Von Vätern und Töchtern - 4-teilige Serie

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Es muss Schicksal sein: In dieser Familie gibt es lauter gut aussehende Single Dads mit süßen Töchtern. Finden die Duos zum Verlieben ihr Glück?

DU BRINGST LACHEN IN MEIN LEBEN
Grant Braeburn erkennt sein Leben kaum wieder: Kerzenschein und helle Stimmen erwarten ihn, wenn er abends in sein luxuriöses Haus zurückkehrt. Dankbar schaut er zu, wie die lebhafte Mia Vaccaro seine kleine Tochter über den Verlust der Mutter hinwegtröstet und sie endlich wieder zum Lachen bringt. Bald weckt Mia in ihm mehr als nur Dankbarkeit: nämlich den Wunsch, sie zu umarmen und zärtlich zu küssen, sie glücklich zu machen, ihr den Glauben an die Liebe wiederzugeben … Doch das kann er nur, wenn er ein ungeheuerliches Geheimnis tief in sich verschließt!

WO UNSERE TRÄUME WOHNEN
Er hat ihren Traum zerstört! Violet ist entsetzt, als sie erfährt, dass der ehemalige Polizist Rudy den alten Gasthof gekauft hat, der ihr versprochen war. Dort wollte sie sich und ihren Söhnen eine Zukunft aufbauen, doch jetzt steht sie vor den Trümmern ihres Lebens. Als Rudy von der Not der jungen Mutter erfährt, bietet er ihr an, die Pension gemeinsam zu führen. Violet sagt zu, und je weiter die Arbeiten an dem Haus voranschreiten, desto größer wird ihre Überzeugung: Hier könnte sie ihr Glück finden. Aber nur, wenn sie Rudy für immer an ihrer Seite weiß

EINE FAMILIE FÜR JULIANNE
Juliannes ganze Liebe gehört dem Kind ihrer Schwester. Um keinen Preis will sie es wiederhergeben! Bis plötzlich Kevin Vaccaro bei ihr auftaucht. Schweren Herzens muss sie ihm gestehen, dass er der Vater der süßen Philippa ist. Wird er ihr die Kleine jetzt wegnehmen? Julianne ist verzweifelt. Da schlägt Kevin überraschend vor, eine Familie zu gründen. Aber auch wenn Julianne sich stark zu ihm hingezogen fühlt, hat sie Angst vor einer neuen Bindung, denn sie ist erst seit zwei Jahren Witwe. Soll sie es wirklich schon wagen, ihr Herz noch einmal zu riskieren?

WENN AUS FREUNDSCHAFT LIEBE WIRD?
Gibt es ihn, den richtigen Zeitpunkt für die Liebe? fragt sich der junge Witwer Tony Vaccaro, als er Lili, seine Freundin aus Kindertagen, plötzlich wiedersieht. Ein Familiengeburtstag steht an, im Haus herrscht das Chaos, und seine drei süßen kleinen Töchter erwarten den Super-Daddy von ihm. Dennoch ist es für den breitschultrigen Highschool-Lehrer, als käme er aus einem Sturm in den sicheren Hafen, als er der warmherzigen Lili in die blauen Augen blickt. Und in diesem Moment ahnt er: Liebe ist unberechenbar. Sie kommt, wenn man es am wenigsten erwartet …


  • Erscheinungstag 11.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778194
  • Seitenanzahl 624
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Karen Templeton

Von Vätern und Töchtern - 4-teilige Serie

Karen Templeton

Du bringst Lachen in mein Leben

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2007 by Karen Templeton-Berger
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1651 (24/2) - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen

Fotos: Matton Images

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-884-9

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

„Mr. Braeburn? Sind Sie noch dran?“

„Ja, ja …“ Grant atmete tief durch und rieb sich die Augen. „Ich bin noch dran.“ Blinzelnd schaute er auf die verregnete Landschaft, die sich vor dem Fenster seines Arbeitszimmers erstreckte, und beobachtete gedankenverloren, wie sich die zwanzig Meter hohen Pinien im Sturm bogen. „Woher …“ Er räusperte sich. „Woher haben Sie meine Nummer?“

„Mrs. Braeburkn hat angegeben, wer im Notfall verständigt werden soll. Sie hatte eine Karte in ihrer Tasche. Und im Handschuhfach.“ Der Arzt zögerte. Grant vermutete, dass ihm solche Anrufe noch immer schwerfielen. „Und im Aktenkoffer.“

Grant lächelte bitter. Dann riss er sich zusammen und ließ sich in einen Sessel am Fenster sinken. „Entschuldigung.“

„Unter Schock reagiert man anders als sonst“, sagte der Arzt verständnisvoll. „Das ist ganz normal. Es hilft, den Schmerz zu verkraften.“

„Ich …“ Der Regen prasselte gegen die Scheibe. „Justine und ich wurden vor über einem Jahr geschieden.“

„Aha. Ja. Natürlich.“ Der Arzt machte eine Pause. „Sie haben eine gemeinsame Tochter?“

Grant schloss die Augen. „Ja. Sie ist hier. Es ist mein Wochenende.“

„Also … werden Sie es ihr sagen?“

„Natürlich“, erwiderte Grant. Wie zum Teufel bringt man einer Dreijährigen bei, dass ihre Mutter tot ist? Er holte Luft. „Justine … war sie allein? Im Wagen?“

„Ja.“

„Wie ist es passiert?“

Der Arzt zögerte erneut. „Offenbar hat sie eine Kurve zu schnell genommen und ist auf nassem Laub ins Schleudern gekommen. Vielleicht hat sie mit ihrem Handy telefoniert.“

Typisch, dachte Grant. Justine war früher beinahe in Panik verfallen, wenn sie länger als fünf Minuten keinen Kontakt zur Außenwelt hatte. „Ich nehme an, ich muss mich um … alles kümmern?“

„Es gibt keine anderen Angehörigen?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Mr. Braeburn, ich könnte Ihnen ein paar Namen nennen, falls Sie … oder Ihre Tochter … mit jemandem reden möchten.“

„Danke. Aber ich kenne selbst jemanden. Falls wir Hilfe brauchen.“

„Natürlich. Kann ich sonst noch etwas …“

„Nein. Nein, warten Sie.“

„Ja?“

Grant rang mit sich. „Ihr Gesicht?“

Der Arzt antwortete nicht sofort. „Sie war eine sehr hübsche Frau, nicht wahr?“

Noch lange nach dem Anruf starrte Grant in den trüben Spätnachmittag hinaus, das Telefon in der Hand. Er stellte sich vor, wie Justines Seele – wenn sie eine hatte – über ihrem leblosen Körper schwebte und darüber klagte, wie er jetzt aussah. Schließlich hatte sie Unsummen in ihr Äußeres investiert.

„Mr. B.? Ist alles in Ordnung?“

Grant drehte sich um. Das rundliche Gesicht seiner Haushälterin war noch faltiger als sonst, die hellbraunen Augen blickten besorgt. Etta Bruschetti entsprach nicht ganz dem Bild, das man sich in diesem Teil der Welt von Frauen machte, die sich rund um die Uhr um das Privatleben und Haus ihres Arbeitgebers kümmerten. Aber die spitzzüngige Brünette half ihm, ehrlich zu bleiben und nicht an das zu glauben, was über ihn in den Zeitungen stand. Außerdem kochte sie himmlisch.

Er schaute wieder aus dem Fenster. „Haleys Mutter ist vor ein paar Stunden bei einem Autounfall getötet worden“, sagte er leise.

„Was? Oh mein Gott, das ist nicht Ihr Ernst!“ Etta presste eine breite Hand an die Brust. „Wie schrecklich. Die arme Frau!“

Grants Mundwinkel zuckte. „Ach, kommen Sie, Etta … ich weiß, wie Sie über Justine gedacht haben.“

„Na gut, vielleicht war ich nicht gerade erschüttert, als Sie beide sich getrennt haben. Aber so etwas wünsche ich niemandem, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Er nickte. Etta schob die Hände in die Taschen der praktischen weißen Schürze, die sie über dem Sweatshirt und den Jeans trug. Nur wenn Grant Gäste empfing, kleidete sie sich so, wie es sich in seinen Kreisen für Hauspersonal gehörte. Doch seit der Scheidung hatte er niemanden mehr eingeladen. „Ich nehme an, das bedeutet, dass das Kind ab jetzt immer hier lebt, oder?“

So weit hatte er noch gar nicht gedacht. Aber jetzt traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag, dass Justines Tod ihn zu einem alleinerziehenden Vater machte.

Und dabei war er als Vater bisher ein kompletter Versager gewesen.

„Ja“, sagte er schließlich. „Stimmt.“

Einige Minuten später stieg er die Treppe zum Kinderzimmer hinauf, wo seine Tochter an den Besuchswochenenden stundenlang mit ihren vielen Plüschtieren und Puppen spielte. Zu Anfang hatte er einfach angenommen, dass Haley die Kontaktfreudigkeit ihrer Mutter nicht geerbt hatte. Inzwischen war ihm klar, dass das Kind lieber mit seinen „Freunden“ als mit ihm zusammen war.

Mit heftig klopfendem Herzen lauschte er. Durch den Türspalt drang das unaufhörliche Geplapper seiner Tochter. Wie ihre Mutter war auch sie nie um ein Wort verlegen. Eine wichtige Eigenschaft für eine Rechtsanwältin, dachte Grant. Mit trockenem Mund klopfte er leise an und schob die Tür auf.

Schlagartig verstummte Haley. Sie hielt einen nicht besonders intelligent aussehenden Stofflöwen in den Armen – Justines letztes Geschenk, dachte Grant mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Sie hob den Kopf, und in ihrem Gesicht spiegelte sich eine irritierende Mischung aus Wachsamkeit und Gleichgültigkeit. Immer wieder hatte Grant sich gefragt, ob ein offeneres, fröhlicheres Kind ihm geholfen hätte, ein besserer Vater zu werden.

Auch wenn er nicht das fühlte, was die meisten Väter für ihre Kinder empfanden, war er doch nicht immun gegen die atemberaubende Schönheit seiner Tochter. Sie hatte große braune Augen mit dichten Wimpern, dunkelblonde Locken und eine helle, fast rosige Haut. Und für ein Kind, das erst in einigen Wochen vier Jahre alt wurde, war sie erschreckend klug. Aber was wusste er schon darüber, wie Kinder sich entwickelten?

„Hat Mommy angerufen?“, fragte Haley mit ihrer gewohnten Direktheit, und Grant spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Justine hatte es nie versäumt, Haley anzurufen, wenn sie übers Wochenende bei ihm war. Was immer zwischen ihm und seiner Exfrau geschehen war, sie hatte ihre Tochter über alles geliebt.

Und zwar seit dem Moment, an dem der Arzt ihr das schreiende Kind in die Arme gelegt hatte. Grant dagegen hatte nur verwirrt zugesehen und sich sofort ausgeschlossen gefühlt – aus der liebevollen Einheit, die die beiden vom ersten Tag an bildeten. Seine Frau und seine Tochter hatten immer in ihrer eigenen Welt gelebt, und ihm selbst war das Passwort verborgen geblieben, das ihm Zugang verschafft hätte.

Nervös überquerte Grant den Teppich, auf dem Dutzende bunter Schmetterlinge durch einen hellblauen Himmel flogen, und setzte sich auf die Spielzeugtruhe. Haley schien zu spüren, dass heute etwas anders war, und ließ ihn nicht aus den Augen.

Grant starrte auf seine gefalteten Hände, und plötzlich wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, was er jetzt tun sollte. Vor ihm saß die kleine Haley, die sich früher die Augen ausgeweint hatte, wenn sie ihre Mutter nur ein paar Sekunden nicht gesehen hatte – wie um alles auf der Welt würde sie jetzt reagieren?

„Daddy?“

Das Wort klang nüchtern und sachlich. Ebenso gut hätte sie ihn Tisch, Teller oder Baum nennen können. Sie blieb auf Distanz, drückte den Löwen an sich und musterte ihren Vater misstrauisch. „Bist du böse?“

„Nein“, erwiderte Grant, erstaunt darüber, dass sie sein Zögern so deutete. „Aber ich muss dir etwas sagen. Und ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll.“

Haley wartete mit gerunzelter Stirn. Eher neugierig als vertrauensvoll, fand er. Grant holte tief Luft.

„Mommy hatte einen Unfall“, begann er leise und fühlte den rasenden Herzschlag an seinen Rippen. „Mit ihrem Auto. Und sie hat sich dabei sehr, sehr wehgetan. So sehr, dass die Ärzte sie nicht wieder gesund machen konnten. Und … und sie ist gestorben.“

Seine Tochter erstarrte, dann schaute sie auf den Löwen, kraulte seine Mähne und strich mit den Fingern durch das goldene Haar. Erst nach einem langen Moment schaute sie Grant mit gesenkten Wimpern an. „Gestorben? Wie Opa?“

Sie war noch ein Baby gewesen, als Grants Vater gestorben war. Viel zu jung, um zu begreifen, was passiert war. Und Justines Eltern lebten schon lange nicht mehr, als sie und Grant heirateten. Ihm ging auf, dass Sterben für das kleine Mädchen nur ein Wort war, dessen Bedeutung es nicht verstand.

„Ja, wie Opa.“

Einige Sekunden verstrichen. „Mommy sagt, dass der Doktor einen immer wieder gesund macht.“

„Sie haben alles versucht, wirklich …“

„Dann kommt Mommy wieder. Sie kommt immer wieder. Immer.“

„Dieses Mal nicht“, sagte Grant und wehrte sich gegen die Übelkeit, die in ihm aufstieg. „Sie kann nicht.“

Haley umarmte den Löwen noch fester und schaute ihrem Vater in die Augen, bevor sie sich vor ihr Puppenhaus setzte und mit einer Hand darin aufräumte. Grant fragte sich, ob er zu ihr gehen sollte. Sie trösten sollte. Was auch immer.

„Haley? Möchtest du … mit mir reden?“

Sie strich sich durch die Locken, wie ihre Mutter es immer getan hatte. „Nein danke. Ich rede mit Mommy, wenn sie kommt.“

Oh Gott.

„Haley, Mommy kommt nicht wieder …“

Sie schüttelte den Kopf. „Doch, sie kommt wieder, und wir gehen in den Spielzeugladen, wenn wir zu Hause sind, das hat sie versprochen.“ Sie schaute Grant an, mit trockenen Augen und trotzigem Blick. „Sie hat es versprochen.“

„Haley, Liebes …“

Grant streckte die Arme nach ihr aus, aber sie wich zurück, stolperte über einen Stoffhund und landete auf dem Po.

