Warum hast du geschwiegen, Gina?

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Seit Jahren hat sich Dr. Cal Jamieson in seine Arbeit vergraben. Trotzdem konnte er seine große Liebe, die Herzspezialistin Gina Lopez, nie vergessen. Und dann steht sie plötzlich vor ihm – an der Hand seinen Sohn. Wie konnte sie ihm das nur verschweigen? Zwischen Wut, Enttäuschung und Leidenschaft weiß Cal nicht, wie er reagieren soll ...


  • Erscheinungstag 11.06.2021
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506199
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

In dem alten Haus hatte er schon viel erlebt …

Ich werde mir eine andere Unterkunft suchen, dachte Cal, während er auf der Veranda saß und über das vom Mond beschienene Meer schaute. Unter einem Dach mit anderen Ärzten zusammenzuleben, die aus allen Teilen der Welt stammten, war manchmal aufregend, aber häufig auch deprimierend.

Wie zum Beispiel gerade heute. Kirsty, die junge Internistin, und Simon, der Kardiologe, waren plötzlich verschwunden. Aus heiterem Himmel hatten sie ihre Verträge gekündigt und waren weggegangen. Zurück ließen sie ein Haus voller Gerüchte, zwei fassungslose Gefährten, mit denen sie bisher zusammen gewesen waren, und ein Krankenhaus, das ohnehin schon an Personalmangel litt.

Crocodile Creek war das medizinische Versorgungszentrum für den gesamten Norden der Provinz Queensland. Selbst in guten Zeiten herrschte ein notorischer Mangel an qualifizierten Ärzten. Zwei Ärzte waren im Urlaub, ein dritter lag nach einem Fahrradunfall im Streckverband, und ein vierter hatte die Windpocken. Und zwei weitere Mediziner, Kirsty und Simon, hatten wohl ganz private, persönliche Gründe gehabt, um grußlos zu verschwinden.

„Wie kann man nur so rücksichtslos sein“, murmelte Cal. Zurück blieben Emily, die ein Liebesverhältnis mit Simon gehabt hatte, und ein frustrierter Mike, dessen Stolz arg ramponiert war, weil ihn seine Freundin Kirsty einfach hatte sitzen lassen.

Cal mochte Emily und Mike gern. Vermutlich würde er sie trösten müssen. Dabei hasste Cal es, in die privaten Probleme anderer hineingezogen zu werden.

Er verfolgte in seinem Leben nur ein Ziel: seinen Job als Mediziner so gut wie möglich zu machen und sonst in Ruhe gelassen zu werden.

Und er wollte auf keinen Fall an Gina denken …

Aber warum tat er das gerade jetzt in diesem Moment? Er hätte sie in den fünf Jahren längst vergessen sollen.

Aber das konnte er nicht.

Die Beziehungsprobleme von Emily, Mike, Kirsty und Simon sind wohl der Grund dafür, grübelte er. Voller Bitterkeit musste er daran denken, wie Gina ihn eines Tages ohne Ankündigung und ohne eine Erklärung verlassen hatte.

Er musste sie endlich aus seinem Kopf verbannen, um sich emotional nicht völlig zu verrennen. Seine Hoffnung, er würde über die Trennung irgendwann hinwegkommen, hatte sich nicht erfüllt.

Er überlegte, ob er mit Mike eine Partie Poolbillard spielen sollte. Das würde ihn von den quälenden Erinnerungen ablenken. Und vielleicht würde es auch Mike helfen.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr stellte er fest, dass dafür keine Zeit mehr war. Sein Spätdienst fing bald an.

Zum Teufel mit euch, Kirsty und Simon, dachte er ärgerlich. Die Affäre der beiden und ihr plötzliches Verschwinden wirkten sich auch auf sein Leben aus. Außerdem gefiel es ihm nicht, Emily und Mike unglücklich zu sehen. Vorher war das Ärztehaus von Crocodile Creek ein Ort gewesen, an dem Fröhlichkeit und gute Laune geherrscht hatten, ein Ort, der ihn ablenkte und wo er seiner Arbeit als Chirurg nachgehen konnte.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Emily erschien, blass und mit verweinten Augen. Sie war eine hervorragende Narkoseärztin, die ihm im OP eine große Hilfe war.

