Villa der süßen Träume

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Auf den ersten Blick hat sich die junge Malerin in den feurigen Lorenzo verliebt. Er nimmt sie mit in seine prachtvolle Villa auf Sizilien, scheint jedoch ihre leidenschaftlichen Gefühle nicht zu erwidern. Warum aber lässt der attraktive Anwalt sie dann kaum aus den Augen ?


  • Erscheinungstag 20.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777708
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Sie tun mir Unrecht, Signora!“, protestierte Nina und hob abwehrend ihre Hände. „Ich würde doch nie …“

„Du, raus, du schlimmes Mädchen“, schrie Silvestra Locasto und stieß Nina so hart nach vorn, dass sie gegen einen Olivenbaum im Vorgarten der Locastos prallte und sich dabei den Arm aufritzte.

Das sizilianische Hausmädchen warf Ninas Sachen die Eingangstreppe hinunter und unterdrückte dabei ein zufriedenes Lächeln. Die beiden Kinder der Locastos dagegen, um die sich Nina bis vor einer halben Stunde noch gekümmert hatte, versuchten gar nicht erst, ihre Freude zu verbergen. Sie lachten laut heraus und zeigten schadenfroh mit dem Finger auf sie.

Abgesehen von dieser Demütigung war Nina eigentlich froh, dass es so weit gekommen war. Sie hatte dieses grauenhafte Haus vom ersten Tag an gehasst. Ist das wirklich erst zwei Wochen her? Es war ihr wie ein Gefängnisaufenthalt vorgekommen. Aber ihre finanzielle Lage hatte sie bisher dazu gezwungen, alles auszuhalten.

Jetzt war es endlich vorbei. Dieser unwürdige Abgang war es fast wert, endlich von diesen scheußlichen, verwöhnten Gören, ihrer grauenhaften Mutter, die nichts weiter als ein ehemaliges Fischweib war, und Emilio Locasto selbst befreit zu sein. Meine Güte, dachte sie angewidert, ich habe nicht gewusst, dass derartige Männer noch immer existieren. Verschwitzt, schleimig und merkwürdigerweise davon überzeugt, ein Geschenk an die Frauen zu sein.

Nina schauderte bei dem Gedanken daran, wie er permanent versucht hatte, sie anzufassen. Und diese ständigen zweideutigen Anspielungen. Und nun musste sie sich mit der Wut dieser eifersüchtigen Frau auseinander setzen, die offensichtlich ernste Verständnisprobleme hatte, wenn sie glaubte, dass eine andere Frau ihren Mann attraktiv finden könnte.

Silvestra griff nach Ninas langen, blonden Haaren und zerrte sie daran durch die schmiedeeisernen Tore auf die Straße.

„Du wolltest mir meinen Mann wegnehmen, aber er mag keine Bohnenstangen“, kreischte Silvestra. „Raus auf die Straße, wo du hingehörst! Du hast ihn nach Geld gefragt, aber ich will schließlich keine Hure bezahlen“, rief sie so laut, dass es alle hören konnten. Und mittlerweile waren viele Zuhörer anwesend. Nahezu jede Hausfrau der Straße beobachtete ihren Rauswurf aus dem großen Stadthaus der angeblich respektablen Locasto-Familie. „Da du dich wie eine Hure benommen hast, kannst du auch hier draußen arbeiten!“

Diese letzte Beleidigung war zu viel für Nina. Seit sie in Sizilien angekommen war, um ihren Vater zu suchen, hatte sie nichts als Stress und Ärger gehabt. Aber sie war zu störrisch, um zurück nach England zu fliegen und zuzugeben, dass diese ganze Idee nur ein naiver Versuch gewesen war, ihre Wurzeln zu finden. Auch wenn ich meine Würde verliere, dachte sie entschlossen, ein Feigling bin ich nicht!