„Nein!“, rief sie und kroch weiter, um sich unter einem Fenster, zwischen zwei weißen Regalen voller Kinderbücher, Spiele und Puzzles an die Wand zu drücken. „Ich will dich nicht! Ich will Mommy!“

Hilflos hockte Grant sich vor seine Tochter, die sich mit den Füßen abstieß und noch fester gegen die Wand presste. „Es wird alles gut“, sagte er, als sie zu weinen begann. „Ab jetzt kümmere ich mich um dich …“

Nein!“, schrie sie und warf ihm den Löwen gegen die Brust. „Ich will nach Hause! Ich will sofort mit Mommy reden!“

Er sprang auf, ging auf die andere Seite des Zimmers, fuhr sich durchs Haar und versuchte, tief durchzuatmen. Der Regen prasselte noch immer gegen die Scheiben und hämmerte aufs Dach, doch das beruhigende Geräusch ging in Haleys Weinen fast unter. Mit Millionen von Dollars zu jonglieren, die anderen Menschen gehörten, und dabei Risiken einzugehen, die jeder andere scheuen würde … kein Problem. Aber wie sollte er seine Tochter trösten? Ihr begreiflich machen, was passiert war? Er hatte nicht die leiseste Ahnung.

Grant schaute zu seinem kleinen Mädchen hinüber. Haley hatte das Gesicht in der Löwenmähne vergraben. Nach einem Moment setzte er sich auf die Bettkante. Irgendwann hob sie den Kopf, warf ihm einen abweisenden Blick zu, drehte sich zur Seite, um ihm den Rücken zuzukehren, und wischte sich mit dem Handrücken die tropfende Nase ab.

„Geh weg.“

„Das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil Mommy nicht wollen würde, dass ich dich allein lasse.“

Haley zog die Knie an die Brust, eine winzig, zutiefst verzweifelte Gestalt in Cordrock und Pullover. Und Grant, der wahrlich kein religiöser Mensch war, ertappte sich dabei, wie er zu beten begann. Sag mir, was ich tun soll.

Etta erschien in der Tür, das Telefon in der Hand, die Stirn in Falten. Sie winkte Grant zu sich. „Es ist diese Freundin von Justine. Mia Vaccaro? Sie sagt, dass sie und Justine sich heute Nachmittag treffen wollten, Justine aber nicht an ihr Handy geht. Sie will wissen, was los ist.“

Grant nahm das Telefon. Das war der Grund, warum er nie viel vom Beten gehalten hatte.

Denn allzu oft bekam man ausgerechnet die Antwort, die man nicht wollte.

„Wo ist sie?“, fragte Mia die Haushälterin, noch während sie durch die Tür stürmte und sich dabei Schal und Tweedjacke auszog.

„Oben in ihrem Zimmer“, antwortete Etta und nahm ihr die Sachen ab. „Aber …“

„Danke.“

Mia eilte durch die Eingangshalle und würdigte all den Luxus, der sie umgab, keines Blickes. Allein, dass sie es heil bis hier oben geschafft hatte, war ein Wunder. Am liebsten hätte sie sich in irgendeine Ecke verkrochen und gewartet, bis der Schock vorüber war.

„Mia. Warte.“

Die tiefe Stimme ließ sie abrupt stehen bleiben. Am Fuß der geschwungenen Treppe wirbelte sie herum, und ihre Blicke trafen sich. Erst jetzt hörte sie sich selbst so laut keuchen, als wäre sie den weiten Weg von Manhattan gerannt. Nach dem Telefonat mit Grant hatte sie sich nicht einmal umgezogen. Sie trug noch immer die zerknitterten Jeans und die uralte Kapuzenjacke, in der sie das unechte Herbstlaub für die Party der Chins zum Schiffsanleger getragen hatte. Und der Perlmuttclip fiel ihr vermutlich jeden Moment aus dem langen Haar.

Bestimmt sah sie aus wie der Wirrkopf, für den Grant sie zweifellos hielt.

„Grant! Tut mir leid, der Verkehr auf der Henry Hudson war höllisch. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“

Einer seiner Mundwinkel zuckte. Das war Grant Braeburns Version eines Lächelns. „Offensichtlich. Danke. Bevor du nach oben gehst …“ Er zeigte auf eine Tür. Die zu seinem Arbeitszimmer, wenn sie sich recht erinnerte. Sie war schon hier gewesen – zur Hochzeit und zu dem Abendessen mit Christopher, das sie niemals vergessen würde. Aber sie war nicht hier, um mit Justines Ex zu plaudern, sondern um das kleine Mädchen zu trösten, das seit dem Tag seiner Geburt einen festen Platz in ihrem Herzen hatte.

„Mia!“, sagte er scharf, als sie die Treppe betrat. „Wir müssen reden!“

„Später!“

Sie war schon oben, als sie seine Hand an ihrem Arm fühlte. Eine andere Frau hätte der feste Griff vielleicht eingeschüchtert oder – unter anderen Umständen – erregt, zumindest aber einen leisen Überraschungslaut ausgelöst. Nicht bei Mia. Sie begnügte sich mit einem Blick, der mindestens so zornig wie Grants ausfiel.

„Verdammt, Mia! Ich will nicht, dass du vor Haley die Fassung verlierst.“

„Keine Angst.“ Sie riss sich los und marschierte über einen Orientteppich, der schätzungsweise eine Million Dollar wert war, zu Haleys Zimmer. Was immer Grant an ihr auszusetzen hatten, oder sie an ihm, es musste warten. Am besten bis sie beide unter der Erde waren.

Bei dem Gedanken wäre sie fast gestolpert, fing sich jedoch, bevor Grant es bemerkte. Das hoffte sie jedenfalls. Trotz des mörderischen Sodbrennens, das sie quälte, würde sie nicht zusammenbrechen.

Noch nicht.

Grant stand viel zu dicht hinter ihr, als sie durch Haleys offene Tür spähte und das kleine Mädchen still auf dem Bett sitzen sah, in ihrem Teddybär-Schlafanzug, den Daumen im Mund. Diese Angewohnheit hatte sie eigentlich schon vor Monaten aufgegeben. Mia schluckte, als ihr Blick auf den Löwen fiel, den Haley an die schmale Brust presste. Es war der, den Justine ihr gerade erst geschenkt hatte.

„Hallo, meine Kleine“, sagte sie leise, und Haleys Kopf fuhr hoch. Eine Sekunde später rannte die Kleine durchs Zimmer und schlang die Arme um Mias Beine.

Dann schaute sie nach oben, mit Hoffnung, Angst und Verwirrung in den Augen. „Hast du Mommy mitgebracht?“

Oh nein. Mia warf Grant einen Blick zu. Seine Miene war nicht mehr finster, sondern besorgt.

Sie ließ sich auf ein Knie nieder und strich Haley die Locken aus dem Gesicht. „Nein, Kleine. Mommy ist nicht hier.“

Haley löste sich von ihr und packte den Löwen noch fester. „Nimmst du mich mit zurück in die Stadt?“

Langsam schüttelte Mia den Kopf. „Nein, Süße. Du bleibst jetzt bei deinem Daddy.“

Das kleine Mädchen runzelte die Stirn. „Daddy hat gesagt, dass Mommy sich wehgetan hat und der Doktor sie nicht gesund machen konnte.“

„Das stimmt.“ Mia kämpfte gegen die Tränen an.

Haley schaute von ihr zu Grant und wieder zurück. „Wo ist sie?“

Verzweifelt schaute Mia zur Zimmerdecke. Soweit sie wusste, war Justine nicht besonders religiös gewesen, und woran Grant glaubte, war ihr schleierhaft. Aber da sie keinen Rat von oben bekam, besann sie sich auf ihre katholische Erziehung. „Deine Mommy ist im Himmel. Bei den Engeln.“

„Was ist der Himmel?“

Aha. Das Thema war Haley offenbar neu. „Dort gehen gute Menschen hin, wenn sie gestorben sind.“

„Ist das weit weg?“

„Ja, sehr weit.“

Haley tastete nach Mias Haar. „Kann man mit einem Taxi hinfahren?“

„Nein.“

„Und mit einem Flugzeug?“

„Auch nicht.“

Fast ausdruckslos starrte Haley sie an, bevor sie wieder ihren Löwen betrachtete. Eine Sekunde später streckte sie ihn Mia entgegen.

„Wer ist das?“, fragte Mia und schüttelte dem Stofftier eine weiche Tatze.

„Das ist Henry. Mommy hat ihn mir geschenkt.“

„Ich weiß. Ich war dabei, als sie ihn für dich gekauft hat.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Haley überlegte kurz, dann beugte sie sich vor. „Ich muss auf die Toilette“, flüsterte sie. „Okay“, wisperte Mia zurück, und das kleine Mädchen hopste davon, Henry unter dem Arm. Mia stand auf, schob die Hände in die Kapuzenjacke und schaute besorgt zur Tür des Badezimmers.

„Du hast zehn Mal mehr erreicht als ich“, sagte Grant leise. Mia drehte sich zu ihm um. Das wundert mich überhaupt nicht, dachte sie. Von Justine wusste sie, dass der Mann gar nicht erst versucht hatte, um ein gemeinsames Sorgerecht zu kämpfen. Nicht, dass Jus sich darauf eingelassen hätte, aber trotzdem.

Doch jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt, ihm das vorzuwerfen. Sie ging an ein Regal und überflog die Titel der Kinderbücher. „Seltsam, nicht wahr?“, begann sie. „Dass es ein Alter gibt, in dem wir keine Vorstellung davon haben, was Tod bedeutet.“

„Haben wir die je?“, entgegnete Grant sanft.

Darauf hatte sie keine Antwort.

Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie die Spülung rauschen hörten. Eine Minute später kam Haley aus dem Bad. „Henry musste auch Pipi machen“, erklärte sie und kletterte wieder auf ihr Bett. „Jetzt geht es ihm besser. Aber er ist traurig.“

„So?“ Mia setzte sich zu ihr. „Warum ist er traurig?“

„Weil er seine Mommy vermisst.“

Mia rang sich ein Lächeln ab. „Aber er hat doch dich, oder? Du kümmerst dich um ihn, und vielleicht ist er bald nicht mehr so traurig.“

Haley sah zu Grant hinüber und wieder zurück. „Aber ich bin nicht so gut wie Mommy. Sie liest ihm Geschichten vor, kauft ihm Eiscreme und Spielsachen und so, damit es ihm besser geht, wenn er Spritzen bekommen hat. Wer soll ihm denn jetzt etwas vorlesen, wenn Mommy nicht zurückkommt?“

Mia fragte sich, ob das hier normal war. Dass „Henry“ traurig war, Haley aber eher verwirrt als unglücklich. Sie strich die zerzauste Löwenmähne glatt. „Na ja, du kannst ihm doch auch etwas vorlesen“, schlug sie vor, aber die Kleine schüttelte den Kopf.

„Ich kenne noch nicht alle Wörter. Meistens sehe ich mir nur die Bilder an.“

„Ach so. Aber weißt du, ich wette, Henry würde sich gern mit dir zusammen die Bilder ansehen. Oder vielleicht …“ Sie warf Grant einen vielsagenden Blick zu. „Vielleicht könnte Henrys Daddy ihm etwas vorlesen?“

Erneut schüttelte Haley den Kopf, diesmal heftiger als zuvor.

„Warum nicht?“

„Ich glaube, das kann er gar nicht.“

„Du glaubst nicht, dass sein Daddy lesen kann?“, fragte Mia und beobachtete, wie Haleys Antwort auf Grant wirkte.

Seine Tochter drückte das Plüschtier fester an sich. „Ich glaube nicht, dass er Henry was vorlesen kann.“

„Nun ja … vielleicht kann Henry es ihm zeigen.“

Haley schien darüber nachzudenken, bevor sie mit den Schultern zuckte. „Vielleicht“, erwiderte sie zaghaft. Dann gähnte sie und rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln. Das arme kleine Mädchen, dachte Mia mitfühlend. Die Mutter ist tot und der Vater eine einzige Enttäuschung.

„Komm schon“, sagte sie behutsam und zog die Bettdecke unter Haley hervor. „Zeit zum Schlafen.“

Ohne zu protestieren schlüpfte Haley darunter und nahm Henry in die Arme. „Bist du hier, wenn ich aufwache?“

Die Frage brach Mia fast das Herz. „Oh, Süße … Ich würde so gern bei dir bleiben, aber ich muss morgen arbeiten. Bald komme ich wieder.“

Haley schaute ihr in die Augen. „Versprichst du es?“

Verdammt. Wie wahrscheinlich war es, dass sie so kurz nach Justines Tod von einem Straßenräuber erschossen oder von einem herabstürzenden Blumentopf erschlagen wurde? Mia holte tief Luft. „Ich verspreche es“, sagte sie und nahm Haley in die Arme. „Ich drücke dich ganz doll!“, flüsterte sie, und Haley legte die Arme um Mias Hals und zog sie an sich. Dann rieben sie die Nasen aneinander, bis Mia die Kleine unter die Decke packte und ihr etwa zwanzig Küsse gab. Endlich gelang es ihr, sich langsam loszumachen.

Mia stand auf und schaute über die Schulter. „Du bist dran“, formte sie mit den Lippen. Grants Blick wurde panisch. Nach kurzem Zögern trat er ans Bett … und drehte sich mit halb bedauernder, halb erleichterter Miene zu Mia um.

„Sie ist eingeschlafen“, flüsterte er.

Das glaubst auch nur du, dachte Mia, sagte aber nichts.

Grant folgte ihr nach unten. Was er wohl dachte? Was sie selbst dachte, wusste Mia genau – so ungern sie Haley jetzt alleine ließ, sie musste von hier fort, bevor sie wieder von dieser Schwäche gepackt wurde. Doch als sie ihre Sachen vom Tisch in der Eingangshalle nehmen wollte, spürte sie, wie dicht Grant hinter ihr stand.

„Geh noch nicht. Bitte“, sagte er.

Sie schuldete diesem Mann nichts. Nicht ihre Zeit und erst recht nicht ihre emotionale Energie. Der dafür zuständige Schalter in ihr war ohnehin seit Langem blockiert. Ohne es zu wollen, drehte sie sich um, und gegen ihren Willen empfand sie etwas wie Mitgefühl, als sie die Verletzlichkeit in Grants eisgrauen Augen sah.

„Ich muss wirklich zurück …“

„Zehn Minuten“, bat er. Seufzend deponierte sie ihre Sachen wieder auf dem Tisch und durchquerte das Foyer, vorbei an dem riesigen Gemälde von Jackson Pollock an der einen Wand, unter dem Kronleuchter hindurch, der von der sechs Meter hohen Decke herabhing und in jedes Opernhaus gepasst hätte, und über den Perserteppich, der größer als ihre erste Wohnung war.

Geld, Geld, Geld …

Grant ließ ihr den Vortritt in sein Arbeitszimmer und lud sie mit einer Geste ein, Platz zu nehmen. Wo sie wollte, offenbar. Gleich ein halbes Dutzend Sessel standen zur Verfügung, die meisten modern und aus braunem Leder. Zur Abwechslung gab es auch einen oder zwei mit Stoff bezogene. Seltsam, dachte Mia. Sie hatte viel Chrom und Glas erwartet, in verschiedenen Farbtönen oder ganz in Schwarz.

Und einen offenen Sarg aus Edelstahl, diskret in einer entfernteren Ecke aufgestellt. In dem der Hausherr schlief, wenn die Sonne schien.

