Wenn aus Freundschaft plötzlich mehr wird

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Woher kommt dieses ungewohnte Kribbeln, sobald Nick sie ansieht? Whillimina hat den attraktiven Arzt immer als ihren allerbesten Freund betrachtet, nicht mehr - und nicht weniger! Doch als er jetzt in ihren Heimatort zurückkehrt, erwachen rätselhafte Gefühle in ihr …


  • Erscheinungstag 07.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506403
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nick hatte nicht erwartet, dass es sich so seltsam anfühlen würde, wieder in die Notaufnahme des Willowby Hospital zu kommen. Immerhin war er als Kind oft genug hier gewesen. Mit einem gebrochenen Arm, einem schwer verstauchten Knöchel und einmal sogar wegen Unterkühlung, weil er in einem Brunnen festgesteckt hatte. Daran war Bill schuld gewesen. Bill, die oben herzzerreißend geweint hatte, weil ihre Katze hineingefallen war.

Whillimina Florence de Groote – seine Freundin Bill.

Als sie nach sechs Söhnen endlich eine Tochter bekam, hatte ihre Mutter sie nach den beiden Großmüttern benannt, weil sie deren Namen für hübsch und feminin hielt. Doch noch bevor Bill sprechen konnte, hatte sie beschlossen, dass sie zu den Jungs gehörte. Schon von frühester Kindheit an hatte sie darauf bestanden, Bill genannt zu werden.

Und so blieb sie eben Bill.

Mit den Gedanken in der Vergangenheit fuhr Nick leicht zusammen, als Lesley, die ihn am Eingang empfangen hatte, sagte: „Ich werde Sie jetzt den leitenden Mitarbeitern vorstellen. Alle anderen werden Sie bei der Arbeit kennenlernen.“

Aber sofort war Nick schon wieder abgelenkt, denn da war sie!

Von den wilden roten Locken, die sie für den Dienst streng gezähmt hatte, waren unter der weißen Kappe einige Strähnen entwischt, die dem sterilen Raum sofort einen Hauch Farbe verliehen.

„Bill!“ Sein erfreuter Ausruf hallte durch die noch ruhige Abteilung, während er zu ihr hin eilte.

Erstaunt folgte Lesley ihm. „Sie kennen Bill?“

Er sah, wie sich auf Bills Gesicht Ungläubigkeit und Überraschung abwechselten. Dann lächelte sie strahlend, wodurch der hell erleuchtete Raum auf einmal noch viel heller wirkte.

„Ich hatte ja keine Ahnung!“ Sie ließ den Patienten stehen, den sie gerade zu einer Behandlungskabine führen wollte, um Nick zu umarmen. „Du hast mir gar nicht verraten, dass du kommst.“ Sie knuffte ihn in die Schulter. „Aber ich freu mich! Gran wird überglücklich sein. Was machst du hier? Ich arbeite. Bist du bloß mal vorbeigekommen, um Hallo zu sagen?“

Nick lachte. Vor Freude über das Wiedersehen und den für Bill so typischen Redeschwall durchströmte ihn eine wunderbare Wärme.

„Ich arbeite auch“, erwiderte er.

Verblüfft sah sie ihn an. „Was? Hier?“

Er nickte belustigt. Noch nie hatte er Bill so verdutzt erlebt. „Dein Patient wartet auf dich. Ich erklär’s dir später“, sagte er dann.

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, ging jedoch zu ihrem Patienten zurück und widmete sich wieder ihrem Job. Während Nick ihr nachschaute, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Er wusste nicht recht, was es war. Das Gefühl, dass es genau richtig war, wieder nach Hause gekommen zu sein? Ach nein, Unsinn. Es hatte bestimmt nur mit der Freude über das Wiedersehen mit Bill zu tun.

Lesley stand hinter ihm. „Sie kennen Bill?“

„Das kann man wohl sagen.“ Noch immer lächelte er.

