Weihnachtsmänner küssen besser

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3 romantische Winter-Romane in einem Band!

Lori Wilde - Viel Trubel um Sam:
Als Weihnachtsmann verkleidet, will Sam einem gerissenen Kaufhausdieb auf die Spur kommen. Doch das darf die hübsche Edie auf keinen Fall erfahren. Denn auch wenn er sich spontan in sie verliebt hat, gehört sie zum Kreis der Verdächtigen ...

Liz Fielding - Schnell, küss mich!:
Der sexy Fremde lässt sich nicht lange bitten. Doch dann ist die Silvesterparty vorbei - und damit auch Cassies Flirt. Bis die Stress-Therapeutin wenig später einen Hausbesuch macht. Sie traut ihren Augen nicht: Vor ihr steht der Mann, der so gut küssen kann ...

Stephanie Rowe - Tierisch verliebt:
In Sophies Leben geht es drunter und drüber: Sie jobbt als Hunde-Sitterin - und bald wachsen ihr nicht nur die Vierbeiner immer mehr ans Herz; auch in deren Herrchen Gabriel ist sie tierisch verliebt. Doch was hält der Arzt von einer Frau, die nicht kochen kann, unordentlich ist und immer zu spät kommt? Unterm Weihnachtsbaum verrät er es ...


  • Erscheinungstag 10.08.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783955763640
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Weihnachtsmänner küssen besser

Lori Wilde

Weihnachtsmänner küssen besser: Viel Trubel um Sam

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

Liz Fielding

Schnell, küss mich!

Aus dem Amerikanischen von Linda Cadenberg

Stephanie Rowe

Tierisch verliebt

Aus dem Amerikanischen von Linda Gross

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Santa’s Sexy Secret

Copyright © 2000 by Laurie Venzura

A Surpise Christmas Proposal

Copyright © 2003 by Liz Fielding

Stress & The City

Copyright © 2000 by Stephanie Rowe

erschienen bei: Harlequin Books Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Getty Images, München; pecher und soiron, Köln

ISBN eBook 978-3-95576-364-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Lori Wilde

Weihnachtsmänner küssen besser: Viel Trubel um Sam

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

1. KAPITEL

Dieses verflixte Weihnachtsmannkostüm juckte.

Und zwar sehr.

Mit wachsendem Entsetzen stellte Sam Stevenson fest, dass das Kostüm voller Flöhe war. Er kratzte sich heftig hinterm Ohr und dachte, dass er aus diesem verdammten Ding rausmusste, bevor die gnadenlosen Viecher ihm die Haut vom Leib fraßen. Und außerdem würden die Plagegeister auf die Kinder überspringen, wenn sie bei ihm auf dem Schoß saßen.

“Ich muss weg”, brummte er die schlanke Elfe an, die auf einem Podium neben dem Pferdeschlitten aus Pappe und Sperrholz stand.

“Weg?” Die junge Frau blinzelte ihn an. “Was soll das heißen? Das Kaufhaus öffnet in zwei Minuten, und eine ganze Kinderbande wartet darauf, den Weihnachtsmann zu sehen. Sie können jetzt nicht gehen.”

Wenn ihm nicht so unwohl gewesen wäre, hätte er sich womöglich die Zeit genommen, ihr kurzes, dunkelblondes Haar zu bewundern, das sich in Locken um ihr unschuldiges Kindergesicht kringelte. Dieses Gesicht war ganz offensichtlich der Grund dafür, dass sie diesen Job als Elfe bekommen hatte. Im Augenblick allerdings konnte Sam an nichts anderes denken, als so schnell wie möglich seine Kniehosen auszuziehen.

“Hören Sie, Lady, da ist etwas, worum ich mich ziemlich dringend kümmern muss. Die Kinder müssen einfach warten.” Sam eilte zur Tür.

Doch da stürzte die Elfe mit ausgestreckten Armen nach vorne, um sich ihm in den Weg zu stellen. Dabei klingelten die Glöckchen an ihrem rotweiß gestreiften Hut fröhlich. “Tut mir leid, aber Sie werden nicht gehen.”

“Wie bitte?” Sam kratzte sich aufgebracht am Hals. Was für ein Problem hatte diese Frau? Garantiert wurde sie vom Kaufhaus nicht gut genug bezahlt, um sich als Chefin aufzuspielen. “Wollen Sie mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe?”

“Ich weiß, was Sie vorhaben, und ich kann das nicht gutheißen.” Sie stemmte mit gerunzelter Stirn die Hände in die Hüften und blitzte ihn mit ihren olivgrünen Augen vorwurfsvoll an.

Eine dunkle Vorahnung beschlich ihn. Hatte sie irgendwie sein Geheimnis erraten?

“Wovon sprechen Sie?” Sam fasste in seinen Bart. Die Flöhe fraßen ihn bei lebendigem Leib auf. Er musste aus diesem Kostüm. Sofort.

“Ich weiß, was los ist, und ich kann Ihnen helfen. Meine Mutter ist Sozialarbeiterin.”

“Und wenn Ihre Mutter Margaret Mead persönlich wäre, das interessiert mich nicht. Aus dem Weg.”

“Margaret Mead war Anthropologin”, klärte sie ihn auf. “Keine Soziologin. Eine Anthropologin studiert die Menschen. Eine Soziologin studiert soziale Gruppen.”

“Wen zum Teufel interessiert das?”

“Ärger.” Sie schüttelte den Kopf. “Ein absolut klassisches Symptom.”

Sam starrte sie mit offenem Mund an. Diese Frau musste verrückt sein.

Er versuchte, um sie herumzugehen, doch sie trat ihm Schritt für Schritt in den Weg, als würden sie zusammen Walzer tanzen.

“Sie müssen sich deswegen nicht schämen”, fuhr sie ernsthaft fort.

Gut, vielleicht musste man sich wegen Flöhen nicht schämen, aber Sam wollte auch nicht, dass seine Notlage vor der ganzen Welt ausposaunt wurde. Er konnte sich noch gut an ein besonders beschämendes Ereignis aus seiner Kindheit erinnern, als seine Lieblingslehrerin in der vierten Klasse, Miss Applebee, Läuse in seinem Haar entdeckt hatte.

Sam zuckte bei der unangenehmen Erinnerung zusammen. Er musste dieses Kostüm loswerden. Nicht nur wegen der Flöhe, was schon Grund genug war, sondern auch, weil es ihn an seine erbärmliche Kindheit erinnerte.

Er hob drohend einen Finger. “Aus dem Weg, Sweetheart, oder ich renne Sie über den Haufen.”

“Aber die Kinder brauchen Sie. Der Weihnachtsmann verkörpert für sie etwas Schönes und Wunderbares. Wie können Sie nur ihre Träume kaputtmachen? Bedeuten Ihnen diese Kinder denn nicht mehr als der Alkohol?”

“Alkohol?”

“Mir ist bewusst, dass die meisten Männer, die einen Job als Santa Claus annehmen, ziemlich viel Pech gehabt haben. Sie bekommen keine festen Jobs, weil sie ein Drogen- oder Alkoholproblem haben. Diese Männer brauchen Hilfe, jemanden, der sich um sie kümmert. Es ist nicht Ihr Fehler, dass Sie abhängig sind, aber es ist Ihre Verantwortung, mit dem Trinken wieder aufzuhören.”

Sam warf die Arme in die Höhe. “Sie sind wahnsinnig, wissen Sie das? Ich bin kein Alkoholiker.”

“Leugnen!”, rief sie triumphierend. “Ebenfalls ein klassisches Symptom.”

Sam schaute sich um, in der Hoffnung, dieser grünäugigen Fanatikerin irgendwie entkommen zu können. Doch er sah keinen Ausweg.

“Weihnachtsmann, Weihnachtsmann!”, brüllten die Kinder.

Mein Gott! Er musste fliehen. Sam täuschte einen Schritt nach links vor und sprintete dann rechts an der Elfe vorbei.

“He!”, schrie sie. “Sie können doch nicht von mir erwarten, dass ich mich ganz alleine um die Kinder kümmere. Sie wollen den Weihnachtsmann sehen.”

Und Menschen in der Hölle wollen Wasser, dachte er, sprach es aber nicht laut aus.

Die Elfe jagte hinter ihm her und packte ihn am Saum der Weihnachtsmannjacke, bevor er sich durch die Tür mit der Aufschrift Personal aus dem Staub machen konnte.

“Sie gehen nirgendwohin, Weihnachtsmann”, fauchte sie und grub die Absätze in den Boden. “Und wenn doch, dann werde ich das dem Geschäftsführer Mr. Trotter melden.”

Sam fletschte die Zähne und spornte die Flöhe schweigend an, doch lieber auf sie zu springen. Als er versuchte, die Elfe abzuschütteln, klammerte sie sich hartnäckiger an ihm fest als ein Fussel an einer Wolljacke.

“Schau nur, Mutti, die Elfe versucht, dem Weihnachtsmann wehzutun”, ertönte eine Kinderstimme.

Na toll. Da hatten sie ja ihr Publikum.

“Lassen Sie mich los”, verlangte Sam durch zusammengebissene Zähne.

“Nein.” Sie kniff die Augen zusammen und packte noch fester zu.

Er sah ein paar verstreute Sommersprossen auf ihrer hübschen kleinen Nase und eine winzige Narbe auf ihrer ansonsten makellosen Stirn. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte er ihre Hartnäckigkeit bewundert. Aber nicht hier und nicht jetzt, wo gerade jede Menge Flöhe einen Festschmaus auf seiner Haut abhielten.

“Mami, Mami, die Elfe soll den Weihnachtsmann in Ruhe lassen!”

“Sie machen meiner Tochter Angst”, beschwerte sich eine Frau.

Das war nicht gut. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sinn seines Einsatzes war doch, sich hinter der gemütlichen Weihnachtsmannfassade zu verstecken. Sein Chef, Chief Timmons, würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, wenn seine Tarnung gleich am ersten Tag aufflog.

Sam hatte geahnt, dass es ein schrecklicher Einsatz werden würde. Chief Timmons hatte ihm schließlich deutlich zu verstehen gegeben, dass er auf diese Weise für den Lexus des Bürgermeisters bestraft werden sollte, den er bei seinem letzten Undercover-Einsatz in die Luft gejagt hatte. Unabhängig davon, dass es sich dabei um einen unvermeidbaren Unfall gehandelt hatte.

Die Flöhe nagten an ihm, als ob sie seit letztem Weihnachten nichts mehr zu essen bekommen hätten. Sam fragte sich, ob Carmichael’s, das berühmte Kaufhaus in Dallas, dieses Kostüm vielleicht in einer Hundehütte eingelagert hatte. Auf jeden Fall konnte er es keine Sekunde länger aushalten. Irgendetwas musste geschehen.

