Walzernacht des Schicksals

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Der silberne Mond taucht die Terrasse in ein magisches Licht, als Kate sich zu berauschenden Walzerklängen innig an Doktor Simon Redfern schmiegt. Ihr Herz droht ihr schier aus der Brust zu springen, als er ihr tief in die Augen sieht und sie leidenschaftlich küsst. Ist das etwa die große Liebe? Was für eine Katastrophe! Denn Kate wurde unlängst dem herrischen Viscount Cranford versprochen. Mutig fasst sie den Entschluss, ihn für Simon zu verlassen. Doch vom grenzenlosen Hass eines Verschmähten getrieben, setzt der Viscount alles daran, Kates und Simons neues Glück zu zerstören …


  • Erscheinungstag 28.06.2016
  • Bandnummer 0568
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765156
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1817

Dr. Simon Redfern hielt während seines Spaziergangs durch den Hyde Park kurz inne, um eine junge Dame zu beobachten, die ausgelassen mit vier Kindern auf der Wiese spielte. Die Kleinen sahen gesund und wohlgenährt aus. Offensichtlich spielten sie Fangen, denn sie liefen laut lachend voreinander davon. Die junge Dame stand ihnen an Lebhaftigkeit nicht nach. Sie schien zu jung, um ihre Mutter zu sein, und so nahm er an, sie wäre ein Kindermädchen oder eine Gouvernante. Falls sie es war, so glich sie jedoch keinem der Kindermädchen, denen er bisher begegnet war. Völlig unbefangen hob sie mit einer Hand den Rocksaum ihres hübschen Musselinkleides und enthüllte einen grazilen Knöchel. Nach Simons Erfahrung nahmen es Kindermädchen und Gouvernanten sehr genau, wenn es um schickliches Benehmen ging.

Während er ihnen weiter zusah, kam eine offene Kutsche herangefahren. Die vier Kinder gaben ihr Spiel auf und liefen auf sie zu. Sie kletterten auf die Sitze zu einer eleganten Dame, die ganz offensichtlich ihre Mutter war. Diese wechselte einige Worte mit der jungen Dame und gleich darauf fuhr die Kutsche davon. Die Gouvernante – wenn es denn eine war – hob ein Bündel Bücher vom Boden auf und ging allein weiter.

Kate hatte Elizabeths Angebot, sie in der Kutsche mitzunehmen, abgelehnt, da sie auf dem Weg zu Hookham’s Bücherei war, die sie leicht zu Fuß erreichen konnte. Vom Spiel mit den Kindern war sie noch ein wenig außer Atem. Sie vermutete, dass ihre Wangen wieder einen rosigen Hauch angenommen hatten, den ihre Großmutter stets missbilligte. Ohne stehen zu bleiben, steckte Kate einige Strähnen ihres haselnussbraunen Haars in den Knoten zurück, aus dem sie entwichen waren, und setzte ihren Hut auf. Um zu prüfen, wie sie aussah, trat sie an das Ufer des Serpentine, des großen Sees im Hyde Park, wo sie sich im Wasser spiegelte.

„Du meine Güte!“ Das Bild, das sich ihr bot, war ganz und gar nicht das einer feinen Dame. Kate war hochrot im Gesicht. Das Band, mit dem sie ihren Hut unter ihrem Kinn festgebunden hatte, erinnerte nur noch entfernt an eine ordentliche Schleife. Während sie versuchte, es zurechtzuzupfen, sah sie aus einem Augenwinkel ein Kind, das am Rand des Sees saß und die Beine ins Wasser baumeln ließ. Der Junge konnte nicht älter als drei oder vier Jahre sein, war in schmutzige Lumpen gekleidet und barfuß. Beunruhigt sah Kate sich nach seinen Eltern um, konnte aber niemanden entdecken. Sie musste ihn retten, bevor er womöglich in den See fiel. Um den Jungen nicht zu erschrecken, ging sie langsam auf ihn zu und packte ihn dann schnell von hinten.

Das Kind wand sich so sehr und schrie dabei, dass Kate sich anstrengen musste, es nicht loszulassen. „Still“, sagte sie. „Ich werde dir nicht wehtun.“ Doch der Junge schrie nur noch lauter und zog ihr den Hut übers Gesicht.

„Erlauben Sie.“ Jemand nahm ihr die zappelnde kleine Last ab. Kate schob schnell den Hut nach oben, um den Gentleman anzusehen, der ihr geholfen hatte. Er hatte sich das Kind einfach unter einen Arm geklemmt. „Wenn du nicht sofort diesen Lärm einstellst, wirst du meine Hand zu spüren bekommen“, wandte er sich streng an den Kleinen. Der Junge sah ihn misstrauisch an, kam wohl zu dem Schluss, dass der Mann es ernst meinte, und klappte den Mund zu.

Kate schätzte, dass der Gentleman etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt war. Er war größer als die meisten Männer, trug einen schlichten braunen Gehrock und Lederreithosen zu braunen Stiefeln. Das gestärkte Musselin-Krawattentuch war zu einem einfachen Knoten gebunden. Er gehörte wohl kaum der feinen Gesellschaft an, war allerdings auch nicht der Vater des Kleinen. Dennoch hielt er ihn mit einer Bestimmtheit fest, die darauf schließen ließ, dass er es gewohnt war, mit Kindern umzugehen. Vielleicht war er ein Schulmeister – auf alle Fälle ein sehr gut aussehender Schulmeister.

„Ich hatte Sorge, er könnte hineinfallen“, erklärte Kate und sah sich um, ob inzwischen jemand gekommen war, der Anspruch auf den Kleinen erhob – aber auch, um dem belustigten Blick aus den grauen Augen des Fremden auszuweichen. „Er scheint ganz allein zu sein.“

„Wissen Sie, wer er ist?“

„Nein. Sie vielleicht?“

„Nein. Am besten versuchen wir, es herauszufinden.“ Er stellte den Kleinen auf den Boden, ohne ihn loszulassen, und ging neben ihm in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu reden. „Nun, du kleiner Racker, kannst du uns deinen Namen nennen?“

Der Junge rieb sich die Augen mit den Fäusten, wodurch sein ohnehin schon schmutziges Gesicht noch dreckiger wurde. „Joe.“

„Wir wüssten gern, wo du wohnst, Joe.“

Wortlos wies der Junge in die Richtung des Eingangstors des Parks.

„Das hilft uns nicht besonders. Kannst du mich zu deinem Zuhause führen?“

Der Kleine sah ihn nur verständnislos an.