Irgendwie fühlte er sich durch die Begegnung mit Bill in seinem Entschluss, nach Hause zu kommen, bestärkt. Fast so, als wäre es unvermeidlich gewesen.

Doch viel mehr Zeit für weitere Gedanken hatte er nicht. Da der Oberarzt der Notaufnahme einen Notfall in der eigenen Familie hatte, musste sich Nick direkt in die Arbeit stürzen.

Vier Stunden später hatte er ausreichend Gelegenheit gehabt, seine alte Freundin Bill in Aktion zu sehen. Ihre langjährige Erfahrung zeigte sich sowohl in der Art, wie sie Aufgaben verteilte, als auch im Umgang mit ihren Patienten. Trotz aller Hektik strahlte sie Ruhe aus und hatte für jeden ein Lächeln übrig.

Wann immer sie in Sichtweite war, richtete sich Nicks Aufmerksamkeit sofort auf sie. Aber das war ja nur natürlich, weil er sich über das Wiedersehen mit Bill freute. Und ihr ging es offenbar ebenso, denn bei jeder Begegnung lächelte sie ihm zu.

Nur jetzt nicht, als sie mit energischen Schritten auf ihn zukam. „Ab in den Pausenraum, Dr. Grant, und zwar sofort!“, befahl sie.

Bereitwillig folgte er ihr in den chaotischen Raum, in dem sich momentan erstaunlicherweise niemand sonst aufhielt. Dort zog er Bill in seine Arme und schwenkte sie im Kreis. Gar nicht so einfach, da sie fast so groß war wie er. Doch schnell befreite sie sich und schaute ihn finster an.

„Also, was ist das für eine Geschichte?“, fragte sie. „Einfach in die Stadt kommen, ohne irgendjemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen? Und erzähl mir nicht, dass deine Großmutter Bescheid weiß. Ich war nämlich gestern erst bei ihr, und wie du weißt, kann sie kein Geheimnis für sich behalten.“

Er lachte. „Aber du genauso wenig“, erklärte er. „Und es sollte erst alles in trockenen Tüchern sein, bevor ich es Gran sage. Letztendlich musste ich früher anfangen als erwartet, deshalb hatte ich keine Zeit, überhaupt jemandem davon zu erzählen.“

Misstrauisch musterte Bill ihn mit ihren goldbraunen Augen. „Was ist in trockenen Tüchern?“

„Mein Arbeitsvertrag. Ein Jahr mit Option auf Verlängerung“, antwortete Nick.

Jetzt umarmte Bill ihn voller Begeisterung. „Oh, Nick! Gran wird ja so glücklich darüber sein! Sie sagt zwar nie etwas, aber seit ihrem Sturz vor einem Monat fühlt sie sich ziemlich gebrechlich. Und ich glaube, dadurch vermisst sie dich noch mehr als sowieso schon. Ich kann es an ihrer Stimme hören, wenn sie von dir spricht.“

Und du? Das hätte Nick sie am liebsten gefragt. Er und Bill waren in den vergangenen Jahren immer in Kontakt geblieben. Mit regelmäßigen E-Mails, gelegentlichen Telefonaten und ganz selten auch mal persönlich, wenn sie sich zufällig zur selben Zeit am selben Ort befanden.

„Setz dich, ich mach uns einen Kaffee“, sagte sie.

Gehorsam setzte er sich an den Tisch und schaute ihr zu. Sie fühlte sich hier vollkommen zu Hause. Eigentlich war sie wirklich schön, fiel Nick auf, obwohl er ihr bisher wohl immer zu nahe gestanden hatte, um es zu bemerken.

Mit leichtem Kopfschütteln stellte Bill den Wasserkocher an. Noch immer konnte sie es kaum glauben, dass Nick tatsächlich hier war. Als sie ihn gesehen hatte, hatte unwillkürlich ihr Herzschlag einen Moment lang ausgesetzt. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit welligem braunen Haar. Die schwarz geränderte Brille verbarg seine graublauen Augen und verlieh ihm einen ernsten Ausdruck.

