Weihnachtsball mit dem Duke

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Woher kommt bloß der unerhörte Gedanke, Lady Viola zu verführen? Vale Penrith, der mit der begehrten Schönheit auf dem Dezemberball tanzt, brennt vor Verlangen, sie zur Seinen zu machen! Vielleicht nur eine heiße Winternacht lang – vielleicht aber auch für immer …


  • Erscheinungstag 18.09.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508520
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Donnerstag, 24. Dezember 1818, Heiligabend

Weihnachten. Wieder einmal. Das vierte Fest ohne seinen Vater, ohne seinen Bruder. Tief die frische, kalte Winterluft einatmend stieg Vale Penrith aus dem warmen Reisewagen. Seine Stiefel knirschten auf der dünnen Schicht frisch gefallenen Schnees. Lumi würden die Samen dazu sagen, das Volk in Lappland, das sein letztes anthropologisches Studienobjekt war. Später würde der Schnee vielleicht viti werden, das war Pulverschnee, oder mit weniger Glück zu iljanne, eine Eisschicht mit einer trügerischen Lage Schnee darüber. Vale schaute kurz zu den grauen Wolken auf und schickte ein Gebet himmelwärts. Er musste einfach nur die nächsten zwölf Tage hinter sich bringen. Wenigstens war er dabei nicht allein.

Vale beugte sich ins Wageninnere und bot seiner Mutter die rechte Hand. Margot Penrith kletterte heraus – eine zerbrechliche, wunderschöne Schneekönigin, zierlich und elegant, in teure Pelze gehüllt. Der Ausdruck ihrer hellblauen Augen spiegelte seine eigenen Gedanken: sie beide sollten gar nicht hier sein. Nicht als eine zerstörte Familie, zwei Trauernde, Witwe und unvorhergesehener Erbe, die den Verlust des geliebten Gemahls und den des bewunderten Bruders beklagten. Nie hätte er gedacht, dass er einmal Erbe und Nachfolger seines Onkels des Duke of Brockmore sein würde, ein Nachfolger, der sich für wenig geeignet hielt, das Vermächtnis anzutreten. Aus Gewissensgründen war er, wenn die Umstände es forderten, Politiker; Anthropologe war er aus freier Wahl. Ein Duke war er nicht.

Er reichte seiner Mutter den Arm, und sie erklommen gemeinsam die Freitreppe zu dem imposanten zweiflügeligen Portal, das schon mit Immergrün bekränzt war. Die einen mochten das einladend finden, vermutete Vale, andere, wie er etwa, betrachteten es als Mahnung zur Vorsicht. In beiden Fällen war die Botschaft dieses Grünschmucks die gleiche: In dem Moment, da man durch diese Türen trat, begann die Weihnachtszeit. Die Gäste durften erwarten, dass der Duke und die Duchess of Brockmore die Feiertage voll ausschöpften. Sein Onkel und seine Tante machten keine halben Sachen.

In der Halle war es warm. Aus dem Salon drang heiteres Stimmengewirr zusammen mit dem Duft von gewürztem Tee und frisch gebackenem Kuchen. Kaum hatte der Butler ihnen die Mäntel und Pelze abgenommen, als auch schon Onkel Marcus erschien; mit seinem dichten silbergrauen Haar, untadelig gekleidet, sichtlich gesund und rüstig, eilte er ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen und begrüßte sie herzlich mit dröhnender Stimme. Zuerst umfing er Vales Mutter. „Margot, meine liebe Schwägerin! Du bist hier, und gerade rechtzeitig! In ungefähr einer Stunde fangen wir an, die Räume mit Immergrün zu schmücken. Alicia wird so froh sein, dass ihr es geschafft habt. Zu dieser Jahreszeit weiß man ja nie, wie die Straßen sind.“ Er wandte sich Vale zu und musterte ihn aus scharfen blauen Augen einen Moment anerkennend von Kopf bis Fuß. „Mein Junge, wie schön, dich zu sehen“, sagte er schlicht und umarmte auch ihn herzlich. Vale drückte ihn ebenfalls. Eine kurze Minute war er nicht der Erbe, sondern einfach ein geliebter Neffe, und dieser Mann war nicht der einflussreiche, mächtige Brockmore, sondern sein Onkel, der Bruder seines Vaters, das lebende Glied zu dem Vater, den er verloren hatte. Und Vale kostete das Gefühl aus.