„Nach seiner Kleidung zu urteilen muss er aus einer sehr armen Gegend stammen“, stellte Kate fest. „Wie hat er nur hierhergefunden?“

„Ich nehme an zu Fuß.“ Der Gentleman sah zu Kate auf, die neben ihm stand. Der sorgenvolle Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht machte ihr alle Ehre. Nicht viele junge Damen würden sich wegen eines Gassenjungen den Kopf zerbrechen und ganz gewiss nicht auf die Idee kommen, ihn auch noch anzufassen. „Schauen Sie nicht so besorgt, Miss. Ich werde mich um ihn kümmern.“

Kate zögerte. Wie konnte sie sicher sein, dass sie diesem Mann vertrauen durfte? Was würde er tun, wenn er die Eltern des Kindes nicht finden konnte? London war eine riesige Stadt. Die kleinen Beine des Jungen mussten ihn sehr weit getragen haben, wenn er wirklich in einem der Elendsviertel wohnte. „Was werden Sie mit ihm tun?“

„Versuchen, seine Eltern zu finden.“

„Aber wie?“

„Das ist eine gute Frage. Ich bringe ihn dorthin, wo ich glaube, dass man ihn kennen könnte, und werde mich erkundigen, ob ihn irgendjemand weiß, wo er wohnt.“

„Das ist, als wollte man eine Nadel im Heuhaufen finden.“

„Sehr wahrscheinlich“, stimmte er zu. „Haben Sie eine bessere Idee?“

„Nein“, gab sie zu. „Aber werden Sie sich dort nicht in Gefahr bringen?“

„Oh, das glaube ich nicht. Ich bin Arzt, wissen Sie. Manchmal wage ich mich in Gegenden, von denen eine respektable junge Dame nicht einmal etwas weiß.“

„Selbstverständlich weiß ich von solchen Vierteln“, erwiderte sie scharf. „Ich schwebe nicht auf Wolken, müssen Sie wissen.“

Der Gentleman sah auf den Jungen herab, der jetzt zufrieden an seinem Daumen nuckelte, der einzigen sauberen Stelle an seinem Körper, und fragend von einem zum anderen schaute. „Du möchtest doch zu deiner Ma und deinem Pa zurückkehren, nicht wahr, mein Kleiner?“

Joe nickte.

„Sind Sie sicher, dass Sie die Verantwortung für ihn übernehmen wollen?“, fragte Kate. „Immerhin war ich es, die ihn entdeckt hat.“

Der Anblick des Kindes zerriss ihr das Herz. Sein Wohl war ihr wichtig, ebenso wie das aller Kinder, wer immer sie waren und aus welchen Verhältnissen sie stammten. Kate konnte nicht anders. Wenn sie sah, dass ein Kind Hilfe brauchte, musste sie tun, was in ihrer Macht stand. Dies hatte ihr bei mehr als nur einer Gelegenheit Schwierigkeiten mit ihrer Großmutter eingebracht. „Den Armen Almosen zu geben, ist eine Sache“, sagte sie immer. „Das weiß ich an dir zu schätzen. Aber sie zu berühren, ist etwas ganz anderes. Du kannst nicht wissen, was du dir dabei einfängst. Außerdem wird man anfangen, über dich zu klatschen.“ Weder das eine noch das andere entmutigte Kate.

„Was würden Sie tun, wenn ich ihn Ihnen überlasse?“, fragte der Gentleman.

„Dasselbe wie Sie, nehme ich an. Versuchen, seine Eltern zu finden.“

„Wie?“

Das gab ihr zu denken, doch sie würde bestimmt nicht zugeben, dass sie darauf keine Antwort wusste. „Indem ich mit dem Jungen rede, sein Vertrauen gewinne und ihn bitte, mich zu seinem Zuhause zu bringen. Genau wie Sie.“

„Sie glauben, Sie können die Armenviertel betreten und dort an die Türen klopfen?“

„Ich würde es tun, wenn ich muss.“

„Daran zweifle ich nicht, dennoch wären Sie schon bald in großen Schwierigkeiten. Nein, Sie überlassen besser alles mir.“

„Nun gut. Trotzdem komme ich mit Ihnen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Das halte ich für keine gute Idee, Miss …“ Er hielt inne.

„Mrs. Meredith. Und ich bin kein empfindsames Pflänzchen Rührmichnichtan, also können Sie damit aufhören, so herablassend zu lächeln.“

„Vergeben Sie mir, Ma’am. Doktor Simon Redfern, zu Ihren Diensten.“ Er nahm kurz seinen Hut vom Kopf und machte eine so übertrieben tiefe Verbeugung vor ihr, dass sie lachen musste. Es war ein angenehmes Lachen und er erwiderte es mit einem Lächeln.

„Dann wollen wir also sehen, wohin dieser junge Mann uns führen wird, Dr. Redfern.“

„Ich glaube, Sie werden es bereuen.“

„Ich würde es bereuen, wenn ich ihn im Stich ließe.“

„Warum? Halten Sie mich für jemanden, der sich an Kindern vergeht?“

Sie errötete verlegen. Natürlich wollte sie ihn nicht beleidigen, aber nur weil ein Mann wie ein Gentleman aussah und ein Lächeln besaß, das eine überwältigende Herzlichkeit ausstrahlte, bedeutete dies nicht, dass er nicht auch zu Bösem fähig wäre. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich fühle mich einfach verantwortlich und werde keine Ruhe finden, bevor ich nicht weiß, dass er sicher bei seiner Mutter angekommen ist.“ Sie sah Joe an, der eher verwirrt als verängstigt zu sein schien. Er war zu dünn, wirkte jedoch nicht eingeschüchtert. Das Leben hatte ihm trotz seines zarten Alters gewiss schon einige harte Lektionen erteilt. Kate nahm seine Hand und fragte ihn mit sanfter Stimme: „Möchtest du uns zeigen, wo du lebst?“

Simon lachte. „Auf Ihre Verantwortung also.“ Er konnte sie ebenso wenig im Stich lassen wie sie das Kind.

Seite an Seite gingen sie weiter. Sie redete fröhlich auf den Kleinen ein, obwohl die einzige Antwort, die sie von ihm bekam, ein ausgestreckter Finger war, der ihnen wahrscheinlich die Richtung zeigen sollte. Als sie den Jungen fragte, ob sie auf dem richtigen Weg wären, nickte er.

„Ich glaube nicht, dass er weiß, wo wir sind“, bemerkte Simon, als der Kleine sie aus dem Park hinaus und zur Themse führte, wo ältere Gassenjungen Treibgut sammelten, um es später zu verkaufen. Simon rief nach ihnen und wollte wissen, ob sie Joe kannten, aber sie schüttelten die Köpfe.

„Es besteht wohl wenig Aussicht, trotzdem wir könnten es in Covent Garden versuchen“, schlug Simon vor. „Es sei denn, es ist Ihnen mittlerweile lieber, dass ich allein weitersuche.“

„Nein. Ich bleibe bis zum Schluss. Seine Mama muss vor Sorge fast wahnsinnig sein“, antwortete Kate entschlossen.

„Falls sie sein Fehlen überhaupt bemerkt hat.“

„Wie zynisch von Ihnen, so etwas zu sagen!“

„Aus gutem Grund. Wenn Sie wüssten …“

Sie fragte sich, was er meinte, hakte aber nicht nach. Der Kleine war inzwischen müde geworden, also hob der Doktor ihn kurzerhand auf die Schultern, ohne sich darum zu kümmern, dass er seinen guten Gehrock beschmutzte. „Wenn wir seine Eltern nun nicht finden, was tun wir dann?“, erkundigte sich Kate.

„In diesem Fall werde ich ihn zu einem Heim bringen müssen, das sich um mittellose Kinder kümmert.“

„Meinen Sie das Findelhaus?“

„Nein, dort werden nur Kinder unverheirateter Mütter aufgenommen, und auch nur, wenn die Mutter eine Arbeit finden kann, um ihre Ehre wiederherzustellen. Ich dachte an das Hartingdon-Heim.“

„Hartingdon?“, wiederholte sie erstaunt.

