Warum schweigst du, bella mia?

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Die hübsche Rezeptionistin Alaina erstarrt, als sie den neuen Hotelgast sieht: Es ist der italienische Staranwalt Rafaello Ranieri – mit dem sie vor fünf Jahren eine kurze, heiße Affäre hatte, die er kühl beendete. Jetzt will Alaina nur, dass Rafaello so schnell wie möglich aus der Lobby und in seiner Suite verschwindet. Doch das Schicksal hat andere Pläne. Denn ihr kleiner Sohn stürmt in das Foyer des Luxushotels. Süß, temperamentvoll – und Rafaellos Ebenbild! Dessen ungläubiger Blick verrät Alaina sofort: Er weiß, was sie ihm fünf Jahre lang verschwiegen hat …


  • Erscheinungstag 09.07.2024
  • Bandnummer 2656
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524834
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Alaina Ashcroft schaute der Limousine hinterher, die die lange, von blühenden Hibiskus-Büschen gesäumte Einfahrt entlangfuhr und auf die Straße abbog. Sie schluckte. Mehrfach.

Er reiste wirklich ab. Fuhr zurück zum Flughafen, kehrte zurück nach Italien, in sein normales Leben – genau, wie er es gesagt hatte. Zerstörte all ihre Hoffnungen, dass er vielleicht seinen Aufenthalt hier auf der Insel verlängern würde, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Weil er sie mochte, weil er mehr von ihr wollte als einen Urlaubsflirt. Weil er sie mit nach Italien nehmen wollte … Aber all das wollte er nicht.

Sie spürte einen scharfen, bohrenden Schmerz in der Brust. War das Unglück ihrer Mutter ihr nicht Warnung genug gewesen, dass auch sie sich davor hüten musste, zu begehren, was sie nicht haben konnte: einen Mann, der nichts für sie empfand? Und hatte sie sich nicht vorgenommen, den größten Fehler ihrer Mutter niemals zu wiederholen: immer wieder zu hoffen, es wäre anders?

Alaina schluckte und wandte sich ab. Ihre Träume hatten sich zerschlagen. Jetzt musste sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Auf ihre Arbeit. Beschäftigung war die beste Therapie.

Er ist weg, und das war’s. Mein Leben wird weitergehen wie vorher, als wären wir uns nie begegnet.

Das glaubte sie zumindest.

Bis sich herausstellte, dass sie sich gewaltig getäuscht hatte.

1. KAPITEL

Fünf Jahre später …

Rafaello Ranieri streckte seine langen Beine aus und überkreuzte lässig die Knöchel. Er lehnte sich auf seinem luxuriösen Sitz in der Ersten Klasse zurück und zog eine Fachzeitschrift aus der Tasche, mit der er sich auf dem Flug nach London die Zeit vertreiben würde.

Als einer von Italiens Spitzenanwälten war er in der High Society sehr gefragt. Worum auch immer es ging – Finanzgeschäfte, Erbstreitigkeiten, kapriziöse Ex-Frauen oder rebellische Söhne –, er bot seinen Klienten einen erstklassigen, unverzichtbaren Rechtsbeistand. Das bedeutete auch, dass er jederzeit über alle Entwicklungen in der Rechtsprechung auf dem Laufenden sein musste.

Einer seiner gut betuchten Klienten hatte einen Fall in London zu verhandeln, und Rafaello flog dorthin, um sich mit den Anwälten der Partnerkanzlei zu besprechen. Da er erst spät am Abend ankommen würde, würde er auf eine Übernachtung in der Park Lane verzichten, wo er für gewöhnlich abstieg, und sich stattdessen ein Zimmer in einem Hotel in Flughafennähe nehmen. Morgen würde er mit seinen Kontaktleuten zu Mittag essen und schon am Nachmittag nach Rom zurückfliegen. Ein kurzer, wenig bemerkenswerter Geschäftsbesuch. Es gefiel ihm, wenn sein Leben ruhig und unspektakulär verlief.

Einen Moment lang verdüsterte sich sein Gesicht, als er daran denken musste, dass das ganz und gar nicht der Art entsprach, wie seine Mutter ihr unglückliches Leben gelebt hatte. Sein Vater, der sich mittlerweile aus der Geschäftsführung des Familienunternehmens, einer renommierten Großkanzlei, zurückgezogen und Rafaello die Leitung übertragen hatte, hatte seine Frau für psychisch instabil, neurotisch und unreif gehalten.

