Warum so kühl, Dr. O'Doherty?

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Lucy ist sofort fasziniert von ihrem neuen Job als Familientherapeutin am Angel’s. Ebenso wie von ihrem attraktiven Kollegen Dr. O’Doherty, der sich jedoch geradezu feindselig verhält. Bei seinen kleinen Patienten zeigt er so viel Herz, warum ist er nur zu ihr so kühl?


  • Erscheinungstag 19.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727888
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Aufmerksam betrachtete der Kinder-Neurochirurg Dr. Ryan O’Doherty den kleinen Jungen in dem Bett auf der Intensivstation des Angel Mendez Children’s Hospital in New York, während er mit dem Vater sprach.

„Ich habe von dem Tumor so viel wie möglich entfernt. Alles konnte ich leider nicht entfernen, um keine zusätzlichen Schäden zu riskieren.“

Ryan legte großen Wert darauf, die Wahrheit nicht zu beschönigen, wenn er mit den Eltern seiner kleinen Patienten sprach. Er hatte für das Kind getan, was er konnte. Nicht alle wurden geheilt. Das mussten die Eltern einfach akzeptieren.

„Ich verstehe. Dann werden seine Mutter und ich ihn mit nach Hause nehmen und ihm so lange unsere Liebe schenken, wie wir können“, antwortete der Vater tränenerstickt.

Da klingelte auf einmal Ryans Handy. Er tippte auf das Display, um den schrillen Klingelton abzustellen, und las die Nummer. Die Personalabteilung. Das hatte er völlig vergessen. Was konnte bei den Bürokraten schon so wichtig sein, dass er unbedingt dort gebraucht wurde?

Er sah den Vater wieder an. „Der Neurologe wird Ihren Sohn weiter behandeln. Aber ich bin da, falls es nötig sein sollte. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“

„Danke für alles, was Sie getan haben.“

Ryan nickte. Das war schließlich sein Job.

Zehn Minuten später ging er mit langen Schritten durch das Labyrinth grauer Flure zur Personalabteilung. Wie in den meisten Krankenhäusern lagen deren Büros im Keller und in der hintersten Ecke des ältesten Gebäudeteils. Seit er vor fünf Jahren seine Stelle angetreten hatte, war er nicht mehr hier gewesen.

Er wusste nicht genau, weshalb er gerufen worden war. Doch gestern hatte er eine E-Mail erhalten, in der um seine Anwesenheit gebeten wurde. Ryan war sicher, dass die Angelegenheit komplette Zeitverschwendung sein würde. Da man ihn in Kürze zu einer Fallbesprechung erwartete, musste er die Sache schnell hinter sich bringen.

Schließlich kam er durch eine mit Holzfolie beklebte Tür in einen tristen Warteraum, der nur durch farbenfrohe Kinderbilder an den Wänden etwas aufgehellt wurde.

Ryan ging direkt auf die Sekretärin an ihrem Schreibtisch zu. „Dr. O’Doherty. Ich möchte zu Mr Matherson.“ Er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. Denn er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es klug war, seine Gefühle zu verbergen.

„Er erwartet Sie“, erwiderte die Sekretärin.

Anstatt sich zu setzen, wartete Ryan neben ihr, als sie ihn über die Gegensprechanlage ankündigte, und schaute sich um.

Eine junge Frau, etwa Ende zwanzig, saß auf einem der Stühle an der Wand und sah zu ihm auf. Ihre großen blauen Augen erinnerten ihn an einen Sommernachmittag. Doch es lag eine tiefe Traurigkeit darin. Rasch wich der melancholische Ausdruck einem direkten Blick, ehe sie wegschaute.

Den Telefonhörer am Ohr, sah die Sekretärin zu der Frau auf dem Stuhl hinüber. Diese hatte die Knöchel gekreuzt und die Hände im Schoß verschränkt. Es war nichts Auffälliges an ihr außer ihren großen Augen und dem dicken Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Sie trug ein hellgraues Business-Kostüm und darunter eine dünne apricotfarbene Bluse. Ryan fand sie ein bisschen zu gouvernantenhaft für seinen Geschmack.

Allerdings war ihre Kleidung von guter Qualität. Vermutlich lag es an den ausgedehnten Shopping-Trips mit seinen Schwestern, dass er das beurteilen konnte.