Also packte er das Handgelenk der Elfe und bog jeden einzelnen Finger auf. Und bevor sie erneut zugreifen konnte, jagte er durch die Tür.

Sobald er den leeren Lagerraum betreten hatte, riss er sich den Bart ab und kratze sich fieberhaft das Gesicht. Als Nächstes zerrte er den ramponierten Filzhut vom Kopf und warf ihn auf den Boden.

Seine Finger kämpften mit den großen schwarzen Knöpfen seines Kostüms, wobei die Flöhe in sämtliche Richtungen hüpften. Dann entfernte er hektisch die Polsterfüllung um seine Taille, die einen dicken Bauch vortäuschte, kickte die Stiefel von den Füßen und schälte sich aus der Hose. Er verspürte nichts anderes als Erleichterung.

Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass die unerbittlich wohltätige Elfe die Ausdauer eines Gefängniswärters hatte. Als sie in den Raum platzte, stand er nackt bis auf die Unterhose vor ihr.

Sie hatte ihn mit heruntergelassener Hose erwischt.

Edie Preston blieb ruckartig mit offenem Mund stehen. Sie hatte nicht erwartet, dass der Weihnachtsmann so gut gebaut war, so männlich, so verdammt sexy. Und schon gar nicht, ihn fast nackt vorzufinden.

Sie hatte eher mit einem etwas schwabbeligen, betrunkenen Mann mittleren Alters gerechnet, der an einer Whiskeyflasche nuckelte oder sich eine Handvoll Pillen einwarf. Stattdessen hatte sie diesen vitalen, extrem attraktiven Mann in eine ziemlich peinliche Situation gebracht.

Er riss den Kopf herum. Dunkelblaue Augen starrten sie an, bis sie zu Boden blickte.

“Was ist?” Seine Stimme war schneidend wie zersplittertes Glas. “Was wollen Sie von mir?”

“Ich … ich …” Ihre Augen wanderten von seinen kräftigen Knöcheln hoch zu seinem knackigen Hintern. Ihre Wangen wurden heißer als ein Lockenstab auf höchster Stufe. Irgendwie konnte sie ihre Zunge nicht mehr finden, obwohl sie sicher war, dass sie sich an dem üblichen Platz in ihrem Mund befand.

“Wenn Sie dann alles betrachtet haben, könnten Sie mich bitte allein lassen?” Er drehte sich zu ihr um.

“Ich … äh … ich wollte nicht …”, stammelte sie, unfähig, den Blick von seinem spektakulären Waschbrettbauch abzuwenden.

Wie kam es, dass so ein Mann den Weihnachtsmann in einem Kaufhaus spielte? Er müsste doch eigentlich Fotomodell oder Profisportler sein.

“Was soll ich denn mit den Kindern machen?” Sie deutete hilflos auf die Tür.

“Weiß nicht, ist mir auch völlig wurscht.” Er hob einen Arm und kratzte sich verzweifelt im Nacken.

“Kann ich Ihnen eine Frage stellen?”

“Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie sie sowieso stellen werden, egal, was ich sage.” Er seufzte. “Schießen Sie los.”

“Würden Sie mir verraten, warum Sie hier reingerannt sind und sich ausgezogen haben?”

“Flöhe.”

“Wie bitte?”

“Flöhe.” Er fuhr sich über die Brust. Knallrote Quaddeln übersäten seine Haut.

“Sie haben Flöhe?”

“Nein, das Kostüm.” Er deutete mit dem Kinn auf die auf dem Boden verstreuten Kleider.

Edie schlug eine Hand vor den Mund. “Ach je, und da habe ich Sie auch noch so genervt.”

“Ja”, bestätigte er. “Allerdings.”

“Das tut mir wirklich leid. Ich hatte ja keine Ahnung. Wissen Sie, ich habe schon öfter mit Kaufhaus-Weihnachtsmännern zusammengearbeitet und einige schlechte Erfahrungen gemacht.”

“Sind Sie immer so schnell mit Ihren Urteilen?” An seinem süffisanten Grinsen sah sie, wie sehr er ihre Verlegenheit genoss.

“Nein. Hören Sie, es tut mir sehr leid. Ich möchte das gerne wiedergutmachen. Ich werde jetzt den Geschäftsführer suchen und ihm von dem Problem mit dem Kostüm erzählen.” Edie kam sich so klein wie ein Maiskorn vor. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie Menschen nicht einfach so verurteilte.

Andererseits hing ihr guter Ruf davon ab, dass der Weihnachtsmann nüchtern war. Sie hatte eine ganze Woche gebraucht, um Mr. Trotter dazu zu überreden, Leute aus dem Männerwohnheim zu engagieren. Erst das Argument, dass diese Männer für wenig Geld arbeiteten, überzeugte ihn, nicht etwa ihre flammende Rede über seine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber.

Wenn der Weihnachtsmann sich also hätte volllaufen lassen, hätte Mr. Trotter sie persönlich dafür verantwortlich gemacht. Deswegen hatte sie diesen übereilten Rückschluss gezogen. Wofür sie sich schämte.

“Könnten Sie mir, bevor Sie gehen, einen Gefallen tun?”, flehte er.

“Einen Gefallen?” Du meine Güte, was konnte so ein attraktiver Mann nur von ihr wollen?

“Könnten Sie mich genau hier mal kratzen?” Er drehte den Arm auf seinen Rücken. “Direkt unter meiner linken Schulter. Da komme ich nicht hin, ich werde fast wahnsinnig.”

“Nun …” Diesen Mann anfassen? Ihre Finger brannten darauf, seiner Bitte Folge zu leisten, doch ihr Verstand drängte sie, lieber schnell wegzurennen.

“Kommen Sie schon, Lady, fassen Sie sich ein Herz.”

“Edie.”

“Wie bitte?”

“Mein Name ist Edie. Edie Preston.”

“Das ist ja toll.”

“Und wie heißen Sie?”

“Sam. Seien Sie ein Schatz, Edie, und helfen Sie mir.”

Sie wollte schon beginnen, an einem Fingernagel zu kauen, hielt dann aber inne. Sie hatte sich das Nägelkauen so gut wie abgewöhnt, außer, sie stand unter Stress.

“Bitte”, flehte er.

“Also …”

“Wenn Sie mich nicht anfassen wollen, dann nehmen Sie irgendetwas anderes, um mich damit zu kratzen. Einen Stock, einen Kleiderbügel. Haben Sie doch Mitleid, Ma’am. Bitte.”

Bitte. Diesem Zauberwort konnte Edie nie widerstehen. Er meinte es offenbar ernst. Sie holte tief Luft.

“Okay, ich tu’s.” Sie machte einen Schritt nach vorne und streckte zögernd die Hand aus.

Seine Haut fühlte sich straff und warm an. Er machte einen Buckel.

“Höher”, dirigierte er.

Edie spreizte die Finger über seiner warmen Haut. Ein merkwürdiger Schauer durchlief sie.

“Ein bisschen nach links.”

Ihr Herz pochte. Sie berührte diesen unglaublichen Mann tatsächlich. Unwillkürlich wanderte ihr Blick seinen Rücken hinab bis zum Gummizug seiner Unterhose.

Was sie da erblickte, war so aufregend, dass sie schnell wegschaute und sich auf einen Stapel Kisten in der Ecke konzentrierte.

“Nein”, sagte der Weihnachtsmann, der sich vor ihren Augen in einen griechischen Gott verwandelt hatte. “Das ist zu tief. Höher. Höher. Ah! Genau da ist es!”

Edie kratzte ihn mit den Fingernägeln, den Blick starr abgewandt.

“Fester”, kommandierte er mit rauer Stimme. “Schneller.”

Grundgütiger, um das Feuer, das sich in ihr ausbreitete, zu löschen, hätte es eines feuerfesten Anzugs bedurft.

“Ja”, stöhnte er. “Hören Sie nicht auf!”

Sam beugte sich ein wenig nach vorne. Edie stand direkt hinter ihm und kratzte wie wild seinen nackten Rücken.

“Das ist es, Baby!”

In dieser Sekunde flog die Tür auf. Als Edie und Sam sich gleichzeitig umdrehten, entdeckten sie Mr. Jebediah Trotter, hinter dem sich eine Horde grölender Kinder versammelt hatte.

“Was um Himmels willen geht hier vor sich?”, verlangte Mr. Trotter zu wissen.

“Ich kann das erklären”, erwiderte Edie.

Mr. Trotter knallte die Tür hinter sich zu, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie herablassend an. “Ich würde vorschlagen, dass Sie unverzüglich damit beginnen, Miss Preston. Und zugleich verraten Sie mir bitte, warum ich Sie beide nicht auf der Stelle rauswerfen sollte.” Er warf einen verächtlichen Blick in Sams Richtung.

Edie hob die Arme und ließ sie dann beschwichtigend sinken. “Sie haben ein Haus voller Kinder, die darauf warten, den Weihnachtsmann zu sehen. Wenn der nicht auftaucht, werden die Mütter mit ihnen in ein anderes Kaufhaus gehen, und dann machen Sie keinen Umsatz”, appellierte Edie an seinen Geschäftssinn.

Sie mochte den neuen Geschäftsführer von Carmichael’s nicht sonderlich, aber sie bildete sich etwas auf ihre Fähigkeit ein, mit jedermann auszukommen. Mr. Trotter jedoch war nur schwer zufriedenzustellen, er führte ein hartes Regiment und glaubte eher an Bestrafung als an Motivation.

Trotter streckte die Nase in die Höhe. “Mag sein, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie mit dem Weihnachtsmann irgendwelche Sexspielchen in meinem Haus veranstalten. Und schon gar nicht, wenn Sie eigentlich arbeiten sollten.” Er tippte auf das Glas seiner Armbanduhr.

Sexspielchen mit dem Weihnachtsmann? Edie blickte kurz zu Sam und schluckte schwer. Bis zum heutigen Tag hatte sie den Weihnachtsmann nicht im Mindesten erotisch gefunden, doch das hatte sich schlagartig geändert.

Sam stellte sich mit wütendem Gesicht zwischen Edie und Mr. Trotter. “Hören Sie mal zu, Trotter, dieses Kostüm ist voller Flöhe. Das ist der Grund, warum ich hier in Unterhosen stehe. Das ist der Grund, warum ich diese Stiche auf meinem Körper habe, die Miss Preston dankenswerterweise gekratzt hat. Wenn Sie mir nicht subito einen neuen Anzug besorgen und damit aufhören, diese Dame hier zu bedrohen, dann werde ich den Vorfall dem Gesundheitsamt melden müssen.”

“Das wagen Sie nicht”, schnaubte Trotter.