„Ja, kennen Sie es?“

„Nein, aber steht es in Zusammenhang mit dem Earl of Hartingdon?“

„Nicht mit dem Earl, jedoch mit seiner Tochter. Lady Eleanor ist aufgrund einer mildtätigen Stiftung die größte Wohltäterin des Heims. Warum? Kennen Sie sie?“

„Wir sind entfernt miteinander verwandt“, antwortete Kate mit einem trockenen Lächeln. Sie kannte Eleanor nicht gut, und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich begegnet waren, hatte sich Ihre Ladyschaft eher reserviert und kühl verhalten. Kate konnte sich nicht vorstellen, dass Eleanor eins ihrer eleganten Kleider von einem kleinen Gassenjungen wie Joe beschmutzen lassen würde. „Ich wusste nicht, dass sie einem Waisenhaus ihren Namen verliehen hat.“

„Es ist mehr als ein Waisenhaus, es ist der Hauptsitz der ‚Gesellschaft für das Wohl Not leidender Kinder‘. Für einige unserer Kinder finden wir manchmal Pflegefamilien.“

„Wir?“

„Ich bin einer der Kuratoren. Obwohl wir die Kinder ins Heim aufnehmen, wenn es nicht anders geht, halte ich ein liebevolles Zuhause in jedem Fall für günstiger als die Unterbringung in einer Einrichtung.“

„Ein liebevolles Zuhause, gewiss. Aber wie viele Pflegefamilien gibt es denn? Man hört schreckliche Geschichten von Pflegemüttern, die die Kinder, die ihnen zur Obhut überlassen wurden, schlagen und hungern lassen. Und das nicht nur hier in London. Auf dem Land ist es genauso übel, wenn nicht noch schlimmer. Ich verstehe nicht, warum diese Frauen eine solche Aufgabe übernehmen, wenn sie nichts für die Kinder empfinden.“

„Es ist eine Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen“, erklärte er. „Und sie können es tun, während sie auf ihre eigenen Kinder aufpassen.“

„Das ist ja genau das Problem! Wenn es darum geht, entweder das eigene Kind zu füttern oder das Pflegekind, besteht doch wohl kein Zweifel, wofür sich diese Frauen entscheiden würden, nicht wahr?“ Sie sprach mit solcher Heftigkeit, dass er sie erstaunt ansah und sich fragte, was der Grund dafür sein mochte.

„Wussten Sie, dass weniger als die Hälfte dieser Kinder überhaupt überleben?“

„Ja“, antwortete er leise. „Ich verurteile die Gepflogenheit, kleine Kinder in Pflegefamilien zu geben, ebenso wie Sie, Mrs. Meredith. Die Landadligen tun es, um ein lästiges Baby los zu werden, aber sie wählen die Pflegemütter sorgfältig aus und bezahlen sie meist anständig. Aus ganz anderen Gründen geben die mittellosen und unverheirateten Mütter ihre Babys fort. Sie werden nicht fertig mit den unerwünschten Kindern, können den Pflegemüttern jedoch nur wenige Pennys die Woche zahlen. Hier liegt das wirkliche Problem.“

Seine Begegnung mit einer dieser Pflegemütter hatte Simon überhaupt auf seinen heutigen Weg gebracht. Als der Krieg gegen Napoleon vorbei war, war Simon nach England zurückgekehrt. Er wollte nach Grove Hall, dem Besitz seines Onkels, weil dies das einzige Zuhause war, das er je gekannt hatte. Da er noch kein eigenes Haus eingerichtet hatte, war es der einzige Ort, wo er wenigstens vorübergehend bleiben konnte.

Auf dem Weg dorthin war er in einer Schenke eingekehrt. Während er darauf wartete, dass man sein Pferd tränkte und fütterte, hatte er mit einem Glas Bier vor dem Gasthaus Platz genommen und die Abendsonne genossen. Dabei waren ihm drei kleine Kinder aufgefallen, die von einer Frau, die er nur als schmutzige, alte Hexe beschreiben konnte, brutal behandelt wurden. Die Kinder trugen nichts als Lumpen am Leib und waren mit einem groben Strick zusammengebunden. Die Frau zerrte sie hinter sich her wie Vieh. Vor der Schenke blieb sie stehen, band die Kinder an dem Geländer fest, das die Reisenden gewöhnlich für ihre Pferde benutzten, und trat ein.

Sie blieb recht lange fort, während die Kinder auf den Boden sanken und warteten. Jedes einzelne von ihnen war mager wie ein Skelett, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ihre Arme und Beine waren übersät mit blauen Flecken. So teilnahmslos waren die Kinder, dass sie nicht einmal versuchten, ihre Fesseln zu lockern. Simon lief zu ihnen hinüber, ging vor ihnen in die Hocke und sprach mit ihnen, doch sie sahen ihn nur mit leeren Augen an. Es war mehr, als Simon ertragen konnte. Er betrat das Gasthaus, wo die Frau an einem Tisch saß und sich an einem Glas Bier und einem Teller Fleischpastete gütlich tat. „Madam, wollen Sie Ihre Pastete nicht mit den Kindern teilen?“, fragte er sie freundlich.

Als Antwort bekam er ein deftiges Schimpfwort und die Anweisung, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. „Wenn Sie denken, ich werd so gut bezahlt, dass ich denen auch noch Pastete in den Rachen stopfen kann, dann liegen Sie falsch“, fuhr sie ihn an. „Die kriegen ihren Fraß, wenn wir zu Hause sind.“

Simon verhehlte nicht, dass er sie für eine Schande ihres Geschlechts hielt. In seiner Wut bemerkte er erst, dass die übrigen Gäste sich gegen ihn gerichtet hatten, als einer von ihnen sprach. „Lassen Sie uns in Frieden, Mister. Wenn Sie und Ihresgleichen nicht wären, die sich ihren Spaß nehmen, wo immer es ihnen gefällt, würden wir keine Pflegemütter wie die hier brauchen. Die Bälger sind von ihren wahren Müttern im Stich gelassen worden. Wenn Mutter Cody sie nicht aufgenommen hätte, lägen sie schon längst tot in irgendeinem Graben.“

„Das ist kein Grund, sie wie Tiere zu behandeln.“ Simon hatte sich nicht einschüchtern lassen, obwohl die abscheuliche Frau drohend mit dem Messer fuchtelte, mit dem sie ihre Pastete zerschnitten hatte. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte er keine Skrupel gehabt, sie zu entwaffnen und zu Boden zu schlagen. Aber bei einer Frau konnte er es nicht tun, so abstoßend sie auch war. Ebenso wenig konnte er einen ganzen Raum von Männern zusammenschlagen, besonders da kein Gesetz verletzt worden war. Und so hatte er ihr nur eine Krone gegeben und sie aufgefordert, den Kindern davon etwas zu essen zu kaufen. Danach war er weitergeritten, hatte jedoch noch lange an die armen Würmer denken müssen. Wie viele wie sie mochte es in England geben? Und sollte man die Pflegemütter nicht besser anweisen und ihre Häuser regelmäßig kontrollieren?

Wäre sein Empfang auf Grove Hall nicht so enttäuschend gewesen, hätte er die ganze Angelegenheit vermutlich vergessen. Seine Tante, die ihm gegenüber nie so hartherzig und unnachgiebig wie sein Onkel gewesen war, war immerhin erfreut gewesen, ihn zu sehen. Aber der Anblick von Isobel, seiner einstigen Verlobten, die nun mit seinem Cousin verheiratet war, hatte seinen alten Zorn wieder aufflammen lassen. Er wusste, dass er nicht bleiben konnte, so sehr er Grove Hall auch liebte. In seiner Ruhelosigkeit brauchte er eine Beschäftigung, etwas, das ihm das Gefühl gab, etwas Nützliches zu tun. Da erinnerte er sich an die unglücklichen Kinder. Es genügte nicht, zu sagen, dass etwas getan werden musste – er musste es selbst in die Hand nehmen. So hatte er die „Gesellschaft für das Wohl Not leidender Kinder“ ins Leben gerufen, die nicht nur das Elend der Kinder lindern sollte, sondern auch ein Heilmittel gegen seine eigene Qual darstellte. Die ersten Kinder, die er rettete, waren die drei, die er vor der Schenke gesehen hatte, obwohl Mrs. Cody eine unverschämt hohe Summe verlangte, um sie für den Verlust ihres Verdienstes zu entschädigen.