Die desaströse Ehe seiner Eltern war für Rafaello immer eine Mahnung gewesen. Folgerichtig hatte er sich für ein anderes Lebensmodell entschieden, für flüchtige, kurze Affären mit Frauen, die nicht mehr wollten, als er ihnen bieten konnte. Das war für ihn der sicherste und beste Weg, in seinem eigenen privaten Leben eine ähnliche Katastrophe zu vermeiden.

Ein Hauch von Zweifel beschlich ihn. Eine Frau hatte es gegeben, damals …

... auf einer karibischen Insel mit weißen Stränden und Palmen im tropischen Wind. Der perfekte Ort für eine Romanze. Und sie war genau die richtige Frau an diesem Ort gewesen: wunderschön, leidenschaftlich, feurig. Er hatte sie in dem Moment gewollt, als er sie gesehen hatte. Und die Affäre zwischen ihnen war genauso prickelnd und aufregend gewesen, wie er es sich erhofft hatte.

Bis sie angedeutet hatte, dass sie mehr von ihm wollte.

Kurz danach war er in der eleganten Limousine des Hotels zum Flughafen gefahren und hatte in Italien sein altes Leben wieder aufgenommen. Ruhig und unspektakulär – das war nun mal genau das, was er brauchte. So gefiel es ihm.

Alaina gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie gestresst sie war. Das wäre unprofessionell. Als Assistentin im Hotelmanagement war sie geübt darin, nichts als freundliche Gelassenheit und Kompetenz auszustrahlen. Es musste den Gästen schließlich verborgen bleiben, dass sie am Empfang unterbesetzt waren, weil eine Mitarbeiterin ausgefallen war und die andere noch in der Ausbildung. Niemand bemerkte, dass sie ständig auf die Uhr schaute, weil sie eigentlich dringend Joey abholen musste.

Es war ihr gelungen, Ryan zu erreichen. Sie hatten eine Vereinbarung – wenn einer von ihnen zu spät dran war, holte der andere beide Kinder ab. Die Kita, die Joey besuchte, hatte einen exzellenten Ruf, aber sie achtete auf Pünktlichkeit. Glücklicherweise hatte Ryan heute einspringen können. Er würde Joey und seine vierjährige Tochter Betsy abholen und mit beiden Kindern zu Hause eine Kleinigkeit essen. Danach würde er Betsy zu ihrer Mutter bringen, die mit ihrem neuen Mann nicht allzu weit weg lebte, und Joey bei Alaina im Hotel abgeben. Dann würde Schichtwechsel sein, und sie konnte Feierabend machen.

Das System funktionierte gut. Alaina konnte arbeiten, und darauf kam es schließlich an. Es war finanziell notwendig und tat außerdem ihrer Karriere gut.

Als Mutter eines kleinen Kindes in Vollzeit beschäftigt zu sein, war trotzdem mit viel Druck verbunden. Und im Gegensatz zu Ryan, der sich das Sorgerecht mit seiner Ex-Frau teilte, war sie alleinerziehend.

Aber das war meine eigene Entscheidung.

Andernfalls hätte sie mit einem Mann in Kontakt treten müssen, mit dem sie eine flüchtige Affäre gehabt hatte, um ihm die Existenz eines Kindes zu enthüllen, das weder geplant noch gewollt gewesen war. Einem Mann, der kein wirkliches Interesse an ihr gehabt hatte, auch wenn sie sich noch so sehr gewünscht hatte, es wäre anders.

Es sollte einfach nicht sein – belasse es dabei.

Draußen fuhr ein Shuttlebus vor, und die Fluggäste des nahe liegenden Flughafens, der im Londoner Umland lag, aber ähnlich überlaufen war wie Heathrow, verlangten ihre Aufmerksamkeit.

Alaina war gerade fertig damit, sich um alle Neuankömmlinge angemessen zu kümmern, als sich die Tür erneut öffnete. Ein verspäteter Gast, der wahrscheinlich aufgehalten worden war und ein Taxi genommen hatte. Sie schaute hoch, ein professionelles Lächeln im Gesicht.

Und erstarrte.

Ungläubig riss sie die Augen auf.