Edie blinzelte in das Licht der Neonröhre und stellte fest, dass Trotter in diesem Augenblick genauso aussah wie der Grinch, der Weihnachten verhindern wollte – hochnäsig, verbittert, praktisch glatzköpfig. Sie hielt sich schnell den Mund zu, um nicht loszukichern.

“Das werden wir ja sehen”, knurrte Sam und beugte sich drohend nach vorne. Edie war zwar schleierhaft, wie jemand in Unterhose bedrohlich wirken konnte, doch so war es. Sam strahlte die Gelassenheit eines Schwergewichtsboxers aus. “Und ich denke, Sie sollten sich bei Miss Preston entschuldigen.”

“Entschuldigen? Wofür denn?” Trotters Augenbrauen zogen sich zu einem wütenden V zusammen.

“Für Ihre Unterstellung, dass sie in Ihrem Haus Sex hat.”

Trotter grunzte. “Ich werde mich nicht entschuldigen.”

Die beiden Männer starrten einander an, Auge in Auge, Zeh an Zeh. Sam ballte die Fäuste. Trotters Adamsapfel hüpfte. Keiner von beiden blinzelte.

Edies Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sam setzte sich für sie ein! Noch nie hatte das jemand für sie getan, und sie fand es zugleich aufregend und beängstigend, weil sie befürchtete, dass Trotter sie nun beide feuern würde. Sie brauchte diesen Job, um die Studiengebühren fürs nächste Semester zahlen zu können. Und auch Sam machte diese Arbeit sicher nicht aus reinem Vergnügen. Irgendwie musste es ihr gelingen, die Wogen wieder zu glätten.

“Ist schon gut, Sam”, sagte sie ruhig. “Ich kann mir vorstellen, wie das hier gewirkt haben muss – Sie mit nichts an als Ihren Unterhosen und ich mit meinen Händen auf Ihrem …” Sie zögerte bei dem Wort Körper. “Wie wäre es, wenn ich mal rausgehe und mich um die Kinder kümmere, bevor wir unsere Kunden verlieren?”

“Sind Sie sicher, Edie?”, fragte Sam.

“Ja.” Sie wandte sich an den Geschäftsführer. “Mr. Trotter, ich gebe Ihnen mein Wort, dass hier nichts … nun, Sexuelles zwischen Sam und mir geschehen ist oder je geschehen wird. Ich habe nur versucht, ihm bei seinem Flohproblem zu helfen.”

Mr. Trotter räusperte sich. “Nun gut”, erwiderte er. “Bisher waren Sie eine vorbildliche Mitarbeiterin. Ich schätze, ich sollte Ihnen noch eine Chance geben.” Er drohte Sam mit dem Finger. “Aber wenn ich mitbekomme, dass es ein Techtelmechtel zwischen Ihnen gibt, dann fliegen Sie beide raus. Verstanden? Carmichael’s hat schließlich einen Ruf zu verlieren.”

Edie zwang sich, zu lächeln. “Natürlich, Sir. Danke sehr. Sie werden diese Entscheidung nicht bereuen.”

Sam sagte nichts, er starrte Trotter nur weiter so böse an, dass Edie eine Gänsehaut bekam. Sam besaß denselben Mut wie Mel Gibson im ersten Teil von Lethal Weapon – ihrem absoluten Lieblingsfilm. Sie hatte den unerklärlichen Wunsch, ihn zu beschwichtigen.

“Ich werde sehen, ob ich ein anderes Kostüm finde”, meinte Trotter. “Warten Sie hier, Mr. Stevenson. Miss Preston, zurück an die Arbeit.” Er scheuchte sie mit einer Handbewegung fort.

Edie zog den Kopf ein, lief an Trotter vorbei durch die Tür, wobei die Glöckchen an ihrem Hut wieder leise bimmelten. Dann atmete sie erleichtert auf, allerdings nur kurz. Gut, es war ihr gelungen, ihren Job zu behalten, aber dabei hatte sie versprochen, die Finger vom reizvollen Santa Sam zu lassen. Und wie es das Schicksal so wollte, handelte es sich dabei zufällig um den faszinierendsten Mann, den sie je getroffen hatte.

2. KAPITEL

Jingle Bells tönte zum hunderttausendsten Mal aus den Lautsprechern des Kaufhauses. Sam hielt gerade Zwillinge im Arm, die erstaunlich koordiniert gleichzeitig auf seine Hände sabberten. So langsam wurde er auch von zu vielen herzhaften Ho, Ho, Hos heiser, und sein Rücken juckte noch immer wie verrückt.

Überall um ihre kleine Nordpolinsel herum kämpften die Kunden um Sonderangebote auf den Wühltischen. Zwei Gänge weiter befand sich die Parfümabteilung. Sam hatte das Gefühl, dass der Geruch von Rosenblättern sich für immer in seiner Nase festgesetzt hatte.

Mistelzweige und Stechpalmen hingen von der Decke, und auf der gesamten Etage blinkten unzählige Weihnachtslämpchen. Aus dem Lautsprecher erklang in regelmäßigen Abständen eine näselnde Stimme, um vergoldete Rückenkratzer in der Badezimmerabteilung oder mit ländlichen Szenen bemalte Schalen in der Porzellanabteilung anzupreisen.

Chief Alfred Timmons wusste, wie man einen Mann quälen konnte. Um mehr ging es nicht, denn Sam hatte auf diese Weise gar nicht die Möglichkeit herauszufinden, wer hinter diesen Kaufhausdiebstählen steckte. Die meisten Nachforschungen würde er erst in den Stunden nach seinem Job anstellen können.

Er seufzte. Das bedeutete nichts anderes als einen Zwölf- bis Fünfzehnstundentag. Und den Großteil davon musste er in dieser rotweißen Aufmachung verbringen. Nun gut. Timmons hatte es geschafft. Sam hatte seine Lektion gelernt. Er würde in Zukunft vermeiden, das Auto des Bürgermeisters in die Luft zu jagen.

“Sie sehen absolut hinreißend aus.” Edie grinste. “Der Weihnachtsmann und die Zwillinge.”

Sam schaute sie böse an. Diese Frau war weitaus frecher, als gut für sie war.

“Lächeln Sie”, forderte die Mutter der Zwillinge ihn auf.

“Sagen Sie Cheese!”, zwitscherte die Elfe Edie fröhlich. Dann beugte sie sich leicht nach vorne, blickte durch die Kamera und drückte auf den Auslöser.

Sam blinzelte in das Blitzlicht. Bei seinem Tempo würde er am Ende des Tages Verbrennungen dritten Grades auf der Netzhaut haben. Er hatte in den letzten Stunden bereits schon öfter als hundertmal dieses “Weihnachtsmann, ich wünsche mir …” zu hören bekommen. Niemanden schien es zu interessieren, was der Weihnachtsmann sich wünschte, nämlich eine Pinkelpause, einen doppelten Cheeseburger und ein anständiges Bier.

Die Zwillinge waren genauso wenig begeistert vom Blitzlicht wie er. Beide brachen augenblicklich in Geheul aus.

“Ho, ho, ho.” Sam begann die Babys zu wiegen, in der Hoffnung, sie zu beruhigen. Sie starrten ihm ins Gesicht, sahen dann einander an und schluchzten noch heftiger.

“Ich nehme Sie Ihnen ab.” Die Mutter befreite ihn von seiner Last.

Diese junge Frau hatte seine volle Bewunderung. Dass sie sich traute, einen Tag nach Thanksgiving mit zwei achtzehn Monate alten Babys im Schlepptau alleine ein Kaufhaus zu betreten! Sie verstaute die Kleinen in ihrem Kinderwagen und ging dann zu Edie, um für die Fotos zu bezahlen.

Trotz seiner guten Vorsätze, Edie nicht ständig anzustarren, ertappte er sich doch immer wieder dabei, wie er Edies wohlgeformte Schenkel betrachtete, die so verführerisch von den grasgrünen Strumpfhosen umhüllt wurden. Sie trug eine rote Tunika, die ihren ebenfalls wohlgeformten Hintern kaum bedeckte.

Lass das, Stevenson, schalt er sich selbst. Du darfst nichts mit ihr anfangen, egal wie verlockend ihr Anblick ist. Halte dich von Frauen fern, mit denen du zusammenarbeitest. Oder hast du Donna Beaman vergessen?

Wie hätte er Donna vergessen können? Damals war es seine Aufgabe gewesen, das langbeinige Supermodel zu beschützen, das nach einer Aussage in einem Mordprozess Todesdrohungen erhalten hatte.

Sie hatte ihn verführt, er hatte sich überschwänglich in diese Affäre gestürzt und versucht, sich zu ändern, nur um ihr zu imponieren. Das ging sogar so weit, dass er politische Aufgaben übernommen, Smoking getragen und Rhetorikkurse besucht hatte. Als Donna ihn schließlich für einen polospielenden Millionär verließ, war Sam am Boden zerstört.

Diese Erfahrung hatte zu dem Entschluss geführt, dass er sich erstens niemals mehr mit Kolleginnen, Zeuginnen oder Informantinnen einlassen wollte, und zweitens mit niemandem, der ihn nicht um seinetwillen akzeptierte, mit all seinen Fehlern.

Und doch konnte er seine Augen nicht daran hindern, umherzustreifen. Gut, die Speisekarte durfte man sich ja schließlich anschauen, solange man nichts bestellte.

Sam neigte den Kopf und bewunderte die Art und Weise, wie der breite schwarze Gürtel sich an Edies schmale Taille schmiegte. Die verstohlenen Blicke auf diese reizende Elfe machten seinen Job wenigstens einigermaßen erträglich.

“Sie hat einen hübschen Po, oder, Weihnachtsmann?”

Was? Sam musterte das Kind, das als Nächstes an der Reihe war.

Der Junge war ungefähr acht Jahre alt und hatte einen zynischen Ausdruck in seinem sommersprossigen Gesicht. Er lehnte sich ziemlich großspurig gegen das dicke rote Seil, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine weit gespreizt, das trotzige Kinn hoch in die Luft gereckt. Weit und breit war nichts von seinen Eltern zu sehen.

Oje.

Sam kannte diese widerspenstige Haltung von sich selbst zu gut, um sofort zu wissen, dass dies hier ein Problem werden konnte. Vor zwanzig Jahren war er derjenige gewesen, der sich in der Schlange angestellt hatte, um den Weihnachtsmann zu ärgern. Toll, wenn man später seine Sünden so wieder aufgetischt bekam.

“Bist du nicht noch etwas zu jung, um so was zu sagen?”, fragte Sam trocken und versuchte, sich mental in das Alter des Jungen zurückzuversetzen.