In diesem Augenblick machte sie jedoch eher den Eindruck eines verschüchterten Teenagers.

Trotz seiner Abneigung gegen emotionale Szenen zog er sie zu der gepolsterten Bank und setzte sich neben sie, bevor er den Arm um ihre Schulter legte und sie zu trösten versuchte.

„Simon ist ein Schuft“, sagte er.

„Ist er nicht.“ Emily schluchzte auf. „Er wird zurückkommen. Er und Kirsty sind nicht ernsthaft …“

„Da irrst du dich“, protestierte er. Es war sinnlos, sich etwas vorzumachen. „Er ist wirklich ein Schuft, der es nicht verdient, dass du ihn liebst. Mit der Zeit wirst du einsehen, dass es so besser war.“

„Das sagst ausgerechnet du“, flüsterte Emily. „Du hast deine Liebe vor fast fünf Jahren verloren. Aber geht es dir besser, seit Gina nicht mehr da ist? Ich glaube nicht.“

Gunyamurra. Dreihundert Meilen weiter südlich. Sie hatte ein Kind geboren. Schlug das Herz des Neugeborenen? War es noch am Leben?

Nein. Sie hatte sich das nur eingebildet. Da war nichts.

Das Mädchen starrte hinunter auf das winzige menschliche Bündel, das sein Sohn hätte werden sollen. Aber er war tot.

Wie hatte sie nur hoffen können, ihr Sohn sei lebensfähig? Sie war doch selbst fast noch ein Kind …

Wäre das Baby am Leben geblieben, hätte sich ihr eigenes Leben völlig verändert. Aber nun?

Alles wird so weitergehen wie bisher, dachte sie verzweifelt. Ihr Körper schmerzte von den Nachwirkungen der Geburt und der zerronnenen Hoffnung.

Sie streckte die Hand aus und fuhr sanft mit dem Finger über das winzige Gesicht des Babys.

Sie musste das Kind hier zurücklassen. Sie konnte nicht länger bleiben. Ja, hier zwischen den Farnen und auf dem Moos sollte es liegen.

Sie musste zurück zum Rastplatz. Die Autos würden bald abfahren. Erschöpft und innerlich leer schlüpfte sie auf den Rücksitz des Vans der Familie. Ihre Eltern fragten nicht einmal, wo sie so lange gewesen war. Sie hatten kaum bemerkt, dass sie sich entfernt hatte. Und sie würden auch nicht bemerken, was mit ihr geschehen war. Sie bemerkten nie etwas.

„Da liegt ein Baby hinter dem Felsen.“

Entnervt richtete Gina ihre Augen gen Himmel, während sie sich Mühe gab, ruhig zu bleiben. CJs Versuch auszutreten, zog sich endlos in die Länge. Aber der Reisebus fuhr in zehn Minuten weiter. Und wenn sie den verpassten …

Das durften sie auf keinen Fall. Hier in Gunyamurra zu stranden, inmitten des australischen Outbacks, einem menschenleeren, riesigen Buschgebiet, war eine Horrorvorstellung.

„CJ, beeil dich endlich, und komm wieder her“, rief sie dem Jungen zu, wobei sie versuchte, ihrer Stimme etwas Autorität zu verleihen. Aber vergebens. Dr. Gina Lopez mochte eine hoch qualifizierte Kardiologin sein, aber mit einem widerspenstigen Vierjährigen war sie überfordert.

Er ist wie sein Vater, dachte sie. Eigensinnig und unabhängig. Aber wenn sie in seine großen braunen Augen sah, konnte sie mit ihm nicht böse sein.

Als CJ die Toilettenhäuschen gesehen hatte, die auf dem Rastplatz standen, hatte er trotzig den Kopf geschüttelt. „Da gehe ich nicht rein. Die sind eklig.“

Gina musste ihm recht geben. Das jährliche Rodeo in Gunyamurra war beendet. Hunderte von Menschen hatten die Toilettenhäuschen benutzt. Es stank nach Bier und Urin.