Wie aus dem Nichts erschien Tante Alicia, in ein modisches türkisblaues Ensemble gehüllt, hochgewachsen und königlich, ganz wie Vale sie in Erinnerung hatte. Sie hakte sich bei seiner Mutter unter, nahm die zarte Margot unter ihre gastlichen Fittiche und führte sie in den berühmten Blauen Salon von Brockmore Manor, zog sie mitten hinein in das gesellige Beisammensein mit seinem Geplauder und den neuesten Gerüchten. Onkel Marcus legte ihm eine Hand fest auf die Schulter. „Komm, da sind ein paar Leute, mit denen ich dich bekannt machen möchte.“

Brockmore führte ihn durch den Raum, stellte ihm einige der Gäste vor: den goldblonden Aubrey Kenelm mit den blauen Augen, Erbe des Marquess of Durham, die gemessene Brünette Lady Anne Lowell, Tochter des Earl of Blackton, die der Duke ihm mit einem gewissen Funkeln im Blick präsentierte. Bei diesem Funkeln empfand Vale ein kleines warnendes Erschauern. Sein Onkel war berüchtigt für seine Ehen stiftenden Partys. Vale hegte nicht den Wunsch, seinem Onkel als nächstes derartiges Projekt zu dienen. Er grüßte jede Dame mit höflichem Nicken, sorgsam bemüht, zu Lady Anne nicht zu höflich zu sein, während er deren Gesellschafterin Marianne Pletcher ein herzliches Lächeln schenkte, da diese für ihn aufgrund ihrer Stellung nicht als potenzielle Braut infrage kam.

Genau die Art Leute hatte er hier zu treffen erwartet. Leute, die zum Kreis seines Onkels gehörten. Gebildet, wohlerzogen, begütert, mit Hoffnungen auf einen vorteilhaften ehelichen Bund. Doch bevölkerte, wie er bemerkte, auch eine andere Art Gäste den Salon – war sogar in der Überzahl. Da war Miss Rose Burnham, eine entschieden hübsche junge Dame aus guter Familie, deren Vater ins Unglück geraten war und ihr als Mitgift nichts als ihr gutes Aussehen hinterlassen hatte; Matthew Eaton, der Sohn des in der Nachbarschaft ansässigen Barons, der bisher nie Eingang in die Londoner Gesellschaft gefunden hatte, jedoch charmant und gut aussehend war, trotz fehlender echter Aussichten. Das waren nicht die typischen Gäste, die man sonst auf Brockmore Manor fand. Zuletzt führte sein Onkel ihn zu einem Gentleman über die mittleren Jahre hinaus, der allein in einer Ecke saß.

Der Mann erhob sich zur Begrüßung, und Onkel Marcus legte ihm voller Zuneigung eine Hand auf die Schulter. „Silas Arthur, Lord Truesdale, dies ist mein Neffe Vale Penrith.“

Vale sah, wie in den müden Augen des Mannes Erkennen aufflammte. „Ah, Penrith. Der Erbe.“ Langsam hasste Vale diesen Titel, das permanente Symbol für all die Ereignisse, durch die dieses Etikett ihm zugefallen war.

Sie machten ein wenig Konversation, ehe sein Onkel sie beide entschuldigte. Während sie sich entfernten, murmelte er ihm ins Ohr: „Silas verlor vor zwei Jahren seine Frau.“ Mit rauer Herzlichkeit drückte er ihm die Schulter und zwang ihn, ihn anzuschauen. „Du bist nicht der Einzige hier, der trauert, mein Junge.“ Dabei huschte ein Ausdruck tiefer Traurigkeit über sein Gesicht, und Vale erinnerte sich daran, dass Onkel Marcus einen Bruder verloren hatte, nicht anders als auch er selbst. Und doch merkte man es nur in solchen knappen unbedachten Momenten. Er neidete seinem Onkel diese Fähigkeit, sein Leben weiterzuleben. Er selbst war dazu bisher nicht imstande. Vielleicht wollte er es auch gar nicht. Vielleicht wollte er einfach, dass die Zeit am einundzwanzigsten April 1814 stehengeblieben wäre, denn dann würden sein Vater und R. J. noch leben.