„Dann wundert es mich, dass Sie es gutheißen.“ Kates Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Wir achten sehr darauf, zu wem wir unsere Kinder in Obhut geben“, entgegnete er steif. „Die Frauen werden gründlich befragt und ihre Wohnungen begutachtet.“

„Das mag ja so sein. Zweifellos zeigen sich die Frauen dabei von ihrer besten Seite, aber was geschieht, sobald Sie ihnen den Rücken zukehren?“

„Sie sind sehr kritisch. Scheren Sie nicht alle über denselben Kamm. Einige tun wirklich ihr Bestes.“

„Verzeihen Sie. Manchmal bin ich ein wenig zu unverblümt.“

„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Es ist gut, gelegentlich seine Meinung zu sagen.“

Sie lachte. „Ich tue das wohl ein wenig zu oft. In unserem Fall können Sie den Jungen sowieso nirgendwo hinbringen, da seine Eltern vielleicht nach ihm suchen.“

„Ich werde alles tun, um ihn nach Hause zu bringen. Das Heim ist jetzt schon zum Bersten gefüllt. Es würde mir schwerfallen, einen Platz für Joe zu finden.“

Die Gegend am Covent Garden war ausgesprochen belebt. Inmitten der vielen Stände eilten die Straßenhändler, Träger und sogar Bauern mit ihren voll beladenen Karren hin und her, als hätten sie keine Zeit zu verlieren. Simon fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte, etwas so Unmögliches zu versuchen. Genauso gut konnte er den Jungen gleich ins Hartingdon-Heim bringen und irgendwo eine Ecke für ihn finden, doch genau wie Mrs. Meredith stellte er sich vor, wie seine Mutter gerade voller Verzweiflung nach ihm suchte. Andererseits tat sie es vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte sie ihn verlassen, wie es so viele Mütter taten, die nicht mehr für ihre Kinder sorgen konnten. In diesem Fall würde Joe wohl ins Heim müssen.

Sie gingen von einem Stand zum nächsten, sprachen mit den Händlern und sogar mit einigen Kindern, die in der Nähe herumlungerten und hofften, etwas Essbares von den Ständen zu ergattern. Aber niemand kannte den kleinen Joe. „Und jetzt?“, erkundigte sich Kate. Sie hatte recht gehabt mit der Nadel im Heuhaufen. London war ein sehr großer Heuhaufen und womöglich suchten sie am falschen Ort.

„Lassen Sie es uns dort drüben probieren.“ Simon wies auf die Stufen, die zu einer Kirche führten. Es erstaunte ihn, dass Kate nicht schon längst aufgegeben hatte, und er fragte sich, was sie wohl allein mit dem Jungen getan hätte. Ganz offensichtlich mochte sie Kinder sehr gern und hatte keine Angst, sich ein wenig schmutzig zu machen.

Der kleine Joe stieß plötzlich einen erfreuten Schrei aus und wand sich, damit Simon ihn absetzte. Als er wieder auf seinen Füßen stand, lief er zu einer Frau, die im hinteren Teil eines Karrens saß und zwischen zerdrückten Früchten und Kohlblättern ein Baby stillte. Sie sah auf, als Joe fast bei ihr war. „Wo bist du gewesen, du kleiner Teufel?“, fuhr sie ihn an und versetzte ihm mit der flachen Hand einen Schlag aufs Ohr. „Dir werd ich noch das Fell versohlen, das versprech’ ich dir. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht weglaufen?“

Kate war überrascht, wie jung sie war. Das schwere Leben, das sie führen musste, ließ sie älter aussehen, als sie war, dennoch konnte sie kaum über zwanzig sein. Sie musste Joe empfangen haben, als sie um die sechzehn Jahre alt und sehr wahrscheinlich ein hübsches kleines Ding gewesen war.

Die junge Frau hörte auf zu schimpfen und sah Simon und Kate mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Haben Sie ihn zurückgebracht?“

„Ja. Er hat einen ziemlich langen Weg hinter sich“, antwortete Simon.

„Dann muss ich Ihnen danken.“ Sie hielt inne und musterte ihn genauer. „Irgendwo hab ich Sie schon mal gesehen.“

„Das mag sein. Ich bin Dr. Redfern.“

„Ah. Ich hab von Ihnen gehört. Man sagt, Sie nehmen Kinder auf und geben ihnen ein gutes Zuhause, Kleider und Essen und bringen ihnen sogar was bei.“

„Ja, allerdings nur, wenn ihre Eltern einverstanden sind.“

„Oh. Haben Sie ihn deshalb gebracht? Um ihn dann mitzunehmen?“

„Nein, ich dachte, Sie wären vielleicht besorgt um ihn.“

„Das war ich auch, aber ich kann nicht auf ihn aufpassen und gleichzeitig meine Arbeit tun. Ich muss mich um den Stand kümmern. Und dann ist da noch das Baby.“

„Soll ich ihn denn mitnehmen?“

„Wäre besser. Statt dass er hier verkommt“, sagte sie leise.

„Wird Ihr Mann denn einverstanden sein?“, fragte Kate, entsetzt, dass die Frau auch nur daran denken konnte, sich von ihrem Kind zu trennen.

„Können ihn ja fragen, wenn Sie ihn finden“, meinte sie trocken. „Ich hab seit sechs Monaten nichts mehr von ihm gehört.“

Simon erfuhr von ihr, dass sie Janet Barber hieß. Er bat sie, ihm zu zeigen, wo sie mit ihren Kindern lebte. Mrs. Barber führte sie vom Markt in eine Gegend, die Seven Dials hieß, ein berüchtigtes Elendsviertel, in dem sieben der schmutzigsten Straßen der Stadt aufeinandertrafen. Hier bog sie in die Monmouth Street ein, in der sich Läden mit gebrauchter Kleidung, Pfandleihen und billige Schenken befanden. Von dort ging sie in eine enge Gasse, wo sie vor einem Wohnhaus hielt, dessen Stufen schwarz waren vom Ruß und dessen Tür schief in den Angeln hing. „Hier“, sagte Mrs. Barber.

Kate rechnete fest damit, dass der Doktor sich angewidert abwenden würde, doch zu ihrer Überraschung gab er der Frau ein Zeichen, ihnen vorauszugehen. Inzwischen hatten sie bei den anderen Anwohnern ziemliches Interesse erregt. Die Leute scharten sich um sie und starrten sie an, aber niemand schien ihnen feindselig gesonnen zu sein. Kate nahm an, dass dies daran lag, dass der Doktor bekannt war und respektiert wurde.

Ihre Sorge um den kleinen Joe nahm weiter zu, als sie das schmutzige Zimmer sah, in dem sie nicht einmal ein Tier untergebracht hätte, geschweige denn einen Menschen. Es gab eine Art Brett, das als Bett diente, einen Tisch und zwei Stühle, einige Töpfe und Pfannen auf einem Regal und mehr nicht. Alles war mit einer dicken Schicht Ruß bedeckt und der Geruch war ekelerregend.