„Ms Edwards, Mr Matherson möchte Sie und Dr. O’Doherty jetzt gerne sprechen.“

Wer war diese Ms Edwards, und was hatte sie mit ihm zu tun? Als sie aufstand, blieb sein Blick an ihr hängen. Sie war groß und gertenschlank, und in ihren Augen lag nun ein resoluter Ausdruck.

Da erschien auch schon Mr Matherson, ein fülliger Mann mit beginnender Glatze. „Dr. O’Doherty und Ms Edwards, bitte kommen Sie in mein Büro.“

Ryan ließ Ms Edwards vorgehen. Sie reichte ihm bis zur Schulter. Das hellblonde Haar hatte sie auf besondere Weise geflochten. Wie hieß das noch gleich? Ach ja, ein französischer Zopf. Auch das hatte er von seinen Schwestern mitbekommen. Selbst mit dem Zopf reichte ihr das Haar bis zur Rückenmitte. Ob es ihr wohl bis zur Taille fiel, wenn sie es offen trug?

Ms Edwards Augen wurden schmal. Hatte sie seine Gedanken womöglich erraten?

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Mr Matherson trat an seinen Schreibtisch und wartete, bis die beiden anderen sich auf den dunkelroten Plastikstühlen niedergelassen hatten, ehe auch er sich setzte. „Dr. O’Doherty, dies ist Lucy Edwards. Sie ist gerade neu zu uns gekommen.“

Lächelnd streckte Ryan ihr die Hand entgegen. „Ryan O’Doherty.“

Für einen Sekundenbruchteil zögerte sie, ehe sie ihm die Hand gab. Ihr Händedruck war fest, ihre Finger schmal und weich. Es war nur eine kurze Berührung, aber sie fühlte sich gut an.

Ryan sah Matherson erwartungsvoll an. Er hatte es eilig, denn sein Kollege wartete auf ihn. „Also, weshalb sind wir hier?“

Mr Matherson räusperte sich. „Ms Edwards ist Familienberaterin. Von ihrer letzten Arbeitsstelle bringt sie die besten Referenzen mit. Offenbar war sie diejenige, die regelmäßig von den Familien angefordert wurde.“

Lucy Edwards wirkte verlegen und wurde unwillkürlich ein wenig rot. Es gefiel ihr offensichtlich nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Ryan war überrascht. Seiner Erfahrung nach genossen Frauen es, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkte.

„Unsere Klinik startet ein neues Programm zur Patientenversorgung, in dem jeweils ein Berater und ein Arzt ein Team bilden“, fuhr Matherson in wichtigem Ton fort. „Ms Edwards ist Ihre Partnerin, und Sie werden bei allen Fällen mit ihr zusammenarbeiten.“

Ryan beugte sich vor und fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Haben wir so was nicht schon vor ein paar Jahren mal ausprobiert und festgestellt, dass es nicht funktioniert?“

Matherson wirkte zerknirscht. „Ähnlich, aber das hier ist anders. Sie beide sind sozusagen der Betatest. Wenn es funktioniert, werden wir die übrigen Abteilungen dazu veranlassen, das Modell zu übernehmen.“

„Ist das wirklich notwendig? Ich bin sicher, Ms Edwards und ich können unsere Zeit sinnvoller nutzen.“

Entschlossen richtete sie sich auf. „Sprechen Sie bitte nicht für mich.“ Sie sah ihn an. „Doktor O’Doherty, ich kann Ihnen versichern, je enger die Beziehung zwischen Berater und Arzt, desto besser ist es für den Patienten.“

Sie sprach in einem weichen, gedehnten Südstaatenakzent, aber dennoch mit einem stählernen Unterton. Diese Frau hatte also Rückgrat. Interessant.

Lächelnd zog er die Brauen hoch. „Sooo.“ Er zog das Wort in die Länge, um ihren Akzent zu imitieren. „Sie glauben, dass eine enge Zusammenarbeit mit dem Arzt wichtig ist.“

Wieder wurde sie rot.