Sie schloss die Augen und malte sich aus, wie die Nonnen der Welt tadelnd mit der Zunge schnalzten. Aber sie hatte die Wahl – entweder sie ließ ihrem schwarzen Humor freien Lauf und stellte sich Grant Braeburn als geldgierigen Dracula vor, oder sie versank in lähmender Trauer. Außerdem hätte sie schwören können, dass sie bei ihrem taktlosen Gedankenblitz über den offenen Sarg Justines Stimme gehört hatte, begleitet von einem bitteren Lachen.

Sie erinnerte sich an Justine bei ihrer letzten Begegnung – schön wie auf einem Laufsteg und sprühend vor Lebensfreude, mit verschmitzt funkelnden Augen, während sie beide Arm in Arm einen spontanen Einkaufsbummel über die Madison Avenue gemacht hatten. Mia verdrängte das Bild und ließ sich in einen der Ledersessel sinken.

Zehn Minuten, dachte sie, die Jeans rau unter den Handflächen, als sie über die Oberschenkel strich. Zehn Minuten halte ich noch durch …

„Hast du gegessen?“, fragte Grant leise. Mia schüttelte den Kopf. „Möchtest du etwas? Wenigstens ein Sandwich oder …“

„Nein, danke.“ Mias Mund fühlte sich an, als hätte sie einen eingeschalteten Fön geküsst. „Aber ein Glas Wasser wäre gut.“

Er nickte und ging zur Bar auf der anderen Seite des Zimmers. Selbst unter dem locker sitzenden schwarzen Pullover – edelster Kaschmir, nahm Mia an – und der Cordhose entging ihr seine athletische, durchtrainierte Figur von einsachtzig nicht. Grant war ein Mann, nach dem Frauen sich automatisch umdrehten, mit dunklem Haar und irgendwie unheimlichen grauen Augen, groß und breitschultrig. Ganz so, wie Männer in seiner Position aussehen müssen, dachte Mia bitter.

Hinzu kamen bei Grant Intelligenz – wie man sie brauchte, um aus Stroh Gold zu machen – und Geld, unverschämt viel davon, und … Na ja. Mia gestand sich ein, dass man ihn durchaus attraktiv finden konnte. Wenn man auf Männer stand, deren Lieblingsgetränk rot war und in menschlichen Adern floss.

Wieder schloss sie kurz die Augen. Geh direkt in die Hölle, geh nicht über „Los“, zieh keine zweihundert Dollar ein …

„Bitte.“

Mia zuckte leicht zusammen, riss die Augen auf und starrte auf eine kräftige Hand, die ihr ein schweres Glas mit aufwendiger Gravur und eine Cocktailserviette hinhielt. „Danke“, murmelte sie und leerte es zur Hälfte, während Grant an seinem Drink nippte, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er trank etwas, das sie an Bernstein erinnerte und zweifellos hochprozentig war. Und mit Sicherheit auch teuer.

„Geht es dir gut?“, fragte er und erschreckte sie damit so sehr, dass sie ein wenig Mineralwasser verschüttete.

„Ja“, erwiderte sie und tupfte sich mit der Serviette ab. Sie rang sich ein Lächeln ab und fragte sich, warum sie das behauptet hatte. „Um ehrlich zu sein, ich glaube, ich habe es noch gar nicht richtig begriffen“, fügte sie schnell hinzu.

Grant hob sein Glas an die Lippen, hielt inne, nahm ihr die feuchte, zerknüllte Serviette ab, ging zur Bar und warf sie weg. „Ich nehme an, du und Justine, ihr wart euch noch immer sehr nahe?“

„Hmm … ja. Sicher.“ Mia zögerte. „Die letzten Jahre waren ziemlich hektisch.“ Sie strich über den Rand des Glases. „Bei uns beiden hat sich viel verändert, also haben wir uns nicht so oft gesehen wie früher, vor eurer Hochzeit. Und nachdem ich die Kanzlei verlassen habe.“

Ein anderes Bild kam langsam an die Oberfläche – Justine, fröhlich und nicht sehr damenhaft lachend, mitten auf dem Bürgersteig, sodass vorbeieilende Passanten unweigerlich lächeln mussten. Mia spürte die tiefe Traurigkeit, die mit einem Mal in ihr aufstieg. Noch nicht! Sie schluckte die drohenden Tränen hinunter. „Ich hatte noch nie eine Freundin wie Jus.“ Sie starrte in ihr Glas und nahm vorsichtig einen Schluck. „Dass wir uns sofort verstanden, lag wohl auch am Zeitpunkt und den Umständen.“

Grant warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Du weißt schon, beide neu in der Kanzlei und erst recht in der Stadt, und keine von uns hatte eine Freundin …“

Die Hand mit dem Glas zitterte. „Ich wusste immer, dass ich mich auf sie verlassen kann. Dass ich ihr vertrauen kann. Und jetzt …“ Mias Augen wurden feucht. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist“, wisperte sie.

Und dann brachen alle Dämme.

2. KAPITEL

In Grant zog sich etwas zusammen, als Mia sich den Mund zuhielt, wenn auch nicht schnell genug, um das Aufstöhnen und den folgenden Tränenstrom zu unterdrücken. Offensichtlich entsetzt darüber, dass sie vor seinen Augen die Fassung verlor, stand sie hastig auf und ging schwankend auf die andere Seite des Zimmers. Ob sie vor ihm oder ihrer Trauer davonlaufen wollte, wusste er nicht.

Ihr Zusammenbruch überraschte Grant nicht. Dass er erst jetzt kam, erstaunte ihn allerdings. Offenbar war Mia Vaccaro aus härterem Holz geschnitzt, als er ihr zugetraut hatte. Seit der Hochzeit mit Justine war er ihr nicht oft begegnet. Vage erinnerte er sich an ein Missverständnis zwischen ihnen beiden. Doch rasch verdrängte er den Gedanken zusammen mit der Nervosität, die weibliche Tränen bei ihm auslösten, nahm eine Schachtel mit Papiertüchern vom Tisch und brachte sie Mia.

„Du brauchst es nicht zu unterdrücken“, sagte er sanft hinter ihrem bebenden Rücken. Sie zuckte leicht zusammen, drehte sich um, zupfte drei Tücher aus der Schachtel und funkelte ihn mit geröteten Augen an.

„Tut … mir … leid“, stieß sie zwischen den Schluchzern hervor. „Ich kann nicht anders weinen! Wenn es dich stört, kannst du ja weggehen!“

Genau das tat er, aber nur um Sekunden später mit einem Glas Wasser zurückzukehren.

„Ich bin noch nicht … fertig“, sagte sie und schneuzte geräuschvoll in die Tücher.

„Lass dir Zeit. Komm, setz dich wieder“, erwiderte er, und sie ließ sich tatsächlich zum Sessel führen. Nach kurzer Zeit wurde aus dem Schluchzen ein Schniefen und aus dem Schniefen ein Zittern. „Entschuldigung“, flüsterte sie, und schließlich hörte auch das Zittern auf.

„Fühlst du dich besser?“ Er griff nach seinem Drink.

Mia putzte sich die Nase und nickte.

Grant trank einen Schluck. „Du kannst froh sein, dass dir das nicht mitten auf dem Interstate Highway passiert ist.“ Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Es war nicht zu übersehen, dass du kurz davor warst.“

Mia atmete tief durch, setzte sich auf und wischte sich die Wangen ab. „Ich sehe bestimmt grauenhaft aus.“

Das stimmte. Justines Tränen waren immer wohldosiert geflossen, gerade genug, um über eine makellos geschminkte Wange zu kullern oder an den nie verklebten Wimpern haften zu bleiben. Bei ihr hatte es keine roten Flecken oder geschwollenen Augen gegeben. „Vielleicht solltest du eine Weile nicht in den Spiegel schauen.“

„Du bist wirklich ein Prachtexemplar von Mann, was?“, murmelte sie und machte eine abwehrende Handbewegung. „Rhetorische Frage, keine Antwort nötig.“

Grant betrachtete sie einen Moment lang, dann ging er zum Schreibtisch. „Es hat dich nicht überrascht, dass unsere Ehe gescheitert ist, oder?“

„Seit ich dich besser kannte? Nein.“

„Mich besser kanntest?“ Gereizt starrte er auf die Frau, die in seinem Lieblingssessel saß, mit Schluckauf und einem Fuß unter dem Po. „Wie oft haben wir beide uns gesehen, Mia? Ein halbes Dutzend Mal?“

„Oft genug, um mir zu bestätigen, was ich längst geahnt habe – dass du und Justine einfach nicht zueinander gepasst habt. Aber lass uns eine Sache klarstellen …“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Eure Ehe scheitern zu sehen hat mir kein sadistisches Vergnügen bereitet. Mir ging es bestimmt nicht darum, recht zu haben, sondern darum, dass meine beste Freundin glücklich wird. Wenn sie das mit dir geworden wäre, glaub mir, ich wäre die Erste gewesen, die an eurem fünfzigsten Hochzeitstag auf euer Wohl angestoßen hätte.“

Mia machte eine Pause. „Aber was wir beide voneinander halten, spielt keine Rolle mehr.“ Ihre Miene entspannte sich ein wenig. „Wichtig ist einzig und allein, was jetzt aus Haley wird.“

Grant stellte das Glas ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Haley spricht viel von dir.“

„Wir waren oft zusammen“, erklärte Mia leise. „Natürlich gab es Kindermädchen, und tagsüber war sie in der Vorschule. Aber wir drei haben häufig …“ Ihre Stimme versagte, und sie holte mehrmals Luft. „Und hin und wieder habe ich auf sie aufgepasst, wenn Jus länger arbeiten musste.“

Als Grant die Stirn runzelte, verdrehte Mia die Augen. „Jus war auf dem besten Weg, Partnerin in ihrer Kanzlei zu werden, Grant. Sie konnte nicht jeden Tag um Punkt fünf Feierabend machen. Sie hat so viel Arbeit wie möglich mit nach Hause genommen, um sie zu erledigen, wenn Haley im Bett war. Deine Tochter wurde nicht vernachlässigt, falls du das denkst.“

„Nein“, sagte er. Jedenfalls nicht von ihrer Mutter, fügte er stumm hinzu. „Trotzdem … Sie hat viel von dir verlangt.“

Mia kniff die Augen zusammen. „Sie hat es nicht verlangt, ich habe es freiwillig gemacht. Ich liebe Kinder, Haley ganz besonders. Und die Kindermädchen … Na ja, die kamen und gingen. Selbst wenn ich Haley nicht so oft gesehen habe, war ich immerhin eine dauerhafte Bezugsperson in ihrem Leben. Nach ihrer Mutter, meine ich. Und …“

Grant registrierte, dass sie ihn nicht mit aufgezählt hatte.

„Nach allem, was Justine für mich getan hat …“ Ihre Augen wurden wieder feucht, aber sie hob eine Hand und schnappte nach Luft. „Babysitten war das Wenigste, was ich tun konnte, um mich zu revanch…ieren.“

Als sie Mühe hatte, das letzte Wort auszusprechen, griff er nach den Taschentüchern, doch Mia schüttelte den Kopf. „Wofür wolltest du dich revanchieren?“, fragte er.

„Als ich meine Anwaltskarriere aufgegeben habe, um als Party-Planerin mein eigenes Geschäft zu eröffnen, war Jus einer der wenigen Menschen, die mich nicht für verrückt erklärt haben. Und nicht nur das, sie hat ihre Kontakte genutzt, um mir mehr Aufträge zu besorgen, als ich allein bewältigen konnte.“ Fast hätte Mia gelacht. „Irgendwie schien ihr mein Erfolg wichtiger zu sein als mir selbst. Und dann …“

„Was dann?“, fragte Grant, als sie zögerte.

Mia spitzte die Lippen, als sei sie unsicher, wie viel sie ihm erzählen durfte. „Etwa zu der Zeit, als ihr geschieden wurdet, hat sich mein Verlobter von mir getrennt. Du hast ihn einmal getroffen, er war zum Abendessen hier. Jedenfalls hat er sich nur wenige Wochen vor unserer geplanten Hochzeit verabschiedet. Ich war am Boden zerstört. Aber obwohl Jus noch mit … ihren eigenen Problemen beschäftigt war, hat sie sich rührend um mich gekümmert und buchstäblich meine Hand gehalten.“

Ohne zu ahnen, dass Grants Drink sich in seinem Magen zu Essig verwandelt hatte, streckte Mia die Beine aus und bewegte den Fuß, auf dem sie eben noch gesessen hatte. „Justine rief immer wieder an oder erkundigte sich per E-Mail, wie es mir ging. Sie machte Vorschläge, zusammen einkaufen zu gehen, ins Kino, ins Museum oder mit Haley in den Zoo … Autsch! Verdammt, mein Fuß ist eingeschlafen!“

Mia beugte sich vor, um ihren Fuß zu massieren, und das lange Haar fiel herab und umrahmte ihr nicht mehr ganz so verweintes Gesicht in prächtigen, schimmernden Wellen. Nach einem Moment sah sie Grant verwirrt an. „Stimmt etwas nicht?“

Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Keine Sekunde länger hätte er das Vertrauen und die Loyalität in ihren Augen ertragen können. Natürlich wusste er seit Mias Anruf, dass Justine es irgendwie geschafft haben musste, ihren Treuebruch vor ihr zu verheimlichen. Sonst hätte jemand wie Mia ganz bestimmt nicht weiter auf die Tochter ihrer besten Freundin aufgepasst, da war er sicher. Trotzdem, es aus ihrem Mund zu hören …

„Es spielt zwar keine Rolle mehr“, begann er leise und wehrte sich gegen den Zorn, der in ihm aufstieg. „Aber als ich Justine geheiratet habe, bin ich nicht davon ausgegangen, dass unsere Ehe scheitern könnte. Als Geschäftsmann gehe ich natürlich eine Menge Risiken ein, aber privat war ich immer eher vorsichtig. Als die Beziehung zu Justine in die Brüche ging, war ich sehr … enttäuscht.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, hörte er Mia erwidern.

„Du brauchst nichts zu sagen.“ Mit dem Anflug eines Lächelns sah er aus dem Fenster. „Ich nehme dir nicht übel, wie du über mich denkst. Aus deiner Sicht habe ich jemanden, der dir viel bedeutet, unglücklich gemacht. Ganz ehrlich: Das wollte ich nicht. Trotzdem hätte ich nicht davon ausgehen dürfen, dass Justine wusste, wen sie heiratete. Ich war nie ein Mann, für den das Leben in erster Linie Spaß und Vergnügen ist.“

„Das ist noch untertrieben“, hörte er Mia murmeln.

Grant drehte sich mit schmalem Mund zu ihr um. Er verstand nicht, warum es ihm so wichtig war, dass diese Frau ihn verstand. Vielleicht, weil Justine es nicht getan hatte. Justine, die seine Ehefrau gewesen war. Mia war …

Mia war wahrscheinlich die einzige Person, die ihm helfen konnte, die abgrundtiefe Kluft zwischen ihm und seiner Tochter zu überbrücken.

