendwie reagierte.

Aber West sagte ebenfalls nichts. Er presste lediglich die Lippen zusammen, der einzige Hinweis darauf, dass sie mehr für ihn war als eine Fremde. Als hätte er das Recht, wütend auf sie zu sein. Schließlich hatte sie ihn nicht vor dem Altar stehen lassen.

Als Lia ihm schließlich etwas sagen wollte, ging er an ihr vorbei und stürmte den Flur entlang. Wieder einmal wollte er vor ihr fliehen. Sie war um die halbe Welt gereist, um ihn zu finden, doch in diesem Augenblick brachte sie nicht mehr die Energie auf, ihm zu folgen. Deshalb schloss sie kurz die Augen und atmete tief durch.

Sie war so dumm. Es gab andere Forschungsstationen in der Antarktis, für die sie sich hätte bewerben können. Ein ganzes Universum, in dem niemand sie kannte und sie sich ohne jeden äußeren Druck auf ihr neues Leben hätte vorbereiten können.

Lia neigte den Kopf und schloss erneut die Lider, um all das zu verdrängen, was sie offenbar nie wieder mit West erleben würde. Eigentlich hätte seine Reaktion sie nicht überraschen dürfen. Natürlich wollte er nicht mit ihr sprechen. Sie stand für seine Vergangenheit, und er hatte es immer vermieden, über die Vergangenheit zu reden. Er hatte nur von der Zukunft gesprochen. Und sie war nicht mehr Teil seiner Zukunft. Besser gesagt, nur noch Teil seiner nahen Zukunft, bis er in zehn Tagen fliehen konnte.

Er würde mit ihr sprechen. Sie würde sich überlegen, was genau sie ihm sagen wollte, nicht nur, was ihr gebrochenes Herz herausschreien wollte. Sie würden zusammenarbeiten und sich jeden Tag sehen. Sobald sie genug Schlaf bekommen hatte, würde sie ihm sagen, was sie zu sagen hatte.

Das war das einzig Gute daran, dass sie wieder die alte Lia war. Zu Hause in Portugal war sie die brave, gehorsame Lia gewesen, und auch daran hatte sie sich gewöhnen müssen. Die alte Lia hatte eine eigene Meinung, die sie auch kundtat. Und wenn sie hier wieder abreiste, würde sie vielleicht wissen, wer sie wirklich war, fern von den Menschen, die ganz bestimmte Erwartungen an sie hatten.

In der Nähe ihrer besten Freundin zu sein, würde ihr dabei helfen, sich wieder in die alte Lia zu verwandeln.

„Lia?“

Sie hatte niemanden kommen hören, doch beim Klang von Jordans Stimme öffnete sie die Augen wieder.

„Was hat er gesagt?“, fragte Jordan, bevor sie sie umarmte.

„Nichts“, murmelte Lia, während sie die Arme um sie schlang. „Er hat nichts gesagt.“

Mit finsterer Miene lehnte Jordan sich zurück. „Und was hast du zu ihm gesagt? Dass er der größte Idiot auf Erden ist?“

Lia schüttelte den Kopf. „Ich habe gar nichts gesagt. Ich hatte noch nicht damit gerechnet, ihn zu sehen.“

„Ich wollte es dir erzählen. Ich habe dafür gesorgt, damit er sich nicht zu weit entfernen kann, falls er hier überhaupt noch etwas Schlaf bekommen will.“

„Das ist sein Zimmer?“

Jordan nickte, blickte dann jedoch zögernd zur Tür. „Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Vielleicht hätte ich dir gar nicht erzählen sollen, dass er hier ist.“

„Unsinn. Ich möchte hier sein. Es ist kalt, aber daran werde ich mich schon gewöhnen. Ich muss mir nur überlegen, was ich sagen soll, bevor …“

„Du hast noch Zeit.“

Zehn Tage. „Ich wollte nur mein Gepäck abstellen und dann zur Krankenstation gehen.“

„Und er hat einfach hier gestanden?“ Nachdem Jordan ihr die Schlüssel und das Gepäck abgenommen hatte, öffnete sie die Tür zu dem winzigen Zimmer.