„Sie nehmen ihn also?“, fragte Mrs. Barber, als Kate auf der Türschwelle stehen blieb und es nicht über sich brachte, die Kammer zu betreten.

„Wenn Sie wirklich einverstanden sind, nehme ich ihn, bis sich Ihre Lage gebessert hat“, antwortete Simon. „Dann kann Joe wieder nach Hause kommen.“

Sie lachte bitter. „Ja, am Sankt Nimmerleinstag vielleicht.“

Als Simon ihr eine halbe Krone gab, nahm sie sie erfreut an. Joe verabschiedete sich von seiner Mutter und Simon hob ihn wieder auf seine Schultern. Er wünschte, er könnte mehr tun. Er wünschte von ganzer Seele, es gäbe keine solche Armut und jedes Kind könnte so wohlgenährt und glücklich sein wie die Kleinen, mit denen Mrs. Meredith vorhin gespielt hatte.

„Es tut mir leid, wenn ich Familien trennen muss“, sagte er zu ihr, als sie sich auf den Weg zum Hartingdon-Heim machten. „Ich würde es gewiss nicht tun, wenn es eine andere Lösung gäbe.“

„Könnte man ihnen nicht mit etwas Geld unter die Arme greifen?“

„Sicher, aber diese Entscheidung kann ich nicht allein treffen. Das Komitee muss zuerst alle Aspekte berücksichtigen. Wenn der Vater ein Säufer oder Taugenichts ist, wäre es lediglich verschwendetes Geld. Hier unterscheiden wir uns vom Findelhaus. Die Kinder, die man dort aufnimmt, bekommen einen anderen Namen und sehen ihre Mütter meist nie wieder. Wir hingegen tun, was in unserer Macht steht, sie irgendwann mit ihren Familien zu vereinen.“

Das Hartingdon-Heim war in einem für seinen neuen Zweck umgestalteten Gebäude in der Maiden Lane untergebracht. Die Gegend war ebenfalls sehr belebt, da sie nicht weit von Covent Garden entfernt lag, aber in jedem Fall eine bessere als Seven Dials. Die Haushälterin des Heims übernahm Joe und gab ihm ein Brot mit Marmelade und ein Glas Milch. Über beides machte er sich gierig her.

Simon wartete, bis er sicher sein konnte, dass der Kleine zufrieden war. Dann führte er Kate in sein Arbeitszimmer, wo er sie bat, Platz zu nehmen, während er die nötigen Papiere für Joes Aufnahme ins Heim ausfüllte. „Sorgfältige Berichte sind ein wichtiger Teil unserer Arbeit“, erklärte er. „Wenn wir sie nicht sofort schreiben, vergessen wir womöglich etwas. Es macht Ihnen doch nichts aus?“

„Ganz und gar nicht.“ Sie setzte sich in einen Sessel gegenüber von Simon. „Ihre Arbeit interessiert mich sehr.“

„Wir müssen die Namen und Adressen der Kinder notieren, Namen und Beschäftigung ihrer Eltern, was wir genau unternommen haben und aus welchen Gründen.“ Simon fragte sich, wie aufrichtig ihr Interesse sein mochte. Sie machte nicht den Eindruck jener Damen, die ab und zu im Heim vorbeikamen, um alles zu inspizieren, bevor sie etwas spendeten. Zunächst einmal war sie viel jünger, und obwohl sie in ihrem schlichten Kleid entzückend aussah, hatte sie ganz offensichtlich nicht die Absicht, durch ihr Aussehen zu beeindrucken. „Wenn sie uns wieder verlassen“, fuhr er fort, „schreiben wir die Umstände auf und wohin wir sie gehen lassen. In einem anderen Buch stehen die Einzelheiten über die Pflegemütter, die für uns arbeiten, und wie viel wir ihnen zahlen. Selbstverständlich gibt es auch Rechnungsbücher, die stets auf den neuesten Stand gebracht werden müssen.“

„Sind Sie jeden Tag hier?“, fragte Mrs. Meredith.

„Fast, manchmal besuche ich auch die Pflegefamilien und verfasse Berichte über sie.“

Kate hatte ihre anfängliche Anspannung verloren. Jedes Misstrauen war vergessen. Sie setzte sich und sah ihm bei der Arbeit zu. Er besaß helles, sehr dichtes Haar. Eine Strähne war ihm in die Stirn gefallen, als er sich über den Tisch beugte und schrieb. Er hatte eine sehr gerade Nase und einen festen Mund. Kate betrachtete fasziniert seine Hände – eine lag auf dem Hauptbuch, die andere hielt die Feder. Es waren starke, geschickte Hände mit langen Fingern und sauberen Nägeln. Kate stellte sich vor, wie er den Kranken beistand und all seine Patientinnen sich Hals über Kopf in ihn verliebten.

Jetzt legte er die Feder nieder und schüttete sorgfältig Streusand über die feuchte Tinte. Als er aufblickte, ertappte er Kate dabei, wie sie ihn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen betrachtete, als würde irgendetwas an ihm sie amüsieren. Er wollte sie fragen, was das sein mochte, entschied dann aber, dass er sie dafür nicht gut genug kannte. „Nun, da das erledigt ist, könnte ich Sie ein wenig herumführen, wenn Sie möchten.“

„Oh, gern. Und danach muss ich heimkehren. Alle werden sich schon fragen, was aus mir geworden ist.“

Er führte sie durch das ganze Haus, zeigte ihr den Speisesaal, die Schlafräume, den Schulraum, die Krankenstube, wo er die Kinder behandelte, und schließlich das Kinderzimmer, wo Kindermädchen auf die Kleinsten aufpassten. Einige schliefen, andere weinten lauthals, wieder andere waren fast zu schwach dazu und wimmerten nur. Es berührte Kate zutiefst. „Sind sie alle ausgesetzt worden?“, fragte sie betroffen.

„Die meisten. Einige werden anonym hergebracht und einfach vor unsere Tür gelegt. Manchmal liegt eine Notiz dabei, in der uns die Eltern den Namen des Kindes mitteilen und warum sie es nicht behalten konnten. Manchmal finden wir sogar ein kleines Andenken, das für die Eltern eine Bedeutung gehabt hat. Diese kleinen Gegenstände, meist ohne finanziellen Wert, sind oft die einzige Möglichkeit für uns, das Kind zu identifizieren. Deswegen bewahren wir sie sorgfältig auf, falls die Mutter eines Tages doch ihr Kind zu sich holen möchte. Diese Seite unserer Arbeit geht uns immer sehr zu Herzen.“

„Wie traurig.“ Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Es muss die grausamste Entscheidung sein, zu der eine Mutter gezwungen sein kann.“

„Ja.“ Er ging ihr voraus die Treppe hinunter und in die Küche, wo er ihr die anderen Helfer vorstellte und ihr sogar einen Flecken Gras zeigte, den er als Garten bezeichnete und wo die kleineren Kinder spielten. „Die älteren Kinder erfüllen die ihnen zugeteilten Aufgaben im Haus“, erklärte Simon. „Auf diese Weise können wir uns umfangreiches Personal sparen.“