Sein Onkel, aus dessen Blick die flüchtige Trauer gewichen war, führte ihn zu der Gruppe beim Kamin. „Du wirst die anderen jungen Männer kennenlernen wollen“, meinte er. „Sie sind alle sehr nett. Ich denke, Kenelm und Eaton werden dir besonders gefallen. In Kürze treffen noch ein paar andere ein.“ Er blinzelte ihm zu und gab ihm einen letzten Klaps auf die Schulter. „Amüsiere dich, Vale.“ Seine Augen blitzten schelmisch. „Glaube mir, ich weiß sehr wohl, dass du dich lieber in London mit deinen Studien in deiner Bibliothek verkriechen und versuchen möchtest, die Welt einfach zu ignorieren. Das Leben geht weiter, ob du willst oder nicht. Also kannst du es auch genauso gut genießen. Betrachte das als mein Weihnachtsgeschenk für dich.“

Nicht nur für mich, dachte Vale, während Kenelm zur Seite rückte, um ihm in dem Kreis beim Kamin Platz zu machen. Es erklärte diese bunte Mischung der Gäste: der einsame Witwer in seiner Ecke, die hübsche verzweifelte Debütantin, der Sohn des hinterwäldlerischen Barons, der trotz seiner Fähigkeiten ohne Anschub eines mächtigen Mentors nie dem ländlichen Umfeld entkommen würde. Die Liste war noch länger. Ihnen allen schenkte sein Onkel eine Chance – Rose Burnham die Chance, sich gut zu verheiraten, Lord Truesdale die Chance, ein neues Leben zu beginnen, Matthew Eaton die Chance, dank der eigenen Fähigkeiten über das beschränkende Landleben hinauszuwachsen. Und die Chance, froh und lebensvoll zu sein, wenn du Vale Penrith warst und seit fast vier Jahren innerlich wie tot.

Am Eingang zum Salon klatschte sein Onkel Aufmerksamkeit heischend in die Hände. „Liebe Gäste, einen Moment bitte!“ Er wartete, bis Stille eintrat. Tante Alicia begab sich mit grüßendem Lächeln an die Seite ihres Gemahls. „Wir möchten Sie über die Feiertage auf Brockmore Manor willkommen heißen. Wir haben diverse Vergnügungen geplant, von Schlittschuhlaufen bis zu einem Winterjahrmarkt und einem Maskenball am Dreikönigstag. Es soll für Sie alle eine Weihnachtszeit werden, die Ihnen unvergessen bleibt.“ Aufgeregtes Raunen ging durch den Raum. Brockmore bat erneut um Schweigen. „Die immergrünen Zweige liegen bereit. Auf zum Kränzewinden und Schmücken! Lasst die Weihnachtszeit beginnen.“

Applaus und Hochrufe hallten durch den Salon. Kenelm, der neben Vale stand, legte schon gutmütig seinen Gehrock ab, bereit, sich an die Arbeit zu machen. „Die Damen werden uns brauchen, wenn es schwere Dinge zu tragen gibt.“ Er grinste und knuffte Matthew Eaton mit dem Ellenbogen in die Seite, als wären sie die besten Freunde, obwohl sie sich doch erst vor einer Stunde kennengelernt hatten. Mit der anderen Hand fasste er Vales Arm. „Kommen Sie, ich übernehme den Korridor, Sie und Matthew das Treppenhaus.“ Und so fand Vale sich plötzlich dabei, das Geländer mit immergrünen Girlanden zu dekorieren, ohne eine Möglichkeit, sich in sein Zimmer zu stehlen, um seine Bücher auszupacken. Er musste für den Vorstand des Britischen Museums einen Bericht schreiben, über Lappland und die Geheimnisse des Nordens. Sein Onkel hatte recht. Lieber säße er nun heimelig in seiner Bibliothek, wo niemand ihn behelligte, anstatt mitten im Festtagstrubel zu stecken. Aber es war zu spät, einen Rückzieher zu machen. Der Bericht würde warten müssen.