Rafaello blieb wie angewurzelt stehen. Unbewusst griff er nach seiner Tasche und umklammerte den Griff seines Reisekoffers fester. Als die Frau am Anmeldetresen aufsah, bestand kein Zweifel mehr. „Alaina?“

Er ging auf sie zu. Widersprüchliche Gefühle stiegen in ihm hoch – eine natürliche Reaktion bei einem unverhofften Wiedersehen. Aber da war noch mehr, er hatte nur gerade keine Zeit, es gründlich zu analysieren. Erst einmal musste er reagieren.

Er zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene, als er an den Tresen trat. Ihm entging nicht, dass Alaina im ersten Moment blass wurde und ihre Züge sich anspannten. Im nächsten Moment trug sie wieder ihre professionelle Maske. „Rafaello – was für ein Zufall!“

Ihre Stimme klang freundlich, aber er erkannte, dass es sie Mühe kostete, gelassen zu bleiben. Die Anspannung in ihrem Gesicht verflog nicht.

Er erlaubte sich den Hauch eines Lächelns. „Manchmal passiert so etwas“, antwortete er und hob fragend eine Braue.

„Du stehst nicht auf meiner Reservierungsliste“, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe mich spontan entschieden, heute nicht mehr in die Innenstadt zu fahren. Ihr habt noch etwas frei, hoffe ich?“

Alaina schluckte. Rafaello sah, dass sie sich sehr darum bemühte, Normalität vorzutäuschen. Ein Hauch von Röte bedeckte ihre Wangen und ließ sie umso schöner wirken …

Er unterdrückte den Gedanken. Fünf Jahre war es her, seit er in die Karibik geflogen war. Dort lebte einer seiner lukrativsten Kunden, der schon mehrere Scheidungen hinter sich hatte und damals gerade eine weitere in die Wege leitete.

Nachdem Rafaello alles Notwendige veranlasst hatte, hatte er sich ein paar Tage Urlaub gegönnt. Und eine Affäre mit einer wunderschönen Frau.

Alaina hatte dort gearbeitet – nicht in dem Luxusressort, in dem er untergekommen war, sondern in einem etwas günstigeren Viersternehotel in der Nähe. Er hatte sie am Strand gesehen, als er eines Nachmittags spazieren gegangen war. Mehr hatte es nicht gebraucht.

Sie hatte sich auf den Flirt eingelassen, genau, wie er gehofft hatte.

Vielleicht sogar zu tief.

Ihm war bewusst gewesen, dass es ihr gefallen hätte, wenn aus ihrer Affäre mehr geworden wäre als eine kurze Romanze. Aber obwohl Alaina ihn so bezaubert hatte, war er vor einer engeren Beziehung zurückgeschreckt. Das tat er immer. Es war einfach klüger.

Trotzdem hatte ihn ein Gefühl von Bedauern begleitet, als er am Ende seines Urlaubs zurück zum Flughafen gefahren war.

Er musterte Alaina. In den vergangenen fünf Jahren schien sie gereift zu sein. Dass sie heute ganz anders aussah als auf der Insel, lag aber vermutlich vor allem daran, dass sie ihrem Job nachging. Sie trug ein elegantes Kostüm, ihr Haar war zu einem festen französischen Zopf geflochten, ihr Gesicht dezent geschminkt, kühl und geschäftsmäßig.

Trotzdem: Rafaello standen die Erinnerungen wieder vor Augen, sosehr er versuchte, sie zu verdrängen …

Alaina im Bett, die Wolke ihres wundervollen dunklen Haars auf dem Kissen zerzaust. Aus glänzenden Augen sah sie ihn an. Ihr Mund war weich wie Samt, süß wie Honig und …

Er biss die Zähne zusammen. Das war eine völlig unangemessene Reaktion auf diese zufällige, unerwartete Begegnung.

„Ja. Ja, natürlich“, sagte Alaina gerade, und es kostete ihn Mühe, sich zu erinnern, worauf sie antwortete. Ach ja, auf seine Frage nach einem freien Zimmer.

Ihre Stimme klang abgehackt. Rafaello wusste, wieso. Er wusste auch, warum sich ein Schleier über ihre Augen gelegt hatte, als sie ihn ansah.

Sie erinnert sich auch ...

Nun senkte sie ihren Blick, schaute auf den Computerbildschirm, wechselte auf eine andere Seite.

Einen Moment später schaute sie wieder zu ihm hoch. „Mit Blick auf den Garten oder auf den See?“, fragte sie, ganz die pflichtbewusste Hotelmitarbeiterin.