„Ich kann nicht ändern, wie ich bin, Mia. Schon als Kind bin ich zusammengezuckt, wenn jemand zu viel Gefühl zeigte. Aber ich habe Justine nichts versprochen, das ich ihr nicht geben konnte. Dass sie mehr als das wollte …“ Er seufzte. „Die Hochzeit war ein Fehler. Genauer gesagt, es war mein Fehler, zu glauben, dass ich eine glückliche Ehe führen könnte. Ich dachte, zu heiraten und eine Familie zu gründen wäre einfach das, was Männer in meinem Alter und meiner Position tun.“ Grant machte eine Pause. „Das war ein Fehler, der mir nie wieder passieren wird, das kannst du mir glauben.“

„Na ja …“ Mia stand auf und hielt sich am Sessel fest, während sie humpelnd um ihn herumging. „Das hätte ich euch gleich sagen können. Und damit allen viel Leid erspart.“

„Aber dann gäbe es Haley jetzt nicht.“

„Oh, bitte“, schien ihr Blick zu sagen, und wie zwei Steine funkelten Mias Augen ihn grün, fast olivfarben an. „Würde das dein Leben nicht um einiges einfacher machen?“

Volltreffer, dachte er und spürte, wie ihm heiß wurde. Wütend – auf sich selbst, auf sie, auf die ganze Situation – starrte er Mia an. „Auch wenn du es nicht glaubst, meine Tochter bedeutet mir etwas. Immer schon. Ich kann nur nicht sehr gut mit Kindern umgehen.“

„Auch mit deinem eigenen nicht?“

„Vor allem mit meinem eigenen nicht. Ich bezweifle, dass Haley und ich jemals so eine Beziehung haben werden wie sie und ihre Mutter. Dafür bin ich einfach nicht geschaffen.“

„Und ich ertrage Leute nicht, die ihr Kind behandeln wie ein Essen im Restaurant, das man probiert und zurückgehen lässt, wenn es nicht schmeckt! Verdammt noch mal, Grant – hast du es überhaupt versucht? Du hast Haley zwei Mal im Monat zu dir genommen. Wenn das …“

„Weil weder Justine noch ich sie häufiger als nötig aus ihrem gewohnten Leben reißen wollen!“, unterbrach er sie, aber das Argument überzeugte selbst ihn nicht. „Am Wochenende war sie oft zum Spielen verabredet oder zu Kindergeburtstagen eingeladen.“

„Was für dich wichtiger war als deine Beziehung zu ihr.“

„Es war nicht allein meine Entscheidung, Mia.“

Sie öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Als enge Freundin musste sie wissen, wie oft Justine mit irgendwelchen Ausreden Haleys Besuche bei ihm verhindert hatte.

Mias Augen wurden schmal. „Aber du hast nicht gerade um Haley gekämpft, richtig?“

„Schuldig im Sinn der Anklage.“

„Warum nicht?“

Wenn er Mia für seinen Plan gewinnen wollte, musste er alle Karten auf den Tisch legen, auch wenn er dabei nicht gerade gut aussah.

„Weil Haley gerade erst zwei war, als wir uns getrennt haben. Sie hing an ihrer Mutter und hat gleich geweint, wenn ich die Arme nach ihr ausgestreckt habe. Natürlich habe ich versucht, ihr näherzukommen – entgegen meinem Ruf in der Öffentlichkeit bin ich kein Unmensch. Aber leider hat Haleys Geburt mich nicht über Nacht in einen der Männer verwandelt, die beim Anblick eines Babys feuchte Augen bekommen. Ich glaube, ich habe gehofft … na ja, dass ich die versäumte Zeit nachholen kann, wenn sie älter ist.“

„Ich hör wohl nicht richtig! Hast du jemals daran gedacht, dass Haley vielleicht nicht warten will, bis ihr Vater endlich bereit ist, sich wie einer zu benehmen?“

„An jedem verdammten Tag seit ihrer Geburt“, knurrte Grant mit zusammengebissenen Zähnen. „Und es bringt mich um, dass dort oben ein kleines Mädchen schläft, das seine Mutter verloren und ausgerechnet mich zum Vater hat! Dass ich derjenige bin, der ihr helfen soll, das hier zu überstehen. Ich habe nämlich nicht die leiseste Ahnung, wie!“

„Wer zum Teufel hat die schon, Grant?“, entgegnete Mia. „Niemand weiß, wie er es tun soll, bevor er es macht.“

„Dich mag Haley wenigstens.“

Sie musterte ihn einen Moment lang, dann stieß sie einen Seufzer aus, der verdächtig nach einer Verwünschung klang. „Ich kann nicht bleiben, Grant.“

„Nur ein paar Tage. Bis sie sich ein wenig an mich gewöhnt hat.“

„Ich kann nicht“, wiederholte Mia. „Ich habe mein eigenes Leben. Und ein Geschäft, das ich führen muss.“

„Ich dachte, du liebst sie.“

Mias Miene verfinsterte sich. „Komm mir nicht so, Grant! Natürlich liebe ich Haley, aber sie ist deine Tochter, nicht meine. Und was immer zwischen euch beiden passiert oder nicht passiert, ist nicht mein Problem, also …“

„Ich verlange nicht, dass du mein Problem löst! Ich bitte dich nur, mir dabei zu helfen, es selbst zu lösen. Ich hatte gehofft, dass dir Haleys Wohlergehen wichtiger ist als deine Abneigung gegen mich!“

Erst nach einigen Sekunden brach Mia das angespannte Schweigen. „Ich muss morgen Abend zu einer Party. Sie ist zu groß, um sie meiner Assistentin zu überlassen. Jedenfalls so kurzfristig. Aber …“ Sie rieb sich eine Wange, bevor sie beide Hände in die Taschen ihrer Jeans schob. „Aber danach habe ich ein paar Tage frei. Ich könnte in zwei Tagen herkommen und einen oder zwei Tage bleiben.“

„Bis nach der Beerdigung?“, fragte Grant, und sie runzelte die Stirn. „Haley hat sonst niemanden …“

„Na gut, bis nach der Beerdigung. Aber nur damit wir uns nicht falsch verstehen – ich tue es für Haley, nicht für dich.“

„Hauptsache, du bist hier.“

Er folgte ihr, als sie ins Foyer ging und ihre Tweedjacke anzog. Dann beobachtete er vom Wohnzimmerfenster aus, wie Mia in ihren Wagen stieg und so schnell davonfuhr, dass der Kies in der Einfahrt aufstob.

„Nicht gerade eine zimperliche Person, was?“, sagte Etta hinter ihm.

Fast hätte er gelächelt. „Nein. Sie kommt wieder.“

„Das habe ich gehört. Aber sie hat recht, wissen Sie. Es ist nicht ihre Aufgabe, in Ordnung zu bringen, was zwischen Ihnen und Haley nicht stimmt.“

„Sie schämen sich kein bisschen dafür, dass Sie gelauscht haben, was?“

„Nein“, bestätigte die Haushälterin und marschierte davon. Grant ging nach oben. Das Licht aus dem Flur fiel auf das Bett, in dem Haley schlief.

Er schlich in ihr Zimmer und betrachtete sie nachdenklich. Er trauerte nicht um Justine, aber ihr Tod hatte ihn erschüttert. Mehr, als ihm zunächst bewusst gewesen war. Betrübt schüttelte er den Kopf. Wenn Haley erst begriff, was geschehen war, würde sie ihre Mutter schrecklich vermissen.

Genau wie Mia, so ungerechtfertigt ihre Loyalität gegenüber Justine auch sein mochte.

Sie weiß es nicht.

Wieder versetzte der Gedanke ihm einen Stich. Aber es stand ihm nicht zu, sie über Justine aufzuklären. Was zwischenmenschliche Beziehungen anging, war er vielleicht ein Neandertaler, aber selbst er brachte es nicht fertig, Mia den Glauben an Justines Freundschaft zu nehmen. Wozu auch? Justine war tot, und ihre Schuld nahm sie mit ins Grab. Trotzdem hatte er sich beherrschen müssen, um Mia nicht die bittere Wahrheit zu sagen – dass die Frau, die ihr geholfen hatte, die schwerste Zeit ihres Lebens zu überstehen, auch diejenige war, die all ihr Leid verursacht hatte.

Als Haley im Schlaf strampelte und der bedauernswerte Stofflöwe vom Bett rutschte, hob Grant ihn auf und legte ihn zurück. Sofort streckte seine Tochter den Arm nach ihrem Freund aus. Grant schob ihn näher zu ihr und lächelte, als Haley das Tier in die Arme nahm, einen Daumen in den Mund steckte und sich entspannte.

Doch dann musste er erneut an seine Exfrau denken und runzelte unwillkürlich die Stirn. So sehr ihn Justines Ehebruch auch gekränkt hatte, er hatte sogar ein wenig Verständnis dafür aufgebracht. Schließlich hatte Justine viel mehr Aufmerksamkeit gebraucht, als er ihr hatte geben können. Aber dass sie ausgerechnet mit dem Verlobten ihrer besten Freundin ins Bett gehen musste …

Und dann auch noch die Unverfrorenheit besaß, Mia zu trösten, als der Typ sich von ihr trennte …

Ab-so-lut unglaublich.

Fast so unglaublich wie Mias Naivität. Besaßen Frauen nicht angeblich ein untrügliches Gespür für solche Dinge? Vor allem, wenn sie schon über dreißig waren? Aber wieso waren die beiden überhaupt so enge Freundinnen geworden? Verglichen mit der zielstrebigen, ehrgeizigen Justine wirkte Mia – die ihren sicheren Job in einer der angesehensten Anwaltskanzleien von Manhattan gegen die Selbständigkeit als Party-Planerin eingetauscht hatte – geradezu flatterhaft.

Grant sah die beiden noch vor sich, als sie hier gewesen waren. Justine wie immer gepflegt und elegant, Mia dagegen mit windzerzaustem Haar und eher lässigem Outfit. Aber Mia liebte seine Tochter, das spürte er. Sie war gutgläubig und ahnungslos, und fast tat sie ihm ein bisschen leid.

Trotzdem war ihm Ahnungslosigkeit wesentlich sympathischer als eiskalte Berechnung.

Vorsichtig deckte er Haley zu. Sie bewegte sich, ohne die Augen zu öffnen. Wenigstens im Schlaf schien sie ihm zu vertrauen.

Grant stand neben dem Bett, und die Hoffnung, Haley für sich zu gewinnen, und seine gleichzeitige Hilflosigkeit nahmen ihm fast den Atem.

Erst in ihrer kleinen, aber gemütlichen Wohnung im westlichen Manhattan holte Mia ihr Handy heraus, um die Mailbox abzufragen. Als sie die Nummer ihrer Eltern sah, stöhnte sie auf und ließ sich auf die Couch fallen, bevor sie die Nachricht ihres Vaters abhörte. Sein Akzent klang nicht nur nach Massachusetts, sondern verriet auch, dass er sein Leben lang körperlich gearbeitet hatte.

„Wollte nur wissen, ob du von deinem Bruder gehört hast oder weißt, wie wir ihn erreichen können. Ruf uns doch mal an.“

Welchen Bruder er meinte, war klar, denn die vier älteren – und ihre Familien – lebten alle keine zehn Querstraßen von dem roten Backsteinhaus entfernt, in dem sie alle aufgewachsen waren. Ein schwarzes Schaf unter sechs Geschwistern war wohl normal, aber gleich drei? Sie selbst, Rudy und Kevin … Mia musste lächeln und dachte an Rudy, ihren jüngeren Bruder. Vor zwölf Jahren hatte seine damals achtzehnjährige Freundin ein Kind bekommen, und dann hatte Mia auf ein sechsstelliges Jahresgehalt verzichtet, um ihr eigenes Geschäft zu eröffnen. Aber wenigstens meldete sie sich noch ab und zu bei ihrer Familie, und Rudy wohnte bei den Eltern, damit seine Mutter sich um die Tochter Stacey kümmern konnte, während er arbeitete. Kevin dagegen …

Seufzend rief sie die nächste Nachricht ab. Ihr kleiner Bruder brachte sie noch alle ins Grab. Obwohl er mit sechsundzwanzig wohl kaum noch der Kleine war …

Als Nächstes hörte Mia die Nachricht von Venus ab, ihrer Assistentin, die sie schon oft vor dem finanziellen Ruin bewahrt hatte.

„Mädchen, wo zum Teufel steckst du? Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Das beunruhigt mich ungemein, weil ich weiß, dass du ohne dein Handy nicht mal aufs Klo gehst. Wenn ich bis Mitternacht nichts von dir höre, rufe ich die Polizei an. Und nein, das ist kein Scherz.“

Venus war Anfang fünfzig, der ordentlichste Mensch, den Mia kannte. Sie war bei Hinkley-Cohen ihre Sekretärin gewesen und zusammen mit ihr dort ausgestiegen. Sofort drückte Mia auf die Rückruftaste. „Entschuldige bitte!“, sagte Mia und erklärte Venus, warum sie sich erst jetzt meldete.

„Ist das dein Ernst?“, entgegnete ihre Assistentin fassungslos. „Oh, verdammt … Das tut mir so leid! Du musst erschüttert sein. Ich weiß, wie nahe ihr beide euch wart.“

Ja, das hatte Mia auch gedacht.

Aber nachdem der erste Schock abgeklungen war, gestand sie sich ein, dass die Distanz zwischen ihnen beiden nach Justines Scheidung langsam, aber stetig größer geworden war. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Freundin sie manchmal angesehen hatte – halb verlegen, halb bedauernd. Manchmal hatte Mia sich sogar gefragt, ob Justine ihre Beziehung nur deswegen aufrechterhielt, um sie nicht als Babysitterin zu verlieren.