„Ja. Und er sah so aus, als würde er am liebsten sofort packen und das erste Schiff nehmen.“

Lia ließ den Blick durch den Raum schweifen. Dieser hatte ein Eckfenster und war mit einem Doppelbett, einem kleinen Tisch sowie einem Einbauschrank möbliert. Zwischen Tür und Fenster war nur ein schmaler Gang. Gemütlich. Ja, so würde sie es nennen. Ein kleiner Raum, der leichter zu beheizen wäre. Da, sie war optimistisch.

„So sieht er mich jeden Tag an.“ Jordan stellte das Gepäck neben das Bett, bevor sie ihr bedeutete, ihr wieder hinauszufolgen. „Na ja, nicht direkt, aber wir reden später darüber, was für ein Mistkerl er ist. Ich soll dich zu deiner ärztlichen Untersuchung bringen.“

Auf dem Weg zur Krankenstation erzählte Jordan ihr von ihrer Arbeit dort. Und von Zeke. Sie hatte ihn hier kennengelernt und sich in ihn verliebt.

„Eigentlich wollte ich heute Abend mit dir zusammen essen“, fügte Jordan hinzu. „Aber du siehst so müde aus, dass du wahrscheinlich nur noch schlafen willst.“

„Kann ich das spontan entscheiden?“

„Klar. Nachdem ich dich mit Zeke bekannt gemacht habe.“

West taten alle Muskeln weh, als er die Krankenstation erreichte. Wie er hierhergekommen war, konnte er nicht sagen.

Was, zum Teufel, machte Lia hier? Eigentlich hätte er die Fletcher Station schon verlassen müssen, als er feststellte, dass Jordan Flynn hier arbeitete. Natürlich hatte sie Lia sofort von ihrer Begegnung erzählt. Hätte er auch nur geahnt, dass sie herkommen würde, wäre er nicht geblieben. Wenn es um Lia Monterrosa ging, war er schwach. Und er konnte ihr nur ein besseres Leben ermöglichen, indem er abreiste, sonst würde er es genauso ruinieren wie Charlies. Nur weil er gegangen war, hatten sie beide überleben können. Einen derartigen Verlust wollte er nie wieder durchmachen.

Ohne ihn konnte sie weitermachen und einen besseren Mann finden als ihn, der nicht einmal ihren Namen hören konnte, ohne sich an den Tag vor Monaten zu erinnern, als er seinen verstorbenen Bruder hatte identifizieren müssen. Nicht, dass er dafür überhaupt ihren Namen hören oder an sie denken musste. Man konnte es kaum eine Erinnerung nennen, denn es war so präsent, dass es ihm seitdem wie ein langer, nicht enden wollender Tag erschien.

Er hatte angenommen, dass sie ihn beide verflucht hatten, nachdem Jordan es ihr erzählt hatte.

Lia war nicht auf dem Weg zu seinem Zimmer gewesen. Sie hatte Gepäck dabeigehabt und den roten Overall getragen, den alle Mitarbeiter hier bekamen. Sie war in das leere Zimmer neben seinem gezogen.

West rieb sich die Stirn, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Er hatte gerade die Bücher in sein Zimmer gebracht, die er vor einem Monat bestellt und in der Poststelle abgeholt hatte. Es war früher Nachmittag. Also musste er die Eingangsuntersuchungen bei den sechs Neuankömmlingen durchführen – vier Wissenschaftler, ein Programmierer und die Ärztin, die den Winter hier verbringen würde.

Lia, die Sonnenanbeterin, hatte sich für die sechs Monate dauernde arktische Nacht verpflichtet?

Egal, er würde hier nur noch zehn Tage aushalten müssen, ohne sie um Verzeihung zu bitten. Doch selbst bei dieser Vorstellung verspürte er ein heißes Prickeln und atmete unwillkürlich schneller. Er musste sich zusammenreißen, bevor jemand hereinkam.

Schnell zog er seine Jacke aus und hängte sie auf. Verdammt, früher oder später würde Lia ihm sagen, was sie zu sagen hatte! Er brauchte nur einen Moment zum Nachdenken.

Konzentrier dich.

West ging zu dem Schrank an der Wand, in dem die Patientenakten aufbewahrt wurden. Die Hände darauf gestützt, schloss er die Augen und atmete tief durch.