Wütend riss sich Nina aus dem festen Griff der Frau los und starrte sie mit aufgerissenen Augen an. Aber ihre plötzliche Rebellion verschwand genauso schnell, wie sie aufgewallt war. Was soll ich jetzt eigentlich machen? Diese Frau würgen, bis sie auf der Straße liegt, während unzählige Leute mir dabei zusehen? Aber Silvestra Locasto war noch lange nicht fertig mit ihrem Opfer. Nina war auf die kräftige Ohrfeige nicht vorbereitet gewesen. Geschockt taumelte sie zurück und hörte mit Schrecken, wie die anderen Frauen Silvestra Locasto auch noch anfeuerten.

Plötzlich durchfuhr sie nackte Angst. Sie war Ausländerin, eine Fremde, und nach Signora Locasto nun auch eine Ehebrecherin. Ich hätte keine Chance gegen all diese sizilianischen Frauen. Aber ihr Stolz war ihr geblieben. Den hatte sie wohl von ihrem Vater geerbt, von dem Vater, den sie hier zu finden gehofft hatte. Bin ich nicht auch eigentlich Halbsizilianerin? Sie wandte sich wieder an Silvestra Locasto:

„Sie bezahlen mir, was sie mir schulden, Signora“, zischte sie. „Wenn sie mich nicht bezahlen, werde ich überall erzählen, was für eine schlechte Arbeitgeberin Sie sind.“

Die Frau stemmte ihre Hände in die Hüften und warf lachend ihren Kopf zurück. Dann erniedrigte sie Nina weiter, indem sie sie mit einem erneuten Fußtritt weiter auf die heiße, staubige Straße beförderte.

Nina stolperte vorwärts, konnte ihr Gleichgewicht aber nicht halten und stürzte. Benommen lag sie auf dem Kopfsteinpflaster und versuchte, wieder zu sich zu kommen.

Aber ihre Situation wurde noch schlimmer, als plötzlich von allen Seiten mit diversen Sachen nach ihr geworfen wurde. Überreife Tomaten fielen auf sie nieder, und jemand schüttete sogar einen Eimer Wasser aus dem Fenster, der sie nur knapp verfehlte. Sie hörte den allgemeinen Beifall der Frauen, die begeistert die Erniedrigung einer angeblichen Ehebrecherin beobachteten …

Schließlich vernahm sie das Klirren des schmiedeeisernen Tores.

Dieses Geräusch erleichterte sie fast. Endlich waren der Stress und die Qualen vorbei. Sie hatte sich noch nie so einsam und unglücklich gefühlt wie in den letzten zwei Wochen. Und jetzt lag alles hinter ihr.

Langsam kam sie wieder richtig zu sich und öffnete zögernd die Augen. Ihr fiel auf, dass sich die Geräusche um sie herum geändert hatten, während sie auf dem Boden nach Luft gerungen hatte. Jetzt war da ein neues Geräusch, das leise Schnurren eines Motors und das Geräusch einer Autotür, die sich genau neben ihr öffnete.

Das Lachen der Frauen hatte aufgehört, und jetzt war nur noch ein leises, warnendes Murmeln zu vernehmen. Langsam hob Nina den Kopf. Ihr Herz raste in Erwartung dessen, was diese unheimliche Stille hervorgerufen hatte. Das erste, das sie im Hitzenebel über der Straße sah, waren ein paar polierte Lederschuhe. Langsam hob sie ihren Kopf und blickte nach oben. Sie hatte erwartet, dass die heiße Sonne sie blenden würde, aber glücklicherweise lag sie im Schatten der Person, die nun neben ihr stand. Sie ließ ihren Blick über zwei lange, in weißes Leinen gehüllte Beine wandern, bis zu einem tadellosen, weißen Jackett. Der fremde Mann hatte seine kräftigen Arme vor der Brust verschränkt. Seinen dunklen Kopf, der von schwarzen, sich kringelnden Locken umrahmt war, hatte er weit zu ihr heruntergebeugt, um sie eingehend zu betrachten.

Der Mann sagte kein Wort, sondern stand einfach nur da und starrte sie an. Nina konnte seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, aber sie war einfach nur froh, dass er rechtzeitig aufgetaucht war, um den Aufstand der anderen Frauen zu beenden. Außerdem war sie erleichtert, dass er keine Uniform der örtlichen Polizei trug. Nach allem, was schon passiert war, wollte sie nicht auch noch verhaftet werden, da sie für die Locastos ohne Arbeitserlaubnis gearbeitet hatte.