Das war also ihr Nick, ganz erwachsen und umwerfend attraktiv.

Im Kindergarten der Grundschule von Willowby-West hatten sie sich kennengelernt. Ihre Freundschaft hatte begonnen, als sie einen Jungen geboxt hatte, der ihn „Nick Brillenschlange“ genannt hatte. An diesem Nachmittag hatte sie Nick mit zu sich nach Hause geschleppt, ihm befohlen, seiner Großmutter Bescheid zu sagen, wo er war, und dann ein paar ihrer Brüder dazu verdonnert, ihrem neuen Freund beizubringen, sich zu prügeln.

So hatte sich ein festes Band gebildet, das auch jahrelange Trennungen überlebte.

Gab es eine stärkere Verbindung als Freundschaft?

Bill nahm eine Keksdose aus dem Schrank und stellte sie vor Nick auf den Tisch, ehe sie die Kaffeebecher holte. Dann ließ sie sich ihm gegenüber in einen ramponierten alten Sessel fallen. Sie konnte gar nicht aufhören, Nick anzusehen, und fühlte sich etwas verlegen, weil er sie umgekehrt auch ausgiebig musterte.

Als das Schweigen allmählich unbehaglich zu werden drohte, fragte sie schließlich: „Also?“

„Wir haben uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen“, meinte er. „Du hast dich irgendwie verändert.“

„Es ist fünf Jahre her, und dann war’s auch nur für eine Stunde am Sydney Airport. Abgesehen davon verändere ich mich nie, das müsstest du doch wissen“, gab sie scherzhaft zurück. „Ich war ein mageres Kind mit wildem rotem Haar, das zu einer mageren Erwachsenen mit wildem rotem Haar geworden ist. Aber wer hätte gedacht, dass aus dir mal so ein attraktiver Typ werden würde?“

Es war ein merkwürdiges Gespräch, irgendwie angespannt, fand Bill. Nach der Highschool hatten sie verschiedene Wege eingeschlagen. Nick war nach Sydney gegangen, um dort Medizin zu studieren, und sie hatte sich für die Ausbildung zur Krankenschwester entschieden. Trotzdem waren sie, immer wenn sie sich getroffen hatten, sofort wieder alte Freunde gewesen, so, als hätte es nie eine Trennung gegeben.

Doch heute Abend war es anders.

„Willst du bei Gran wohnen?“, fragte Bill.

Gran war Nicks Großmutter, nicht ihre. Aber Bill hatte sich angewöhnt, mehrmals die Woche bei ihr vorbeizuschauen, um mit ihr einkaufen zu gehen oder ihr Bücher aus der Bücherei zu bringen. Jetzt, da Nick hier war, würde Gran sie nicht mehr brauchen.

„Nein, als ich das Jobangebot bekam, habe ich Bob angerufen“, erwiderte Nick. „Er hat mir eins der Penthouses in dem neuen Bauprojekt am Jachthafen angeboten, das gerade fertig geworden ist.“

„Mistkerl!“, brummte Bill. Bob war ihr ältester Bruder und erfolgreicher Bauunternehmer. „Er wusste also, dass du kommst, und hat mir nichts davon erzählt! Außerdem habe ich bloß ein Zweizimmer-Apartment im sechsten Stock in dem Gebäude bekommen, und du kriegst wahrscheinlich sogar Familienrabatt!“

„Aber ich gehöre doch auch zur Familie, oder?“ Nick lächelte. „Ich bin dein siebter Bruder. Hast du das nicht früher immer gesagt?“

Ja, aber irgendetwas beunruhigte Bill jetzt, wobei sie nicht genau wusste, was es war. „Es wird bestimmt komisch sein, mit dir zusammenzuarbeiten“, meinte sie zögernd.

Wieder lächelte er, was ihr erneut ein flattriges Gefühl in der Herzgegend verursachte.