Nur noch eine halbe Spanne und ich hab’s. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, nicht, wenn sie es beinahe geschafft hatte. Lady Viola Hawthorne stand, ein Büschel Mistelzweige an seinem Band haltend, in der Halle auf der obersten Leiterstufe und reckte sich hoch auf die Zehenspitzen, um den glitzernden Kristalltropfen in der Mitte des vielarmigen Kronleuchters zu erreichen. Fast … hab ich’s.

Sie versuchte sich auszubalancieren, und die Standleiter schwankte gefährlich. Von ihrem Gezappel angelockt, sammelten sich gute drei Meter unter ihr am Fuß der Leiter die anderen jungen Leute, die gemeinsam mit ihr die Halle schmückten. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie eine hohe Gestalt, die rasch die breite Treppe hinuntereilte. Gleich darauf wurde die Leiter von kräftigen Händen gepackt, gefolgt von nicht weniger kräftigen tadelnden Worten: „Kommen Sie sofort herunter! Wollen Sie sich den Hals brechen?“ Sie wagte nicht nachzusehen, wer da unten stand, sonst würde sie die Courage verlieren. Glaubte dieser Nörgler etwa, sie wäre nicht schon zu dem gleichen Schluss gekommen? Nur hatte sie schlicht entschieden, die Gefahr zu ignorieren. Vorsicht walten zu lassen passte nicht in ihre Pläne. Vorsichtige Mädchen verbannte man nicht von Hauspartys.

Laut und kühn lachte sie. „Niemals!“ Die Mahnung des Spaßverderbers spornte sie weiter an, sodass sie sich, einer Ballerina gleich, noch höher auf die Zehen reckte, bis der Saum ihres Kleids so hoch rutschte, dass man ihre Knöchel sah … und einiges mehr. Hoch auf einer Leiter konnte man sich tatsächlich außerordentlich anstößig aufführen, und genau das war ihre Absicht. Genau deshalb trug sie seidene Strümpfe mit roten Strumpfbändern und sonst nichts unter ihrem Kleid. Im Augenblick jedoch interessierte sie sich weniger für das, was die jungen Männer da unten erspähen könnten, sondern mehr für ihre knifflige Aufgabe. Höher konnte sie sich nicht recken. Nicht den Bruchteil einer Spanne mehr. Außer …

Näher an den Lüster kam sie nicht heran, aber der Lüster könnte näher zu ihr kommen. Mit den Fingerspitzen erreichte sie knapp den ihr nächsten Arm des Kronleuchters, sodass sie ihn antippen konnte. Also versetzte sie den großen Lüster in Schwingungen, ganz leicht zuerst, dann noch ein Schubs, doch nicht zu heftig, denn sie wollte nicht, dass das schwere Ding sie traf und von der Leiter warf. Nun musste sie nur den rechten Moment abpassen und …

„Geschafft!“, rief sie, während sie, als der Leuchter beim dritten Mal auf sie zu schwang, das Band, das die Mistelzweige zusammenhielt, über den baumelnden Kristalltropfen hakte.

Die Gäste unten klatschten wild Beifall, alle, außer dem missbilligenden Leiterhalter. Doch der war ihr egal. Sie hatte keine Zeit für Spaßverderber. Halbwegs die Leiter hinunter verharrte sie kurz und vollführte vor ihrem bewundernden Publikum eine verschnörkelte Verneigung und rief: „Fangt mich!“

Sie ließ die Leiter los. Alle keuchten unisono auf, als sie fiel, kurzes Wirrwarr, einige stürzten vor, um die Leiter festzuhalten, und dann lag sie in seinen Armen – in den Armen eines starken, aber auch zornigen Mannes. Er war keineswegs so amüsiert über dieses Finale wie die anderen. Als er sie auf dem Boden absetzte, blickten seine blauen Augen gewittergleich. „Sie kleine Närrin! Kennen Sie keine Vorsicht? Ist Ihnen Ihr Leben so wenig wert, dass Sie es wegwerfen wegen eines billigen Kunststücks? Oder das Leben der anderen Gäste? Die haben Sie auch in Gefahr gebracht! Was wäre denen wohl passiert, wenn die Leiter umgefallen oder der Kronleuchter plötzlich hinabgestürzt wäre?“ Er gab sich keine Mühe, die Stimme zu senken, und sein eisiger Ton ließ die Leichtigkeit erstarren, die sie sich als Haltung verordnet hatte.