Er hatte sich nie ausgemalt, wie es wäre, sie wiederzusehen, und nun zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Zu gehen bedeutete einen Neuanfang. Immer. Und sobald er das erste Hindernis überwunden hatte, ließ der Schmerz des Verlusts nach. Mal schneller, mal langsamer.

Er dachte an ihre Miene. Lia hatte traurig, ja, untröstlich gewirkt. Aber nicht wütend. Irgendetwas stimmte nicht.

„West“, riss die Stimme des leitenden Arztes Dr. Tony Bradshaw ihn aus seinen Gedanken. „Die Neuankömmlinge …“

„Ich weiß, du hast uns vor ein paar Tagen darüber informiert.“

Der Mann wurde vergesslich. Und immer dünner, aber dazu sagte West nichts. Er hatte ihn bereits zweimal darauf hingewiesen, dass er in der Antarktis mehr Nährstoffe zu sich nehmen musste.

„Gut“, meinte Tony langsam, als würde er sich wirklich nicht mehr daran erinnern, und reichte ihm die Akten, die er mitgebracht hatte. „Jordan kommt gleich und hilft dir. Sie trommelt gerade einige zusammen.“

Zum Beispiel Lia.

Als sie vor seiner Tür stand und ihn ansah, hatte sie Erinnerungen heraufbeschworen. Daran, wie sie geduftet hatte, wenn sie aus der Dusche kam. Oder wenn sie morgens beim Aufwachen nach ihm gerochen hatte.

Wieder wurde ihm heiß, und gleichzeitig lief West ein eisiger Schauer über den Rücken.

„Ich habe eine Besprechung. Du und Jordan führt die Untersuchungen durch“, rief Tony von der Tür her.

„Okay.“

Du musst erst mal die nächsten Stunden überstehen.

Dann konnte Lia nach Hause zurückkehren, und man würde einen anderen Arzt einstellen, der den Winter über hierblieb, und er müsste nicht die nächsten Monate damit verbringen, an sie zu denken und sich zu fragen, ob die Frau, die die Sonne liebte, mit der endlosen Dunkelheit in der Antarktis klarkommen würde. Er brauchte einen Neuanfang. Wieder einmal.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tony, der offenbar noch nicht gegangen war, hinter ihm.

„Ich schlafe nicht so gut“, erwiderte West ausweichend.

„Nimmst du denn die Tabletten?“

„Ja.“ Falls sie über seine Gesundheit redeten, würde er Tony auch auf seine ansprechen. Dieser sollte im Winter irgendein Projekt für die NASA leiten und würde mit seinem Gewichtsverlust bald Probleme bekommen. „Versuchst du immer noch, mehr Kalorien zu dir zu nehmen?“ Das war ein größeres Problem als seine Schlafstörungen.

Tony ignorierte seine Frage. „Lass Jordan deine Schilddrüsenwerte kontrollieren, wenn ihr mit den Neuankömmlingen fertig seid.“

„Das haben wir doch erst letzte Woche getan“, erinnerte ihn West. „Lass du das auch machen. Vergesslichkeit ist ein Symptom für den T3-Wert.“

„Ja, ja.“

Das bedeutete Nein.

„Und dann bin ich aus der Koje gefallen“, ließ Jordan sich von der Tür her vernehmen, woraufhin Tony den Raum verließ. Als Lia antwortete, musste West sich zwingen, sie nicht anzusehen, bis sein Herzschlag sich normalisiert hatte.

Zum Glück wurde Lia nie laut, egal, wie aufgebracht sie war. Falls sie auf eine Aussprache bestand, würde er mit ihr in eine Kabine gehen und die Tür hinter ihnen schließen, sodass niemand es mitbekam. Solange er nicht laut wurde. Anders als in den Wohntrakts waren die Wände auf der Krankenstation nicht dünn.

Auf keinen Fall durfte er Lia anfassen. Das hätte all seine Bemühungen zunichtegemacht. Noch nie hatte er sich in ihrer Nähe beherrschen können. Und trotz der drohenden Konfrontation wollte er sie immer noch ansehen. Immer noch berühren.