Immer wenn er selbst sich abscheulich benommen hatte, dann hatte er es nur getan, weil er mehr Aufmerksamkeit wollte. Es war hart gewesen, ohne Vater und mit einer Mutter aufzuwachsen, die zwei Jobs hatte, um überleben zu können. Als seine Mutter dann an Nierenversagen starb, war er zwölf Jahre alt. Wütend auf die Welt, hatte er begonnen, zu klauen und mutwillig Dinge zu zerstören, um seinen Schmerz zu betäuben.

Er hatte sich nach Disziplin gesehnt, und da war Tante Polly aufgetaucht, hatte ihn adoptiert und ihn vor sich selbst gerettet. Doch sosehr er sich auch bemüht hatte, es ihr recht zu machen, es war ihm nie wirklich gelungen. Nachdem seine Mutter gestorben war, hatte ihn niemand mehr bedingungslos geliebt.

Sam winkte dem Jungen zu. “Komm mal her.”

Das Kind schüttelte den Kopf. “Auf keinen Fall. Sie sind bestimmt irgend so ein alter Perversling.”

“Ich bin der Weihnachtsmann, mein Junge.”

“Es gibt keinen Weihnachtsmann. Sie sind ein Betrüger. Ich könnte das beweisen, indem ich Ihnen den Bart abreiße.” Blitzschnell sprang der Junge über das Seil auf den Sperrholzschlitten. Sam packte ihn am Handgelenk, bevor er an dem unechten Bart ziehen konnte.

Dann blickte er dem Jungen fest in die Augen. “Ich vermute, der Weihnachtsmann hat dir letztes Jahr nicht viele Geschenke gebracht.”

Der Junge sah überrascht aus. “Es gibt keinen Weihnachtsmann.”

“Da täuschst du dich.”

“Ach ja? Warum habe ich dann letztes Jahr das Fahrrad nicht bekommen, das ich mir gewünscht habe? Und warum hast du meinen Daddy nicht wieder nach Hause gebracht?” Die Stimme des Jungen zitterte ein wenig bei der letzten Frage.

“Also darum geht es”, murmelte Sam. Er legte dem Jungen einen Arm um die Taille und zog ihn auf seinen Schoß. “Willst du mir davon erzählen?”

Der Junge zog den Kopf ein und zuckte die Achseln. “Da gibt es nichts zu erzählen. Mein Daddy hat mich und meine Mutter verlassen. Er ruft nie an, und er schickt auch keine Geschenke. Meine Mom arbeitet hart, sie putzt die Zimmer in einem Motel, aber da verdient sie nicht viel Geld. Weißt du, was ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen habe? Unterwäsche und Socken. Und dann sind wir in ein Fast-Food-Restaurant essen gegangen.”

“Das wird dieses Jahr nicht passieren”, sagte Sam. “Der Weihnachtsmann wird sich persönlich darum kümmern. Du gehst jetzt zu der hübschen Elfe da drüben und gibst ihr deinen Namen und deine Adresse.”

Der Junge schaute ihn an. “Echt?”

Sein hoffnungsvoller Blick traf Sam bis ins Mark. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, arm und unerwünscht zu sein. “Echt.”

“Oh Mann, danke.”

“Aber der Weihnachtsmann hat eine Bitte.”

Der Junge verdrehte die Augen. “Ich wusste doch, dass es einen Haken gibt.”

“Keinen Haken. Nur eine ganz höfliche Bitte.”

Der Junge seufzte. “Um was gehts?”

“Sei nicht so frech und pass auf deine Mutter auf.”

“Okay. Ich schätze, das könnte ich tun.”

“Versprochen?”

“Bring mir ein Fahrrad, und ich verspreche es.”

Das Kind war ein harter Verhandlungspartner. Sam gab ihm ein paar Süßigkeiten und sah ihm nach, wie er zu Edie rannte. Ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit. Er hatte dem Jungen geholfen, sich besser zu fühlen. Er würde schon dafür sorgen, dass er dieses Jahr ein besonderes Weihnachtsfest erlebte.

Edie sprach mit dem Jungen, drehte sich dann um und lächelte Sam zu. Auf ihrem Gesicht lag ein bewundernder Ausdruck. Das traf ihn wie ein Pfeil mitten ins Herz.

Vielleicht, überlegte Sam, wird dieser Einsatz doch nicht so schrecklich, wie ich dachte.

Je länger sie Sam Stevenson beobachtete, desto beeindruckter und verwirrter war sie. Er war sehr attraktiv und, guter Gott, großartig gebaut. Er hatte ein Killerlächeln und unendlich viel Geduld mit schreienden Babys. Er hatte sich bei Mr. Trotter für sie eingesetzt. Und es war wahnsinnig nett von ihm gewesen, diesem unglücklichen Jungen eine Extraportion Aufmerksamkeit zu schenken.

Warum also spielte so ein großartiger Typ den Weihnachtsmann in einem Kaufhaus? Die Neugier nagte an ihr. Sie jobbte schon seit Jahren neben ihrem Psychologiestudium als Elfe bei Carmichael’s, und deshalb wusste sie, dass es normalerweise zwei Arten von Männern gab, die eine solche Arbeit annahmen. Erstens Männer, die so am Ende waren, dass sie nur noch befristete und schlecht bezahlte Jobs bekamen. Oder zweitens Großväter, die einfach gerne Kinder um sich hatten.

Bei seinem Aussehen und seinen Fähigkeiten hätte Sam leicht einen besseren Job finden können.

Es sei denn, er hatte irgendwelche Probleme. Er hatte behauptet, kein Alkoholiker zu sein. Aber was war mit Drogen? Oder war er womöglich spielsüchtig?

Edie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Gerade plauderte er mit einem kleinen Mädchen, das wissen wollte, was Rentiere gerne aßen, weil sie zu Weihnachten außer Kekse und Milch für den Weihnachtsmann auch etwas für Rudolph rausstellen wollte.

Sam erklärte dem kleinen Mädchen, dass Rentiere Haferflocken essen würden, weil sie dann noch höher und schneller fliegen könnten.

Was für eine großartige Fantasie er hatte.

Ihre Neugier brachte sie fast um. Er war so widersprüchlich. Sie musste mehr über ihn herausfinden, vor allem darüber, warum er in diesem Kaufhaus arbeitete.

Wer weiß? Vielleicht ist er ja wie du. Vielleicht liebt er Weihnachten einfach. Oder vielleicht studiert er und braucht das Geld für die Studiengebühren.

Dem Himmel sei Dank! Es war endlich Zeit für die Mittagspause. Sie könnte ja mit ihm essen gehen und so ihre Neugier stillen. Sie hob das Pappschild mit der aufgemalten Uhr und den beweglichen Plastikzeigern auf. Darauf stand: Der Weihnachtsmann kommt wieder um:

Sie stellte die Zeiger auf zwei Uhr.

“Bereit für eine Pause?”, fragte sie ihn ein paar Minuten später, nachdem das letzte Kind gegangen war.

“Sie können Gedanken lesen.”

“Nicht direkt.” Sie grinste. “Mein Magen knurrt schon seit über einer Stunde. Sollen wir zusammen in der Cafeteria essen?”

“In diesem Aufzug?”

“Natürlich nicht. Die würden über Sie herfallen.”

“Haben wir genügend Zeit, um uns umzuziehen?”

“Eine Stunde.” Edie deutete auf das Pappschild.

“Sie sind ein Engel.” Er sprang aus dem Schlitten und landete so anmutig neben ihr wie ein Panter.

Sie schielte zu ihm hinauf, erstaunt, dass ihr Herz dermaßen wild klopfte und sie das unwiderstehliche Bedürfnis hatte, laut zu singen. “Sie haben da was an Ihrer Backe.”

“Wo?” Er hob die Hand. “Igitt. Irgendwas Klebriges.”

Edie stellte sich auf die Zehenspitzen und untersuchte es näher. “Muss von einem der Kinder stammen.”

“Ein kleines Mädchen mit Lutscher hat mich geküsst.”

“Ich habe feuchte Tücher in meiner Tasche. Das kann nie schaden, wenn man mit Kindern arbeitet.” Sie zog eine flache Packung aus ihrer Tunika und riss sie auf. “Halten Sie mal still.”

Sie wischte mit dem Tuch über seine Wange. Ihre Finger zitterten ein wenig, und ihr wurde schwindlig. Schnell zerknitterte sie das Tuch in der Hand. “So. Alles weg.”

Er starrte sie an. Edie schnappte nach Luft. Er hatte so wunderschöne blaue Augen. Es war selten, dass ein dunkelhaariger Mann so fesselnde blaue Augen hatte.

“Sie haben wunderschöne Haut”, murmelte er.

“Da… danke.”

“Makellos.”

“Sie sollten das Zeugs sehen, das ich mir nachts ins Gesicht schmiere.” Sie lachte nervös.

“Das ist mal ein vielversprechender Gedanke.”

Die Vorstellung, dass Sam sie in ihrem Pyjama sehen könnte, jagte ihr eine solche Hitzewelle durch den Körper, dass sie das Gefühl hatte, in der Sauna zu sitzen.

Mannomann, es war aber auch wirklich heiß hier.

Sam blickte in diese verführerischen smaragdgrünen Augen und wusste, dass er so schnell wie möglich aus Edies Nähe verschwinden musste.

Ganz schnell.

Denn sonst würde er seine eigenen Regeln brechen und sich mit einer Frau einlassen, mit der er zusammenarbeitete.

Und das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut.

Als er sich wegdrehte, sah er zu seiner Überraschung einen dieser kleinen Ladendiebe, den er schon mehrfach verhaftet hatte, auf sich zukommen.

Fredie the Fish.

So genannt, weil er hervorspringende Augen hatte und fleischige Falten um den Hals, die wie Kiemen auf- und zuklappten, wenn er sich aufregte. Er hatte eine derartige Vorliebe für Sardinen, dass er immer eine Dose davon in der Brusttasche seines Hemdes trug.

Was hatte Fredie the Fish bei Carmichael’s verloren? Machte Fredie vielleicht gemeinsame Sache mit dem Dieb, der hier bei Carmichael’s sein Unwesen trieb?

Die Indizien deuteten darauf hin, dass ein Mitarbeiter in die Diebstähle verwickelt sein musste. Bisher waren Kleider, Gartengeräte und Weihnachtsdekorationen im Wert von zehntausend Dollar verschwunden. Jemand, der sich in dem Kaufhaus sehr gut auskannte, hatte die Ware direkt unter der Nase des Geschäftsführers herausgeschmuggelt. Kein Wunder, dass Trotter dermaßen schlecht gelaunt war. Nachdem er erst seit einem Monat Geschäftsführer war, konnte man nicht gerade von einem guten Start sprechen.

Sam runzelte die Stirn. Es war nicht in Ordnung, Fredie einfach etwas zu unterstellen. Vermutlich machte der Mann seine Weihnachtseinkäufe wie alle anderen auch.