„Ich wollte damit nicht Ihre Arbeit in Zweifel ziehen“, setzte Ryan hinzu. „Ich bin lediglich der Ansicht, dass es nicht nötig ist, sich persönlich über jeden Patienten zu unterhalten. Immerhin bespreche ich mit meinen Patienten ganz andere Dinge als die, mit denen Sie sich befassen. Sie können also gerne Ihre Eintragungen in der Patientenakte über alles machen, was ich wissen sollte. Die werde ich dann lesen.“ Er stand auf.

Zu seiner Überraschung erhob sich auch Ms Edwards, um ihm die Stirn zu bieten. „Unsere Beziehung ist rein professioneller Natur“, erklärte sie gepresst. Sie atmete tief durch, ehe sie hinzufügte: „Die Patienten und ihre Angehörigen brauchen Trost und Zuwendung, die Sie Ihnen nicht geben können.“

Da hatte sie allerdings recht.

„Das ist mein Job, und ich bin gut darin.“ Energisch straffte sie die Schultern.

„Mag sein, aber ich werde meine Zeit nicht mit Besprechungen verschwenden, obwohl uns ein hervorragendes Computersystem als Kommunikationsmittel zur Verfügung steht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

„Dr. O’Doherty.“ Mr Matherson warf ihm einen strengen Blick zu. „Ich weiß nicht, ob Sie wirklich verstehen, worum es hier geht. Dies ist ein Versuchsprogramm, das der Vorstand einstimmig beschlossen hat. Ihre Kooperation diesbezüglich wird mit Sicherheit wohlwollend zur Kenntnis genommen.“

Ryan presste den Mund zusammen. Matherson spielte auf die Tatsache an, dass man ihn bei der Besetzung der Chefarztstelle der Neurochirurgie übergangen hatte, und eine Kooperation sich gut in seinem Lebenslauf machen würde. Eigentlich hätte die Position ihm zufallen sollen, doch der Vorstand hatte stattdessen Alex Rodriguez eingestellt.

Mit schmalen Lippen musterte Ryan sein Gegenüber. Na schön, wenn dieses alberne Projekt ihm Pluspunkte einbringen konnte, würde er eben mitspielen. Oder zumindest so tun als ob.

Achselzuckend meinte er: „Okay.“ Er sah Ms Edwards an. „Also sind wir jetzt wohl ein Team.“

Misstrauisch erwiderte sie seinen Blick. Würde sie es ihm durchgehen lassen, so wenig wie möglich für das Projekt zu tun? Vielleicht steckte hinter dieser unscheinbaren Frau mehr, als er ursprünglich gedacht hatte. Jedenfalls wäre es eine Herausforderung, sie zum Lächeln zu bringen.

„Gut, dann wäre das geregelt“, erklärte Mr Matherson erfreut. An Ryan gewandt, sagte er: „Falls Sie jetzt wieder in die Neurochirurgie hochgehen, würden Sie Ms Edwards freundlicherweise den Weg zeigen?“

Lucy schaute auf den egozentrischen Arzt, der einen halben Schritt vor ihr ging. Es war schon schwer genug gewesen, ihr gesamtes bisheriges Leben hinter sich zu lassen, um einen neuen Job in einer unbekannten Stadt anzutreten. Aber mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der es ihr übel nahm, dass sie ihm aufgedrängt wurde, machte die Sache fast unmöglich. Aber da sie keine andere Wahl hatte, musste sie dafür sorgen, dass dieses Projekt irgendwie funktionierte.

Als sie die Personalabteilung verließen, hielt Dr. O’Doherty ihr die Tür auf. Immerhin hatte er wenigstens gute Manieren. Auch seine breiten Schultern, die durchdringenden blauen Augen und seine hohe Gestalt waren Lucy nicht entgangen. Nur selten begegnete sie Männern, die sie noch überragten.

Während sie ihm folgte, ärgerte sie sich zunehmend mehr über seine ablehnende Einstellung. Er ging, als könnte er die Personalabteilung gar nicht schnell genug hinter sich lassen. Dennoch war Lucy froh, dass er sie durch die langen Flure führte, da sie keine Ahnung hatte, wo sie sich in diesem riesigen Krankenhaus befand.