Nina versuchte aufzustehen, doch sie musste sich sofort wieder auf den Bürgersteig setzen. Hier bin ich nun, dachte sie unglücklich, und sitze mit schmutzigen Shorts und aufgeschrammten Knien auf der Straße.

„Geht es ihnen gut?“, fragte der fremde Mann mit tiefer Stimme und einem leicht italienischen Akzent.

Nina hob den Kopf und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätte ich deutlich mehr zu schätzen gewusst, wie unglaublich gut dieser Mann aussieht, dachte sie betrübt.

„Habe mich schon besser gefühlt“, antwortete sie. „Auch schon mal besser ausgesehen“, fügte sie hinzu und wischte sich noch ein paar klebrige Tomatenreste vom Oberarm.

Er reichte ihr seine starke, braungebrannte Hand und zog sie ohne die geringste Mühe auf die Füße.

„Danke“, sagte sie und brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Sie sind der erste Gentleman, der mir in diesem Teil von Palermo über den Weg gelaufen ist.“ Sie nutzte diesen Augenblick, um sich den Fremden genauer anzusehen.

Sie bewunderte seine schwarzen, glänzenden Augen und die überraschend feinen Gesichtszüge. Wie viel er wohl von meiner unwürdigen Entlassung mitbekommen hat, überlegte sie unwillkürlich.

Unsicher fuhr sich Nina durch das Haar. Meine Güte, ich muss fürchterlich aussehen, und er wirkt doch so unglaublich elegant, dachte sie verzweifelt. Sie betrachtete ihn neugierig und sah dann an ihm vorbei zu seinem Auto. Erstaunt holte sie tief Luft. Es war eher eine Luxuslimousine als ein normales Auto, ganz in Weiß und mit schwarz getönten Scheiben.

„Und wer sind Sie, der lokale Steuereintreiber?“, fragte sie jetzt schnippisch, nachdem sie sich von ihrem ersten Schock erholt hatte. Sowohl er als auch sein Auto wirkten in dieser engen Straße mitten in Palermo völlig deplatziert.

Er bedachte ihren schwachen Versuch, witzig zu sein, nicht mit einem einzigen Wort. Nur seine Augen waren ein wenig schmaler geworden. Plötzlich bekam Nina Herzklopfen. Wie konnte ich nur so etwas zu einem Fremden sagen, der ein solches Auto hat! Obwohl sie erst seit einigen Wochen in Sizilien war, hatte sie doch schon genug von der Atmosphäre der Insel mitbekommen.

Nervös ballte sie ihre Hände zu Fäusten. „Ähm, vielen Dank, dass sie mir geholfen haben“, sagte sie. „Dann werde ich mich jetzt mal auf den Weg machen. Auf Wiedersehen!“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab, um ihren Rucksack aufzuheben. Sie fühlte sich schrecklich, nach allem, was geschehen war: Erst war ihr das Geld in der ersten Woche in der Jugendherberge gestohlen worden, dann hatte sie nur bei den schrecklichen Locastos Arbeit gefunden. Und jetzt war sie von dieser Familie auch noch ohne Bezahlung auf die Straße gesetzt worden … Die Dinge hätten gar nicht schlimmer sein können!

Ihr Rucksack wurde aufgehoben, bevor sie ihn selbst erreichen konnte. Ohne ein Wort drehte der Fremde sich um und warf ihn durch die offene Beifahrertür seiner Limousine auf den Vordersitz. Dann bückte er sich und hob ihre Kette, ein Taschenbuch, ein paar Pinsel und eine Tube Feuchtigkeitscreme auf.

Nina war vor Verwirrung wie erstarrt und wich zurück. „Nein, wirklich“, protestierte sie und hielt abwehrend ihre Hände hoch. „Mir geht es jetzt wirklich gut. Mein … mein Freund wartet auf mich. Genau hier um die Ecke auf dem Marktplatz“, stammelte sie und spürte, wie ihr bei dieser Lüge die Hitze ins Gesicht schoss. Wenn es doch bloß einen Freund geben würde!