„Welche Zimmer sind ruhiger?“

„Alle sind ruhig, aber die Zimmer mit Seeblick liegen dichter am Parkplatz.“

„Dann mit Blick auf den Garten“, sagte er. „Eine Übernachtung.“

Sie nickte abgelenkt und tippte. Nach seinem Namen fragte sie nicht, sie kannte ihn. Genau wie seine Nationalität.

Sie wusste viele private Details über ihn.

Und wieder lenkte ihn die Erinnerung ab. Alaina kannte jeden Zentimeter seines Körpers. Wusste, wie er seinen Kaffee trank, welches Essen er mochte …

Wie er im Bett war.

Und er kannte sie. In der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, hatten sie viel übereinander herausgefunden.

Vielleicht zu viel.

Dabei ging es nicht nur um bedeutungslose Einzelheiten ihres Lebensstils oder um sexuelle Vorlieben – nicht dass er daran jetzt gerade denken sollte –, sondern um mehr.

Darum, was sie vom Leben wollten.

Und voneinander.

Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Die Erinnerungen waren unnötig, Und unwillkommen.

„Möchtest du heute Abend hier im Hotel essen?“

Alainas höfliche Frage kam zur rechten Zeit. Rafaello nickte, und sie gab die Information ein und drehte sich um, um seinen Zimmerschlüssel aus dem Schrank zu holen.

Eine Sekunde lang war Rafaello versucht, sie zum Abendessen einzuladen.

Sein gesunder Menschenverstand brachte ihn noch gerade rechtzeitig zur Besinnung. Bestimmt durfte sie ohnehin nicht hier im Hotel mit Gästen zu Abend essen. Außerdem …

Sich wieder mit Alaina zu verabreden, aus dem Nichts heraus, ergab keinen Sinn. Die Zeit mit ihr damals war schön gewesen – ja, mehr als das –, aber sie war lange vorüber. Und so sollte es bleiben. Damals hatte er die Entscheidung getroffen, die Affäre zu beenden. Es gab keinen Grund, das jetzt infrage zu stellen.

Sein Blick ruhte auf ihr, als sie ihm den Schlüssel reichte, ein höfliches Lächeln auf den Lippen, doch ihre Augen waren verdunkelt. Zitterte ihre Hand leicht, als sie ihm die Buchungsunterlagen herüberschob?

„Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt“, sagte sie. Unpersönlich, höflich und professionell.

Rafaello lächelte genauso unpersönlich zurück, nahm den Schlüssel und sein Gepäck und ging auf den Fahrstuhl am Ende der Lobby zu. Ihm war bewusst, dass er etwas hätte sagen sollen – irgendeine harmlose Bemerkung, irgendeine belanglose Nettigkeit. Er fragte sich, warum er das nicht getan hatte.

Und fand keine Antwort.

Alaina starrte Rafaello hinterher. Ihr Herz raste. Erinnerungen stiegen in ihr auf – Erinnerungen an die kurze, aber unvergessliche Zeit mit ihm auf der magischen karibischen Insel. Einen Moment lang stand sie einfach da und spürte das Nachbeben dieser Begegnung.

„Mummy!“

Erschrocken keuchte sie auf. Joey kam durch die Drehtür ins Hotel gestürmt und zog Ryan an der Hand hinter sich her. In dem Moment, in dem Ryan ihn losließ, rannte er los zum Anmeldetresen, ein kleiner Wirbelwind, der über das ganze Gesicht strahlte.

Sein Anblick rief nicht die üblichen Gefühle in ihr hervor, eine Mischung aus Zärtlichkeit, Glück und Staunen. Stattdessen war es ein Moment puren Entsetzens.

Die Welt drehte sich um sie, aber sie war erstarrt und konnte sich nicht bewegen. Nicht einen Zoll.

Joey blieb vor dem Tresen stehen, legte seine kleinen Hände auf die Kante und stellte sich auf die Zehenspitzen. Er lächelte sie an. Aber Alainas Blick streifte ihn nur, und automatisch schaute sie zum Fahrstuhl.

Sie sah, wie Rafaello innehielt, die Hand, die gerade den Knopf drücken wollte, sinken ließ, sich umdrehte und Joey ansah.

„Mummy!“, rief Joey erneut, und sie sah, wie Rafaello erstarrte.

Wie ihm die Züge entglitten.

Sie konnte nicht antworten. Sie war unfähig, überhaupt etwas zu tun, außer dazustehen und zu atmen.