Fredie kam näher.

Mist! Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, von Fredie the Fish enttarnt zu werden.

Tu was, Stevenson.

Verzweifelt bemüht, seine wahre Identität zu verbergen, blickte er Edie fest an, zog sie an sich und beugte den Kopf. Ihr süßer kleiner Mund kräuselte sich vor Überraschung.

Erst als Sam bereits seine Lippen auf ihre gepresst hatte, fiel ihm ein, dass Fredie ihn in seinem Weihnachtsmannkostüm vermutlich sowieso nicht erkannt hätte.

Oh! Oh! Von ihm berührt zu werden fühlte sich einfach fantastisch an.

Raue, männliche Finger strichen über ihre zarte, weibliche Haut. Sein heißer, fester Mund verbrannte ihre Lippen. Überhaupt passten ihre Lippen zusammen wie die richtigen Teile eines Puzzles.

Sam küsste sie!

Vermutlich handelte es sich um reinen Zufall, nicht etwa um Schicksal, aber genau in diesem Moment erklang “I Saw Mommy Kissing Santa Claus” aus den Lautsprechern.

Und dann brannten bei ihr sämtliche Sicherungen durch. Sein Geruch, sein Körper an ihrer Haut, das heftige Trommeln ihres Herzens. Sie vergaß alles um sich herum. Das Kaufhaus, die zahllosen Kunden, die sich an ihnen vorbeidrückten, sie vergaß alles, außer Santa Sam und seinen aufregenden Kuss.

Was für ein Kuss! Lang, ausführlich und voller Verheißung. Was hätte er wohl alles mit seiner Zunge angestellt, wenn sie alleine gewesen wären?

Ihr war ganz flau im Magen, ihre Wangen wurden heiß, ihre Brustwarzen richteten sich auf.

Sofort abbrechen, Edie Preston! Sonst könnte es hier noch zu einer spontanen Selbstentzündung kommen!

Doch ihr Körper ignorierte die Warnungen ihres Verstandes vollständig. Sams Kuss machte aus der zurückhaltenden Elfe einen menschlichen Feuerstrahler.

“Schau mal, Mommy, der Weihnachtsmann küsst die Elfe!”, schrie ein Kind. Sofort wurde Edie in die Realität zurückgerissen.

“Hey, Sie beide!”, rief ein vorlauter Teenager. “Besorgen Sie sich ein Zimmer.”

“Schäm dich, Santa. Was würde wohl Mrs. Claus dazu sagen?”, warf irgendjemand ein.

Edie schluckte schwer und machte einen Schritt nach hinten, ohne allerdings den Blick von ihm abwenden zu können. “Wa… warum haben Sie das getan?”, flüsterte sie verdutzt.

Er deutete zur Decke. “Mistelzweig.”

Edie schaute nach oben. “Ach so.” Ein Baumparasit war also der Grund dafür, dass er sie geküsst hatte. Mehr nicht.

Sam nahm ihre Hand. “Kommen Sie, lassen Sie uns verschwinden. Wir haben schon eine ganze Menschenmenge angelockt.”

Sie ließ sich von ihm in den Personalraum schieben. Dann zog sie sich auf der Damen- und er sich auf der Herrentoilette um.

Ein paar Minuten später kam Sam breit grinsend in schwarzen Jeans und schwarzem Rollkragenpullover wieder heraus. Er hatte das Haar aus der Stirn gekämmt, wodurch sie ungehindert seine fantastischen Gesichtszüge bewundern konnte. Dieser Mann war vermutlich der schönste Weihnachtsmann in der Geschichte des Kaufhauses.

Edie hatte ihren Hut und den kleinen Schurz, auf dem “Fröhliche Weihnachten” stand, abgenommen, hatte ihre Elfenschuhe gegen praktische braune Halbschuhe getauscht, sich das Haar gebürstet und etwas Lippenstift aufgelegt. Sie war so nervös und aufgeregt wie eine Fünfzehnjährige bei ihrem ersten Date.

Beruhige dich, Edie. Du weißt doch überhaupt nichts über diesen Typ.

Genau, und deswegen wollte sie ja auch mit ihm Mittagessen gehen.

“Sind Sie fertig?”, fragte er.

“Hm.” Mehr brachte sie nicht über die Lippen.

Er hielt ihr die Tür auf, doch als sie in den Verkaufsraum trat, sah sie, dass Trotter gerade Jules Hardy, einer Verkäuferin aus der Parfümabteilung, einen Vortrag hielt.

“Schnell zurück!” Sie drehte sich um und prallte gegen Sams Brust, die so hart wie eine Steinmauer war.

“Was ist los?”, erkundigte sich Sam und nahm ihre Hand.

“Trotter”, antwortete sie. “Nach allem, was heute Morgen passiert ist, sollte er uns besser nicht zusammen sehen.”

Doch es war zu spät, um unbemerkt in den Personalraum zurückzukehren, denn Trotter hatte sich bereits halb umgedreht. Noch eine Sekunde, und er würde sie beim Händchenhalten erwischen.

Sam versetzte Edie einen leichten Stoß. “Sie gehen nach links, ich gehe nach rechts. Wir treffen uns in der Cafeteria.”

Edie nickte, duckte sich und verschwand hinter einem Ständer Umstandskleider.

In dem Augenblick, in dem sie davongeschlüpft war, wurde Sam auch schon klar, dass er sie in eine Sackgasse geschickt hatte. Jetzt war sie in einer Ecke des Kaufhauses gefangen und nicht in der Lage, unbemerkt an Trotter vorbeizukommen.

Er musste den Mann unbedingt ablenken.

Sam versteckte sich hinter einem Pfeiler, der mit rotweißem Krepppapier geschmückt war. Trotter stand aufrecht vor einem großen Spiegel, leckte sich die Finger einer Hand und kämmte dann ein paar viel zu lange Haarsträhnen nach hinten, um seine Glatze zu verdecken.

Sam drehte sich in die andere Richtung und hielt nach Edie Ausschau. Er sah, wie der Kleiderständer sich bewegte und entdeckte dann Edies Lockenkopf, als sie versuchte, auf allen vieren in die Dessousabteilung zu krabbeln.

Sam musste sich den Mund zuhalten, um nicht in Lachen auszubrechen.

Trotter riss sich von seinem eigenen Spiegelbild los und neigte den Kopf. Er hatte die Stirn in Falten gelegt. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte direkt auf den Ständer mit der heruntergesetzten Unterwäsche zu, hinter dem Edie kauerte. Seine Schuhe quietschten bei jedem Schritt.

Er musste etwas unternehmen. Schnell trat Sam hinter dem Pfeiler hervor und rief: “Mr. Trotter. Könnte ich Sie mal kurz sprechen?”

Der Geschäftsführer blieb abrupt stehen. “Was wünschen Sie denn, Stevenson?”

Denk nach, Sam. Denk nach.

“Also …”

“Ja?”, zischte Trotter. “Reden Sie!”

Sam schielte über Trotters Schulter. Das war ihre Chance, schnell zu verschwinden. Wo war sie? “Ich wollte Sie wegen des Mitarbeiterrabatts fragen.”

Trotter schaute finster. “Sie bekommen keinen Rabatt. Sie leisten hier Ihre Sozialstunden ab, Sie werden nicht bezahlt.”

In diesem Augenblick sprang Edie plötzlich hinter Trotter auf die Füße. Sie wedelte mit den Armen und formte das Wort: “Weg!”

Sam antwortete mit einem Kopfschütteln.

“Was ist hier eigentlich los?”, wollte Trotter wissen und riss den Kopf herum.

Schnell wie ein Kastenteufel duckte sich Edie wieder weg.

Trotter blickte Sam mit zusammengekniffenen Augen an. “Sie haben irgendetwas vor, Stevenson. Ich habe einfach kein gutes Gefühl, was Sie betrifft.”

“Wer, ich?” Sam lächelte unschuldig.

“Ja, Sie. Gehen Sie zurück in Ihre Abteilung. Sofort.”

“Entschuldigen Sie, Sir. Ich habe mich irgendwie verlaufen. Könnten Sie mir zeigen, wo meine Abteilung ist?”

“Herrgott noch mal!”, schnaubte Trotter. “Folgen Sie mir.”

Als Trotter ihn aus der Damenabteilung führte, seufzte Sam erleichtert auf. Er mochte wie ein absoluter Schwachkopf wirken, aber zumindest hatte er Edie gerettet.

Warum ihm das so wichtig war, wusste er selbst nicht. Aber irgendwie rührte diese süße kleine Elfe ihn ganz tief an.

3. KAPITEL

Sozialstunden ableisten?

Edie kauerte hinter dem Ständer mit der herabgesetzten Unterwäsche und grübelte über das nach, was Trotter gesagt hatte. Sam leistete seine Sozialstunden ab? Sie konnte sich gerade noch davon abhalten, wieder an den Fingernägeln zu kauen.

Als sie aus ihrem Versteck herausschielte, sah sie, dass Sam und Mr. Trotter verschwunden waren. Schnell schaute sie auf ihre Uhr. Nun hatten sie nur noch fünfundzwanzig Minuten Zeit fürs Mittagessen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich mit ihm zu sprechen.

“Miss Preston!”

Trotters Stimme ratterte wie ein Schnellfeuergewehr. Erschrocken sprang sie auf.

“Könnten Sie mir bitte erklären, Miss Preston, was sie auf dem Fußboden der Dessousabteilung zu suchen haben?”

“Hallo”, erwiderte Edie munter. Dann blickte sie Trotter unschuldig an.

“Schauen Sie nicht so drein, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. Was machen Sie hier?”

“Pause.”

Trotter stemmte die Hände in die Hüften. “Haben Sie denn nicht die neuen Regeln gelesen, die ich heute Morgen ans Schwarze Brett gehängt habe?”

“Neue Regeln?” Edie behielt ihr freundliches Lächeln bei.

“Die Mitarbeiter dürfen nicht im Kaufhaus herumspazieren. Sie bleiben entweder im Personalraum oder in ihrer eigenen Abteilung. Keine Besuche bei Freundinnen in der Haushaltswarenabteilung, kein Schwätzchen in der Schuhabteilung.”

“Wie bitte?” Edie richtete sich zu ihrer vollen Größe von immerhin ein Meter siebzig auf und starrte ihm direkt in die Augen. Sie konnte es einfach nicht fassen. Trotter stellte immerzu neue Regeln auf, um die Mitarbeiter zu schikanieren. “Das ist total lächerlich.”

“Das ist nicht lächerlich, Miss Preston, wenn man bedenkt, dass in den letzten Tagen Waren im Wert von über zehntausend Dollar entwendet worden sind.”