Also war Gina mit dem Jungen ein paar Schritte zur Seite gegangen, dorthin, wo das Buschland anfing. Aber ihr Sohn hatte wieder protestiert. „Hier können mich ja die Leute sehen.“

„Dann geh hinter die Felsen dort.“

„Also gut.“

Und jetzt …

„Da liegt ein Baby hinter den Felsen.“

Was bedeutete das schon wieder? CJ hatte immer eine blühende Fantasie gehabt.

„Nun beeil dich endlich!“ Gina warf einen unruhigen Blick hinüber zu dem Reisebus, in den die anderen Leute schon einstiegen. Sie war zu weit weg, um zu rufen. Und sie hatte dem Fahrer nicht gesagt, dass er warten sollte.

Nur keine Panik, ermahnte sie sich. Sie konnte dem Fahrer immer noch zuwinken, wenn er losfuhr. Oder sich ihm in den Weg stellen.

Warum war sie nur so dumm gewesen, zurück in diese einsame Gegend Australiens zu kommen?

Es war ihr notwendig erschienen. In den letzten Jahren hatte sie in den USA gelebt und gearbeitet. Irgendwann hatte sie den Mut gefasst, zu Cal zu fahren und ihm das mitzuteilen, was er früher oder später erfahren musste.

Mit den besten Absichten war sie in Crocodile Creek angekommen und hatte sich auf die Suche nach Cal gemacht. CJ war bei der Wirtin des kleinen Gasthauses geblieben, in dem sie abgestiegen waren. Die Wirtin hatte ihr auch gesagt, dass alle Ärzte in dem alten Haus wohnten, das neben dem Krankenhaus unmittelbar am Meer stand.

In der Dämmerung hatte das Haus sehr einladend ausgesehen. Aber dieser Eindruck änderte sich rasch. Als sie vor der Eingangstür stand, hatte ihr Mut sie längst verlassen. Auf ihr Klopfen hatte niemand geantwortet. Also war sie um das Haus herumgegangen. Sie wünschte, sie hätte es nicht getan.

Auf der Veranda hatte sie Cal gesehen, ihren Cal, dessen Anblick sie all die Jahre ständig vor Augen gehabt hatte.

Er hatte sie nicht bemerkt. Als sie sich gerade dazu durchgerungen hatte, zu ihm zu gehen, war eine junge Frau aus dem Haus gekommen und hatte sich neben ihn gesetzt.

Gina hatte sich in den Schatten zurückgezogen. Sekunden später war sie froh, dass sie sich nicht bemerkbar gemacht hatte. Denn Cal hatte seinen Arm um die junge Frau gelegt und sie an sich gezogen. Mit seinem Gesicht an ihrer Wange hatte er ihr etwas ins Ohr geflüstert. Gina musste mit ansehen, wie sie seine Umarmung erwiderte und den Kopf an seine Schulter legte.

Sie war geflüchtet, während ihr bewusst wurde, dass sie sich Cal gegenüber damals unverantwortlich und schäbig verhalten hatte. Jetzt schien er die wahre Liebe gefunden zu haben. Echte, verlässliche Liebe – etwas, was es in der Beziehung zwischen Cal und ihr nie gegeben hatte.

Sie hatte kein Recht, sich da einzumischen.

Gina war zurück zu dem Gasthaus gegangen, hatte CJ in den Arm genommen und versucht, sich zu beruhigen. Wie würde Cals neue Freundin reagieren, wenn sie auftauchte? Würde unter Umständen sogar die Beziehung zwischen Cal und der jungen Frau dadurch gefährdet?

Nein, das wollte sie auf keinen Fall.

CJ war unehelich geboren. Cal war sein Vater, aber das wusste er nicht. Und so sollte es bleiben.

Am liebsten hätte sie das nächste Flugzeug genommen und wäre zurück in die Vereinigten Staaten geflogen. Aber das ging nicht. Die lange Reise sollte nicht ganz sinnlos gewesen sein.

Sie hatte CJ versprochen, ihm ein wenig von Australien zu zeigen. Und nun durfte sie ihren Sohn nicht enttäuschen.