Rafaello kam zurück. Sie sah, dass sein Gesicht ausdruckslos war, als er sich dem Tresen wieder näherte, und damit ihr und Joey.

Eine Sekunde lang – eine flüchtige Sekunde lang – erwog Alaina irgendeine Ausrede. Sie konnte so tun, als sei Ryan der Vater, und ihn auch so begrüßen, um die Wahrheit zu verschleiern. Aber als ihr Blick auf Joey fiel, wusste sie, es wäre völlig zwecklos, so zu tun, als seien Ryan und er verwandt.

Rafaellos Vaterschaft war unbestreitbar. Joey sah ihm so ähnlich – das dunkle Haar, die dunklen Augen, die Form seines Gesichts. Sie sah auch Spuren von sich selbst in ihm, aber er war eindeutig Rafaellos Sohn. Welchen Nutzen hätte es, das zu leugnen?

Rafaellos Blick ruhte auf Joey. Seine Züge spannten sich jetzt an, er wirkte wie eine Drahtfeder, die jeden Moment losspringen konnte.

Als er vor dem Tresen stand, drehten Ryan und Joey sich zu ihm um. Ryan trat ein Stück beiseite, weil er wahrscheinlich dachte, Rafaello wäre ein Hotelgast mit einer Frage. Joey ließ den Tresen los und starrte Rafaello neugierig an. Er sagte nichts, weil er gelernt hatte, dass er nicht unterbrechen durfte, während seine Mutter arbeitete.

Einen endlosen Moment lang schaute Rafaello seinen Sohn einfach an. Dann streifte sein Blick kurz Ryan, bevor er sich auf Alaina richtete, durchdringend wie ein Laser.

„Alaina“, sagte er, seine Stimme ebenso ausdruckslos wie sein Gesicht, „möchtest du mir das vielleicht erklären?“

Ihr wich das Blut aus dem Gesicht.

Rafaello dröhnte das Herz in der Brust wie eine Trommel. Aber er achtete nicht darauf. Nichts zählte außer der Entdeckung, die er gerade gemacht hatte.

„Also?“, fragte er mit angespannter Stimme.

Alaina war blass geworden. Kreidebleich.

Er hatte ausreichend Zeugen vor Gericht gesehen, die genauso aussahen wie Alaina jetzt, wenn ihr Alibi sich in Luft auflöste. Wenn Beweise gegen sie auf dem Tisch lagen, ihre Lügen aufgedeckt wurden.

Wenn klar wurde, dass sie die Wahrheit verheimlicht hatten.

Tief in ihm erwachten Gefühle zum Leben, scharf und schmerzhaft wie der Schnitt einer Messerklinge, aber er machte sich taub dagegen. Das musste er. Er musste nach außen hin ruhig wirken. Emotionslos.

Alaina antwortete nicht. Stattdessen kam sie um den Schreibtisch herum. Ihr Gesicht war immer noch kalkweiß.

Sie sprach mit dem Mann, der ihr das Kind gebracht hatte. „Ryan“, sagte sie leise, „könntest du mit Joey einen Moment hinüber ins Café gehen? Er darf eine Saftschorle trinken.“ Vor dem kleinen Jungen ging sie in die Hocke. „Joey, mein Schatz, gehst du noch ein paar Minuten mit Ryan mit?“ Sie umarmte ihn fest und küsste ihn auf die Wange, richtete sich auf und nickte Ryan zu.

Ryan nahm den Jungen an der Hand. „Komm, Joey, wir gehen Orangensaft trinken.“

Sie gingen auf das Café neben der Lobby zu. Rafaello schaute ihnen einen Moment lang hinterher. Und wieder spürte er die Schneide des Messers. Noch schärfer. Noch schmerzhafter. Auf seinem Gesicht zeigte nichts davon. Er wandte sich Alaina zu, die immer noch sehr blass war.

Sie ging hinüber zu ihrer Kollegin, die ein Stück weiter oben am Tresen saß, und er hörte, wie sie sie bat, eine Weile die Stellung zu halten.

„Komm doch bitte in mein Büro“, sagte sie anschließend zu ihm und betrat einen Raum hinter der Rezeption. Ihre Bewegungen wirkten sehr steif.

Rafaello folgte ihr und schloss die Tür hinter sich.

Wandte sich der Frau zu, die ihn belogen hatte.

Fünf Jahre lang.

„Er ist mein Sohn.“

Alaina hörte die Worte. Sie klangen völlig sachlich.