„Das stimmt“, sagte sie zu Venus und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Auch wenn du es damals nicht verstanden hast.“

„Oh doch, das habe ich. Schließlich habt ihr beide gleichzeitig in der Kanzlei angefangen. Justine war lebhaft, glamourös und selbstbewusst, du dagegen ein kleines, schüchternes Ding. Wie alt warst du? Einundzwanzig?“

„Zweiundzwanzig. Und schüchtern war ich nie! Und klein das letzte Mal im Kindergarten!“

„Na gut, dann ungeschliffen. Wenn ich noch an die klobigen Schuhe denke, die du immer …“

„Hey! Die waren teuer.“

„Um so schlimmer. Und das armselige Kostüm … Liebes, ich hatte Vorfahren, die auf Plantagen gearbeitet haben und besser angezogen waren. Nein, mich hat es nicht erstaunt, dass du ihre Nähe gesucht hast. Aber weißt du was? Ich fand eure Freundschaft nie … ausgeglichen. Eine von euch hatte mehr davon als die andere.“

Mia runzelte die Stirn. „Damit meinst du mich?“

„Na ja! Miss Justine hat eindeutig mehr profitiert. Glanz und Glitter sind vielleicht hübsch anzusehen, aber du warst die mit Substanz. Die Zuverlässige. Auch wenn du jünger warst. Sie brauchte dich mehr als du sie.“ Venus machte eine Pause. „Sie brauchte jemanden, der zu ihr aufsah und ihr das Gefühl gab, mehr als eine Bürobotin mit Jurastudium zu sein.“

Zum Glück saß Mia bereits auf einem Stuhl, sonst hätten ihre Knie spätestens jetzt nachgegeben. „Erstens, wir waren beide Büroboten mit Jurastudium. Zweitens, warum hast du nie etwas gesagt?“

„Weil es mich nichts anging. Und hättest du etwa auf mich gehört? Du warst doch scheinbar ganz zufrieden. Das war der Unterschied zwischen euch beiden. Du hast dich damit abgefunden, dass du in der Kanzlei ganz unten anfangen musst. Justine eben nicht.“ Die Stimme von Venus wurde sanfter. „Um ehrlich zu sein, mir tat Justine meistens nur leid. Sie hat ihre Unsicherheit hinter der glitzernden Fassade versteckt. Hoffentlich findet sie im Himmel das, was sie immer gesucht hat, denn hier unten hat sie es ganz sicher nicht gefunden. Ich habe immer bewundert, wie du zu ihr gehalten hast. Ich kann mir denken, wie traurig du bist. Hör zu, wenn du die Party morgen an mich abgeben möchtest …“

„Nein! Genau deshalb bin ich zurückgekommen.“ Auch deshalb. Der andere Grund war, dass sie dem Übermaß an Männlichkeit entfliehen musste. Warum war sie nur einverstanden gewesen, sich diesem Mann drei oder vier Tage auszusetzen …

„Bist du sicher?“, fragte Venus. „Ich habe hier alles im Griff, und Cindy, Armando und Silas kommen notfalls auch ohne uns zurecht.“

„Bestimmt, Venus. Aber es tut mir gut, wenn ich mich auf andere Dinge konzentrieren kann. Danach kümmere ich mich ein paar Tage um Haley.“

„Ach ja, das Baby habe ich ganz vergessen. Armes kleines Ding. Wenigstens hat sie noch ihren Vater.“

„Ja, das sollte man meinen, nicht wahr?“ Mia erzählte ihr kurz von den Problemen zwischen Haley und Grant, und Venus seufzte laut.

„Warum braucht man eine Lizenz, um Auto zu fahren oder Alkohol auszuschenken, wenn jeder Idiot mit einem funktionierenden Joystick Kinder bekommen kann? Das musst du mir erklären.“

Mia lächelte. „Wenn ich das könnte. Nicht, dass ich ein ausgebildetes Kindermädchen bin, aber ich will es wenigstens versuchen. Okay, dann sehen wir uns also morgen Mittag bei den Chins?“

Nach dem Gespräch mit Venus rief Mia ihre Eltern an und atmete erleichtert auf, als sich nur der Anrufbeantworter meldete. Zum zweiten Mal berichtete sie knapp, was passiert war, und teilte mit, dass sie übermorgen wieder nach Connecticut fahren wollte und seit Kevins Anruf vor vier Monaten nichts mehr von ihrem jüngeren Bruder gehört hatte.

Danach suchte sie in ihrer Miniküche nach etwas Essbarem und bereute fast, dass sie Grants Einladung nicht angenommen hatte. Gerade überflog sie die Speisekarten der Lieferservices an der Pinnwand neben dem Telefon, da läutete es an der Tür. Sie schaute durch den Spion. Es war Mrs. Epstein, die selbst ernannte Anführerin der Mieter, die sich – wenn auch ohne große Hoffnung – gegen die Umwandlung in Eigentumswohnungen wehrten.

Unter normalen Umständen hätte Mia geöffnet, aber heute Abend war sie nicht in der Stimmung, sich den Klatsch und Tratsch der Hausgemeinschaft anzuhören. Auf Zehenspitzen wandte sie sich ab, doch so leicht war Mrs. Epstein nicht zu überlisten. „Tu nicht so, als wärst du nicht da. Dein Fußboden knarrt.“

Verdammter Altbau.

Seufzend schob Mia die drei Riegel zurück und öffnete die Tür. Ihr Lächeln ging nahtlos in ein Stirnrunzeln über, als sie in das besorgte Gesicht unter dem kastanienbraunen Pony blickte.

„Wir haben verloren, Kindchen. Der Mistkerl kann uns zwar nicht hinauswerfen, bevor die Mietverträge auslaufen, aber er wird sie nicht verlängern. Wir müssen kaufen oder ausziehen. Der Anwalt hat gesagt, wie können klagen und es noch eine Weile hinauszögern, aber unser Geld ist fast alle. Und je länger wir warten, desto teurer werden die Wohnungen, sagt er.“

Mia war froh, dass sie noch nichts gegessen hatte, denn spätestens jetzt hätte sich ihr der Magen samt Inhalt umgedreht. Sie murmelte einige unschöne Worte vor sich hin.

Mrs. Epstein nickte. „Ganz meine Meinung, Süße“, erwiderte sie und eilte davon, um die freudige Nachricht im ganzen Haus zu verbreiten.

Mia schloss die Tür, sank zu Boden und stützte den Kopf auf die Arme.

Sie konnte es sich nicht leisten, das Apartment zu kaufen. Ihre gesamten Ersparnisse steckten im Geschäft. In den letzten Monaten hatte sie genug verdient, um wieder ein wenig zurückzulegen, aber ihr Konto war frühestens in einem Jahr auf dem alten Stand.

Allein die Anzahlung für die Wohnung kostete ein kleines Vermögen, und ihr finanzielles Polster reichte höchstens, um nicht zu verhungern, wenn sie aus irgendeinem Grund arbeitsunfähig werden sollte. Auch eine Hypothek bei der Bank zu bekommen war als Selbständige fast aussichtslos.

Konnte es noch schlimmer werden? Ja. Ihr Mietvertrag lief in zwei Wochen aus.

Zwei Wochen.

Kein Zweifel, Mia stand vor einem echten Problem.

3. KAPITEL

„Du meine Güte, Grant – es ist eisig hier draußen!“

Obwohl über zehn Grad herrschten, hielt Grants Mutter den Wildlederkragen ihres Wollblazers zusammen und starrte fröstelnd die Einfahrt entlang.

„Natürlich vermisst Haley ihre Mutter“, sagte Elizabeth „Bitsy“ Braeburn. Ihre Stimme war schneidender als die Temperatur, das streng nach hinten gekämmte blonde Haar schimmerte matt im Sonnenlicht. „Aber das gibt Haley kein Recht, dein Leben zu bestimmen. Wenn du sie nicht bald in den Griff bekommst, möchte ich mir nicht ausmalen, was sie sich als Teenager erlaubt.“

„Sie ist keine vier Jahre alt, Mutter“, erwiderte Grant leise und ballte die Hände in den Taschen seiner Lederjacke zu Fäusten. „Sie hat noch nicht begriffen, dass Justine tot ist.“

„Dann sag es ihr.“

„Das habe ich. Mehrmals. Genau wie Etta. Sie kann nichts damit anfangen.“ Er wandte den Blick von seiner Tochter, die warm angezogen und mit Henry auf dem Schoß im laubbedeckten Gras saß und das Eingangstor nicht aus den Augen ließ. „Und der Psychologe sagt, wir können nichts daran ändern. Wenn sie bereit ist, Justines Tod zu akzeptieren, wird sie es tun.“

Es hatte gestern Morgen begonnen, als Haley verkündete, dass sie nach draußen wollte, um „auf Mommy zu warten“. Etta und Grant hatten ihr einmal mehr erzählt, dass Justine im Himmel sei.

„Habt ihr den Himmel gesehen?“, wollte Haley daraufhin wissen.

„Nein“, hatten Etta und Grant zugeben müssen.

„Woher wisst ihr dann, dass es ihn gibt?“

Da er Haley nicht stundenlang allein im Freien sitzen lassen konnte, passte Grant auf seine Tochter auf, obwohl sie auf seine Anwesenheit keinen großen Wert zu legen schien. Wenigstens gab es an diesem Vormittag wirklich jemanden, auf den sie warten konnten. Mia. Sie musste jede Minute eintreffen.

Verdammt. Seine Mutter war mit Justine nicht gerade warm geworden, und er wollte sich nicht vorstellen, was sie von Mia hielt. Die beiden hatten nur anlässlich der Hochzeit miteinander zu tun gehabt, und das war fünf Jahre her.

„Um Himmels willen“, knurrte Grant, als seine Mutter noch heftiger fröstelte. „Geh doch ins Haus. Bestimmt hat Etta Kaffee gekocht und …“

„Was um alles in der Welt ist das?“ Bitsy blinzelte zum Tor hinüber.

Davor stand Mias alter Minivan und brummte vor sich hin, während sie darauf wartete, dass Etta ihr das Tor öffnete.

„So geht es nicht!“, sagte seine Mutter, als es langsam zur Seite glitt. „Grant, du musst mit Etta reden. Sie kann doch nicht jeden, der sich verfahren hat, aufs Anwesen lassen!“

„Das ist Mia“, erwiderte er. „Und sie hat sich nicht verfahren.“

Zum ersten Mal seit zwei Tagen zeigte Haley so etwas wie Begeisterung und sprang auf.

„Bleib auf dem Rasen!“, rief Grant, als das kleine Mädchen loslief, und sah verblüfft, wie Haley ihm gehorchte. Als der Wagen an ihr vorbeifuhr, rannte Haley hinterher.

Eine Minute später hielt Mia die Kleine in den Armen.

„Was will die denn hier?“, fragte Grants Mutter, die offenbar über ein Hundert-Gigabyte-Gedächtnis verfügte.

„Hast du Mommy mitgebracht?“

Mia ging vor Haley in die Hocke und schüttelte den Kopf. „Nein, Süße“, antwortete sie sanft. „Erinnerst du dich? Mommy ist nicht mehr am Leben.“ Sie zupfte an einer Locke. „Also kannst du sie nicht sehen. Das kann keiner.“

Haley betrachtete Mia einen Moment lang, bevor sie den Daumen in den Mund steckte und mit dem anderen Arm den bedauernswerten Plüschlöwen fast erwürgte. Dann schmiegte sie sich wieder an Mia, und Grant musste schlucken.

„Deshalb ist sie hier“, flüsterte er.

Mia hatte Mühe, mit Haley in den Armen aufzustehen, und Grant ging hinüber und nahm ihr seine Tochter ab. Er tat es ganz automatisch und staunte zum zweiten Mal an diesem Tag darüber, dass Haley sich nicht widersetzte.

Ohne auf die feuchte Erde an ihren Knien zu achten, schaute Mia von Haley zu Grant und lächelte einen Moment, bevor sie sich Grants Mutter zuwandte.

„Mrs. Braeburn.“ Sie streckte die Hand aus. „Es ist lange her. Wie geht es Ihnen?“

Erst nach einigen Sekunden ließ Grants Mutter sich dazu herab, ihre Hand aus der Tasche zu nehmen und Mias zu schütteln. „Ganz gut, nehme ich an. Unter diesen Umständen.“ Sie zog die Hand zurück und drehte an ihrem großen Brillantring.

Mia war nicht anzumerken, ob sie sich über Elizabeth Braeburns frostige Begrüßung ärgerte. Vermutlich hat sie bei ihrer Arbeit täglich mit blasierten Damen zu tun, dachte Grant.

„Ja, natürlich.“ Mias Lächeln wurde traurig. „Aber Sie sehen großartig aus. Und Ihr Blazer ist sehr schön!“

Jetzt musste auch Grant lächeln. Bravo! Der Punkt ging an Mia.

„Danke, Liebes“, murmelte seine Mutter überrascht und sah ihren Sohn an. „Können wir jetzt hineingehen, bevor ich mir etwas abfriere?“

„Eines muss ich Ihnen sagen“, begann Etta, während sie das schwarze Seidenkleid, das Mia zur Beerdigung tragen wollte, in den riesigen Schrank hängte. „Ich habe noch nie erlebt, dass es der Frau die Sprache verschlägt. Ich weiß zwar nicht, ob Sie das zu einem Engel oder kleinen Teufel macht, aber was auch immer Sie sind, bleiben Sie es! Brauchen Sie mich noch?“

„Nein“, entgegnete Mia sanft und schloss die Schublade des kleinen Nachtschranks. „Und bitte, bitte, bedienen Sie mich nicht, Etta. Es ist mir unangenehm.“

Die Haushälterin verschränkte die Arme. „Gewöhnen Sie sich daran, denn dafür werde ich bezahlt. Außerdem …“ Sie schaute zur offenen Tür des Gästezimmers und senkte die Stimme. „Sie glauben nicht, wie schön es ist, mal mit einem normalen Menschen zu reden.“

Mia lächelte. „Sie mögen Mr. Braeburn nicht?“

„Oh, bitte … Mr. Braeburn habe ich längst durchschaut. Er ist im Grunde gar nicht so übel. Aber seine Mutter …“ Etta schüttelte den Kopf. „Ich bin nur froh, dass Sie hier sind. Wenn es nach dem Drachen ginge … Können Sie sich vorstellen, wie viele Therapien das arme Kind durchmachen müsste?“

„Etta! Das dürfen Sie nicht sagen. Ich bleibe nur bis nach der Beerdigung, das wissen Sie doch. Und Grant hat mir erzählt, dass er mit Haley schon bei jemandem war.“

Etta knurrte etwas Unverständliches. „Auf dem Bett liegen zwei Decken. Wenn Sie mehr brauchen, finden Sie sie in der Truhe am Fußende, zusammen mit einigen Kissen … Was gibt es denn dort draußen zu sehen?“

„So viel Schönes“, erwiderte Mia und seufzte wehmütig, während sie sich in die Nische am Fenster setzte. Obwohl es in der Nähe andere Häuser gab, waren sie hinter den dicht stehenden Bäumen nicht zu sehen. Zwischen dem Herbstlaub glitzerte in der Ferne das Wasser des Long Island Sound. „Es ist wirklich eine fantastische Aussicht, nicht wahr?“

Etta stellte sich neben Mia. „Stimmt. Gott sei Dank hat Mr. B. das Haus nicht abgerissen und durch eins dieser Monster ersetzt, die sich viele hier gebaut haben. Wer zum Teufel braucht über tausend Quadratmeter Wohnfläche?“

Die Haushälterin hatte recht. Viel zu viele der alten, im 19. Jahrhundert errichteten Villen waren durch protzige Prachtbauten ersetzt worden, mit denen die Eigentümer ihren Reichtum zur Schau stellten. Bowlingbahnen, Heimkinos, Landeplätze für Hubschrauber, dreißig Garagen … Erstaunlich, dass Grant mit nur sieben Schlafzimmern, acht Bädern, einem Speiseraum für zwanzig Personen, Pool, Tennisplatz und einer Garage für sechs Wagen auskam.

Trotzdem war es ein hübsches Haus. Ein Zuhause, das Kindheitserinnerungen weckte und in das die Geschwister Braeburn alljährlich zu Weihnachten, Thanksgiving und Hochzeitstagen zurückkehrten …

Mia reckte den Hals, um einen Blick auf den – jetzt abgedeckten – Pool und das Gästehaus zu werfen. „Er hat es renoviert?“

„Das Gästehaus? Ja, vor etwa zwei Jahren. Vor der Scheidung. Sie sollten es mal sehen, es ist toll geworden. Küche und Bad sind neu und vom Feinsten.“ Beide sahen eine Weile aus dem Fenster, dann sagte Etta: „Ich habe zum Lunch eine Suppe aus Meeresfrüchten gemacht, ist das in Ordnung? Oder möchten Sie lieber Sandwiches?“

Mit einem dankbaren Lächeln wandte sich Mia ihr zu. „Nein, Suppe ist gut.“ Sie runzelte die Stirn. „Isst Haley denn genug?“

Etta zuckte mit den Schultern. „Leider nein. Aber sie hat früher auch sehr wenig gegessen. Wieso das Kind überhaupt noch lebt, ist mir schleierhaft.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um, zögerte und schien nicht zu wissen, ob sie aussprechen sollte, was ihr durch den Kopf ging. „Lunch ist um halb eins“, sagte sie schließlich. Mia bezweifelte, dass Etta daran gedacht hatte.