Er glaubte ihr nicht. Schweigend hob er seine dunklen Augenbrauen und nickte nur noch einmal in Richtung Autotür.

Unter normalen Umständen wäre sie niemals eingestiegen, aber in diesem Augenblick wurde ihr plötzlich das ganze Ausmaß ihrer verzweifelten Lage bewusst. Man hatte ihr ganzes Geld gestohlen, und ihr Aufenthalt bei den Locastos war ein Fiasko gewesen, für das man sie nicht einmal bezahlt hatte. Und jetzt stand sie alleine, ohne Geld, ohne Unterkunft in einem der schlimmsten Stadtteile von Palermo.

Der Fremde musste ihre Verzweiflung erkannt haben, denn er machte einen Schritt nach vorn und nahm zu ihrer Überraschung sehr vorsichtig ihren Arm, um sie zum Auto zu führen. Dann fing er an zu sprechen, sehr sanft und einfühlsam:

„Haben Sie keine Angst. Ich will Ihnen nichts Böses tun, aber Sie haben einen Schock erlitten und sehen außerdem so aus, als könnten Sie ein Bad gebrauchen. Dies ist keine gute Gegend für eine junge, englische Dame. Deshalb erlauben Sie mir, Ihnen meine Hilfe anzubieten.“

Ich muss grauenhaft aussehen, dass er mir sogar ein Bad vorschlägt, dachte sie niedergeschlagen. Für wen oder was hält er mich überhaupt, nachdem er diese absurden Anschuldigungen und Beleidigungen der Signora Locasto gehört hat?

„Woher … woher wissen Sie, dass ich Engländerin bin?“, fragte sie zögernd. Er zeigte lächelnd auf ihren Rucksack, der auf dem Autositz lag. Sie hatte die britische Flagge auf ihren Rucksack genäht, da sie gehofft hatte, dass ihr das beim Trampen durch Frankreich und Italien helfen würde. Und tatsächlich war sie auch gut durchgekommen und hatte dabei eine Menge sympathischer Menschen kennen gelernt. Ihr ganzes Vorhaben hatte also viel versprechend angefangen, aber seit sie in Sizilien angekommen war, bekam sie nichts als Ärger.

Obwohl Nina von dem Lächeln des Fremden fasziniert war, versuchte sie, sich zusammenzureißen. Genau genommen hatte sie das Gefühl, dass alle ihre Sinne äußerst sensibilisiert waren. Trotzdem, ein Typ, der eine Limousine mit schwarzen Fenstern fährt, muss etwas zu verbergen haben, überlegte sie.

„Möchten Sie jetzt einsteigen, oder soll ich Sie lieber hier der Gnade dieser Frauen überlassen?“, fragte er ruhig. „Nach dem, was ich gerade gesehen und gehört habe, würde ich Ihnen nicht raten, hier weiter allein auf der Straße herumzulaufen.“

Nina schluckte schwer. Also hatte er alles mitbekommen. Immerhin hat er angehalten, um mir zu helfen, aber vielleicht hält er mich nur für eine einfache Beute, vor allem nach Signora Locastos Anschuldigungen.

Nina richtete sich auf und drehte sich zu ihm um. Ich weiß die Wahrheit, und das ist alles, was zählt, dachte sie und betrachtete dabei ihr Spiegelbild in einem der Autofenster. Sie sah fürchterlich aus mit den Tomatenresten in den Haaren und der roten, geschwollenen Wange, auf die Silvestra Locasto sie geschlagen hatte. Ein Mann müsste es schon sehr nötig haben, um sich an mir zu vergreifen! Und dieser hier sieht eher aus wie die Sorte, die zu Hause einen Harem toller Frauen oder eine umwerfend schöne Ehefrau hat.

„Danke, aber nein, danke“, sagte sie fest. Mit diesen Worten lehnte sie sich ins Auto, um ihre Sachen wieder herauszuholen.