Heute Morgen, als sie im Central Park an der Straße vor dem Haupteingang stand, war sie nicht einmal imstande gewesen, die Anzahl der Stockwerke zu zählen. Das Gebäude erstreckte sich über einen ganzen Straßenzug. Trotz der einschüchternden Größe des Krankenhauses gefiel ihr dessen Mischung aus neuer und alter Architektur. Und die leuchtend gelbrote Markise vor dem Eingang strahlte eine angenehme Wärme aus.

Lucy war es gewohnt, in großen Krankenhäusern zu arbeiten. Aber dies hier überstieg alles, was sie bisher kannte.

Nach einer Weile blieb Dr. O’Doherty schließlich vor einer Reihe von Aufzügen stehen und drückte den entsprechenden Knopf. Die abweisende Haltung des Mannes überraschte sie nicht. Typisch Chirurg. Und noch typischer für einen Neurochirurgen.

„Ich merke, dass Ihnen dieses Projekt nicht sonderlich zusagt“, meinte sie daher.

Er drehte sich zu ihr um. „Richtig.“

„Ich möchte meinen Anteil daran für uns beide so schmerzlos wie möglich gestalten.“

Der Aufzug kam, und sie traten in eine bereits sehr volle Kabine. Dabei ließ sich eine Berührung zwischen Dr. O’Doherty und Lucy nicht vermeiden, was ein seltsames Prickeln in ihrem Körper verursachte.

Auf der Fahrt nach oben standen sie so dicht nebeneinander, dass sie seine Körperwärme auf der entsprechenden Seite deutlich spürte. Zum ersten Mal seit Monaten schien die arktische Kälte in ihrem Innern sekundenlang nachzulassen. Diese kehrte jedoch zurück, sobald die Lifttüren sich öffneten und O’Doherty ausstieg. Lucy folgte ihm und hielt dann inne.

Er blieb stehen. „Gibt es ein Problem?“

„Nein, ich bin nur immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Patientenbereiche vom Verwaltungstrakt eines Krankenhauses unterscheiden. Diese hellgelben Wände wirken so, als würde man aus dem Schatten ins Sonnenlicht kommen.“

„Ist mir noch nie aufgefallen.“

Das wunderte sie nicht.

„Finden Sie von hier aus Ihr Büro?“, fragte er.

Lucy blickte sich um und erkannte ein gerahmtes Kindergemälde an der Wand gegenüber. „Ja, ich weiß jetzt, wo ich bin.“ Da er sich abwandte, setzte sie hinzu: „Wie sollen wir bei der gemeinsamen Patientenbetreuung nun vorgehen, Dr. O’Doherty?“

Er drehte sich um. „So, wie ich es immer gemacht habe. Lesen Sie die Patientenakten, Ms Edwards.“

„Laut Mr Matherson reicht das nicht aus. Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, erwarte ich, dass Sie Ihren Anteil an dem Projekt erfüllen. Ihre Patienten sind jetzt auch meine, und ich möchte ihnen die bestmögliche Betreuung zukommen lassen.“

Er kam einen Schritt näher und sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an. „Glauben Sie, ich würde das nicht tun?“

„Sie sind bestimmt ein äußerst fähiger Chirurg, doch es gibt immer Möglichkeiten, die Patientenversorgung außerhalb des OPs noch zu verbessern.“

„Ms Edwards, wollen Sie etwa meine Professionalität infrage stellen?“

„Nein, aber ich werde mich auch nicht von Ihnen aufs Abstellgleis schieben lassen. Ich wurde vom Krankenhaus engagiert, um hier meine Arbeit zu machen. Daher erwarte ich, dass Sie das zumindest anerkennen.“

Ryan maß sie mit seinem Blick, ehe er verärgert entgegnete: „Meine Visite ist um fünf, und zwar pünktlich.“ Damit ließ er sie stehen.

Lucy ging an einigen Patientenzimmern vorbei, um den großen Schwesterntresen an der Ecke herum und wich dann einem Kind aus, das von seinem Vater in einem kleinen Wagen gezogen wurde. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Jedes kleine Kind, das sie sah, erinnerte sie an Emily.

Erleichtert erreichte sie schließlich den Flur, wo sich ihr Büro befand. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, wieder in einem Kinderkrankenhaus zu arbeiten. Aber dies war die einzige offene Stelle gewesen, als sie unbedingt von zu Hause wegmusste.