Sie hatte sich einen Tag Zeit genommen, um herauszufinden, was sie mit dem Jungen unternehmen konnte. Als Erstes hatte sie für sich und ihren Sohn eine Krokodilsafari gebucht – nachts im Mondschein auf einem See. Krokodile hatten sie leider nicht zu Gesicht bekommen, aber da ein echter Krokodiljäger mit an Bord des Bootes war, der äußerst spannende Geschichten zu erzählen wusste, hatte ihr Sohn ihm mit leuchtenden Augen zugehört. Seine Begeisterung hatte Gina etwas geholfen, mit ihrer eigenen Enttäuschung besser fertig zu werden.

Zwei Tage später waren sie zu einer Schiffstour zum Great Barrier Reef aufgebrochen. Leider war das Meer sehr bewegt, sodass sie nur wenig von den berühmten Korallenbänken sahen.

Schließlich hatte sie in der Zeitung von dem Rodeo in Gunyamurra gelesen. CJ liebte Pferde über alles. Da es eine Busverbindung gab, die auf dem Weg zum Flughafen Station bei dem Rodeo machte, hatten sie beschlossen, ihren letzten Tag in Australien mit einem Besuch des Rodeos zu verbringen.

CJ war begeistert gewesen von den verwegenen Vorführungen der Reiter. Aber Gina wollte nun endlich wieder weg. Crocodile Creek war dreihundert Meilen entfernt. Sie würde Cal nie wiedersehen. Der Bus würde sie zum Flughafen in Cairns bringen, und sie würden in die USA zurückfliegen.

Sie musste nur noch ihren Sohn hinter diesen Felsen hervorlocken.

„CJ, mach schnell. Der Bus fährt ab.“

„Ich kann hier nicht austreten – hier liegt ein Baby“, rief er mit schriller Stimme.

„Unsinn, da kann kein Baby liegen.“

Sie wusste, dass CJ ein fantasievoller Junge war, der auf die verrücktesten Ideen kam.

„Da ist kein Baby“, sagte sie noch einmal tadelnd. Und dann lugte sie um den Felsen herum.

Da lag tatsächlich ein Baby!

Einen Moment war sie so geschockt, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie starrte, genau wie ihr Sohn, auf die Stelle zwischen den Felsen.

Das Baby war erst vor ganz kurzer Zeit hier zur Welt gekommen. Das niedergedrückte Gras war noch frisch, genau wie die Blutspuren auf dem Moos.

Und das Baby? War es tot?

Seine Haut war leicht bläulich, der winzige Körper überzogen von getrocknetem Schleim. Es gab kein Lebenszeichen von sich.

Gina ließ sich auf die Knie nieder und berührte die Haut vorsichtig mit ihrer Handfläche. Halt! Fühlte sich das nicht warm an?

Aber das Kind atmete nicht. Sie hob es hoch. Der kleine Körper fühlte sich schlaff und leblos an.

Was war mit dem Puls? Nichts …

Sie steckte ihren Finger in den Mund des Babys und versuchte, den Schleim zu entfernen, um die Luftröhre freizumachen. Dann hob sie das Kind hoch, legte ihren Mund auf seine Lippen und begann rhythmisch Luft in seine winzigen Lungen zu blasen.

Plötzlich spürte sie, wie seine Brust sich hob.

Ja!

„Komm schon“, murmelte sie. „Du schaffst es.“

Ihr Rucksack lag noch dort, wo sie ihn vorhin hatte fallen lassen. Rasch öffnete sie ihn und nahm CJs Windjacke heraus, die gleich oben lag. Sie legte sie auf den Boden, bevor sie das Kind darauf bettete. Konzentriert begann sie mit Wiederbelebungsversuchen, um seinen Herzschlag in Gang zu bringen.

Damit kannte sie sich aus. Kardiologie war ihr Spezialgebiet. Aber hier war sie in der Wildnis, ohne die Hilfsmittel, die ihr in einem gut ausgerüsteten Krankenhaus zur Verfügung standen. Sie hatte nichts, keine Medikamente, keinen Sauerstoff, keine Geräte.

Sie brauchte Hilfe. Dringend.