Die Kinder selbst ergaben eine bunte Mischung – einige waren laut und lebhaft, andere ruhig und zurückhaltend, aber alle sauber gekleidet und gut genährt. „Um die Stillen mache ich mir mehr Sorgen“, sagte Simon. „Sie sind es, denen es in einer Pflegefamilie, in der sie mehr Aufmerksamkeit bekämen, besser gehen würde.“ Er wies auf ein kleines Mädchen, das auf dem Boden in einer Ecke des Raumes saß und mit einer Flickenpuppe spielte. „Das ist Annie Smith“, fuhr Simon fort. „Sie ist neun Jahre alt. Ich wurde zu ihrer Mutter gerufen, als sie krank wurde. Da sie ärztliche Behandlung brauchte, habe ich sie ins Krankenhaus geschickt. Annies Vater kann sich nicht um seine Tochter kümmern, weil er als Hafenarbeiter die Familie ernähren muss. Es gibt keine anderen Verwandten, also musste Annie mit mir ins Heim kommen. Sobald ihre Mutter wieder gesund ist, kehrt die Kleine nach Hause zurück. Die Familie ist arm, trotzdem wurde Annie nie vernachlässigt. Leider machen ihr die vielen Kinder hier Angst, und es fällt ihr schwer, sich einzugewöhnen.“

Kate ging zu dem Mädchen hinüber und hockte sich neben sie. „Hallo, Annie. Ich bin Kate. Wie heißt deine Puppe?“

„Püppchen.“

„Aber natürlich, wie dumm von mir, das nicht zu wissen.“

Darüber musste Annie lächeln, wenn auch ein wenig matt. Kate sprach mehrere Minuten mit ihr, während Simon zusah. Sie hieß also Kate. Mrs. Kate Meredith war eine ganz besondere Frau, die geborene Mutter, die in der Lage war, einem Kind Vertrauen einzuflößen, sodass es sich in ihrer Nähe wohlfühlte. Auch er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft und das war verwunderlich genug. Es war sehr lange her, dass er sich einer Frau gegenüber so ungezwungen gefühlt hatte. Dabei wusste er so wenig über sie – nur dass sie verheiratet war und gern Romane las, denn sie trug einige, zusammengeschnürt mit einem Band, in der Hand.

„Arme kleine Geschöpfe“, sagte sie, während sie zur Eingangshalle zurückkehrten. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um zu helfen.“

„Uns fehlen immer die Mittel …“

„Oh, ich meinte nicht Geld. Leider werde ich nicht mehr als eine kleine Spende überreichen können. Ich dachte eher an praktische Hilfe.“

Er betrachtete sie nachdenklich. Hatte er nicht genau das hören wollen? Sie besaß eine so fröhliche, warmherzige Natur, dass sie ein wahres Gottesgeschenk für das Heim wäre. „Wir freuen uns immer über Hilfe, in welcher Form auch immer – einige Stunden im Heim, Hilfe mit der Schreibarbeit, bei der Beschaffung von nötigen Spenden oder bei der Suche nach geeigneten Pflegefamilien. Aber nichts davon ist einfach und alles benötigt viel Zeit, also überlegen Sie es sich gut, bevor Sie sich zu irgendetwas verpflichten.“

„Natürlich. Ich werde sorgfältig nachdenken, das verspreche ich Ihnen.“

„Gut. Wenn Sie jetzt alles gesehen haben, was Sie interessiert, begleite ich Sie nach Hause.“

„Oh, bemühen Sie sich nicht. Ich kann zu Fuß gehen.“

„Ausgeschlossen“, widersprach er. Zwar wusste er nichts über sie, doch sie war gut gekleidet und offensichtlich gebildet, daher war sie es gewiss nicht gewohnt, ganz allein durch die Elendsviertel zu gehen. Vermutlich hatte sie diese Gegenden heute überhaupt zum ersten Mal betreten. Allerdings war er den ganzen Nachmittag nicht von ihrer Seite gewichen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er jeden Moment davon genossen hatte. „Sie verursachen mir nicht die geringste Mühe. Mein Gig steht Ihnen zur Verfügung, wenn Sie mit einer offenen Kutsche einverstanden sind.“ Er nahm eine Glocke vom Tisch und läutete. Gleich darauf erschien ein Junge von etwa zwölf Jahren, den Simon zu den Ställen schickte.

„Aber Sie wissen doch gar nicht, wo ich wohne“, wandte sie lächelnd ein. „Es könnte Meilen von hier entfernt sein.“

„Ein Grund mehr, Sie sicher nach Hause zu begleiten.“ Er hielt inne. „Ist es Meilen entfernt?“

Sie lachte. „Nein. In der Holles Street.“

Er war erstaunt. Die Holles Street war zwar nicht die Adresse Londons, hinter der sich der größte Reichtum verbarg, in jedem Fall jedoch eine der vornehmsten. Wenn er das vorher gewusst hätte, hätte er ihr niemals erlaubt, ihn in ein Armenviertel zu begleiten oder auch ins Heim. Wie schockiert musste sie gewesen sein! Wenn es allerdings so war, hatte sie sich nichts anmerken lassen. Sie hatte Joe in den Armen gehalten, obwohl er vor Schmutz starrte, und sich ohne einen Hauch von Widerwillen neben Annie gehockt. Vielleicht hatte er mit seiner ersten Vermutung doch recht gehabt und sie war ein Kindermädchen oder eine Gouvernante, die für eine wohlhabende Familie arbeitete. Das würde die Adresse erklären. Wenn das stimmte, was war dann mit ihrem Mann? „Also gar nicht so weit entfernt“, stellte er fest. „Das ändert aber nichts. Ich wäre ein feiner Gentleman, wenn ich Ihnen erlauben würde, zu Fuß zu gehen.“

Der Junge kam zurück und meldete, dass das Gig vor der Tür stand. Simon führte Mrs. Meredith hinaus, half ihr auf den Einspänner und wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte. Schließlich nahm er neben ihr Platz und griff nach den Zügeln.

„So“, sagte er. „Fahren wir zuerst zur Bücherei?“

„Zur Bücherei?“

„Waren Sie nicht auf dem Weg dorthin, als wir uns begegneten?“

Sie lachte und hielt den Arm mit den Büchern hoch. „Die hatte ich ganz vergessen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Nein, ich denke, es ist ein wenig spät und ich sollte besser gleich nach Hause fahren. Mein Vater und meine Großmutter werden sich fragen, wo ich stecke.“

„Sie wohnen mit ihnen zusammen?“

„Ja. Mein Vater ist Reverend Thomas Morland. Ich lebe bei ihm, seit ich vor vier Jahren meinen Gatten verlor.“

Wieder überraschte sie ihn. Sie war also keine Angestellte, doch sie sah auch nicht alt genug aus, um schon so lange verheiratet gewesen zu sein. Allmählich begann sie ihn zu verwirren. „Mein Beileid, Ma’am.“

„Danke. Wir waren erst sechs Monate verheiratet, als mein Mann in den Krieg zog. Ich sah ihn nie wieder.“ Sie wusste nicht, warum sie ihm das erzählte. Schließlich ging es ihn nichts an. Andererseits würde er alles über sie erfahren müssen, sollte sie im Heim aushelfen wollen – ein Gedanke, der ihr nicht aus dem Sinn ging.