Im Gegensatz zu dem hellen, offenen und modernen Patientenbereich war das Büro kaum mehr als eine Kammer. Lucy teilte sich den Raum mit zwei weiteren Familienberatern, die der Neurologie zugeteilt waren. An einer Wand standen drei Schreibtische dicht nebeneinander, und wenn alle Berater sich hier aufhielten, mussten sie sich aneinander vorbeidrängen. Lucy störte das nicht weiter. Sozialarbeiter und Berater wurden oft so untergebracht.

Sie schaute auf die Uhr. Bis zu Dr. O’Dohertys Visite dauerte es noch ein paar Stunden. Daher hatte sie Zeit, sich mit seinen Fällen vertraut zu machen. Er sollte keinen Grund zur Beschwerde bekommen, was ihre Aufgaben betraf. Auch wenn er dem Projekt ablehnend gegenüberstand, wollte Lucy möglichst stressfrei mit ihm zusammenarbeiten.

Eine ihrer Kolleginnen, eine dunkelhaarige Frau mit einem freundlichen Lächeln, kam herein, als Lucy gerade hinausgehen wollte.

„Hey, wie läuft’s denn so?“, erkundigte sich Nancy.

„Gut, danke.“

„Ich habe gehört, Sie sind Dr. O’Doherty zugeteilt worden.“

Auf Lucys fragenden Blick hin ergänzte sie: „Der Krankenhaus-Flurfunk. Sogar aus dem Untergeschoss verbreiten sich Neuigkeiten schnell.“

„Ach so.“ Lucy griff nach ihrem Notizbuch.

„Ryan ist ein Schatz. Wir arbeiten alle sehr gerne mit ihm. Er hält sich zwar meistens etwas abseits, aber die Schwestern schwärmen für ihn. Und nicht nur eine von ihnen ist in ihn verknallt.“

Lucy konnte sich nicht vorstellen, dass das jemals ein Thema für sie sein würde.

„Bei den Patienten in unserer Abteilung bricht es einem oft das Herz, aber Ryan macht es für alle Beteiligten leichter“, fuhr Nancy fort. „Er ist ein großartiger Arzt, und auch nett anzuschauen.“

Da musste Lucy ihr recht geben. Trotzdem war ihr erster Eindruck von ihm nicht besonders positiv.

„Na ja, dann werde ich mir vor der Visite jetzt mal ein paar Patientenakten ansehen.“ Sie lächelte Nancy zu und verließ das Büro.

Obwohl sie sich von Krankenhaus-Tratsch möglichst fernhielt, hatten Nancys Bemerkungen ihr Interesse geweckt. Je mehr Lucy über Dr. O’Doherty wusste, desto besser. Am Schwesterntresen setzte sie sich an einen freien Computerplatz, tippte ihr Passwort ein und rief Dr. O’Dohertys Patientenliste auf. Zu allen machte sie sich ihre Notizen. Als sie fast fertig war, hörte sie im Korridor das Lachen einer tiefen Männerstimme, gefolgt von dem hohen Kichern eines Kindes.

„Dr. O’Doherty ist wieder in Aktion“, sagte eine Krankenschwester neben Lucy lächelnd.

Sekunden später kam er mit einem langsamen Galopp in Sichtweite, ein kleines Mädchen auf dem Rücken. Den weißen Arztkittel hatte er abgelegt, und das hellblaue Polohemd spannte sich über seiner breiten Brust. Der Mann schien gut durchtrainiert zu sein. Das glückstrahlende Mädchen hatte ihm die Arme eng um den Hals geschlungen. Ihr Kopf war mit einer weißen Mullbinde verbunden.

Am Schwesterntresen blieb Ryan stehen. „Ms Edwards, darf ich Ihnen Prinzessin Michelle vorstellen?“

Das Mädchen kicherte fröhlich.

„Sie hat heute ihr Hemd ganz alleine zugeknöpft und durfte sich deshalb was wünschen.“ Über die Schulter schaute er die Kleine an. „Prinzessin Michelle, willst du Ms Edwards erzählen, was du dir gewünscht hast?“

„Ich wollte Pferdchen reiten“, sagte Michelle schüchtern.