CJ stand neben ihr, während er hilflos und entsetzt auf das Baby starrte. Er war noch zu jung, um zu begreifen, was hier geschah.

„CJ, lauf zum Parkplatz hinüber und rufe laut um Hilfe!“

Rasch fuhr sie mit der Beatmung fort.

„Wieso?“ CJ war völlig verwirrt.

„Das Baby ist sehr krank“, erwiderte sie bestimmt. „Du musst jemanden herholen. Schrei um Hilfe, so laut du kannst.“

„Für das Baby?“

„Für das Baby!“

Einen Moment schien CJ nachzudenken, bevor er schließlich nickte und um die Ecke des Felsens verschwand. Dann hörte sie ihn laut rufen.

„Hier ist ein Baby. Hilfe!“

Er schrie, so laut er konnte. Aber er hatte keine Chance, gehört zu werden. Der Fahrer des großen doppelstöckigen Busses hatte den Motor angelassen. Und die Klimaanlage in dem schon reichlich betagten Fahrzeug machte, wie Gina sich von der Fahrt hierher erinnerte, einen ziemlichen Lärm.

Entsetzt musste sie mit ansehen, wie der Bus Fahrt aufnahm und dann von dem Parkplatz auf die Zubringerstraße einbog.

Gina wollte mit dem Baby auf dem Arm loslaufen und sich dem Bus in den Weg stellen, aber da hörte sie ein leises Husten. War das möglich? Täuschte sie sich nicht?

Nein!

Das Baby hatte tatsächlich leise röchelnd zu husten begonnen. Seine Atemwege schienen immer noch verstopft. Ich muss sie irgendwie säubern, beschloss Gina.

Sie drehte das Baby auf den Bauch und schob einen Finger in seinen Mund. Den Bus hatte sie völlig vergessen. Sie hatte keinerlei Ausrüstung – wie sollte sie die Atemwege frei bekommen?

Sie klopfte ihm leicht auf den Rücken. Das Neugeborene hustete erneut – und diesmal brachte es einen Brocken Schleim hervor, den Gina sofort aus dem Mund entfernte.

Sie drehte das Baby wieder herum und setzte die Beatmung fort. Und tatsächlich – seine winzige Brust begann sich zu heben und zu senken. Sie blies ihm in einem langsamen Rhythmus den Atem in den Mund, um seine eigenen Bemühungen zu unterstützen.

Rasch suchte sie in ihrem Gepäck nach einem Tuch, um es warm zu halten. Wenn es auskühlte, konnte dies lebensbedrohlich werden. Es hatte wohl nur überlebt, weil es im Windschatten der Felsen so warm gewesen war.

Der Bus war weg. Atemlos kam CJ zu ihr gelaufen. „Ich glaube, sie haben mein Rufen gehört“, berichtete er. „Eine Frau in dem Bus winkte mir zu, als sie an mir vorbeifuhren.“

Großartig! Gina hörte, wie sich das Geräusch des Busses immer weiter entfernte. Er war auf dem Weg zum Flughafen in Cairns.

Der Flughafen. Ihr Flug in die USA. Nach Hause.

Aber daran konnte sie jetzt nicht denken. Das Baby brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Atmete es nicht schon regelmäßiger und kräftiger? Oder war das nur Wunschdenken von ihr? Sie hätte dringend Sauerstoff gebraucht.

Aber sie hatte nichts.

Sie schaute nach der Nabelschnur. Anscheinend war sie einfach von der Plazenta losgerissen worden. Aus dem Ende hatte eine blutige Flüssigkeit zu tropfen begonnen.

Gina war in Geburtshilfe nicht sehr erfahren, aber sie wusste, dass eine Nabelschnur nicht nachbluten sollte. Hatte das Baby schon viel Blut verloren?

Wo befand sich das nächste Krankenhaus? Gab es in der Nähe von Gunyamurra überhaupt so etwas?