“Und warum bestrafen Sie die Mitarbeiter für diese Ladendiebstähle?”

“Ich habe guten Grund anzunehmen, dass die Ladendiebe Mitarbeiter sind.”

“Sie machen wohl Witze.” Sie blinzelte ihn an.

“Ich meine das todernst. So langsam frage ich mich übrigens, ob diese Männer aus dem Wohnheim, die Sie mir aufgeschwatzt haben, nicht hinter den Diebstählen stecken. Sollte sich herausstellen, dass dem so ist, dann werden Sie Ihren Hut nehmen müssen.”

Edie wollte protestieren. Doch es war sinnlos, mit jemandem zu diskutieren, dessen Meinung bereits feststand. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass einer der drei Männer, die sie während ihres letzten Praktikums im Hazelwood Treatment Center kennengelernt hatte, in die Diebstähle verwickelt war. Sie vertraute ihnen, und genau aus diesem Grund hatte sie Trotter angefleht, sie einzustellen. Andererseits: Man konnte nie wissen.

Nachdenklich verließ sie das Kaufhaus und eilte die Treppe des Einkaufszentrums hinunter zu Lulu’s Cafeteria. An der Tür blieb sie stehen und versuchte Sam in der Menschenmenge zu entdecken.

“Hi”, murmelte er an ihrem Ohr.

Edie wirbelte herum. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Dieser Mann konnte sich anschleichen wie eine Katze.

“Selber hi.”

“Hunger?” Er fasste sie am Ellbogen und schob sie hinein. Verschiedenste köstliche Düfte hingen in der Luft.

“Ich bin am Verhungern.”

Edie gefiel es gar nicht, wie nervös es sie machte, dass Sams starke Hände sie berührten, aber ihr Körper besaß seinen eigenen Willen. Sofort wurde ihr Ellbogen heiß, dann der Unterarm, dann die Schulter und dann auf einmal schienen alle Nervenenden zu explodieren.

“Mann”, sagte sie und wand sich aus seinem Griff. “Furchtbar warm hier drin.”

“Das liegt wahrscheinlich an den Wärmestrahlern.”

Nein, daran lag es nicht. Dieser rätselhafte Sam Stevenson war der Grund dafür, dass ihre Haut brannte und brutzelte wie Speck in einer heißen Pfanne.

“Bitte schön.” Er reichte ihr Besteck und ein grünes Plastiktablett, das noch warm von der Spülmaschine war und nach Industrieseife roch.

“Danke.”

Als er lächelte, wurden ihr die Knie weich. Sie lud sich einen gemischten Salat, gebratenen Heilbutt, grüne Bohnen, Eistee und Kirschtörtchen als Dessert aufs Tablett. An der Kasse durchwühlte sie ihre Tasche nach Kleingeld, doch Sam war schneller.

“Aber”, protestierte Edie, “Sie können das doch nicht einfach bezahlen.”

“Und warum nicht?” Seine blauen Augen betrachteten sie freundlich.

“Weil ich Sie eingeladen habe”, erklärte sie und zog einen Zwanzigdollarschein aus der Tasche. “Ich zahle.”

Sie konnte nicht zulassen, dass er sein Geld für sie ausgab, schließlich leistete er gerade seine Sozialstunden ab.

Die Kassiererin gab Sam das Wechselgeld.

“Warten Sie, ich zahle”, beharrte Edie.

“Ganz ruhig, Edie, ist schon alles erledigt.”

Sie wollte nicht, dass er etwas für sie erledigte. Er war derjenige, der Pech gehabt hatte, nicht sie.

“Ich bestehe darauf.”

“Sie halten den ganzen Verkehr auf.” Sam nahm sein Tablett, ließ sie einfach stehen und marschierte auf einen Tisch zu. “Sie können morgen das Mittagessen bezahlen!”, rief er über die Schulter.

Morgen? Edie erschauerte bei dem Gedanken. Sie würden also auch morgen gemeinsam zu Mittag essen?

Mit rasendem Puls schnappte sie ihr Tablett und folgte ihm zu einem Tisch in der hintersten Ecke. Er schob ihr höflich den Stuhl hin.

Was für ein Gentleman.

Okay, Edie Renee Preston, beruhige dich. Vielleicht ist er ja der faszinierendste, bestaussehende Mann, den du je getroffen hast. Er hat für dein Mittagessen bezahlt und dir den Stuhl hingeschoben. Er kann gut mit Kindern umgehen und hat den aufregendsten Hintern der Welt. Aber er hat auch irgendetwas Schlimmes getan. Nicht furchtbar schlimm natürlich, sonst wäre er ja im Gefängnis, aber auf jeden Fall ist er auf dem falschen Weg.

Sie setzte sich. Sam beugte sich nach vorne, um die Teller und Schüsseln von ihrem Tablett zu nehmen.

Der feine Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Er roch nach Weihnachten – Ingwerplätzchen und Pfefferminze und Tannenbaum. Seine Schulter in dem dicken Wollpullover kratzte sanft an ihrer Wange, und sie atmete tief ein.

Himmel! Was war das für ein seltsames, unbekanntes Verlangen, das sie da überkam?

Edie hob den Kopf und schielte zu ihm hoch. Ihr Blick blieb an seinen Lippen hängen. Verflucht! Warum war an der Decke von Lulu’s Cafeteria kein Mistelzweig?

Nachdem Sam die Tabletts weggebracht hatte, setzte er sich ihr gegenüber. Fasziniert beobachtete sie, wie er die Serviette auf seinem Schoß ausbreitete, Zucker in seinen Tee streute und die Pommes frites mit Ketchup dekorierte.

“Ich möchte mich noch einmal für mein Benehmen heute Morgen entschuldigen”, sagte sie und strich jetzt ihre eigene Serviette glatt. “Ich habe die Situation völlig missverstanden. Sie wissen schon, das mit Ihrem Kostüm und den Flöhen.”

Er antwortete erst, nachdem er geschluckt hatte. “Ist ja nichts passiert.”

Er hatte wirklich perfekte Tischmanieren.

“Ich tendiere manchmal dazu, mich mitreißen zu lassen”, fuhr sie fort. “Meine Mutter warnt mich immer, sie meint, dass aus Begeisterung leicht Fanatismus werden kann. Ich arbeite daran.”

“Ich glaube nicht, dass Sie zu eifrig sind. Nur leidenschaftlich.”

Edie strahlte bei diesem Kompliment. “Danke schön!”

Dieser Typ war der absolute Traummann! Von dem Sozialstundenkram einmal abgesehen.

“Wollen Sie dem Jungen wirklich ein Fahrrad zu Weihnachten schenken?”

“Sicher.” Sam zuckte mit den Schultern.

“Aber warum?”

“Warum nicht?” Ihre Blicke trafen sich.

“Das kostet ziemlich viel Geld und bedeutet auch einige Mühe. Warum ausgerechnet dieser Junge?”

“Er hat erzählt, dass sein Vater abgehauen ist. Seine Mutter kann es sich nicht leisten, Weihnachten zu feiern. Er hat mir leid getan. Ist das ein Verbrechen?”

Sam schien sich irgendwie angegriffen zu fühlen. Aber ihr konnte er nichts vormachen. Sie wusste, dass er seine weiche Seite nur nicht zeigen wollte. Wie die meisten Männer. Sie hatten Angst davor, verletzlich zu sein.

“Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?”

“Solange ich sie nicht beantworten muss.”

“Wieso arbeiten Sie als Weihnachtsmann? Ich meine, irgendwie sind Sie nicht der Typ dafür.”

Sam lehnte sich zurück und legte einen Arm auf die Stuhllehne. Dann kniff er die Augen zusammen und grinste schelmisch wie ein sehr ungezogener Junge. “Wollen Sie das wirklich wissen?”

Edie nickte.

“Auch wenn es nicht gerade das beste Licht auf mich wirft?”

Er wollte ihr die Wahrheit sagen! Sie gab ihm noch ein paar Punkte mehr wegen seiner Ehrlichkeit. “Ja.”

“Das Gericht hat mir Sozialstunden aufgebrummt”, erklärte er.

“Sie haben ein Verbrechen begangen?”

Er nickte, zwinkerte ihr zu und wirkte auf einmal in diesen dunklen Klamotten sehr gefährlich.

“Was um Himmels willen haben Sie getan?”, flüsterte sie. Ihr Herz klopfte wie wahnsinnig, während sie mit angehaltenem Atem auf seine Antwort wartete.

“Ich habe mir unerlaubt ein Auto geliehen.” Sam wählte die offizielle Version, die Chief Timmons auch Mr. Trotter erzählt hatte.

Das war ja auch nicht wirklich gelogen. Letzten Monat hatte er sich den Wagen des Oberbürgermeisters ausgeliehen, um einen Drogendealer zu verfolgen. Sein Pech, dass die rasende Verfolgungsjagd in einem Benzintankwagen endete und der Lexus dabei in die Luft gejagt wurde.

“Sie haben ein Auto gestohlen?” Edie starrte ihn an.

Es gefiel ihm gar nicht, ihr Bild von ihm derart zu erschüttern. Warum ihm allerdings ihre Meinung wichtig war, wusste er auch nicht so genau. “Nun, ich hatte eigentlich vor, das Auto wieder zurückzugeben. Sagen wir so, ich wollte einfach eine kleine Spritztour machen.”

“Das ist ja nicht so schlimm.”

“Dann habe ich es aber … sozusagen aus Versehen … zu Schrott gefahren.”

“War es ein teurer Wagen?”

“Sechzigtausend Dollar.”

Edie zuckte zusammen.

“Tja.”

“Warum haben Sie das getan?” Sie beugte sich nach vorne, so fasziniert von seiner Geschichte, dass sie ihr Kirschtörtchen total vergessen hatte.

“Aus Langeweile, schätze ich. Das Gericht hat mir die Wahl gelassen. Sechzig Tage Gefängnis oder das Auto bezahlen und einhundertzwanzig Stunden lang den Weihnachtsmann spielen. Fiel mir nicht schwer, mich zu entscheiden.”

Edie schüttelte den Kopf. “Aber warum haben Sie überhaupt das Auto gestohlen? Sie haben doch alles, was man braucht – gutes Aussehen, Charme und Intelligenz. Warum setzen Sie ihre Zukunft für eine Spritztour aufs Spiel? Und das auch noch in Ihrem Alter”, schimpfte sie. “Bei einem dummen Teenager wäre das ja etwas anderes.”

Sie hatte so einen bestimmten Ausdruck in ihren Augen. Denselben, den er gelegentlich bei seiner lieben alten Tante Polly entdeckt hatte, nachdem sie ihr Leben als Missionarin im Südpazifik aufgegeben hatte, um zu Hause in Amerika für ihn zu sorgen.