West nahm den Aktenstapel vom Tisch. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Jordan und Lia ihn betrachteten. Darauf warteten, dass er etwas sagte. Schnell ging er die Akten durch und reichte Jordan drei, unter anderem auch Lias.

„Tony möchte, dass alle Untersuchungen so schnell wie möglich durchgeführt werden.“

Nachdem Jordan einen Blick mit Lia gewechselt hatte, nahm sie die Akten entgegen.

„Falls du vorhast, mich für den Rest deines Aufenthalts hier zu ignorieren, vergiss es“, sagte Lia leise, aber nachdrücklich.

Er holte tief Luft, erwiderte aber nichts, sondern sah sie an und betrachtete sie zum ersten Mal richtig, wobei er die Unterschiede zu der Lia in London registrierte.

Sie wirkte müde. Sie war sonnengebräunt. Sie trug eine pinkfarbene Mütze. Sie hasste Pink. Früher hatte sie einen Kurzhaarschnitt getragen, doch nun blitzten braune Locken unter der Mütze hervor, die ihre zarten weiblichen Züge betonten.

„Willkommen in meinem Leben“, konterte sie, sanft wie immer, aber mit einem harten Unterton, dem er noch nie hatte widerstehen können. Dieser verriet eine innere Stärke, die er immer bewundert hatte. Die er sich bei ihr als Mutter seiner Kinder vorgestellt hatte. Der Art von Mutter, die er nie gehabt hatte und die vielleicht auch gar nicht existierte. Eine Mutter, die alles tun würde, um ihre Kinder zu beschützen.

Aber das war ein anderes Leben gewesen. Eine andere Zukunft, die er nicht hatte aufbauen können.

„Du willst den Job hier wirklich machen?“, fragte er.

Lia antwortete nicht und wandte sich schließlich an Jordan. „Kannst du mich als Erste untersuchen? Ich bin ja bisher die Einzige hier, und ich kann mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.“

Dass sie ihn ausschloss, war ihm nur recht.

Da er den Showdown zumindest vorübergehend abgewehrt hatte, ging er zum Schrank und legte die Akten darauf. So konnte er sich wenigstens von ihr und dem dumpfen Schmerz in seinem Nacken ablenken.

2. KAPITEL

Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, blieb er auch dabei. In den Stunden zwischen Lias Ankunft und seinem Dienstschluss war West zu dem Ergebnis gekommen, dass er das Problem mit Lia bei den Hörnern packen musste.

Die Umstände verstärkten seinen Ärger noch, denn der dritte Patient, der erscheinen sollte, war nicht aufgetaucht. Und fünf Minuten vor Feierabend musste er noch einen Bruch richten, womit er eine weitere Stunde beschäftigt war.

Als West vor ihrer Zimmertür eintraf, war seine Panik teilweise Wut gewichen. Das war ihm allerdings recht, weil Wut dabei half, die Erinnerungen in Schach zu halten. Er wollte sich nicht danach sehnen, zu ihr zu gehen, mit ihr zu reden, sie lächeln zu sehen. Sie zu küssen.

Er konnte also nur damit umgehen, indem er dafür sorgte, dass Lia ihn nicht wollte. Indem er ihr zu verstehen gab, dass es vorbei war. Und das musste er so schnell wie möglich durchziehen.

Nachdem West tief durchgeatmet hatte, klopfte er. Wenn Lia ihn nicht wollte, musste er in den nächsten zehn Tagen nicht ständig gegen die Versuchung ankämpfen. Es war nicht der beste Plan, aber der einzige, den er hatte.

West lauschte. Da alles stillblieb, klopfte er noch einmal.

Schließlich hörte er das Bett quietschen, dann wurde die Tür geöffnet, und er sah sich einer verschlafenen Lia gegenüber. Er hatte vier frustrierende Stunden hinter sich, doch bei ihrem Anblick überkamen ihn die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte und an ihre Liebe. Damals hatte sie ihn nach dem Aufwachen immer angelächelt. In jenen Momenten war sie nicht die starke, kompetente Ärztin gewesen, sondern einfach nur Lia. Als ihre Verwirrung sich legte, trat nun allerdings ein harter Ausdruck in ihre Augen.