„Das tut mir leid“, entgegnete er. „Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.“

„Ja, das stimmt.“

„Ich nahm an, Sie wären die Gouvernante der Kinder.“

„Der Kinder?“

„Mit denen Sie im Park spielten.“

„Oh. Das sind die Kinder meiner Cousine – Jamie ist zehn, Charlotte acht, Henry sechs und die kleine Rosemary vier. Ich gehe gern mit ihnen in den Park, wenn ihre Gouvernante ihren freien Tag hat. Sie sind meine ganze Freude.“

„Sie haben keine eigenen Kinder?“

„Leider nicht.“

„Eines Tages vielleicht.“

„Vielleicht.“ Über ein so persönliches Thema sprach man nicht mit einem nahezu fremden Mann. „Ich dachte zuerst, Sie seien ein Schulmeister.“

„Ach? Warum?“

„Wegen der geschickten Art, wie Sie mit dem kleinen Joe fertigwurden, und wegen der Strenge, mit der Sie zu ihm sprachen.“

„Man muss entschieden auftreten bei Kindern.“

„Natürlich, aber nicht hart oder grausam. Sie können so leicht verletzt werden.“

„In der Tat, da bin ich völlig Ihrer Meinung.“

Er kannte sich aus eigener Erfahrung mit Verletzungen aus – sowohl körperlicher Natur als auch seelischer – und sein ganzes Leben lang würde er das nicht vergessen. Miss Nokes, seine eigene Gouvernante, war eine wahre Tyrannin gewesen, die versucht hatte, ihm mit Schlägen seine Lektionen beizubringen. Simon hatte schnell lernen müssen, dass es nichts half, sich über die blutigen Striemen auf seinem Rücken zu beklagen. Sein Onkel hatte ihm nicht geglaubt und stattdessen erklärt: „Es wird Zeit, dass du lernst, deine Strafe wie ein Mann hinzunehmen. Sei ein wenig mehr wie Charles. Der beklagt sich nie.“ Wahrscheinlich entsprach es der Natur vieler Menschen, den eigenen Sohn dem Neffen vorzuziehen, doch sein Onkel hatte sich auch nie Mühe gegeben, dies zu verbergen, sodass Simon sich immer wie ein Fremder auf Grove Hall gefühlt hatte.

Die Schläge hatten Charles, der drei Jahre älter war als Simon, zu einem ebenso grausamen Menschen werden lassen, wie ihre Gouvernante es gewesen war. Da er seine Wut nicht gegen die wahre Schuldige wenden konnte, ließ er seinem Zorn an Tieren aus, seinem Pferd und seinen Hunden und jedem wilden Geschöpf, das seinen Weg kreuzte. Wie oft hatte Simon ein verletztes Tier gepflegt, ihm die Wunden verbunden und es dann versteckt, bis es wieder gesund war. Er war froh gewesen, als man ihn in ein Internat schickte, nur um festzustellen, dass er dort noch härter geschlagen wurde. Während er tapfer jede Strafe ertrug, schwor er sich allerdings, dass er seine eigenen Kinder niemals so grausam behandeln würde.

Zu seiner Überraschung fand er ausgerechnet in der Armee die Freiheit, die er ersehnt hatte, und eine Beschäftigung, die ihn erfüllte. Dort erfuhr er Kameradschaft und einen Sinn im Leben. Dort entdeckte er, dass seine Fähigkeit, die Menschen zu heilen, den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte, den Unterschied zwischen Gesundheit und einem Leben voller Qual. Er hatte nicht immer über den Tod gesiegt, aber niemand hatte ihm je die Schuld dafür gegeben, da jeder wusste, dass er alles tat, was er nur konnte.

Er hatte so lange geschwiegen, dass Kate sich fragte, woran er denken mochte. Sein Ausdruck, eben noch so entspannt und ruhig, wirkte plötzlich ernst und entschieden. Die Lippen waren fest zusammengepresst. Hatte sie etwas gesagt, das ihn verärgert hatte? „Ich nehme an, im Umgang mit Kindern ist es gar kein so großer Unterschied, ob man Schulmeister oder Arzt ist“, sagte sie verlegen.

Worauf er lächelte und seine garstigen Erinnerungen beiseiteschob. „Einer kümmert sich um den Leib, der andere um den Geist.“

„Aber Leib und Geist sind eins, wenn es um den ganzen Menschen geht.“

Er lachte. „Was für eine philosophische Bemerkung an einem Sommernachmittag. Mit einem Geistlichen als Vater hegen Sie wahrscheinlich tiefgründigere Gedanken als die meisten jungen Damen.“

„Vielleicht. Allerdings steht er keiner Gemeinde vor. Er gab sie auf, als …“ Sie hielt abrupt inne, bevor sie hinzufügte: „… als er beschloss, ein Buch über vergleichende Religionswissenschaft zu schreiben, und sich in London niederließ, um den Quellen seiner Forschung nahe zu sein. Also kaufte er ein Haus in der Holles Street und meine Großmutter zog zu uns. Ich werde sie Ihnen vorstellen …“

„Ich bin kaum in dem Zustand, einen Besuch zu machen“, wandte er ein und wies auf seine Kleidung, die vom energischen Umgang mit Joe arg zerknittert war. „Erlauben Sie mir, morgen Nachmittag vorzusprechen, damit ich mich respektabler präsentieren kann. Dann kann ich Ihnen auch berichten, wie Joe sich eingelebt hat“, fügte er hinzu. Warum nur wollte er plötzlich mehr über sie erfahren, nachdem er bisher davon überzeugt gewesen war, dass es besser wäre, sich von den Frauen fernzuhalten? Mrs. Meredith brachte ihn ziemlich aus dem Gleichgewicht.

„Ja, das würde mich freuen.“ Sie bogen in die Holles Street ein und Kate wies auf eins der Gebäude. „Das ist es.“

Simon hielt vor dem Haus, sprang auf die Straße und half Kate aus der Kutsche. Dann wartete er noch, bis man ihr die Tür geöffnet hatte, und stieg wieder auf das Gig. Während er zu seiner Wohnung in Piccadilly fuhr, kreisten seine Gedanken um die Ereignisse des Tages. War es das Schicksal, das ihn in den Hyde Park geführt hatte, noch dazu gerade rechtzeitig, um bei der Rettung des kleinen Jungen zu helfen? Doch ob nun Schicksal oder nicht, er wollte Mrs. Meredith unbedingt wiedersehen, wenn er sich auch einredete, dass es ihm nur darum ging, ihre Hilfe für das Heim zu gewinnen.

2. KAPITEL

Lady Morland saß im Salon, eine Tasse Tee in der Hand und einen Kuchenteller auf dem Tisch neben sich, als Kate den Raum betrat. „Gütiger Himmel, Kate, was ist mit dir geschehen?“, fragte sie. Aufgrund ihrer Vorliebe für Süßigkeiten war sie ein wenig mollig, doch mit ihren immerhin schon siebzig Jahren sowohl geistig wie körperlich eine sehr agile Dame. „Hattest du einen Unfall? Hat man dich überfallen?“

„Nein, nichts dergleichen. Entschuldige, dass ich so spät komme, Grandmama, aber ich habe ein richtiges Abenteuer erlebt.“

„Am besten erzählst du mir sofort alles, denn ein derart ungepflegter Anblick ist mir noch nie unter die Augen gekommen. Ich hoffe sehr, dass niemand von Rang und Namen dich so gesehen hat, sonst wird bald die ganze Stadt über dich tratschen.“

„Ach, Grandmama, warum sollte man? Ich gehöre nicht zur feinen Gesellschaft und bewege mich nicht in so erlesenen Kreisen, das weißt du sehr gut.“