„Na, das ist doch ein schöner Wunsch.“ Lucy lächelte. „Wie weit reitest du denn? Über den Berg oder den Fluss?“

Lachend zeigte die Kleine mit dem Finger. „Bis zum Ende vom Flur.“

„Ah ja.“

„Das Pferd darf nämlich nicht zu weit vom Stall weg.“ Ryan zwinkerte der jungen Schwester zu, die seinen Blick scherzhaft erwiderte.

Lucy, die von diesem kleinen Flirt ausgeschlossen war, wunderte sich, dass ihr das einen Stich versetzte. Für Dr. O’Doherty gehörte sie offenbar nicht zu seinem inneren Kreis.

Der leicht singende Tonfall in seinem Brooklyn-Akzent verstärkte sich. „Jetzt muss ich mit der Prinzessin weiterreiten und sie dann wieder nach Hause bringen. Es ist fast Abendbrotzeit.“ Er blickte über die Schulter. „Was sagt man, damit das Pferdchen losgaloppiert?“

„Hüh!“, rief Michelle und kicherte begeistert.

Ein Lächeln huschte über Lucys Gesicht.

„Hey, Ms Edwards, ist das etwa ein Lächeln, was ich da sehe?“ Ryan hob die Brauen. „Ich habe mich schon gefragt, ob das möglich ist.“

Sie lächelte tatsächlich. Das kam in den letzten Monaten selten vor. Wie hatte dieser Kerl das bloß geschafft? Auch wenn seine Liebenswürdigkeit Lucy nicht mit einschloss, schienen ihm seine kleinen Patienten doch am Herzen zu liegen.

Pferd und Reiter galoppierten den Korridor hinunter und kehrten dann wieder um. Sie winkte ihnen zu, wobei ihr das Herz wehtat. Bald würde Emily so alt sein wie Michelle. Aber leider würde Lucy ihre kindliche Freude nicht mitbekommen.

Eine halbe Stunde später fragte sie eine der Schwestern, wo Dr. O’Doherty seine Visite normalerweise begann. Die Schwester wies nach rechts. Dort kam eine Gruppe von sechs Leuten aus einem Patientenzimmer, angeführt von Dr. O’Doherty. Lucy blieb zwei Schritte entfernt stehen.

Er schaute über eine Assistenzärztin hinweg, die ehrfurchtsvoll zu ihm aufsah, und bedachte Lucy mit einem finsteren Blick. „Alle mal herhören, das ist Ms Edwards.“

Sein Gefolge wandte sich zu ihr um.

„Sie ist unsere neueste Familienberaterin. Bitte stellen Sie sich später vor. Wir müssen uns jetzt unseren Patienten widmen.“ Flüchtig presste er die Lippen zusammen, fuhr jedoch ruhig fort: „Achten Sie bitte darauf, dass sie immer über alle Fälle informiert ist.“ Mit seinen durchdringenden blauen Augen fixierte er sie. „In Bezug auf den Patienten, den Sie gerade verpasst haben, muss ich Sie nachher noch auf den aktuellen Stand bringen.“

Sie senkte den Blick.

Dann ging es weiter zum nächsten und übernächsten Patienten. Schließlich blieb Ryan vor einer Tür stehen und wandte sich an Lucy. „Hier liegt Brian Banasiak. Ich habe ihm vor drei Tagen ein Blutgerinnsel entfernt. Dies ist ein Fall, bei dem ich denke, es könnte sinnvoll sein, wenn Sie an dem Fall mitarbeiten.“

Könnte? Seine herablassende Art ärgerte sie, doch sie ließ sich nichts anmerken. Bei ihrer früheren Arbeitsstelle galt sie als diejenige, die immer zurate gezogen wurde, wenn eine Familie Probleme hatte, mit der Krankheit eines Kindes fertig zu werden. Ihre Rolle wurde als wichtig für die allgemeine Patientenversorgung angesehen.

Dr. O’Doherty hingegen schien ihre Aufgabe im Vergleich zu seiner anspruchsvollen Arbeit als höchst untergeordnet zu betrachten.