„Wer zur Hölle sind Sie, dass Sie mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe?“ Die Hände wütend in die Hüften gestützt, musterte sie ihn provozierend von seinen stahlharten blauen Augen bis zu seinen langen Beinen. Wie konnte er wagen, sie öffentlich zu rügen, als wäre sie ein unartiges Kind? Und schlimmer noch, wie konnte er wagen, ihr die Aufmerksamkeit zu stehlen?

„Ich bin Vale Penrith, Brockmores Neffe. Dies ist ebenso mein Heim wie das meines Onkels. Ich werde nicht zusehen, wie es als Bühne für unüberlegte Streiche benutzt wird.“

Der Erbe. Na, gut gemacht! Das war selbst für sie eine Glanzleistung. Sie war noch nicht ganz zwei Stunden hier, und schon war es ihr gelungen, Brockmores Nachfolger einen Blick unter ihre Röcke zu verschaffen. Das war nicht gut. Einen Augenblick wurde sie von uncharakteristischer Panik übermannt. Ihre noch auf der Anreise befindlichen Eltern würden toben, falls sie es erfuhren. Sicher, sie wollte sie wütend genug machen, um von ihnen heimgeschickt zu werden, fort aus der Gefahrenzone des Ehestiftens. Doch mit ihrer Eskapade auf der Leiter hatte sie sich selbst einen Fallstrick gelegt. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Eltern einen kompromittierenden Skandal nutzten, um sie mit einer so verlockenden Beute wie Brockmores Erben vor den Altar zu zerren. Dann könnte mein Plan ziemlich ins Auge gehen, überlegte Viola. Eben dem Altar wollte sie ja unbedingt ausweichen.

Ablenkung! Sie musste etwas anstellen, das diese Eskapade auf der Leiter noch übertraf, etwas, das stattdessen zum Gesprächsthema werden würde. Herausfordernd funkelte sie den imponierenden, hochgewachsenen Penrith mit dem zornigen Blick und den starken Armen an, ehe sie sich den anderen zuwandte. „Wir stehen unterm Mistelzweig, und ihr wisst alle, was das bedeutet!“ Und schon zog sie den jungen Mann, der am nächsten stand, zu sich heran – es war Matthew Eaton – und küsste ihn voll auf den Mund, ein prächtiger Kuss mit geöffneten Lippen, den sie lange genug ausdehnte, dass jeder es mitbekam. Es war kein züchtiger Kuss auf die Wange oder ein höfliches Küsschen mit trockenen, kühlen Lippen.

Viola trat zurück und breitete weit die Arme aus. „Der erste Weihnachtskuss!“ Die Gäste jubelten begeistert Und schon hatte sie wieder die Aufmerksamkeit für sich. Über die Schulter warf sie Penrith ein siegreiches Grinsen zu, doch er war schon wieder die Treppe hinaufgegangen, um dort die letzten großen Schleifen an den Girlanden anzubringen – in sie zum Wahnsinn treibenden akkuraten Abständen, zweifellos dank des Maßbandes, das er vermutlich … im Kopf hatte.

2. KAPITEL

Punkt sieben Uhr stand Vale Penrith in seiner ganzen Perfektion im Salon vor ihr, verneigte sich und bot ihr den Arm, um sie zum Dinner zu geleiten. Er war makellos in dunklen Abendanzug und gestärktes weißes Hemd gekleidet, das Krawattentuch tadellos geknotet und ganz genau in der Mitte der akkurat gelegten Falten steckte eine Rubinnadel. Vermutlich hatte er auch dafür ein Messgerät im Kopf. Selbst sein Haar, dunkelblond und wohl sein einziger Bruch mit der Konvention, da es erstaunlich viel länger war als das der meisten Männer, wurde im Nacken von einem vorbildlich gebundenen schwarzen Band gehalten. Jedes einzelne Härchen war an seinem Platz.