Doch plötzlich spürte sie hinter sich eine Bewegung, und einen Moment später wurde sie mit fester Hand ins Innere des Wagens geschoben. Dann knallte der Fremde hinter ihr die Beifahrertür zu. Eine Sekunde lang war Nina geschockt, doch dann versuchte sie sofort, über den Fahrersitz auf der anderen Seite des Autos hinauszuklettern. Doch dort versperrte ihr sein massiver, muskulöser Körper sofort den Weg.

Sie schnappte nach Luft. „Was glauben sie, was Sie da tun?“, schrie sie und wich vor ihm zurück. Und wie war er überhaupt so schnell auf den Fahrersitz gekommen?

„Ich benehme mich im Augenblick sehr viel vernünftiger, als Sie es tun“, antwortete er trocken.

Nina ließ sich in den weißen Ledersitz zurückfallen und versuchte, sich zu beruhigen. Sie wusste, dass niemand sie von draußen durch die getönten Scheiben sehen konnte. Hastig versuchte sie, die Beifahrertür aufzureißen, aber die ließ sich nicht mehr öffnen. Der Fremde reagierte nicht, sondern ließ den Motor des Wagens an.

Sie schluckte. „Wo bringen Sie mich hin?“, fragte sie angespannt.

„Zum Marktplatz“, antwortete er mit einer übertriebenen Selbstverständlichkeit. „Ich werde Sie sicher zu Ihrem Freund bringen und dann weiterfahren“, fügte er hinzu.

Nina spürte, wie ihr unerträgliche Hitze ins Gesicht schoss. „Vielen Dank“, murmelte sie und lehnte sich langsam zurück. Sie starrte verkrampft geradeaus und wartete, dass sie auf den Marktplatz einbogen. Und was jetzt? dachte sie verzweifelt. Wo soll ich jetzt bloß hingehen?

Vor ein paar Wochen hätte sie die Herausforderung mit Begeisterung angenommen. Aber nach den Vorkommnissen in der letzten Zeit wünschte sie sich, doch auf Jonathan gehört zu haben. Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben, dachte sie matt.

„Du verstehst nicht, was ich fühle, Jonathan“, hatte sie zu ihm gesagt. „Du hast mir einen Heiratsantrag gemacht, aber wie kann ich darüber nachdenken, wenn ich gar nicht weiß, wer ich eigentlich bin?“

„Du suchst doch nur nach einer Entschuldigung, um einer Entscheidung auszuweichen, Nina“, hatte er wütend geantwortet. „Wovor hast du eigentlich Angst?“

„Bitte, Jonathan, mach es nicht noch schlimmer für mich!“, hatte sie ihn gebeten. Sie war einfach noch nicht bereit für eine Ehe, besonders nicht, nachdem sie diese Papiere im Büro ihres Adoptivvaters gefunden hatte. Wie soll ich meine Zukunft planen, wenn ich nicht einmal meine Vergangenheit kenne?

„Du bist Nina Parker und du hast eine Mutter und einen Vater, die sich dein ganzes Leben lang um dich gekümmert haben“, hatte Jonathan gesagt. „Wie kannst du ihnen so etwas antun, wenn sie nicht einmal hier sind?“

Aber Nina konnte sich nicht richtig schuldig fühlen. Als sie alt genug gewesen war, hatten ihre Eltern ihr erklärt, dass sie adoptiert worden sei. Sie waren beide immer sehr rational und nicht gerade liebevoll mit ihr gewesen. Nina dachte zu diesem Zeitpunkt, dass sie dafür dankbar sein musste, nicht in einem Waisenhaus aufzuwachsen. Aber sie spürte eine wachsende Einsamkeit in sich, die ihre Adoptiveltern nicht ausfüllen konnten. Für sie war Nina bloß ein hübsches kleines Mädchen gewesen, das in ihr eigenes Leben gepasst hatte. Aber nach einer Weile waren sie enttäuscht von ihr, da sie sich in eine von ihnen unerwünschte Richtung entwickelte. Sie hatte künstlerisches Talent, was ihre Eltern allerdings nie anerkennen wollten. Sie wünschten sich eine Ärztin oder eine Rechtsanwältin als Tochter, nicht eine Malerin, die Grußkarten entwarf, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Zurzeit waren ihre Eltern für ein Jahr in Australien wegen eines Lehreraustausches. Und gerade jetzt musste sie diese Papiere finden.