„Das denkst du bloß, weil du es gewohnt bist, mich herumzukommandieren. Aber in der Notaufnahme zählt ein Arzt mehr als eine Krankenschwester.“

„Ach ja?“, fuhr sie sofort auf. „Wer sagt das?“

Anstatt einer Antwort nahm er nur belustigt seinen Kaffeebecher, während sich durch das Lächeln die feinen Linien um seine Augenwinkel vertieften.

Plötzlich jedoch verzog Nick angewidert das Gesicht. „Uäh! Das nennst du Kaffee? Habt ihr noch nie was von Kaffeemaschinen gehört? Was ist das denn für ein altmodisches Krankenhaus?“

Bill lachte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber Budgetkürzungen gibt’s überall. Wenn du schicken Kaffee willst, musst du die Maschine und die Bohnen selbst mitbringen. Jeder wird sie benutzen, und eines Nachts wird ein Junkie sie klauen, und dann bist du ganz schnell wieder bei Instantkaffee.“

„Ich besorge mir eine kleine Espressokanne und schließe sie in meinen Schrank ein, damit nur ich sie benutzen kann“, knurrte er.

Das hörte sich so sehr nach dem Nick aus ihrer Kindheit an, dass Bill eine wohlige Wärme durchströmte.

Es wird schon alles gut werden, dachte sie bei sich.

In diesem Augenblick platzte Lesley herein. „Wir werden einen kritischen Notfall reinbekommen. Können Sie den Anruf des Krankenwagens annehmen, Dr. Grant?“

Vierzig Minuten später war Nick bereit für den Notfall.

Obwohl die Stadt sich vergrößert hatte, war das Willowby Hospital noch immer kaum mehr als ein großes Gesundheitszentrum auf dem Land. Hier gab es weder einen Schockraum noch einen Notfall-Traumachirurgen, sondern nur ihn, Bill und ein paar andere Krankenschwestern.

Im Augenblick war Bill damit beschäftigt, die nötigen Utensilien bereitzulegen. In allem, was sie tat, wirkte sie absolut selbstsicher und exakt. Ihr dabei zuzusehen, gab Nick ein Gefühl der Zuversicht in Bezug auf das, was gleich auf ihn zukommen würde.

„Die Ballenpresse, von der die Leute gesprochen haben, ist das eine Maschine, mit der das Heu zu diesen großen runden Ballen zusammengerollt wird?“, fragte er.

Bill schaute auf. „Ja. Allerdings verstehe ich nicht, wieso der Junge mit seinem Arm überhaupt in die Nähe der Maschine gekommen ist.“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Na ja, wenn sich die Schnur verheddert, denkt man vielleicht, man könnte sie losmachen und daran ziehen. Ich fand schon immer, dass die nächtliche Ernte gefährlich ist. Leute, die keine Nachtarbeit gewöhnt sind, verhalten sich dann oft nicht ganz so aufmerksam wie nötig.“

Gleich darauf wurde der Patient eingeliefert. Durch den großen Blutverlust war er schwach; der rechte Arm war mit einem blutgetränkten Verband umwickelt. Doch der angelegte Druckverband hatte die Blutung nicht völlig zum Stillstand bringen können.

Nick hörte dem Sanitäter zu, der erklärte, welche Erstversorgung der Patient bekommen hatte.

„Wir müssen ihn nur so weit stabilisieren, dass er mit dem Rettungshubschrauber nach Brisbane geflogen werden kann“, sagte Bill.

Vor allem brauchte der junge Mann dringend mehr Flüssigkeit.

Bill verabreichte ihm Sauerstoff und legte ihm die Elektroden für die verschiedenen Monitore an, ehe sie ihm Blut abnahm und es zur Typisierung ins Labor schickte. Währenddessen bereitete Nick einen Katheter in die Schüsselbeinvene vor. Nach einer lokalen Betäubung führte er den Katheter behutsam mit einer Nadel ein. Erst als damit die Flüssigkeitszufuhr gewährleistet war, konnte Nick den halb von der Schulter abgerissenen Arm genauer untersuchen, um die Ursache für den starken Blutverlust zu finden.