Viola wollte etwas an ihm in Unordnung bringen. Vielleicht eine Strähne aus seinem Zopf zupfen oder diese Krawattennadel ein wenig anstupsen, damit sie schief saß. Oder vielleicht größere Verheerung anrichten, wie etwa beim Dinner Rotwein über sein weißes Hemd gießen. Was jedoch wegen des ‚Zwischenfalls‘ in der Halle nicht ging. Er würde glauben, es sei ihre Rache dafür und nicht eine heftige Rebellion gegen seine Vollkommenheit. Nein, Rotwein … da würde sie kleinlich wirken. Sie würde sich etwas anderes überlegen müssen.

Also konnte sie im Moment nichts tun, als seinen Arm zu nehmen und ebenso höflich-kühl aufzutreten wie er, so, als wären sie nicht kurz zuvor in der Halle aneinandergeraten, als hätte nicht einer von ihnen – und nicht etwa sie selbst! – versucht, den anderen öffentlich zu demütigen. Wenn er tun konnte, als wäre dieser Zwischenfall nicht geschehen, würde ihr das doch gewiss auch gelingen. Zumindest nach außen. Sie war willens, den Schein zu wahren. Aber nicht willens zu vergessen.

Sie reihten sich in die Schlange zum Speisesalon ein, das dritte Paar nach dem Duke und ihrer Mutter und der Duchess und ihrem Vater; hinter ihnen kamen Anne Lowell und Aubrey Kenelm. Wenigstens dafür konnte sie dankbar sein. Kenelm würde an ihrer anderen Seite sitzen, um so der öden Konversation mit Penrith entgegenzuwirken. Guter Gott, worüber nur würden sie zwei Stunden lang reden? Wenn in der Halle der sichere Umgang mit Leitern von höchster Wichtigkeit war, konnte sie sich schon seine Besorgnis bezüglich des Essensvorgangs ausmalen: die sichere Handhabung von Messern, die Gefahren offener Flammen und heißen Wachses? Sie betraten den Speisesalon und jeder Gedanke an Konversation war vergessen. Die Dekoration der Dinnertafel war von erlesener Eleganz, alles verströmte atemberaubend raffinierten Luxus.

Viola war an Opulenz gewöhnt. Ihr Vater, der Duke of Calton, war steinreich, doch selbst wenn man mit Luxus vertraut war, trübte das nicht die Eleganz des offiziellen Anlässen vorbehaltenen Speisesalons von Brockmore Manor, der mit all dem Pomp eines herzoglichen Weihnachtsbanketts ausgestattet war. Auf der langen, glänzend polierten Tafel prangten in regelmäßigen Abständen drei achtarmige Kandelaber aus schwerem Silber, deren dicke weiße Kerzen ihr schimmerndes Licht über die geschliffenen Kristallkelche und das wunderschöne goldgeränderte Porzellan mit dem Muster aus roten Beeren warfen.

Der Raum duftete sogar lieblich, wie Winter und Weihnachten vereint, dank der geschmackvoll ringsum verteilten Arrangements aus Tannengrün sowie Rosmarin- und Lorbeerzweigen. Während sie in der Halle in sichtlichem Überschwang von Festfreude auf der Leiter herumgeklettert war und für ein Büschel Mistelzweige Leib und Leben riskiert hatte, hatte jemand anders für den dezenten Schmuck des Speisesalons gesorgt. Vermutlich eine der älteren Damen.

Dezentes Auftreten allerdings strebte Viola nicht an, wenn sie es auch in diesem Fall billigte. Ihre Robe ergänzte in Stil und Farben nämlich die Ausstattung perfekt. Nun war sie sogar froh, dass ihre Mutter ihr dieses Kleid so hartnäckig anbefohlen hatte – eine exquisite, hochmodische Robe, wie sie sich nur die Tochter eines Dukes leisten konnte.

Sich derart ausgestellt zu sehen, weckte allerdings stets ihren Argwohn. Ihre Mutter empfahl ihr solche Gewänder nicht ohne Grund. Während Penrith ihr den Stuhl zurechtrückte, musterte Viola ihn aus dem Augenwinkel, betrachtete ihn mit den ihrer Eltern, die sie so unbedingt unter die Haube bringen wollten: hochgewachsen, in ihren Augen vielleicht gut aussehend; das Kerzenlicht schmeichelte ihm, betonte seine aristokratischen Züge, die hohen Wangenknochen und die edel geformte Nase. Doch das änderte nichts daran, dass er die Persönlichkeit eines Langweilers hatte und dass eine Ehe für immer war.