Sie konnte sich nicht darauf verlassen. Sie musste sich selbst helfen. Eilig öffnete sie ihren Rucksack und suchte nach etwas, worin sie das Baby einwickeln konnte. Da war ihre eigene Windjacke – eine weiche, flauschige Jacke, die sie besonders liebte. Sie würde eine hervorragende Decke abgeben. Sie kontrollierte noch einmal die Atmung, die sich jetzt deutlich stabilisiert hatte. Ginas Hoffnung wuchs, dass das Baby überleben würde.

Dann schlug der winzige Mensch die Augen auf! Selbst CJ war überwältigt. „Es ist ein richtiges Baby“, rief er. „Es lebt.“

Gina konnte nur nicken. Ihr fehlten die Worte für dieses Wunder. Es war ein Junge, der eines Tages zu einem Mann heranwachsen würde, weil CJ im richtigen Moment zur Stelle gewesen war.

Was spielte es da für eine Rolle, ob sie den Bus verpasst hatten? Oder dass sie hier in der Wildnis allein auf sich angewiesen waren?

Wie klein das Neugeborene war. Es wog bestimmt nicht mehr als tausend Gramm. Eine Frühgeburt? Ganz sicher, seine winzigen Fingernägel waren noch nicht vollständig ausgebildet.

Seine Lippen und seine Fingerspitzen waren bläulich verfärbt. Das konnte eine Folge von akutem Sauerstoffmangel sein. War das ein Zeichen, dass sein kleines Herz immer noch nicht ausreichend arbeitete?

Seine Atmung war jetzt gleichmäßiger, seine Augen weit geöffnet. Er schaute mit einem so erstaunten Ausdruck zu Gina hinauf, als ob er nicht begreifen könnte, dass er auf der Welt war.

Sie brauchte Unterstützung durch einen erfahrenen Kinderarzt. So schnell wie möglich.

„Wie kommen wir von hier weg?“, wollte CJ wissen.

„Wir müssen jemanden finden, der uns hilft.“

„Aber alle sind fort“, erwiderte er.

„Bestimmt nicht alle.“

Und wenn sie tatsächlich allein zurückgeblieben waren? Das Rodeo war schon seit mehr als einer Stunde vorüber. Inzwischen waren die Zuschauer verschwunden.

„Irgendjemand muss doch hier sein“, sagte sie mit fester Stimme, um CJ zu beruhigen. Sie schob das Baby unter ihr T-Shirt und hoffte, dass der Kontakt zu ihrer warmen Haut ihm guttun würde. „Komm, wir sehen uns mal um.“

Zweifelnd schaute CJ sie an. Er wusste nicht, ob er mit ihr kommen sollte oder nicht. „Ist das Baby okay?“, fragte er.

„Ich glaube, ja.“

„Du hast Blut auf deinem Hemd.“

Gina schaute an sich herunter und verzog das Gesicht. Ob ihr T-Shirt schmutzig wurde oder nicht, war egal. Sie fragte sich nur, wie viel Blut das Neugeborene inzwischen verloren haben könnte.

Das Baby bewegte sich und gab leise Töne von sich. Gina hielt das für ein gutes Zeichen. Vielleicht fing sein Kreislauf an, normal zu funktionieren.

Vor viereinhalb Jahren hatte sie CJ so im Arm gehalten. Und sie hatte sich geschworen, alles für ihn zu tun. Sie hatte seinen Vater abgöttisch geliebt. Cal hatte ihr gezeigt, was es bedeutete zu lieben. Und diese Liebe hatte sie an CJ weitergegeben.

Und obwohl Cal schon vor CJs Geburt keine Rolle mehr in ihrem Leben gespielt hatte und er nichts von seinem Sohn ahnte, empfand sie jetzt wieder ähnlich wie damals. Sie würde dieses Baby beschützen und es retten – was auch immer geschah.

Wer war seine Mutter? In welch einer verzweifelten Lage musste sie sich befunden haben, wenn sie ihr Baby einfach so im Stich ließ?

Sie erinnerte sich daran, wie einsam sie sich bei CJs Geburt gefühlt hatte und wie sehr sie sich gewünscht hatte, Cal wäre bei ihr. Sie hatte nicht gewusst, wie sie es fertigbringen sollte, ihren Sohn allein aufzuziehen.

Obwohl sie Cal seit damals nicht wiedergesehen hatte, war sie durch CJ immer mit ihm verbunden gewesen.