Gut. Er tat sein Bestes, um ihre Erschöpfung zu ignorieren.

Mit einem Nicken deutete er ins Zimmer. „Ich mache es schnell.“

„Morgen.“

In dem schummrigen Licht sah er jetzt, dass sie von Kopf bis Fuß Pink trug. Eine Art Hausanzug mit Kapuze. Sein Ärger verflog bereits.

Warum trug sie hier überall Pink? Sie hasste diese Farbe. Zu gern hätte er sie danach gefragt. Aber damit hätte er Interesse bekundet, was er auf keinen Fall wollte. Ebenso wenig wie sie zu berühren, obwohl er sich kaum beherrschen konnte.

„Jetzt oder nie, Lia.“ West ballte die Hände zu Fäusten, um Lia nicht an sich zu ziehen. Allein sie zu betrachten tat weh.

„Der möge jetzt sprechen oder für immer schweigen?“, fragte sie leise.

Die Worte, die Teil des ehelichen Treuegelübdes waren, trafen ihn wie ein Schlag. Trotz aller guten Vorsätze konnte West seine Reaktion nicht verbergen, doch er presste die Lippen zusammen und nickte erneut, woraufhin sie zur Seite trat.

Genau aus dem Grund ergriff er nach Katastrophen immer die Flucht. Er ertrug es nicht, hier zu stehen und ihren Schmerz zu spüren. Als wäre dieses Zimmer ein Ort zwischen zwei Universen – dem, in dem er alles bekommen hatte, was er sich je gewünscht hatte, und diesem, in dem er Lia ein letztes Geschenk machen konnte, indem er ging.

West schloss die Tür und lehnte sich dagegen, während Lia auf die andere Seite des Raumes ging. In seiner Fantasie hatte er sie angeschrien, ihr grausame Dinge an den Kopf geworfen und gelogen, damit sie ihn hasste. Aber nun, da sie ihm gegenüberstand und er ihren Schmerz so deutlich spürte, konnte er es nicht.

West zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. „Ich weiß nicht, was du willst, aber du vergeudest deine Zeit“, sagte er leise und mitfühlender als beabsichtigt. „Es ist vorbei. Sag, was du sagen willst, und das war’s dann.“ Er hörte selbst, dass sein schottischer Akzent viel deutlicher hervortrat.

„Ich bin nicht gekommen, um etwas zu sagen. Ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass du lebst und es dir gut geht“, erwiderte Lia mit bebender Stimme.

„Das hast du jetzt ja.“

„Stimmt, du lebst. Und ich muss begreifen, warum der Mann, der mich angeblich geliebt hat, der einzige …“ Sie verstummte und schloss die Augen, während sie nervös mit den Fingern spielte und sichtlich um Fassung rang. „Warum du einfach gegangen bist, und das drei Tage vor unserer Hochzeit. Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was ich falsch gemacht habe.“

Sie nahm also die Schuld auf sich. Wenn er ihr die ganze verdammte Geschichte erzählte, würde sie vermutlich sagen, sein Bruder hätte sich das Leben genommen, weil sie zu viel Zeit mit West verbracht hatte, oder es wäre ihre Schuld, weil West keinen Abhängigen in seiner neuen Familie wollte und er Charlie ein Ultimatum gestellt hatte. Hätte er Charlie zugehört, dann hätte er merken müssen, dass dieser nicht bereit gewesen war, seiner Familie zuliebe einen Entzug zu machen …

West rieb sich die Stirn, weil sein Kopf zu pochen begonnen hatte. Denk nicht an Charlie. Er würde es Lia nicht erzählen. Doch wenn er wollte, dass sie ihm glaubte und die Schuld nicht auf sich nahm, musste er ihr irgendeinen Vorwand für sein Verschwinden nennen.

„Du hast nichts falsch gemacht.“ Das Sprechen fiel ihm schwer. „Etwas ist passiert, und ich musste gehen.“

„Was ist passiert?“

„Darüber möchte ich nicht reden, und das weißt du.“

Sie zuckte die Schultern. Unter anderen Umständen hätte er über ihren Anblick in dem lächerlichen Hausanzug gelächelt – aber er hatte schon lange nicht mehr gelächelt.

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