„Der Druckverband hält den Blutverlust aus der Oberarmarterie zurück“, erklärte Bill.

Nick fragte sich, ob sie beide noch immer die Fähigkeit besaßen, den Gedanken des jeweils anderen zu folgen, wie es schon zu ihrer Kinderzeit der Fall gewesen war.

Er blickte zu ihr hin. Vorsichtig tastete sie den verletzten Arm ab, spülte die Wunde, um sie zu säubern, und entfernte mit einer Pinzette sorgfältig kleine Heu- und Schmutzteilchen.

„Ich habe den Druckverband gelockert und kann erkennen, wo die Arterie beschädigt ist“, fuhr sie fort. „Aber der Patient ist in einem solchen Schockzustand, dass dies vermutlich nicht die einzige Quelle für seinen Blutverlust ist.“

Ja, ihre Gedanken gingen tatsächlich in dieselbe Richtung.

Er überließ es einer anderen Schwester, die Flüssigkeitszufuhr zu überwachen, während eine weitere auf die Monitoranzeigen achtete. Dann ging er um den Tisch herum zu Bill.

„Hier.“ Sie reichte ihm eine Lupe, damit er die gerissene Arterie klarer sehen konnte.

Zwei winzige Nähte genügten, um den Riss zu verschließen. Doch die Krankenschwester an den Monitoren berichtete, dass der Blutdruck weiterhin abfiel. Und zwar drastisch.

„Ventrikuläre Tachykardie“, sagte sie leise.

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da war Bill bereits mit dem Defibrillator zur Stelle. Nick legte die Elektrodenplatten ober- und unterhalb des Herzens auf und schaltete den Stromstoß ein.

Dann schaute er zum Monitor, doch die Schwester schüttelte den Kopf.

Daraufhin erhöhte Nick die Stromspannung. Erneut zuckte der Körper des Patienten, und die grüne Linie auf dem Monitor zeigte, dass sich der Herzschlag stabilisiert hatte.

Alle atmeten erleichtert auf.

„Er hat drei Liter Flüssigkeit bekommen. Das heißt, er verliert auf jeden Fall noch irgendwo anders Blut.“ Nick wandte sich an Bill. „Wir brauchen Vollblut. Ist das Ergebnis schon da?“

„Kommt gerade.“ Mit einem Nicken wies sie zur Tür, wo ein junger Arzt in weißem Kittel stand, ein Stethoskop um den Hals und zwei Blutbeutel in den Händen.

„Ich bin Rob Darwin, einer der Ärzte, die oben Dienst haben. Bill hat gesagt, dass Sie hier unten Hilfe brauchen“, meinte er. „Und wenn Bill ruft, gehorche ich. Ihr Wunsch ist mir Befehl.“

Es sollte ein Scherz sein, doch dafür hatte Nick keine Zeit. „Geben Sie ihm das Blut. Ist es angewärmt?“

Rob nickte und bereitete die Transfusion über den bereits gelegten Zugang vor.

„Es muss sich um eine innere Blutung handeln. Aber wie? Wo?“ Prüfend betrachtete Nick die stark geschwollene, ausgerenkte Schulter. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Maschine den Arm erwischt und verdreht haben musste, um herauszufinden, wo die Verletzung lag.

„Ein Riss in der Achselarterie?“, fragte Bill leise. Sie war gerade im Begriff, einen frischen, sauberen Verband an dem schwer verletzten Arm anzulegen.