Sie schaute Rafaello an und schluckte. Jeder Muskel in ihrem Körper war verkrampft, ihr Hals wie zugeschnürt. Sie atmete tief, aber etwas zittrig ein und wieder aus. „Nein“, sagte sie dann. „Er ist mein Sohn. Joey ist mein Sohn.“

Flackerte da etwas in seinen Augen? In diesen dunklen, verschatteten, ausdruckslosen Augen? Sie wusste es nicht. Aber das Büro kam ihr auf einmal sehr stickig und dunkel vor. Er dominierte diesen Raum mit seiner Präsenz. Er beherrschte die Situation.

Aber mich beherrscht er nicht.

Sie spürte, wie ihr Kampfgeist erwachte. Sie sah ihm direkt ins Gesicht. „Joey ist mein Sohn, Rafaello“, wiederholte sie. Ihre Stimme klang jetzt fest, und sie war stolz darauf, denn es kostete sie Kraft, ruhig zu bleiben. „Als wir uns vor fünf Jahren voneinander getrennt haben, war das ein endgültiger Abschied nach einer kurzen Affäre. Das war uns beiden bewusst, und es gilt noch immer. Du hattest kein Interesse an mir, und das habe ich akzeptiert. Was seitdem in meinem Leben geschehen ist, geht dich nichts an.“

Der Anflug eines starken Gefühls zeigte sich in seinen Augen, nur kurz, bevor sie hätte sagen können, was es gewesen war. Sie versuchte, beherrscht weiterzusprechen, ohne dass ihre Stimme zitterte. „Es tut mir leid, dass das hier passiert ist. Es ist sicher ein Schock für dich. Ich hätte dir diese Begegnung niemals absichtlich angetan, ich denke, das ist dir klar. Schließlich habe ich keinen Versuch unternommen, Kontakt mit dir aufzunehmen.“ Sie schluckte, etwas verengte ihr die Kehle. „Ich bitte dich jetzt nur um eines: dass du dich aus dieser Situation höflich zurückziehst.“

Rafaellos dunkle Augen unter den schweren Lidern hielten noch immer ihren Blick. „Ist Ryan dein Partner?“ Er zog die Brauen zusammen. „Dein Mann?“

In diesem Moment wünschte sich Alaina von Herzen, sie könnte das bejahen, sich dadurch schützen. Aber sie schüttelte den Kopf. „Wir helfen uns gegenseitig. Er hat eine kleine Tochter in Joeys Alter. Er ist … ein Freund.“

„Gut.“

Die einsilbige Antwort klang so ungerührt wie zuvor, aber sie hatte den Eindruck, dass Rafaellos Schultern ein Stück herabsanken. Sein Schock schien sich allmählich zu legen.

Die Worte, die darauf folgten, schockierten sie umso mehr. Sie waren wie ein Donnerschlag.

„Dann steht einer Heirat also nichts im Wege.“

2. KAPITEL

Rafaello hörte Alaina aufkeuchen. Sah, wie die Farbe plötzlich und mit Heftigkeit in ihre Wangen zurückkehrte.

Sie riss die Augen auf, als könnte sie nicht glauben, was er gesagt hatte. „Einer Hochzeit?“

Er presste die Lippen zusammen. Irgendwo tief in ihm bewegte sich etwas. Wie ein gewaltiges Erdbeben. Aber es durfte nicht an die Oberfläche dringen, und er konnte sich jetzt nicht damit befassen. Wichtig war, dass er die Situation unter Kontrolle brachte. „Du hast richtig verstanden.“

In Alainas Augen flammte etwas auf. Ihre ausdrucksvollen Augen hatten schon immer einen großen Anteil an ihrer Schönheit gehabt. Aber wie schön sie war, spielte jetzt keine Rolle.

„Bist du verrückt geworden?“ Sie starrte ihn ungläubig an.

Rafaello schüttelte den Kopf. „Ausflüchte sind sinnlos“, sagte er. „Verschwende meine Zeit nicht damit, dich mir zu widersetzen.“

Er hielt inne. Dunkle Emotionen fluteten sein Inneres. Er musste sie weiterhin kontrollieren, unbedingt. Musste deutlich machen, was die unvermeidliche Schlussfolgerung aus dieser Situation war. Es gab nur eine einzige.