Der inbrünstige Blick einer Heiligen, die einen Sünder retten will.

“Und wie hat Ihre Frau diese Nachricht aufgenommen?”, fragte sie.

Er grinste amüsiert. Also war die Anziehung, die er spürte, nicht einseitig. Er hatte das schon vermutet, als sie sich küssten. Und jetzt versuchte sie, seinen Familienstand herauszufinden. “Diesen speziellen Fehler habe ich nie gemacht”, erwiderte er gedehnt und rief sich ins Gedächtnis, dass er auch künftig keinen Fehler machen durfte, nur weil sie spezielle Gefühle in ihm weckte.

“Sie halten Heiraten also für einen Fehler?”

Beinahe hätte er geantwortet, wenn es Polizisten beträfe, dann ja, aber er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. “Die Scheidungsrate liegt bei fünfzig Prozent.”

“Das bedeutet aber auch, dass es bei fünfzig Prozent funktioniert”, entgegnete sie.

“Das stimmt.” Edie gehörte zu denen, für die das Glas immer halb voll und nicht halb leer ist, keine Frage.

Sie musterte ihn einen Moment. “Ich kann Ihnen helfen, Sam.”

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. Die herrlichen honigblonden Locken, die offenen grünen Augen, das runde, entschlossene kleine Kinn. Sam stöhnte innerlich.

“Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass ich Hilfe nötig habe.”

“Ich habe ein Diplom in Psychologie und arbeite gerade an meiner Doktorarbeit. Ich kenne mich mit grenzwertigen Persönlichkeiten recht gut aus.”

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. “Stellen Sie gerade eine Diagnose?”

“Nein, natürlich nicht. Dazu kenne ich Sie nicht gut genug. So vieles spricht für Sie, und doch tun Sie so etwas Dummes, wie einen Wagen zu stehlen. Wieso?”

“Vielleicht bin ich einfach von Grund auf schlecht.”

“Ach, so ein Quatsch.”

“Quatsch?” Er zog eine Augenbraue hoch. “Klingt so die differenzierte Sprache von Psychologen?”

“Sie machen sich über mich lustig”, warf sie ihm vor.

“Nur ein bisschen.”

“Was arbeiten Sie, wenn Sie nicht gerade den Weihnachtsmann spielen?”, fragte sie.

“Mal dies, mal das”, sagte er unbestimmt. Er hasste es zu lügen, obwohl das bei seinem Job oft notwendig war. “Ich habe mich nie so richtig für einen Beruf entscheiden können.”

Sie nickte. “Das habe ich mir schon gedacht.”

Er schaffte es gerade so, nicht in Gelächter auszubrechen. Ihre Ernsthaftigkeit war so echt. Sie glaubte wirklich, ihn durchschaut zu haben.

Diese Frau war eine gute Samariterin.

Von Grund auf.

Und er fühlte sich sehr zu ihr hingezogen.

Das alles roch ganz schön nach Ärger. Und in seiner augenblicklichen Situation konnte er sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.

Das Letzte, was er brauchte, war eine wohltätige Frau, die aus ihm den Mann ihrer Träume machen wollte – einen netten, respektablen Mann, der jeden Abend pünktlich nach Hause kam. Edie war genauso wie seine Tante Polly, die auch immerzu die Ungläubigen vor sich selbst retten wollte.

Er würde tausend Dollar darauf verwetten, dass Edie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas angestellt hatte.

Garantiert hatte sie nie nackt bei Vollmond in einem See gebadet. Oder die Schule geschwänzt, um Billard spielen zu gehen. Und bestimmt hatte sie zu Halloween auch nie das Haus der Nachbarn mit Toilettenpapier dekoriert.

Und Edie glaubte, ihm helfen zu können!

In Wahrheit war sie diejenige, die dringend ein paar Lektionen übers Leben lernen musste. Sie suchte doch nur deshalb bei anderen nach Fehlern, weil sie insgeheim Angst vor ihren eigenen Abgründen hatte. Dem Kuss nach zu urteilen, hielt sie diese Seite jedenfalls fest unter Verschluss. Sie wollte sich öffnen, wusste aber nicht, wie.

Ihm wurde ganz heiß in der Leistengegend, als er an den Kuss dachte. Zu gerne würde er ihr zeigen, wie aufregend und leidenschaftlich die Liebe sein konnte.

Doch die Chancen standen schlecht. Sosehr er seinen Auftrag auch hasste, er musste weiterhin undercover arbeiten. Weder durfte er seine Ermittlungen noch Edie gefährden, indem er sich auf eine Romanze mit ihr einließ. Und später, wenn sein Job erledigt war und sie seine Lüge herausgefunden hatte, ob sie sich dann für ihn interessieren würde?

Sie legte ihre Hand auf seine. “Ich meine es ernst. Ich habe bald meinen Doktor in Psychologie. Ich kann Ihnen helfen.”

Er warf ihr einen anzüglichen Blick zu, in der Hoffnung, sie damit verschrecken zu können. “Ach ja?”, fragte er mit leiser, rauer Stimme. “Und was, wenn ich Sie auf mein Niveau hinunterziehe? Was, wenn mir mein Leben so gefällt, wie es ist? Was, wenn ich gar nicht gerettet werden will?”

Sein Plan ging auf, sie begann hilflos zu stottern: “Ich … also … ähm … was ich damit meine, ist …”

Sam beugte sich vor und umfasste ihr Kinn. Sie blinzelte, schaute ihn dann groß an, entzog sich aber nicht seiner Berührung. Edie war so zart, so perfekt. Sie verdiente einen Mann mit einem sicheren Job, einen ruhigen Mann, dessen Herz noch nicht so verwundet worden war wie seines.

“Ich weiß, dass Sie es gut meinen”, sagte er. “Aber mir ist schon lange nicht mehr zu helfen.”

“Es ist niemals zu spät.”

Er war zwar nicht der Kleinkriminelle, für den sie ihn hielt, aber er hatte auf jeden Fall eine wilde Seite in sich. Eine Seite, die keine Frau bisher bezähmen konnte.

Bei seinen Recherchen hatte er herausgefunden, dass Edie Mr. Trotter dazu überredet hatte, Arbeiter aus dem Männerwohnheim einzustellen. Diese drei Typen, Kyle Spencer, Harry Coomer und Joe Dawson, waren seine Hauptverdächtigen, weil sie exakt an dem Tag ihre Arbeit aufgenommen hatten, an dem die Diebstähle losgegangen waren.

Kyle Spencer hatte bereits wegen des Überfalls auf ein Spirituosengeschäft gesessen. Harry Coomer war wegen Alkohols am Steuer in dem Wohnheim gelandet. Joe Dawson hatte bei seiner Firma Geld unterschlagen. Jeder Einzelne oder alle zusammen konnten in die Diebstähle verwickelt sein.

Warum Edie sich für diese drei Männer so leidenschaftlich eingesetzt hatte, wusste er nicht.

Soweit er es beurteilen konnte, war Edie Preston nicht dumm, aber Junge, Junge, sie war einfach zu vertrauensselig.

Sam blickte Edie über den Tisch hinweg an. Ihm stockte der Atem. Um ihre Ohren kräuselten sich widerspenstige Korkenzieherlocken. Ihre Haut hatte die Farbe von Sahne mit einem Schuss Pfirsich.

Und diese Lippen! Fest, voll und süß wie Schokolade. Dank Fredie the Fish wusste er aus erster Hand, wie herrlich es war, sie zu küssen.

“Wir sollten besser zurückgehen”, verkündete er schnell, bevor er eine Dummheit begehen konnte. Sich vorbeugen zum Beispiel und sie noch mal küssen. “Wir haben gerade noch Zeit, uns umzuziehen.”

“Ja.” Sie hörte zugleich auf zu lächeln und ihn anzusehen. “Sie haben recht. Es wird höchste Zeit, dass ich mich wieder um meine eigenen Angelegenheiten kümmere.”

Verdammt! Wieso fühlte er sich auf einmal wie ein böser Junge, der einer Fünfjährigen verraten hat, dass der Weihnachtsmann gar nicht existiert?

“Dr. Braddick?” Edie klopfte am Montagmorgen um neun an die Tür ihres Doktorvaters. Sie wollte sich ihren Vorschlag genehmigen lassen, bevor sie einen weiteren Tag bei Carmichael’s mit dem Fotografieren von Knirpsen verbrachte. Und damit, in Sams erstaunlich blaue Augen zu schauen.

Diese Aussicht war so aufregend, dass sie die halbe Nacht nicht geschlafen hatte.

Der grauhaarige, bärtige Mann blickte von seinem Tisch auf. “Edie.” Er lächelte. “Sie haben Glück, mich noch zu erwischen. Ich muss gleich in eine Konferenz.”

“Kann ich reinkommen? Ich will Sie nicht aufhalten.”

“Natürlich, natürlich.” Er deutete auf einen Stuhl. “Setzen Sie sich. Es stört Sie doch nicht, wenn ich zusammenpacke, während wir reden?”

“Aber nein, Sir. Überhaupt nicht.”

Er begann, Bücher und Unterlagen in seinen Aktenkoffer zu legen. “Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?”

Edie legte die Hände in den Schoß und räusperte sich. “Ich habe beschlossen, das Thema meiner Dissertation zu ändern. Und dazu brauche ich Ihren Segen.”

“Wirklich?” Er schob den Aktenkoffer zur Seite, um ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmen zu können. “Ich dachte, Sie hätten bereits erhebliche Nachforschungen für das Thema, das ich Ihnen vorgeschlagen habe, angestellt. Die Langzeitschäden von Psychopharmaka auf das Gehirn. Ich habe sogar geplant, einen Auszug aus Ihrer Arbeit in mein neues Buch aufzunehmen.”

“Ich weiß.” Edie faltete die Hände. Wie nur sollte Sie ihrem Doktorvater klarmachen, dass sie sein Thema todlangweilig fand? “Aber mit einem Mal hat sich eine fantastische Möglichkeit aufgetan, echte Feldforschung zu betreiben.”

“Eine fantastische Möglichkeit? Ich höre.”

Sie blickte ihn direkt an. “Dr. Braddick, ich habe keine Lust mehr, meine Zeit in Bibliotheken und psychiatrischen Abteilungen zu verbringen. Ich finde es viel spannender, ganz normalen Leuten dabei zu helfen, ihren Alltag zu meistern.”

“Seit wann denn das?”

“Schon seit Längerem”, entgegnete Edie.

“Ach.”

Er sah sie so enttäuscht an, dass Edie am liebsten sofort eingelenkt hätte.

Aber das war nicht richtig. Sie wollte nicht über Medikamente und psychisch Kranke schreiben. Vielmehr wollte sie sich mit normalen Menschen beschäftigen, deren Probleme wirklich zu lösen waren, und zwar ohne Psychopharmaka. Sie holte tief Luft und erzählte ihm von Sam.