Nun ja. Ihre Sachen waren eingeräumt, der Laptop stand auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster, also konnte sie sich nützlich und auf die Suche nach Haley machen. Sie fand die Kleine im Garten, der eher einem Park glich, zusammen mit ihrem Vater. Haley und Henry saßen – unter den wachsamen Augen von Grant – auf einer niedrig hängenden Schaukel an einem nagelneuen Gestell. Grant hatte es sich in einem schmiedeeisernen weißen Sessel auf der Terrasse bequem gemacht.

„Hallo“, sagte Mia.

Grant hob den Kopf, und seine beinahe ständig gefurchte Stirn glättete sich ein wenig. „Hast du dich eingerichtet?“, fragte er und schaute sofort wieder zu seiner Tochter.

„Ja.“ Mit den Händen in der Tasche ihrer Weste setzte Mia sich in den zweiten Sessel. „Deine Mutter ist weg?“

„Ja, Gott sei Dank. Ich glaube, sie weiß nicht recht, wie sie dich einschätzen soll.“

„Das geht vielen so. Da ich jetzt hier bin, und falls du wieder an die Arbeit musst …“

„Danke. Kein Problem.“

Mia folgte seinem Blick. „Wie geht es ihr?“

Grant zuckte mit den Schultern. „Sie ist still, in sich gekehrt. Abgesehen davon, dass sie alle fünf Sekunden nach Justine fragt. Damit war zu rechnen, hat der Arzt gesagt.“ Er beugte sich vor. „Ich habe im Internet ein wenig nachgelesen.“

„Ich auch. Gestern, als ich wieder zu Hause war. Nach der Party, die ich betreut habe.“

Er nickte. „Ich nehme an, es sollte mich trösten, dass ihre Reaktion nicht ungewöhnlich ist.“

„Ja“, stimmte Mia zu. „Es ist schwer, etwas zu verarbeiten, das man nicht versteht.“ Der Wind ließ die Blätter rascheln, und einige davon segelten langsam auf den Rasen. „Ich … will mich nicht aufdrängen, aber falls du Hilfe brauchst … Bei allem, was in so einem Fall arrangiert werden muss, meine ich.“ Sein Stirnrunzeln vertiefte sich wieder. „Es ist schließlich mein Beruf.“

„Helfen?“

„Nein. Na ja, das auch. Ich meinte eher das Essen und alles andere für zweihundert Gäste organisieren.“

„Ich schätze, Empfänge nach Beerdigungen gehören nicht zu deinen normalen Aufträgen“, sagte er leise.

„Doch. Es hängt vom Verstorbenen ab.“

„Das hier wird aber keine Party.“

„Ich weiß.“

Grant schaute zu Haley hinüber. „Ich bezahle dich selbstverständlich für deine Zeit.“

„Sei nicht albern“, entgegnete sie. „Schreib einfach einen Scheck für das Essen aus, und wir sind quitt.“

Grant nickte. „Wahrscheinlich ist es verrückt, von den Leuten zu erwarten, dass sie nach der Kirche den weiten Weg hierher machen. Aber ich dachte mir, vielleicht ist es gut für Haley, wenn sie sich hier verabschieden kann.“

„Das finde ich auch“, erwiderte Mia, und er schien sich ein wenig zu entspannen.

„Ich hätte dich nicht dazu drängen sollen.“

„Wozu?“

„Zurückzukommen“, sagte er, ohne sie anzusehen. „Du hast diesen gequälten Gesichtsausdruck, den Leute bekommen, wenn sie irgendwo sind, wo sie nicht sein wollen. Ich war nur so verzweifelt und habe gar nicht darüber nachgedacht … Entschuldige.“

Mia blinzelte erstaunt, dann lachte sie leise. „Glaub mir, Grant – wenn ich nicht hier sein wollte, wäre ich es nicht. Du musst dich nicht entschuldigen.“

Ihre Blicke trafen sich, und Mia spürte ein Kribbeln im Bauch. In Grants Augen sah sie Nervosität und etwas wie Neugier. Fast war es, als ob …

Hör auf, befahl sie sich streng und wandte sich ab, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

„Was ist es dann?“, fragte er, als sie nicht gleich antwortete. „Läuft dein Geschäft schlecht?“

„Nein!“, widersprach sie scharf. „Das läuft großartig.“

„Also, was ist es?“

Mia zupfte an einem Faden, der am Saum ihres Sweatshirts hing. „Meine Wohnung wird umgewandelt. Wenn mein Mietvertrag ausläuft, muss ich entweder ausziehen oder sie kaufen. In zwei Wochen.“

„Eine Kündigungsfrist von zwei Wochen ist unmöglich!“

„Sie ist viel länger. Die Umwandlung steht seit über einem Jahr an. Ich war nur zu beschäftigt … und habe bis zuletzt gehofft, dass wir Mieter den Eigentümer umstimmen können.“

„Deinen Optimismus möchte ich haben“, knurrte Grant.

„Ich weiß.“

„Ich nehme an, du kannst es dir nicht leisten, sie zu kaufen?“

Sie lachte trocken. „Alles, was ich habe … hatte, steckt in der Firma.“

„Du hast sie mit deinem Privatvermögen gegründet?“, fragte er ungläubig.

„Das kommt vor, Grant. Zumal ich von keiner Bank einen Kredit bekommen hätte. Also hör auf, mich so anzusehen.“

„Wie?“

„Als wäre ich zu dumm, um zu wissen, worauf ich mich einlasse.“

„Hattest du wenigstens einen Plan für den Fall, dass es nicht funktioniert?“

Mia musste sich zusammenreißen, um den Mann nicht zu ohrfeigen. „Ich bin nicht im Streit bei Hinkley-Cohen ausgeschieden und hätte jederzeit dorthin zurückkehren können.“

„Aber das hast du nicht?“

„Jetzt hör mir mal zu, Grant“, sagte Mia und blitzte ihn an. „Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, ich wusste genau, welches Risiko ich eingehe. Ich war sicher, dass ich es mit Zeit und Ausdauer schaffen kann. Und ich habe es geschafft und habe viel zu tun, deshalb konnte ich auch nicht umziehen. Deshalb bin ich ein weiteres Risiko eingegangen und habe darauf gesetzt, dass der Vermieter die Wohnungen nicht loswird und uns als Mieter behält. Ich werde mir etwas einfallen lassen.“

„In zwei Wochen.“

„In zwölf Tagen … Hallo, Kleine“, begrüßte Mia Haley, die zu ihnen gekommen war. „Wie geht’s dir?“

Dass das Mädchen auf ihren und nicht auf Grants Schoß kletterte, wärmte Mia das Herz, aber Grants Stirnrunzeln entging ihr nicht. Selber schuld, dachte sie und legte die Arme um Haley. Du bist der Einzige, der daran etwas ändern kann.

„Wie geht es Henry heute?“, flüsterte Mia ihr ins Ohr.

„Seine Mommy ist noch nicht zurück. Er bekommt langsam Angst.“ Haley strich die zottige Mähne glatt. „Er sagt, alle erzählen ihm dauernd, dass sie im Himmel ist und nie wiederkommt. Das tut ihm weh.“

Mia drückte Haley fester an sich. „Ich weiß“, wisperte sie und legte ihre Wange an die weichen Locken. „Deshalb musst du Henry ganz oft in den Arm nehmen, damit er sich besser fühlt.“

„Das tue ich ja. Aber er meint, es hilft nicht.“

„Doch, das wird es, mein Schatz“, versicherte Mia mit feuchten Augen. „Irgendwann wird es helfen.“

„Versprochen?“

„Versprochen. Du musst Henry immer wieder sagen, wie sehr du ihn lieb hast.“

„So, wie du mich lieb hast?“

Mia lächelte. „Ja. So, wie ich dich lieb habe. Und Etta und dein Daddy und deine Oma – wir alle werden dich ganz doll lieb haben, bis es nicht mehr wehtut.“

Nach einem Moment legte Haley den Kopf schräg, als ob sie ihrem Plüschtier lauschte. Dann glitt sie von Mias Schoß und sah sie an. „Henry will wissen, ob du uns auf der Schaukel anschieben kannst.“

„Das lässt sich machen.“ Mia stand auf und streckte die Hand aus.

„Mia“, sagte Grant leise.

Sie blickte über die Schulter. Auch er hatte sich erhoben, die Hände in den Taschen, mit schmalem Mund.

„Falls du deine Wohnung kaufen willst, bürge ich gern für deinen Kredit.“

Mias Augen wurden groß. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, beugte sie sich zu Haley herunter. „Setzt euch schon auf die Schaukel. Ich bin gleich da.“ Als die Kleine außer Hörweite war, wandte sich Mia wieder Grant zu, der vollkommen reglos dastand.

„Warum um alles in der Welt willst du das tun?“

„Um mich bei dir zu bedanken?“

„Dann schick mir Blumen. Oder einen Geschenkgutschein für Bloomie’s. Aber nicht im Traum lasse ich dich etwas so Riskantes machen. Im Moment ist nämlich noch nicht abzusehen, wie regelmäßig meine Einnahmen sein werden.“

„Das macht nichts.“

„Für dich vielleicht nicht, für mich aber. Trotzdem danke“, sagte sie leise, als Grant verärgert schnaubte. „Das ist unglaublich großzügig von dir, aber nein.“ Eine Haarsträhne wehte ihr ins Gesicht, und Grant sah, wie Mia sie fortstrich. „Meine Mutter hat mir strikt verboten, Geld von Fremden anzunehmen.“

„Ich bin kein Fremder, Mia.“

Dieser Bursche gab wirklich nicht auf! „Doch, das bist du.“

Offenbar fand Grant sich damit ab. „Du suchst dir also eine neue Wohnung, wenn du wieder in der Stadt bist?“

„Das habe ich vor, ja.“

„In weniger als zehn Tagen.“

„Streu nur Salz in meine Wunde.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Es gibt noch eine Möglichkeit. Wenn es nicht anders geht.“ Er nickte in Richtung des Gästehauses. „Es steht leer.“

„Oh! Nein, nein, das kann …“

„Denk darüber nach“, unterbrach er sie und verschwand Richtung Haus.

„Also reden wir hier nicht über eine schäbige alte Hütte, in der man nicht mal seinen Hund unterbringen würde?“

Wie immer nahm Venus kein Blatt vor den Mund.

„Nein.“ Während Haley ihren Mittagsschlaf hielt, hatte Mia den Schlüssel von Etta geholt und war zum Gästehaus gegangen, um es sich anzusehen. Nicht, dass sie daran dachte, Grants Angebot anzunehmen, aber sie wollte wissen, worauf sie verzichtete.

„Zwei Schlafzimmer“, berichtete sie übers Handy. „Holzböden … na ja, Teppich im Schlafzimmer … und die Küche ist groß genug für einen Tisch und mehr als eine halbe Person …“

„Dann schlag zu!“

„Ich weiß nicht. Natürlich, verglichen mit dem Haupthaus ist es eine Hütte. Aber verglichen mit dem, was ich mir in Manhattan leisten kann, ist es ein Palast. Leider liegt es in Connecticut!“

„Stimmt.“

„Und du bist in Washington Heights.“

„Stimmt auch.“

„Was willst du mir sagen, Venus?“

„Weißt du noch, wie du beim Blick aus dem Fenster fast etwas umgeworfen hättest, nur weil Grant auf dem Weg zu seinem Steueranwalt an deinem Büro vorbeiging?“

„Ich habe nichts umgeworfen!“ Mia seufzte. „Na gut, aber damals war ich zeitweilig unzurechnungsfähig. Außerdem haben meine Bedenken überhaupt nichts … damit zu tun.“

„Natürlich nicht.“

„Venus, der Mann ist kalt wie ein Fisch.“

„Dann wärm ihn auf.“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ja, leider. Aber darf ich dich daran erinnern, dass dieser kalte Fisch gerade angeboten hat, dir einen ansehnlichen Kredit zu verschaffen? Ganz zu schweigen davon, dass er dich davor bewahren will, auf der Straße zu landen?“

„Oh, bitte … der Mann investiert Millionen, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Sie ließ den Blick durch die Küche wandern, über den blitzsauberen Herd und den Eisschrank, der garantiert mehr fasste als zwei Tiefkühlgerichte, einen Becher Eiscreme und eine einzelne Eiswürfelschale.

„Du bist in Versuchung, das merke ich“, sagte Venus.

„Stimmt. Ich bin nicht aus Stein.“

„Wir reden noch immer über das Gästehaus, richtig?“

„Willst du mich unbedingt dazu bringen, mir das mit deiner Gehaltserhöhung noch mal zu überlegen?“

„Er hätte es dir nicht anbieten müssen“, beharrte Venus ungerührt. „Aber er hat es trotzdem getan. Und es ist über ein Jahr her, dass der Mistkerl dich hat sitzen lassen. Soweit ich weiß, hast du seitdem keinen Mann mehr angesehen, und jetzt taucht dieser toll aussehende Bursche auf, ist großzügig und freundlich …“

„Freundlich ist vielleicht etwas übertrieben“, widersprach Mia. „Und das Angebot ist ja nicht ganz uneigennützig. Außerdem …“

„Ich weiß – nach allem, was zwischen ihm und Justine passiert ist … Blabla. Und eine Freundin macht nicht mit dem Mann ihrer Freundin herum, auch wenn die beiden seit mehr als einem Jahr geschieden sind und sie es nie erfahren wird. Und dann ist da ja noch etwas. Zu einer gescheiterten Ehe gehören immer zwei. Ich weiß, du willst Justine gegenüber loyal sein und so, aber vielleicht war sie mitverantwortlich dafür – kann doch sein, oder? Ich glaube, Freundschaft macht blind dafür, wie jemand wirklich ist. Nimm uns beide, zum Beispiel. Du hältst mich wahrscheinlich für nett.“

„Generell oder im Moment?“

Venus schnaubte. „Und dass du in Connecticut bist und ich in Manhattan arbeite, wäre … überhaupt kein Problem. Die Hälfte deiner Kunden wohnt ohnehin da oben, und was macht es schon für einen Unterschied, ob du von Manhattan dorthin oder von dort nach Manhattan fährst? Denk mal daran, wie viel Parkgebühren du sparst.“

Das war durchaus ein Argument. Mia brauchte den Wagen für ihre Arbeit, aber von dem, was sie jeden Monat für das Parkhaus bezahlte, hätte sie eine dreiköpfige Familie ernähren können. Hey, sie konnte doch auch im Wagen wohnen und die Miete ganz sparen …

„Ich weiß nicht. Auf dem Papier klingt es gut, aber … ich weiß einfach nicht. Hör mal, ich muss zurück. Etta und ich wollen den Empfang vorbereiten. Wenn alles läuft wie geplant, bin ich Freitag wieder in der Stadt.“

„Ja, aber für wie lange?“, entgegnete Venus und legte auf.