„Aber das wird sich ändern, sobald der Viscount zurück ist. Du wirst ihn zu den Gesellschaften des Hochadels begleiten, da darf es keine Klatschgeschichten über dich geben. Du weißt, wie eigen er ist.“

Das wusste sie nur zu gut. Viscount Robert Cranford, einst Colonel eines Linienregiments und jetzt Diplomat, war in der Tat sehr eigen, weswegen es Kate auch manchmal wunderte, dass er ausgerechnet sie mit seiner Aufmerksamkeit bedachte. Sie war ihm das erste Mal begegnet, als er sie besucht hatte, um ihr sein Beileid zu Edwards Tod auszusprechen. Er hatte ihren verstorbenen Mann als tapferen Offizier in Erinnerung und hatte sich verpflichtet gefühlt, dessen Witwe einen Besuch abzustatten. Damals hatte er Kate erzählt, wie gut er die Trauer um einen geliebten Menschen nachfühlen konnte – seine Gemahlin war ebenfalls gestorben und hatte ihn mit ihren zwei Töchtern allein zurückgelassen. Seine Schwester Harriet Withersfield zog die Mädchen auf seinem Gut in der Nähe von Cookham auf. „Als Harriets Mann starb, ließ er sie in recht ärmlichen Verhältnissen zurück“, hatte er Kate anvertraut, „also bot ich ihr ein Zuhause. Dieses Arrangement hat sich für uns beide als sehr vorteilhaft erwiesen, da ich selbst oft abwesend bin und jemanden brauche, der den Haushalt führt und sich um die Mädchen kümmert.“

Kates Großmutter hatte ihm Erfrischungen jeder nur denkbaren Art aufgezwungen und ihn eingeladen, bald wieder vorbeizukommen. Was er auch mehrere Male getan hatte, solange er sich in England aufhielt. Nachdem er nach Spanien zurückgekehrt war, hatten er und Kate sich regelmäßig geschrieben. Nach Ende des Krieges hatte er die Armee verlassen und eine hochrangige Stelle im diplomatischen Corps der britischen Botschaft in Paris angetreten. Vor drei Monaten hatte er in einem Brief um Kates Hand angehalten.

Kate hatte Edward vergöttert. Als er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten, hatte sie keine Sekunde gezögert, ihm ihr Jawort zu geben. Nie wieder war sie so glücklich gewesen wie damals. Doch sechs Monate nach der Hochzeit war er tot. War ihre Liebe zu ihm ebenfalls gestorben? Kate glaubte es nicht, aber ihre Gefühle hatten sich verändert. Sie waren zu einer liebevollen Erinnerung geworden, bestimmten jedoch nicht mehr ihre Gegenwart. Was sollte also falsch daran sein, die Gelegenheit zu ergreifen und wieder glücklich zu werden? Sie würde einen liebenswürdigen Gatten gewinnen, ein zweites Zuhause, zwei Stieftöchter und vor allem die Hoffnung, eigene Kinder zu bekommen.

Trotzdem hatte sie sich oft gefragt, warum der Viscount, ein Mann, dem so sehr an seiner Würde lag, ausgerechnet sie zur Gemahlin gewählt hatte. Kate war ein eher unbeschwerter Mensch, nicht besonders ordentlich und ohne den Wunsch nach Perfektion. Es kümmerte sie nur wenig, wenn die Dienerschaft in einer dunklen Ecke ein Staubkorn vergessen hatte. Für gewöhnlich kleidete sie sich ohne die Hilfe einer Zofe an und zerbrach sich nicht den Kopf über die neuste Mode. Da sie selbst keine Kinder hatte, bereitete es ihr große Freude, mit denen ihrer Cousine zu spielen – je stürmischer, desto besser.

Ihre Großmutter behauptete, sie verkaufe sich unter Wert, da sie schön sei und wüsste, wie man sich in vornehmer Gesellschaft verhielt – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, sich für irgendwelche guten Zwecke einzusetzen. Sie würde eine wundervolle Stiefmama für die Töchter Seiner Lordschaft abgeben und das war weitaus mehr, als man über die meisten hohlköpfigen Debütantinnen sagen könne, die heutzutage auf die Gesellschaft losgelassen würden. Nun wären bereits vier Jahre seit Edwards Tod vergangen und es sei höchste Zeit für Kate, an eine zweite Ehe zu denken. „Du möchtest doch eigene Kinder haben, oder etwa nicht?“

„Selbstverständlich. Es ist mein größter Wunsch.“ Es war sogar mehr als das, denn es wurde allmählich fast schon zur Besessenheit. Kate sehnte sich danach, ein eigenes Baby in den Armen zu halten, es zu lieben und zu umsorgen. Niemals würde sie daran denken, es an eine Amme zu geben, denn sie vertraute diesen Frauen nicht. Ihre Freundinnen und Verwandten besuchten ihre Kinder meist nur kurz in der Kinderstube, blieben nicht länger als einige Minuten und reichten sie dann wieder an das Kindermädchen zurück, erleichtert, sich anderen Dingen widmen zu können. Kate hatte das nie verstanden. Kuschelten sie denn niemals mit ihren Kindern, nahmen die Mahlzeiten mit ihnen ein oder lauschten ihren Erzählungen? Sollte Kate jemals Kinder haben, würde sie sie lieben und sich mit ihnen beschäftigen, ohne sie jedoch zu verziehen. Sie würde sie selbst unterrichten, Ausflüge mit ihnen unternehmen, ihnen die Landschaft zeigen und ihnen beibringen, alle Geschöpfe des Herrn zu lieben. Es war ein Traum, der sie sehr viel öfter beschäftigte, als gut für sie war.

„Dann musst du wieder heiraten“, hatte ihre Großmutter gesagt. „Dich mit Lizzies Kindern zu amüsieren und mehr Geld für die Armen auszugeben, als du dir leisten kannst, ist keine Lösung.“

Kate liebte ihre Nichten und Neffen sehr, aber sie brauchten ihr Geld nicht, während andere Kinder Not litten. Allerdings musste sie zugeben, dass ihre Großmutter im Grunde recht hatte. „Du denkst also, ich sollte seinen Antrag annehmen?“

„Kate, es ist allein deine Entscheidung, doch du musst ehrlich zu dir sein. Immerhin bist du jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, und dieser Antrag ist sehr wahrscheinlich der einzig angemessene Antrag, den du je bekommen wirst. Außerdem wird Seine Lordschaft einen großartigen Gemahl abgeben.“

„Ja, aber was für eine Gemahlin werde ich abgeben?“, hatte Kate gefragt. „Ich habe mich so daran gewöhnt, hier mit dir und Papa zu leben, dass ich nicht weiß, ob ich ein großes Herrenhaus auf dem Lande führen kann oder die angemessene Gastgeberin für die diplomatischen Kreise des Viscounts wäre. Vielleicht passe ich ja nicht dazu?“

„Aber natürlich tust du das. Du bist ebenso vornehm wie er. Die Hartingdons sind eine sehr alte, angesehene Familie, ebenso wie die Morlands. Viscount Cranford wird sich durch eine Heirat mit dir gewiss nicht unter seinen Stand begeben.“

Autor

Mary Nichols
Mary Nichols wurde in Singapur geboren, zog aber schon als kleines Mädchen nach England. Ihr Vater vermittelte ihr die Freude zur Sprache und zum Lesen – mit dem Schreiben sollte es aber noch ein wenig dauern, denn mit achtzehn heiratete Mary Nichols. Erst als ihre Kinder in der Schule waren,...
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