„Ich habe einen sizilianischen Vater“, hatte Nina Jonathan erklärt. „Und meine leibliche Mutter starb bei einem Autounfall, als ich ein Jahr alt war. Das hatten sie mir erzählt, aber sie haben mir nie etwas über meinen Vater erzählt. Ich habe diese Papiere nun gefunden und ich habe einen Namen und ein Land als Anhaltspunkt. Ich will wissen, wo meine Wurzeln sind, Jonathan. Kannst du nicht verstehen, wie ich fühle?“

„Du lebst in einer Traumwelt, Nina. Du bist ja geradezu davon besessen“, war Jonathans Antwort gewesen.

„Ich muss es einfach wissen“, schloss sie schwach. „Irgendwo auf Sizilien habe ich einen leiblichen Vater. Ich kann dir dieses Gefühl nicht erklären, aber es ist wie ein hohler Teil in mir, der ausgefüllt werden muss. Ich habe eine Begabung, ein künstlerisches Talent in mir, und vielleicht habe ich es von meinem Vater. Ich weiß es nicht, aber ich will es wissen!“

Aber Jonathan hatte sie nicht verstanden, und ihre Unterhaltung war in eine hitzige Diskussion ausgeartet. Am Ende dieser Diskussion hatte sie ihre Beziehung als beendet angesehen, und dies war nur ein weiterer Grund für sie, nach ihrem leiblichen Vater zu suchen.

Sie hatte in allen Telefonbüchern nach dem Namen Gio Giulianni gesucht und in Palermo einige Familien mit diesem Namen angerufen. Die meisten konnten ihr nicht weiterhelfen oder hatten einfach aufgelegt. Sie hatte es dann bei Ämtern und Banken versucht, war aber überall abgewiesen worden. Langsam wurde ihr klar, dass sie sich von ihren Emotionen und nicht von ihrem Verstand hatte hierher treiben lassen. Genau wie Jonathan es vorausgesehen hatte.

Plötzlich bogen sie mit der Limousine auf den Marktplatz ein, und der Fremde hielt an, ohne den Motor auszuschalten. Dann drehte er sich zu ihr um und sah sie einen Augenblick lang mit belustigter Miene an.

„Also, wir sind da“, sagte er ruhig.

Nina starrte mit aufgerissenen Augen auf den großen Platz und begriff langsam, warum er so belustigt war. Dies war nicht gerade ein Ort für Touristen. Wie jede große Stadt auf der ganzen Welt hatte auch diese ihr dunkles Viertel. Der Ort, vor dem jeder Reiseveranstalter warnt, an dem man sich nie ohne Begleitung aufhalten sollte, schon gar nicht als junges, hübsches Mädchen.

Sie betrachtete nervös die großen und kleinen Gruppen dunkelhäutiger Männer, die in den offenen Bars standen und sich mit ihren muskulösen, behaarten Armen gegenseitig zuwinkten. Nicht eine einzige weibliche Person war unter ihnen zu sehen, und auch kein Mann, den sie als ihren Freund hätte ausgeben können.

„Also“, fragte er leichthin. „Welcher von ihnen ist es?“

„Ich … ich glaube, er ist noch nicht hier“, stammelte sie unsicher.

Der Gedanke, aus der sicheren Limousine auszusteigen, war für Nina unerträglich. Aber sie musste es tun. Sie hatte sich an diesem Tag schon genug Blöße gegeben.