Allein der Gedanke ‚für immer‘ ließ sie schaudern. Für immer mit einem Langweiler? Das war absolut undenkbar, gleich wie viel Geld er hatte. Es bestätigte all die Gründe, aus denen sie der Ehe so von Herzen auswich. Sie würde ihr Leben nicht den Launen eines Mannes anvertrauen. Es wäre das Ende ihrer Träume: den Kontinent bereisen, Musik studieren, in Wien, wo sich eine Frau, wie sie gehört hatte, größerer Freiheiten erfreuen konnte. Für sie war die Ehe nichts anders als die Versklavung der Frau. Versklavung durch einen Langweiler.

Sorgfältig ihre Röcke raffend, ließ sie sich nieder und schenkte Penrith für seine Mühe ein höfliches Lächeln. Mehr wagte sie nicht, um nicht die Hoffnungen ihrer Eltern zu wecken. Mädchen, die das Interesse eines herzoglichen Erben gewannen, wurden nicht von Partys verbannt. Sie konnte sich vorstellen, was in den Köpfen ihrer Eltern vorging. Zweifellos beobachteten sie sie heimlich und jubilierten. Ihre Tochter wurde von Brockmores Nachfolger zum Dinner geführt, eine höchst glückliche Fügung. Die nicht in ihrer Hand gelegen hatte, auf die sie aber bestimmt gehofft hatten.

Viola wusste sehr gut, warum sie eingeladen worden waren: Ihre Eltern hatten Brockmore darum gebeten. Sie war einundzwanzig, und nach Ansicht ihrer Eltern blieb ihr bald keine Wahl mehr, da sie während der letzten drei Jahre fast alle geeigneten Männer des ton verscheucht hatte. Töchtern von Herzögen mangelte es nie an Bewerbern um ihre Hand. Viola ließ ihren Blick die Tafel entlangwandern und begutachtete die versammelten Gäste. Es gab da eine Menge sehr verzweifelte Leute. Sich selbst zählte sie nicht dazu. Sie war nicht verzweifelt auf Heirat aus. Sie suchte verzweifelt nach Freiheit.

Alles entwickelte sich ganz genau so, wie sie es vor drei Jahren geplant hatte, als sie debütierte. Wenn sie sich noch ein weiteres Jahr so empörend aufführte, würde sie als ausgemustert gelten, unmöglich zu verheiraten. Dann konnte sie das Leben führen, das ihr vorschwebte, ohne von einem Ehemann gehindert zu werden oder den Schein wahren zu müssen. Wenn es ihr gelang, bis spätestens Neujahr von der Anwesenheit hier ‚höflich entbunden‘ zu werden, konnte sie am Dreikönigstag schon wieder daheim sein und mit ihren Freunden feiern, indem sie ihre neueste Komposition zu Gehör brachte.

„Lady Viola“, hörte sie Penriths dunkle Stimme, als ihnen die Rebhuhnsuppe serviert wurde. Auf dem herzoglichen Landsitz wurde jedes Gericht einzeln serviert, nicht, wie es oft noch üblich war, alle Gerichte eines Ganges auf der Tafel angerichtet. „Sie sind also das Mädchen, das sich von Kornleuchtern schwingt.“ Selbst in der Übertreibung klang noch frostige Missbilligung mit.

„Ja.“ Sie gönnte ihm ein breites neckendes Lächeln und einen flirtenden Blick, denn das würde ihn unendlich ärgern. „Und Sie sind der Mann, der es zu Tisch führt. Wie fühlen Sie sich dabei?“ Wahrscheinlich störte es ihn ziemlich, dass er in all seiner Vollkommenheit mit einem so verrückten Ding wie ihr, wenn auch nur ein Dinner lang, verbunden sein sollte. Ärger oder nicht, er ließ es sich nicht anmerken.

Gleichmütig zuckte er die Achseln. Vermutlich machte er das öfter – sich neutral geben. Es ersparte ihm eigene Meinungen und Gefühle. „Es liegt nicht in meiner Hand. Die Götter der gesellschaftlichen Gepflogenheiten bestimmen vorher, wer wessen Tischpartner ist.“

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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