„Nach meinen Informationen hat er sein Schädeltrauma durch einen Autounfall erlitten“, erklärte sie ruhig. „Ich werde mit den Eltern die Vorteile der Therapie zu Hause besprechen und ihnen Unterstützung für den Hausunterricht vermitteln. Diese Eltern haben einen langen Weg vor sich. Es ist immer schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass ein vorher völlig normales Kind auf einmal auf Hilfe beim Essen und Anziehen angewiesen ist.“

Der verblüffte Ausdruck von Dr. O’Doherty, ebenso wie von den anderen, fühlte sich gut an.

Er nickte. „Danke, Ms Edwards. Sie haben Ihre Hausaufgaben anscheinend gemacht.“

„Die Eltern sind sehr um ihr Kind bemüht und werden sicher alles tun, was nötig ist, damit Brian wieder gesund wird. Ich werde gleich morgen früh mit ihnen reden, um herauszufinden, welche Unterstützung sie noch brauchen.“

Dr. O’Doherty nickte zustimmend, ehe er nach einem kurzen Klopfen an der Tür das Zimmer betrat. Zusammen mit der Gruppe trat Lucy mit ans Bett des Jungen. Seine Eltern stellten sich auf die gegenüberliegende Seite, doch der Arzt beachtete sie gar nicht.

„Brian, wie geht es dir heute?“, erkundigte er sich.

Der Achtjährige lächelte schwach. Den gesamten Kopf hatte er weiß bandagiert. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und sein Gesicht wirkte von den Nachwirkungen der Operation noch leicht aufgedunsen.

„Ach, ganz gut“, antwortete der Junge ohne große Begeisterung.

„Deine Krankenschwester hat mir erzählt, dass du mein Starpatient bist“, meinte Dr. O’Doherty. „Also klatsch mich ab.“

Mit einem kleinen Lächeln hob Brian seine kleine Hand und schlug sie kräftig auf die des Arztes.

Dieser zog seine Hand zurück. „Aua! Ich merke, du wirst stärker.“

Brians Lächeln wurde breiter.

„Jetzt schau ich mir mal deinen Kopf an“, sagte Dr. O’Doherty. „Vielleicht kannst du einen kleineren Verband kriegen.“

„Der hier juckt.“ Der Junge zog die Nase kraus.

„Ja. Das bedeutet, dass es dir schon besser geht. Mal sehen, ob wir das Problem in den Griff bekommen.“

Als der Arzt den Verband entfernte, beobachtete Lucy die Eltern. Ein heftiges Trauma konnte starke Emotionen auslösen. Das wusste sie selbst nur allzu gut. Vor ihrem eigenen war sie geflüchtet.

„Wird er wieder Fahrrad fahren können?“, fragte Brians Mutter. „Müssen wir uns Sorgen machen, dass er stürzt?“

Dr. O’Doherty sah sie nicht einmal an. „Ms Walters, meine Fachkrankenschwester, kann Ihnen diese Fragen beantworten.“ Er wickelte die Bandage weiter ab.

Die Mutter sah aus, als hätte er sie gerade geohrfeigt, und wich vom Bett zurück.

Nachdem Dr. O’Doherty die Operationswunde untersucht hatte, sagte er zu der Krankenschwester, die ihn begleitete: „Ich denke, wir können jetzt einen Verband mit einer Mullkompresse anlegen.“ Er schaute den Jungen an. „Du siehst dann zwar weniger wie ein Pirat aus, aber es juckt nicht mehr so doll.“

Diesmal erschien ein echtes Lächeln auf Brians Gesicht.

„Bis morgen.“ Bevor er hinausging, schüttelte der Arzt dem Jungen den großen Zeh.

Die Mutter folgte ihm in den Korridor. „Dr. O’Doherty, wir wüssten gerne, was uns als Nächstes erwartet.“ Ihr stiegen Tränen in die Augen.

„Meine Krankenschwester wir Ihnen all Ihre Fragen beantworten.“

Lucy presste die Lippen zusammen. Wo war der ganze Charme von eben geblieben?

„Wird er je wieder so, wie er mal war?“, fragte die Mutter flehentlich.

„Ich mache keine solchen Versprechungen“, gab er kurz zurück.

Erneut zuckte sie zusammen.

Der Mann konnte wunderbar mit seinen Patienten umgehen, aber bei den Eltern fehlte es ihm eindeutig an Einfühlungsvermögen. Wieso verhielt er sich plötzlich so kalt?

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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