Mia stand mitten im Wohnzimmer, unter ihr glänzten die polierten Eichendielen im strahlenden Sonnenschein, und sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie sich entscheiden sollte.

4. KAPITEL

Grant stand im Foyer Wache, direkt vor dem Wohnzimmer, in dem die Trauergäste entweder plauderten oder sich Ettas beindruckendes Buffet schmecken ließen. Fast wartete er darauf, dass Christopher Schofield durch die Haustür kam. Aber er bezweifelte stark, dass der Mann den Mut besaß, sich nach der Beerdigung seiner Liebhaberin hier sehen zu lassen – zumal er wissen musste, dass Mia da war.

Trotzdem wollte Grant kein Risiko eingehen. Nicht, dass Mia seinen Schutz brauchte. Aber Haley brauchte ihn, und er wollte auf keinen Fall zulassen, dass seine Tochter zwischen die Fronten eines Konflikts geriet, mit dem sie nicht das Geringste zu tun hatte.

In dem dunkelgrünen Kleid mit Spitzenkragen, aus dem sie schon fast herausgewachsen war, hatte Haley in der Kapelle zwischen ihm und seiner Mutter gesessen und – jedenfalls äußerlich – keine Reaktion gezeigt. Da es eine Feuerbestattung gewesen war, gab es keinen Sarg. Was das Ganze für das arme Kind noch verwirrender gemacht hat, dachte Grant. Kein Wunder, dass Haley nach der Rückkehr durchs Haus gelaufen war, um etwas zu suchen.

Oder jemanden.

Seit einer halben Stunde saß sie jetzt auf Mias Schoß und beobachtete das Geschehen mit großen, ernsten Augen. Ob sie langsam begriff, was passiert war?

Unauffällig betrachtete Grant Mia, die ein elegantes schwarzes Kleid trug, dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit sehr hohen Absätzen, die ihre schmalen Waden betonten. Sie hatte den Arm um Haleys Taille gelegt, ihr Kinn ruhte auf dem kleinen Kopf, die gelassene Miene verbarg den Stress der letzten Tage. Sie war unermüdlich für seine Tochter und Etta da gewesen, aber ihm war nicht entgangen, dass sie ab und zu verschwunden und mit verräterisch geröteten Augen und Wangen zurückgekehrt war.

Es fiel ihm schwer, den Mund über Justine und Christopher zu halten, aber er durfte ihr nicht noch mehr wehtun.

Und warum störte es ihn so sehr, dass sie sich noch nicht entschieden hatte, ob sie bleiben wollte?

„Grant.“

Er unterdrückte ein Seufzen und lächelte in blassblaue Augen.

„Mutter.“ Sie hatte nichts zu trinken, also bot er an, ihr etwas zu holen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke, wenn ich einen Drink möchte, hole ich ihn mir selbst.“ Ganz die privilegierte Connecticut-Lady aus bestem Hause, schaute sie mit dezent gerunzelter Stirn in Mias Richtung – jedenfalls soweit die gestraffte Haut es zuließ.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du diese Beziehung aufrechterhältst.“

„Weil Mia besser mit Haley umgehen kann als ich.“ Grant nippte an seinem lauwarmen, verwässerten Scotch mit Soda. „Und im Moment braucht Haley Menschen, die nur an sie denken.“

„Und das tue ich nicht? Ehrlich, Grant – sie ist so … kleinbürgerlich. Was hat sie für eine Familie?“

„Keine, die du kennst, Mutter“, erwiderte er leise. „Ich glaube, ihr Vater ist ein pensionierter Polizist und lebt in Springfield, Massachusetts.“

„Das erklärt den Akzent, vermute ich.“

„Ja, die Kennedys haben unter ihrem auch schrecklich gelitten.“

Seine Mutter lächelte affektiert und nahm sich ein Glas vom Tablett eines Kellners. Woher Mia so kurzfristig Personal bekommen hatte, war ihr ein Rätsel. „Das mag sein, aber sie ist keine Kennedy.“

Grant biss die Zähne zusammen.

„Ich weiß, dass sie an einer Eliteuniversität studiert hat, sonst hätte Hinkley-Cohen sie wohl kaum eingestellt, aber ist sie schon Partnerin?“

„Sie hat die Kanzlei verlassen. Vor zwei Jahren. Um ihr eigenes Geschäft aufzumachen.“

„Tatsächlich? In welcher Branche?“

Er schluckte den Whisky hinunter. „Sie plant Partys.“

„Partys?“, wiederholte seine Mutter mit einem abfälligen Schmunzeln und stellte ihren Drink ab. „Spitzenabschluss oder nicht, sie hat keinen Funken Verstand.“

„Es ist doch wohl ihr Leben“, entfuhr es Grant mit einer Schärfe, die ihn selbst überraschte. „Was sie daraus macht, ist allein ihre Sache. Und sie hat nicht nur bei Haley wahre Wunder bewirkt, ohne sie hätte dieser Empfang gar nicht stattgefunden. Im Gegenteil, Etta hätte das Haus verlassen, und zwar für immer.“

„Was kein großer Verlust wäre“, murmelte Elizabeth Braeburn. „Außerdem braucht man kein juristisches Examen, um ein paar kalte Häppchen zu ordern.“ Sie sah auf die Uhr und tätschelte seinen Arm. „Ich muss nach Hause. Ich habe die Hendersons schon vor Wochen zum Abendessen eingeladen. Es wäre unhöflich, jetzt noch abzusagen. Falls du etwas brauchst, sag Bescheid.“

Wie wäre es mit einer anderen Kindheit?

Grant sprach es nicht aus, sondern sah ihr nur gereizt nach.

Obwohl es noch nicht dunkel war, als die letzten Gäste aufbrachen, sah Grant seiner Tochter an, wie sehr sie dieser Tag angestrengt hatte. Auch Mia war erschöpft. Ohne ihr Grace-Kelly-Outfit und wieder in den üblichen ausgebeulten Jeans und mit Sweatshirt kam sie, nachdem sie gebadet hatte, wieder nach unten und schlug vor, dass Grant Haley ins Bett brachte.

„An den letzten beiden Abenden war ich dran“, sagte sie, als er sich wehren wollte.

„Ich weiß, aber … sie lässt sich lieber von dir ins Bett bringen.“

„Du meine Güte, Grant. Wer hat sie denn an den Wochenenden zugedeckt, an denen sie bisher bei dir war?“

„Meistens Etta.“

„Wie traurig. Weißt du, mein Vater macht uns Kinder regelmäßig verrückt, aber wenigstens versucht er, mit uns zu reden. Du solltest langsam anfangen, dich mehr um Haley zu kümmern. Sie ist zwar schon drei, aber besser spät als nie. Irgendwo in dir steckt auch ein guter Vater, Grant. Lass ihn raus.“

Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor er mit einem gedehnten Seufzer aufstand und nach oben ging. Haley lag auf dem Rücken im Bett, den Stofflöwen auf dem Bauch, und die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten. Doch als sie Grant sah, runzelte sie die Stirn.

„Wo ist Mia?“

„Unten. Heute Abend decke ich dich zu.“

Sie packte den Löwen fester. „Ich will Mia.“

Grant wehrte sich gegen die Verärgerung, die in ihm aufstieg. Zusammen mit einem Anflug von Eifersucht. „Tut mir leid, du musst dich mit mir begnügen.“

„Was ist mit Etta?“

„Die ist beschäftigt, Liebes.“

Haley war anzusehen, dass sie ihm die Ausrede nicht abnahm. „Nein, du bist beschäftigt. Du bist immer beschäftigt.“

„Heute Abend nicht“, widersprach Grant mit schlechtem Gewissen.

Sie musterte ihn einige Sekunden lang. „Wann ist Weihnachten?“

„Warum um alles in der Welt willst du das wissen?“

„Weil Etta gesagt hat, dass an Weihnachten wieder alles gut ist. Wie lange dauert das noch?“

Grant nahm sich vor, mit seiner Haushälterin ein ernstes Wort zu reden. „Ein paar Monate.“

„Wie oft muss ich noch schlafen?“

„Keine Ahnung. Oft.“

„Öfter als so?“ Sie hob eine Hand und spreizte die Finger.

„Viel öfter.“

„Bin ich dann vier?“

„Ja.“

Haley schaute wieder auf den Löwen. „Mommy war auch beschäftigt, aber sie war ganz, ganz viel mit mir zusammen. Und Kissy und Ming Ha und Amy sehen ihre Mommys und ihre Daddys dauernd.“

Grant setzte sich auf die Bettkante. „Ich weiß, wir beide haben uns nicht oft gesehen, Haley. Das war meine Schuld. Aber es wird sich ändern. Ab sofort.“ Erstaunt schaute sie ihn an. „Das verspreche ich.“

Sie zuckte mit den Schultern und legte die Arme um den Löwen. „Henry hat mir erzählt, dass seine Mommy nicht wiederkommt“, sagte sie nach einem Moment.

Grant erstarrte. „Hat er das? Und … woher weiß er das?“

„Unten war eine Party, mit ganz vielen Leuten, und alle haben über Mommy geredet und waren traurig, aber sie ist nicht gekommen. Henry hat gesagt, dass sie nicht kommen konnte. Weil sie tot ist. Und tot bedeutet, dass man nicht zurückkommt und nie wieder jemanden sieht. Stimmt das?“

Er schluckte und beobachtete, wie seine Tochter die Löwenmähne abwechselnd zerzauste und glatt strich, den Blick fest auf das Gesicht ihres Vaters gerichtet. Aber sie wollte nicht getröstet, sondern nur aufgeklärt werden, das spürte er. „Ja, das stimmt. Wenn jemand tot ist, kann er nicht zurückkommen und die Menschen sehen, die noch am Leben sind.“

„Wie wenn man aus dem Kino geht und nicht wieder rein darf?“

Grant lächelte matt. „So ähnlich, ja. Und wie fühlt Henry sich jetzt?“

„Traurig … weil er sie wiedersehen will. So, wie ich Mommy sehen will.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Aber sie kann nicht aus dem Himmel weg, oder?“

„Leider nicht.“

„Und ich kann nicht in den Himmel, um sie zu besuchen.“

„Nein. Weil du am Leben bist. Nur tote Leute kommen in den Himmel.“

„Tut es weh, wenn man tot ist?“, fragte Haley zu Henry gewandt.

„Nein. Weil man nichts mehr fühlt.“

„Aber kann Mommy mich noch sehen? Oder hören?“

Obwohl es im Kinderzimmer kühl war, begann Grant zu schwitzen. „Das weiß ich nicht, Haley. Wirklich, keine Ahnung.“

Sie wandte sich ihm zu. „Etta hat gesagt, sie kann. Mia auch.“

„Na ja, vielleicht haben die beiden recht. Vielleicht sieht sie dich. Aber das weiß niemand genau.“

„Wieso nicht?“

„Weil noch niemand aus dem Himmel wiedergekommen ist.“

Die Falten auf der kleinen Stirn wurden tiefer. „Mia sagt, Jesus ist wiedergekommen.“

Grant zögerte. „Das ist lange her. Und soweit ich weiß, hat das seitdem keiner geschafft.“

Haley überlegte kurz. „Hat Mommy mich noch lieb?“

„Ganz bestimmt.“

Seine Tochter hob Henry über den Kopf und schaukelte ihn hin und her. „Henry sagt, er will nicht, dass Mia weggeht. Er will, dass sie für immer hierbleibt.“

In diesem Augenblick war Grant ganz Henrys Meinung. „Ich fürchte, das kann sie nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil sie hier nicht zu Hause ist. Sie wohnt in der Stadt.“

„Aber Henry und ich hatten auch zwei Häuser. Warum kann Mia das nicht?“

Spontan strich er über die Löwenmähne. „Henry mag Mia, was?“

„Ja, sehr. Ich auch. Sie …“ Ihre Unterlippe zitterte. „Sie macht das Loch in mir zu. Das, in dem Mommy war.“

Der Schmerz, der Grant durchzuckte, war unglaublich heftig. Viel heftiger als der, den Justines Fremdgehen in ihm ausgelöst hatte. Und hundert Mal stärker als bei dem katastrophalen Fehler, der ihn und seine Investoren Millionen gekostet hatte. Von diesen beiden Schocks hatte er sich erholt. Aber von dem jetzigen … Er war nicht sicher.

Doch er musste es versuchen.

„Vielleicht … vielleicht ist da drin ja auch noch Platz für mich?“

Haley zuckte mit den Schultern und drehte sich weg. Obwohl Grant wusste, dass sie ihn nicht absichtlich verletzte, tat es weh.

„Brauchst du etwas?“, fragte er und kämpfte gegen die Verzweiflung an, die ihn angesichts seines Versagens befiel. „Einen Schluck Wasser? Einen Gutenachtkuss?“

„Nein, danke“, kam die leise Antwort.

Hastig zog Mia sich von der Tür zu Haleys Zimmer zurück und rannte in die Küche, wo Etta gerade die Reste des Buffets wegräumte.

„Was zum …?“, entfuhr es der Haushälterin, als Mia sich praktisch auf die Bank der Frühstücksecke warf.

„Schnell! Geben Sie mir eine Tasse mit irgendwas, egal was, damit es so aussieht, als wäre ich schon länger hier.“

Etta goss einen koffeinfreien Kaffee ein und stellte ihn vor Mia hin. „Sagen Sie’s nicht! Sie haben gelauscht.“

„Allerdings.“

„Ich wusste, dass wir beide uns gut vertragen werden“, erwiderte Etta und reichte Mia Zucker und Trockenmilch. Mia rührte beides in den Kaffee. „Und?“

„Haley hat zu Grant gesagt, sie weiß, dass Justine nicht wiederkommt.“

Die Haushälterin seufzte erleichtert und setzte sich zu Mia. „Gott sei Dank.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Wie geht es ihr?“

„Schwer zu sagen. Ich konnte schlecht ins Zimmer schauen.“

„Also hat sie nicht geweint oder getobt?“

Mia schüttelte den Kopf. „Nicht, solange ich da war.“

„Und wie hat Mr. B. sich gehalten?“

„Nicht schlecht, obwohl er wahrscheinlich lieber anderswo gewesen wäre. Was ist denn?“, fragte sie, als Etta sie skeptisch anschaute.

„Ich mag Sie, okay? Sie sind ein gutes Kind. Aber es ärgert mich, dass Sie Mr. B. kritisieren, obwohl Sie ihn gar nicht kennen.“

„Ich habe Augen im Kopf, Etta.“

„Das reicht nicht“, entgegnete die Haushälterin. „Haben Sie eine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, dass ich hier arbeite?“

Mia schüttelte den Kopf.