„Weder hier“, fuhr er dann fort und machte eine kleine Pause, um seinen nächsten Worten Nachdruck zu verleihen, „noch vor Gericht.“

Alaina erstarrte. „Vor Gericht?“ Die Röte war augenblicklich aus ihren Wangen gewichen.

Rafaello schaute sie an. „Fünf Jahre lang hast du mir meinem Sohn vorenthalten“, sagte er tödlich ruhig. „Mit dem heutigen Tag ist das vorbei.“

Alaina hörte ihn sprechen, aber seine Stimme schien von weit her zu kommen. Sie war im Schock und spürte, wie sie schwankte.

Eine Hand griff nach ihrem Arm. „Werde nicht ohnmächtig, Alaina. Es gibt keinen Anlass dafür.“

Zum ersten Mal hörte sie in seiner Stimme einen Hauch von Gefühl, selbst durch den Nebel hindurch, der sie umgab. Im nächsten Moment drückte er sie auf einen Stuhl herab. Sie sank darauf. Ihre Beine waren weich wie Gummi.

„Leg den Kopf auf die Knie, damit wieder Blut in deinen Kopf fließt.“

Er ließ ihren Arm los, und sie senkte den Kopf. Ganz langsam lichtete sich der Nebel. Schwerfällig hob sie den Kopf.

Rafaello schaute auf sie herab. Er wirkte jetzt anders. Sie wusste nicht, auf welche Weise genau oder warum, aber er tat es. Auch seine Stimme klang anders.

„Alaina, wir können und sollten uns zivilisiert benehmen. Du wirst mit mir kooperieren müssen. Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen, aber glaube mir, ich werde es tun, wenn du nicht akzeptierst, dass wir heiraten müssen. Ich werde dir Zeit geben, das einzusehen, aber nicht sehr lange.“

Verständnislos schaute sie zu ihm auf. Er setzte sich auf einen freien Stuhl, legte eines seiner langen Beine über das andere und zog sein Telefon hervor. „Wir müssen Informationen austauschen. Am besten beginnen wir mit den Grundlagen.“ Er entsperrte das Gerät und sah sie an, bereit, zu tippen. „Zum Beispiel mit deiner Adresse.“

Rafaello lag auf dem Hotelbett und schaute zur Decke hinauf. Es gab viel zu tun, und er musste bei der Sache bleiben. Abwesend – so, als könnte er einen Teil seines Bewusstseins von dem Rest seiner Wahrnehmung abtrennen – fragte er sich, wie es ihm gelang, so ruhig zu bleiben. Die Antwort war einfach. Er hatte automatisch in den Modus geschaltet, in dem er auch im Berufsleben funktionierte: auf dieselbe leidenschaftslose, klinisch unterkühlte Weise. Er analysierte die Situation, gelangte zu den notwendigen Schlussfolgerungen, kam auf den Punkt und hielt sich nicht mit Belanglosigkeiten auf.

Fakt war: Er hatte ein Kind, dessen Existenz man ihm vorenthalten hatte, aus welchem Grund auch immer. Ein Kind mit einer Frau, von der er nie geglaubt hatte, ihr noch einmal zu begegnen.

Er zwang sich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf das, was er ihr brutal und direkt mitgeteilt hatte, um sicherzugehen, dass sie ihn verstand. Und er begann, im Geist eine Liste zu schreiben, mit all den Dingen, die jetzt getan werden mussten. Damit alles wieder seine Ordnung hatte.

Dieselben Gefühle, die ihn vorhin aufgewühlt hatten, kamen wieder in ihm hoch. Sie verlangten nach Aufmerksamkeit, danach, dass er sie anerkannte. Aber mit schonungsloser Selbstdisziplin kämpfte er gegen sie an.

Nicht jetzt.

Dann ging der Moment vorüber, und er war wieder Herr der Lage. Er schrieb weiter an der Liste der Dinge, um die er sich kümmern musste, weil sie alternativlos waren – für ihn wie für Alaina.

Alaina lag eng zusammengerollt in ihrem Bett, die Decke fest um sich gezogen, und versuchte, irgendwie zu verkraften, was geschehen war. Was für eine Katastrophe …

Autor

Julia James
Julia James lebt in England. Als Teenager las sie die Bücher von Mills & Boon und kam zum ersten Mal in Berührung mit Georgette Heyer und Daphne du Maurier. Seitdem ist sie ihnen verfallen.

Sie liebt die englische Countryside mit ihren Cottages und altehrwürdigen Schlössern aus den unterschiedlichsten historischen...
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