Als ihr Sohn geboren wurde, hatte sie es vor Sehnsucht nach Cal kaum ausgehalten. Und jetzt dachte sie wieder an ihn und wünschte, er wäre bei ihr.

Aber das war verrückt. Cal war weit weg. Und die Chance, nach Hause zu kommen und Cal endgültig aus ihrem Leben zu streichen, hatte sie erst einmal vertan – als sie den Bus und damit ihren Heimflug verpasste.

Sie musste Hilfe finden!

„Komm, CJ. Ich wette, hier ist doch noch jemand.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich.

Das Rodeo hatte in einer Art Naturarena stattgefunden, einem großen, runden Platz, der von Felsen und Sanddünen umgeben war. Jetzt, zerwühlt und leer, kam er ihr riesig vor.

Und da war wirklich jemand! Als sie den Platz überquerten, auf dem die Zuschauer ihre Autos geparkt hatten, sahen sie ihn – einen alten Mann, einen Ureinwohner Australiens, mit einem zerfurchten, wettergegerbten Gesicht. Gina hatte ihn schon vorher bemerkt. Offensichtlich war es seine Aufgabe, den Rodeoplatz von den Hinterlassenschaften der Zuschauer zu säubern. Mit Abscheu starrte er auf die Müllberge und kratzte sich am Kopf, unschlüssig, was er zuerst machen sollte.

Als er Gina und CJ näher kommen sah, hellte sich seine Miene auf. Er zog den Hut und winkte ihnen zu. „Hallo, guten Tag. Wollen Sie mir etwa bei der Arbeit helfen?“

„Wir haben ein Baby gefunden“, entgegnete Gina ohne Umschweife.

„Sagen Sie das noch einmal – man findet doch nicht so einfach ein Baby …“

„Jemand hat das Kind hinter den Felsen zur Welt gebracht und dann dort liegen lassen. Ich brauche dringend medizinische Hilfe.“

„Das ist hoffentlich kein schlechter Scherz?“

„Absolut nicht.“ Gina zeigte auf das Baby unter ihrem T-Shirt. Sie schilderte dem Mann kurz, was passiert war. Fassungslos und stumm blickte er sie an.

„Sie wollen also sagen, dass eine Frau das Kind dort hinter den Felsen geboren hat und es einfach liegen ließ, damit es stirbt?“

„Wahrscheinlich hat sie gedacht, das Kind sei tot zur Welt gekommen“, erklärte Gina. „Es ist mir erst nach einiger Zeit gelungen, seine Atmung und seinen Herzschlag in Gang zu bringen.“

Der Mann schaute sie an, als ob er einen Geist sähe. Er zeigte auf das Bündel, das sich unter Ginas T-Shirt abzeichnete. „Und Sie haben es wirklich dort? Unter dem Hemd?“

„So ist es. Können Sie uns so schnell wie möglich zum nächsten Krankenhaus bringen?“

Unsicher zeigte der Mann zu einem uralten und zerbeulten Pick-up hinüber, der in einiger Entfernung parkte.

„Was anderes gibt’s hier aber nicht. Wie sind Sie denn hergekommen?“

„Mit dem Flughafenbus.“

„Der ist längst weg.“

„Das weiß ich“, erwiderte Gina ungeduldig. „Bringen Sie uns nun zum Krankenhaus? Wir brauchen Hilfe.“

„Das nächste Krankenhaus ist in Gunyamurra, ungefähr zwanzig Meilen von hier.“ Er kratzte sich wieder am Kopf. „Aber ich fürchte, da treffen wir niemanden an. Alle Leute, die dort arbeiten, waren heute hier. Ich bin sicher, dass das Krankenhaus geschlossen ist. Brauchen Sie einen Doktor?“

„Ja, unbedingt.“ Ihm zu erklären, dass sie selbst Ärztin war, hätte ihn nur verwirrt.

Er schaute wieder auf das Bündel unter Ginas T-Shirt. Seinem Gesichtsausdruck nach schien er immer noch anzunehmen, er habe eine Irre vor sich.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
Mehr erfahren