„Ich werde auf ihn warten“, sagte sie und griff nach ihrem Rucksack. Dann öffnete sie die Beifahrertür, die jetzt nicht mehr verriegelt war. Sie hatte schon ein Bein auf die Straße gestellt, bevor sie sich noch einmal umdrehte. „Danke, vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Sie wollte gerade ganz aussteigen, als sie plötzlich Emilio Locasto erkannte, der nur einige Meter von ihr entfernt war. Er saß draußen vor einer schmutzigen Bar auf einem Plastikstuhl und lachte laut mit einer Gruppe genauso widerwärtiger Männer.

Plötzlich schossen Nina die Ereignisse des Morgens wieder durch den Kopf, wie er unter einem Vorwand in ihr Zimmer gekommen und über sie hergefallen war. Wenn seine Frau nicht überraschend ebenfalls in das Zimmer gekommen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich nicht mehr wehren können.

Nina ließ sich zurück auf den Beifahrersitz fallen und griff sich unwillkürlich an ihren Hals, um ihre eigene Übelkeit zu unterdrücken. Auf einmal drehte sich alles um sie, und alle Geräusche verschwammen um sie herum. Sie spürte nur, wie ein beschützender Arm sie wieder ins Auto zog und die Beifahrertür schloss. Danach bewegte sich das Auto wieder, und langsam wurde Nina etwas ruhiger.

Sie saß zitternd neben dem Fremden und öffnete erst nach einer Ewigkeit ihre Augen. Sie bemerkte, dass sie sich auf einer größeren Straße befanden, die offensichtlich aus der Stadt hinausführte.

„Locasto?“, fragte der Fremde mit tiefer Stimme.

Nina wand sich innerlich, denn sie wollte nicht mehr darüber nachdenken. Doch plötzlich schoss ihr eine Erkenntnis durch den Kopf.

„Sie kennen ihn!“, stellte sie verblüfft fest. „Sie kennen Emilio Locasto!“

Er antwortete ihr nicht, sondern nickte nur kurz.

In Ninas Kopf rumorte es. In der kurzen Zeit, die Nina bei den Locastos gearbeitet hatte, hatte sie einiges über die Familie erfahren. In jedem Fall verdiente Emilio Locasto sein Geld mit irgendwelchen illegalen Geschäften, denn der Familie ging es finanziell sehr viel besser als vielen anderen in jener Gegend. So abstoßend er auch war, genoss er doch offensichtlich in diesem Gebiet ein gewisses Ansehen.

Ninas Herz schlug schneller. Dieser Fremde kennt ihn? dachte sie bebend. Wer weiß, was er noch vorhat?

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es scheint so, als würden wir uns von der Hauptstadt entfernen, und wirklich, wenn Sie mich vielleicht in Palermo absetzen könnten … Ich habe Freunde, mit denen ich mich treffen kann und …“ ihre Stimme versagte. Sie holte einmal tief Luft. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich mitgenommen haben, aber …“

„Ist schon gut“, unterbrach er sie sanft. „Ich werde Ihnen schon nichts tun. Ich bin kein Freund von Locasto, obwohl ich ihn gut kenne. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.“

„Ich habe keine Angst vor Ihnen“, platzte sie heraus. Habe ich? „Es ist nur … wo bringen Sie mich hin?“, schloss sie leise.

„Zu mir nach Hause“, erklärte er ruhig. „Sie brauchen unbedingt ein Bad.“

Zu ihm nach Hause! Ein Bad! „Oh nein!“ Nina war plötzlich wieder munter. „Ich fahre doch nicht irgendwohin mit einem Fremden, der mich gerade aus der Gosse geholt hat. Ich sehe vielleicht unmöglich aus, aber ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Jetzt halten Sie bitte an und lassen mich aussteigen!“

„Damit Sie sich wieder in neue Schwierigkeiten bringen?“

Und bevor sie noch ein weiteres Wort herausbringen konnte, tätschelte er sanft ihr Knie.

„Beruhigen Sie sich, Nina“, sagte er leichthin und zog seine Hand sofort wieder weg. „Sie sind im Moment nicht in der Verfassung, eigene Entscheidungen zu treffen. Entspannen Sie sich nur und genießen Sie den Ausblick! Wir sind bald da.“

Autor

Natalie Fox
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