„Es war ein glücklicher Zufall. Oder Schicksal. Ich hatte meinen Mann Johnny vier oder fünf Monate vorher verloren und fand keine richtige Arbeit, außer als Köchin in einem Diner oder als Zimmermädchen im Hotel. Kochen und Saubermachen, das ist alles, was ich gelernt habe. So ist das eben, wenn man mit achtzehn heiratet und nicht arbeiten geht. Aber keine Agentur wollte mich vermitteln. Ich sei „nicht passend“ für ihre Klienten, sagten sie. Was immer das heißt. Und mein Johnny, Gott hab ihn selig, hatte ein Herz aus Gold, aber er konnte nicht mit Geld umgehen und hat mir einen Haufen Schulden hinterlassen.“

Etta lächelte betrübt. „Also, an dem Tag bin ich in der Grand Central Station. Ich fühle mich schrecklich, wie das Allerletzte, und fange an zu weinen. Mitten in der Bahnhofshalle heule ich mir die Augen aus. Und Mr. B. bleibt stehen und fragt mich, was los ist.“

„Moment mal.“ Mia hatte das Kinn auf eine Hand gestützt, jetzt hob sie den Kopf. „Grant blieb stehen und fragte Sie, was los ist?“

„Genau. Keiner achtet auf mich, nur Mr. B. bleibt stehen. Und wie er mich ansieht … na ja, als wäre ihm mein Weinen unangenehm, aber auch voller Mitgefühl. Kurz gesagt, er hat mich gefragt, ob ich seine Haushälterin werden will.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und sechs Jahre später bin ich immer noch hier. Deshalb weiß ich, was für ein Mensch er wirklich ist. Was in ihm steckt. Sicher, er zeigt es ungern, aber wenn Sie glauben, dass er das kleine Mädchen nicht liebt …“

„Das habe ich nie behauptet!“, protestierte Mia. „Ich verstehe nur nicht, warum er solche Angst hat, seine Gefühle herauszulassen. Ich weiß, er sagt, das kann er nicht, das ist nicht seine Art, aber das kaufe ich ihm nicht ab. Können Sie mir erklären, was wirklich sein Problem ist?“

„Nein. Obwohl, wenn ich mir seine grässliche Mutter ansehe, vermute ich, dass seine Kindheit nicht gerade wie im Weihnachtsfilm war. Also … nehmen Sie sein Angebot nun an oder nicht?“, fragte Etta.

„Oh, Etta … ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob ich eine neue Wohnung in der Stadt finde, bevor mein Mietvertrag ausläuft – die nächsten beiden Wochen habe ich jede Menge zu tun. Deshalb ist sein Angebot natürlich sehr verlockend.“

„Aber?“

„Aber je länger ich bleibe, desto länger wird es dauern, bis Grant und Haley zueinander finden.“

„Du überschätzt deinen Einfluss“, ertönte Grants tiefe Stimme von der Tür her, und beide Frauen zuckten zusammen. Während Mia ein ertapptes Gesicht machte, ging er seelenruhig zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein. Dann drehte er sich um und sah sie an.

„Ich weiß, was ich tun muss, Mia. Schon bevor du meine Defizite als Vater aufgedeckt hast. Ob du hierbleibst oder nicht, ändert daran nichts. Aber du brauchst ein Dach über dem Kopf, und vielleicht wäre es für Haley nicht das Schlechteste, wenn sie in den nächsten Wochen jemanden hat, auf den sie sich verlassen kann. Jemanden, dem sie vertraut.“

„Und was bin ich?“, empörte sich Etta. „Unsichtbar?“

Grant lächelte. „Haley verbindet Sie nicht mit ihrer Mutter, Etta. Aber Mia. Ja, ich weiß – wenn es Mia nicht gäbe, würden wir es auch schaffen. Irgendwie. Aber da sie nun mal hier ist …“

Er schaute Mia an. „Falls du befürchtest, dass ich mich vor der Verantwortung drücke, wenn du bleibst … Ich verspreche, das wird nicht passieren. Irgendwann in den nächsten Tagen hole ich Haleys Sachen aus der Stadt, dann kann ich dir gleichzeitig beim Umzug hierher helfen.“

„Einfach so.“

„Ich komme gern auf den Punkt.“

Mia musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass du mich wirklich hier haben willst.“

„Haley will es. Und wenn es mir hilft, bei meiner Tochter ein Bein in die Tür zu bekommen, tue ich alles, um dich zu überreden. Außerdem wissen wir beide, dass du momentan in Schwierigkeiten steckst. Warum müssen wir dieses Hin und Her abziehen, wenn wir beide wissen, dass du irgendwann doch Ja sagst?“

Grant hatte recht. Sie steckte tatsächlich in Schwierigkeiten. Und nur ein Idiot würde eine kostenlose Unterkunft ablehnen, die weder Küchenschaben noch Ratten beherbergte – und erst recht keine zweifelhaften Gegenleistungen. Mia wusste auch, dass sie es nicht übers Herz brachte, Haley im Stich zu lassen, solange die Beziehung zwischen Vater und Kind so distanziert war.

„Na gut“, sagte sie schließlich. „Du kannst mich am Donnerstag abholen.“

Grant lächelte nur.

5. KAPITEL

Mia mochte ein wenig verrückt sein, aber sie konnte organisieren, das musste Grant ihr lassen. Als er mit dem gemieteten Transporter vor ihrem Haus hielt, hatte sie mithilfe ihrer Partnerin Venus – die ihm irgendwie bekannt vorkam – und einiger angeheuerter Studenten ihre Sachen schon nach unten geschafft. Es war nicht viel. Ein zerlegtes Doppelbett, ein paar Regale, ein drehbarer Schaukelstuhl, mehrere Umzugskartons, eine Stereoanlage und Pflanzen. Bald war alles eingeladen.

Unauffällig musterte Grant die Frau mit der üppigen Figur, die in einer Daunenweste und mit langen Ohrhängern fröstelnd neben ihm stand, während Mia den Studenten die Umschläge mit ihrem Lohn überreichte.

„Sie fragen sich, woher wir uns kennen, was?“, sagte Venus grinsend. „Ich war Mias Sekretärin in der Kanzlei. Wie geht es Ihrer Tochter?“

„So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann“, erwiderte er und sah Mia an, die sich zu ihnen gesellte. „Aber soweit ich weiß, hat sie noch nicht geweint.“

„Soweit Sie wissen?“

„Ich musste wieder zur Arbeit, aber wenn es ein Problem gegeben hätte, hätte Etta mich bestimmt angerufen.“

Venus lächelte mitfühlend. „Als meine Mama starb, war mein jüngster Bruder erst fünf. Auch er hat erst nach Monaten geweint. Es war wie ein Dammbruch, bei dem alles, was er unterdrückt hatte, überfloss.“

„Und danach ging es ihm besser?“

„Ja.“ Sie wandte sich Mia zu. „Brauchst du mich noch? Ich muss in die Agentur zurück.“

„Bist du sicher, dass ich nicht zurückkommen soll, nachdem wir alles eingeräumt haben?“

„Ich habe alles im Griff, also lass dir ruhig Zeit. Aber nicht länger als vierundzwanzig Stunden.“

„Na gut, aber ruf mich heute Abend an“, bat Mia.

„So liebe ich meine Partnerin.“ Lachend ging Venus davon.

Grant sah ihr nach. Als er sich wieder umdrehte, schaute Mia gerade wehmütig zu ihrer alten Wohnung hinauf.

„Alles in Ordnung?“

„Ich bin gerade aus meiner ersten eigenen Wohnung ausgezogen, Grant. Erst habe ich Justine verloren und dann …“ Ihr Blick folgte einem Taxi. „Es war eine harte Woche. Können wir fahren?“ Sie wollte zu ihrem Wagen gehen.

„Warte.“ Mia blieb stehen. „Hast du etwas dagegen, wenn wir einen Happen essen, bevor wir Haleys Sachen aus Justines Wohnung holen? Ich bin vor lauter Arbeit nicht zum Frühstücken gekommen.“

„Wie geht das denn?“

„Man steht um vier auf.“

„Autsch“, entfuhr es Mia. „Okay. Ein Snack wäre nicht schlecht. Wohin möchtest du?“

„In den Imbiss an der Ecke?“

„Du? In einen Imbiss?“, fragte sie verblüfft.

„Es sind schon seltsamere Dinge passiert.“

„Das bezweifle ich.“

Wenig später bestellten sie bei der griechischen Kellnerin, umgeben von Küchendampf und dem Duft nach frisch gebratenem Speck, zwei Tassen Kaffee und den ersten Burger des Tages mit Pommes. Erst danach registrierte Grant den wehmütigen Ausdruck in Mias Augen.

„Christopher und ich waren oft hier“, erklärte sie, als ihre Blicke sich trafen. „Das ist das erste Mal, dass ich herkomme, seit …“ Sie errötete leicht.

Grant griff nach seiner Jacke. „Wir können anderswo …“

„Nein, nein, ist in Ordnung. Es ist ja nur ein Restaurant. Und jetzt zu gehen, nur weil ich es mit dem Mann verbinde, der mein Herz geschreddert hat, wäre doch albern und kindisch.“

„Nicht, dass es dir zu nahe geht.“

„Tut mir leid. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Meine Gefühle nehmen gleich den Weg vom Herz zum Mund, ohne Umweg über das Gehirn.“

„Doch, das ist mir aufgefallen.“ Er zögerte. „Möchtest du darüber sprechen?“

„Ungefähr so gern, wie ich mir ohne Betäubung einen Zahn ziehen lasse“, erwiderte sie, während die Kellnerin ihnen ein Frühstück für mindestens zwölf Personen servierte.

Vorsichtshalber wechselte Grant das Thema. „Dafür, dass du so lange hier gelebt hast, hast du nicht viel angesammelt.“

Mia zuckte mit den Achseln. „Es gab noch ein paar Möbel, aber die habe ich weggegeben. Meine Eltern haben sie mir aufgedrängt, als ich hergezogen bin. Außerdem war ich selten zu Hause. Erst die Zwölf- bis Vierzehnstundentage bei Hinkley-Cohen, dann all die Partys, die ich organisiert habe …“ Sie spießte ein Stück Omelett auf. „Im Grunde war es nur ein Ort, an dem ich geschlafen und mich umgezogen habe. Deshalb habe ich mir nie etwas Besseres gesucht.“

„Etwas Besseres?“

„Eine größere Wohnung. Mit Fahrstuhl. Und Portier. Und Waschküche. Anstatt mein Gehalt für Hypothekenzinsen und Miete auszugeben, habe ich es lieber gut angelegt.“

„Tatsächlich?“

Ihre Augen funkelten im Sonnenschein, und ihm wurde warm. „Ja“, bestätigte sie lächelnd. „Du denkst, ich kann nicht mit Geld umgehen, stimmt’s?“

„Das habe ich nie …“

„Doch, hast du. Macht ja nichts. Das nehme ich dir nicht übel.“

„Trotzdem. Alles, was du hast, in ein Geschäft zu stecken, dessen Erfolg keineswegs …“

„Ach, komm schon, Grant – das ganze Leben ist ein Risiko. Außerdem, klingt das nicht ein wenig herablassend aus dem Mund eines Mannes, der jeden Tag Unsummen aufs Spiel setzt?“

„Erstens, ich habe noch nie einen Cent investiert, dessen Verlust ich mir nicht leisten kann. Und zweitens, ich gehe nur kalkulierte Risiken ein.“

„Ich auch“,antwortete Mia leise und schaute aus dem Fenster. Sprachen sie beide noch über Geld? Sie hatte eben – zum ersten Mal seit Justines Tod – ihren Exverlobten erwähnt. Grant hatte den Schmerz in ihrer Stimme gehört. Wieder wurde ihm heiß, wenn auch aus einem völlig anderen Grund, und erneut wehrte er sich dagegen.

„Deine Wohnung hat mich an meine eigene Wohnung erinnert“, sagte er, während er den Schinkenspeck in Stücke schnitt. „An meine erste in der Stadt, in meinem letzten Jahr an der Columbia. Oben in Spanish Harlem.“ Ihre Augen wurden groß. „Ja, meine Eltern waren außer sich.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Mia trank ihren Orangensaft aus. „Ich hätte dich eher für jemanden gehalten, der sich von Mommy und Daddy eins dieser süßen kleinen Apartments in den neuen Hochhäusern an der Neunzigsten kaufen lässt. Oder wenigstens in einem Backsteinaltbau in der Nähe des Riverside Drive.“

„Nicht ganz. Sobald ich von zu Hause weg war, wollte ich alles allein schaffen. Na ja, nicht alles. Sie durften meine Studiengebühren bezahlen.“

„Wie großzügig von dir.“

„Es ging nicht anders. An das Geld, das meine Großeltern mir hinterlassen hatten, kam ich erst mit einundzwanzig. Und für ein staatliches Stipendium haben meine Eltern einfach zu viel verdient.“

„Armes Kind.“

„Falls es dich tröstet – ich habe mein gesamtes Studium hindurch als Kellner gearbeitet.“

Mia lachte.

„Was ist daran komisch?“

„Entschuldige, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du bei den Leuten am Tisch stehst und die Spezialitäten des Tages herunterbetest.“

„Ich hab nie behauptet, dass ich ein besonders begabter Kellner war“, knurrte Grant, und wieder musste Mia lachen.

„Das ist schön, dich lachen zu hören“, sagte er und war selbst überrascht darüber. Mia offenbar auch. „Wirklich“, verteidigte er sich. „Ich weiß, die letzten Tage waren nicht leicht für dich. Und ich habe nicht gern unglückliche Menschen um mich.“

Sie schob sich den letzten Bissen ihres Bagels in den Mund. Du meine Güte, die Frau aß wie ein Footballer. „Lachst du überhaupt?“, fragte Mia. „Ich meine, richtig lachen? Kein dezentes Schmunzeln, sondern so heftig, dass der Bauch wehtut?“

„Nein.“

„Nein? Du musst gar nicht überlegen?“

„Nein.“

„Wieso nicht?“

Grant lehnte sich zurück. „Keine Ahnung. Vielleicht finde ich Sachen nicht so amüsant wie andere Leute.“

„Du hast also keinen Humor.“

„Natürlich habe ich Humor.“ Er konnte kaum glauben, dass sie ihn zu dieser absurden Diskussion verleitet hatte.

„Oje.“ Mias Mundwinkel zuckten. „Jetzt habe ich dich gekränkt.“

„Bist du immer so nervtötend, oder liegt es an mir?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich bei anderen noch schlimmer.“

„Können wir das Thema wechseln?“, bat er gereizt.

„Aber sicher, Sir.“

Er seufzte. „Ich weiß, dass du Justine geholfen hast, ein großes Fest zu Haleys viertem Geburtstag zu planen und …“

Autor

Karen Templeton
<p>Manche Menschen wissen, sie sind zum Schreiben geboren. Bei Karen Templeton ließ diese Erkenntnis ein wenig auf sich warten … Davor hatte sie Gelegenheit, sehr viele verschiedene Dinge auszuprobieren, die ihr jetzt beim Schreiben zugutekommen. Und welche waren das? Zuerst, gleich nach der Schule, wollte sie Schauspielerin werden und schaffte...
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