“Ich muss herausfinden, warum er sich so benimmt”, schloss sie dann.

Dr. Braddick rümpfte die Nase. “Von Ihrer offensichtlichen Faszination für diese Person einmal abgesehen: Was genau glauben Sie herausfinden zu können, indem Sie das Verhalten dieses Mannes studieren?”

“Ich will beweisen, dass angemessenes Eingreifen zur richtigen Zeit alles ändern kann.” Bei diesem Gedanken wurde sie noch aufgeregter. Sie wusste einfach, dass sie Sam helfen konnte.

“Angemessenes Eingreifen? Erklären Sie mir das.”

“Ich möchte seinem Selbstbewusstsein durch positive Bestärkung auf die Sprünge helfen. Ich glaube, dass ich ihn vom falschen Weg abbringen und ihm zeigen kann, wie fantastisch das Leben sein kann. Ihm sozusagen den psychologischen Spiegel vorhalten und ihm zeigen, wie er auf andere wirkt.”

“Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie grob vereinfacht das klingt?” Dr. Braddick verzog den Mund, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte.

Zum ersten Mal fiel Edie die kahle Stelle auf seinem Kopf auf, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Landkarte von Florida hatte. Ein paar Haare um Miami herum, die dann verschwanden und erst in der Nähe von Tallahassee wieder auftauchten. Und ein brauner Leberfleck bei Tampa.

“Sie bilden sich ein, diesen Mann ändern zu können”, warf Dr. Braddick ihr vor.

“Nein.” Sie konzentrierte sich auf Tampa, um nicht aus der Haut zu fahren.

“Sie sind Psychologin, Edie, keine Missionarin.” Dr. Braddick schüttelte den Kopf, und einige losgelöste Haarsträhnen fielen zufällig über Jacksonville. “Ich habe mehr von Ihnen erwartet.”

“Was soll das heißen?” Edie runzelte irritiert die Stirn.

“Klassisch”, murmelte er. “Ich möchte Ihre Gefühle nicht verletzen, aber Sie legen eine ziemlich unreife Einstellung an den Tag.”

“Was meinen Sie genau?”

“Ich meine dieses typisch weibliche Bedürfnis, den bösen Jungen zähmen zu wollen. Das ist die Grundlage sämtlicher kitschigen Liebesromane, diese Idee spielt eine große Rolle in den Fantasien junger Mädchen. In der wissenschaftlichen Realität allerdings gibt es dafür überhaupt kein Fundament. Ergo kann der Junge nicht gezähmt werden.”

Ergo? Wer benutzte solche Worte wie ergo, und seit wann war Dr. Braddick so verdammt aufgeblasen?

“Ich hätte nie gedacht, dass Sie solche Allgemeinplätze vertreten, Sir.”

“Und ich hätte nie gedacht, dass meine beste Studentin auf einen sich gegen die Brust trommelnden Neandertaler reinfällt.”

“Ich bin auf niemanden hereingefallen”, entgegnete sie wütend. “Ich habe lediglich eine Testperson gefunden, die mich mehr interessiert als die Aufgaben, die Sie mir in den letzten beiden Jahren gegeben haben.”

Edie hatte noch nie mit ihrem Professor gestritten. Im Gegenteil. Sie war von seinem großartigen Ruf immer fürchterlich beeindruckt gewesen.

Der Schreibtisch, über den die beiden sich anstarrten, war zu einer tiefen Kluft zwischen Student und Professor geworden.

“Na gut”, sagte Dr. Braddick schließlich, die Muskeln in seinem Kiefer zuckten vor unterdrückter Wut. “Ich gebe Ihnen das Seil, an dem Sie sich selbst aufknüpfen werden. Nur zu, beschäftigen Sie sich mit Ihrer Fallstudie. Aber machen Sie mir hinterher keine Vorwürfe, weil Sie ein komplettes Semester verschwendet haben.”

Edie atmete auf. “Danke schön.”

“Aber bevor ich meine Zustimmung gebe, müssen wir ein paar einfache Regeln aufstellen.”

“In Ordnung.”

“Erstens: Sie dürfen sich auf gar keinen Fall mit diesem Mann einlassen, egal, auf welche Art und Weise. Denn wenn Sie das tun, sind Ihre Nachforschungen hinfällig, und Sie können das Projekt vergessen. Verstanden?” Er blickte sie über den Brillenrand prüfend an.

Sie nickte. “Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.”

“Zweitens.” Dr. Braddick kniff die Augen zusammen. “Dieser Mann darf nicht erfahren, dass er das Objekt Ihrer Studien ist. Sie müssen ihn heimlich beobachten. Denn sonst wird er sein Verhalten ändern, und Ihre Resultate wären verzerrt.”

“Das ist kein Problem.”

“Und ich möchte umgehend einen Entwurf auf meinem Tisch haben, wenn nächstes Jahr der Unterricht weitergeht.”

“Ist gut.”

“Und ich erwarte, dass Sie einen klaren Zusammenhang herstellen zwischen Ihren Forschungen und der Tatsache, wie diese Erkenntnisse bei künftigen Fällen angewendet werden könnten. In anderen Worten: Sie müssen mich davon überzeugen, dass dieses Projekt nicht nur eine Entschuldigung für Sie darstellt, sich diesem Mann zu nähern. Ich brauche konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Ihre Interventionen in diesem Fall auch in anderen Fällen wirklich helfen.”

“Ja, Sir.” Edie erhob sich. “Ich verspreche, dass ich Sie nicht enttäuschen werde.”

Dr. Braddick schnaubte ungläubig.

Sie gab ihm die Hand, wünschte ihm eine gute Fahrt und verließ sein Büro. Als sie über den verlassenen Campus lief, an den blattlosen Eichen und Pekannussbäumen vorbei, lag ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht.

“Geschafft!”, schrie sie in den bewölkten Himmel. Endlich hatte sie einmal den Mut aufgebracht, ihren Professor infrage zu stellen. Wenn schon ein paar Tage mit Sam sie derart veränderten, was konnte dann erst ein ganzes Leben mit ihm bewirken?

4. KAPITEL

Fallstudie – Sam Stevenson
Beobachtung vom 2. Dezember

Proband arbeitet weiterhin seine vom Gericht verordneten Sozialstunden als Weihnachtsmann im Kaufhaus Carmichael’s ab. Er macht seine Arbeit gut, ist immer freundlich und geduldig, auch bei kleineren Zwischenfällen, wie zum Beispiel ein Dreijähriger, der unverhofft auf das Knie des Weihnachtsmannes pinkelt, oder eine aufmüpfige Elfe, die vergessen hat, einen Film in die Kamera zu legen, woraufhin der Weihnachtsmann alle Aufnahmen wiederholen muss.

In ihren Notizen erwähnte Edie nicht, dass sie die fragliche Elfe war. Sie klappte das Notizbuch zu, schloss ihren Füller und steckte beides in ihre Tasche.

Sie saß bei laufendem Motor in ihrem Auto vor dem Kaufhaus und wartete auf Sam. In der Hoffnung, ihn abfangen zu können, war sie vor ihm, ohne sich umzuziehen, zum Wagen geeilt.

Ihr Herz schlug schon wieder in diesem seltsamen Rhythmus, der sie an Rumba erinnerte.

Was, wenn Sam merkte, dass sie ihn verfolgte? Und wo würde er nach der Arbeit wohl hingehen? Was sollte sie tun, sobald er dort angekommen war? Die Fragen kreisten in ihrem Kopf wie hungrige Aasgeier auf der Suche nach etwas Essbarem.

Als Sam aus dem Kaufhaus kam, sah er wahnsinnig gut aus. Er trug enge Jeans, die seinen fantastischen Hintern vorteilhaft betonten, schwarze Schuhe und eine Baseballjacke.

Bestürzt stellte Edie fest, dass er nicht alleine war. Joe Dawson lief neben ihm, die beiden unterhielten sich angeregt.

Was hatte Sam mit Joe zu tun? Nicht, dass sie etwas gegen Joe hatte. Er war ein netter Kerl, solange er nicht trank. Edie hatte ihn während eines Praktikums im Hazelwood Treatment Center kennengelernt. Er hatte wegen Unterschlagung im Gefängnis gesessen hatte, war aber fest entschlossen, sein Leben zu ändern. Ein erster Schritt war sein Job in der Buchhaltung von Carmichael’s.

Nichtsdestotrotz wusste Edie, dass Joe noch immer ganz nah am Abgrund stand, zu nah, um sich mit den falschen Leuten einzulassen.

Mit Leuten wie Sam?

Besorgt zerrte sich Edie den Elfenhut vom Kopf und pfefferte ihn in eine Ecke. Sie beobachtete, wie die beiden Männer in Joes Auto stiegen.

Joe startete den Motor. Edie legte den Gang ein und folgte ihnen in ihrem guten alten Toyota.

Nach ein paar Metern bog Joe nach links ab und steuerte direkt auf ein Einkaufszentrum zu, in dem es einen Spirituosenladen, eine Drogerie, einen Friseur, eine Versicherungsagentur und einen Blumenladen gab.

Bitte, geht nicht in den Spirituosenladen, flehte sie im Stillen.

Edie hatte in ihrem ganzen Leben nie einen Tropfen Alkohol angerührt. Sie hatte nichts gegen Leute, die sich gelegentlich einen Drink genehmigten. Bei den meisten war das auch in Ordnung. Aber nicht bei Joe Dawson.

Und bei Sam?

Edies Magen krampfte sich zusammen.

Joe parkte vor der Drogerie. Edie seufzte erleichtert auf, fragte sich dann aber sofort, was sie dort wohl kaufen wollten, und beschloss, ihnen zu folgen.

Die beiden Männer stiegen aus.

Edie parkte in sicherem Abstand und beobachtete, wie sie in der Drogerie verschwanden.

Solange sie im Wagen sitzen blieb, konnte sie nichts herausfinden. Andererseits, was sollte sie tun, wenn die beiden sie erwischten?

Na und? Das hier war ein freies Land. Sie schuldete niemandem eine Erklärung. Sie hatte doch wohl das Recht, in dieser Drogerie einzukaufen.

Edie stieg aus und eilte in den Laden.

Autor

Liz Fielding
<p>In einer absolut malerischen Gegend voller Burgen und Schlösser, die von Geschichten durchdrungen sind, lebt Liz Fielding in Wales. Sie ist seit fast 30 Jahren glücklich mit ihrem Mann John verheiratet. Kennengelernt hatten die beiden sich in Afrika, wo sie beide eine Zeitlang arbeiteten. Sie bekamen zwei Kinder, die inzwischen...
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Stephanie Rowe
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