„Entweder das oder die Schlüsselbeinschlagader“, bestätigte Nick. „Ich muss reingehen und nachsehen.“ Er schaute zu Rob. „Können Sie die Anästhesie übernehmen?“

Rob lachte. „Ich bin noch nicht lange hier, aber sobald ich ankam, hat Bill mich gleich darüber aufgeklärt, dass Landärzte für alles zuständig sind. Wie lange soll er weg sein?“

„Hoffentlich nur zwanzig Minuten, aber machen Sie sicherheitshalber vierzig daraus“, erwiderte Nick. „Wenn wir ihn stabilisieren können, wird er ausgeflogen.“

„Der Hubschrauber wartet solange“, versicherte Rob. Er zog bereits die benötigte Injektion auf.

Bill bereitete die Stelle vor, die unterhalb der kaputten Schulter lag. Schnell rasierte sie die Achselhöhle und sterilisierte den gesamten Bereich, bevor sie zurücktrat, damit Nick den Einschnitt vornehmen konnte.

„Wir wissen, dass es in der Achselhöhle ist. Also irgendwo hier“, brummte Nick. Aber das Muskelgewebe war so heftig auseinandergerissen worden, dass man schwer erkennen konnte, wo die Achselhöhle eigentlich hätte sein sollen.

Sobald Bill das Schulterblatt des jungen Mannes leicht zur Seite schob, quoll ein frischer Blutschwall hervor, der den Riss anzeigte.

„Hier hat ein enormer Druck eingewirkt“, stellte Nick fest. „Es sieht aus, als wäre die Arterie auseinandergerissen worden. Ich muss die zerrissenen Enden abschneiden und wieder zusammennähen. Die kunstvolle Arbeit überlasse ich den Gefäßchirurgen in Brisbane.“

Fasziniert sah Bill zu, wie ihr bester Freund ruhig und präzise den lebensrettenden mikrochirurgischen Eingriff bei dem Patienten durchführte. Diese ganze Schicht war bisher eine einzige Überraschung gewesen. Angefangen von dem Moment, in dem Nick die Notaufnahme betreten hatte, als gehörte er hierher.

„Noch eine Naht!“, knurrte er.

Da merkte Bill erst, dass er es offenbar schon einmal gesagt hatte. Rasch konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit. Es freute sie, was für ein hervorragender Notfallmediziner aus Nick geworden war.

Nicht dass sie je daran gezweifelt hätte. Nick war schon immer imstande gewesen, alles zu erreichen, was er wollte. Und auch beste Leistungen zu bringen, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte.

Ihr Freund Nick …

2. KAPITEL

Schließlich wurde der Patient fortgerollt, um per Hubschrauber nach Brisbane geflogen zu werden. Dort würden die Fachärzte hoffentlich in der Lage sein, ihm das Leben und mit viel Glück auch den Arm zu retten.

Im Behandlungsraum ließ Bill sich müde an der Wand herunterrutschen. Das Durcheinander von Verpackungen, Blut, Tupfern und Schläuchen auf dem Fußboden war ihr egal.

„Nicht übel für deine erste Nachtschicht bei uns, oder?“ Lächelnd blickte sie zu Nick auf, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte. „Meinst du, der Job in deiner alten Heimat wird dir gefallen?“

Seine Züge wirkten angestrengt, und man sah ihm den zweistündigen Kampf um das Leben des jungen Mannes an. Dennoch huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Alles, was du kannst, kann ich besser“, gab er scherzhaft zurück.

Es war ein Spruch, den sie beide früher ständig benutzt hatten.

Eine junge Krankenschwester steckte den Kopf zur Tür herein. „Soll ich hier sauber machen?“

„Nein, ich habe Dienstschluss“, erwiderte Bill. „Das übernehme ich.“

Als sie sich wieder Nick zuwandte, musterte er sie mit einem komischen Gesichtsausdruck.

„Was ist?“ Etwas war anders als sonst. Nicht dass er sie ansah, sondern welche Gefühle der Blick in ihr auslöste, beunruhigte sie.

„Rob Darwin? Ein Lover?“, erkundigte sich Nick.

„Von wegen!“ Sie schnaubte. „Rob ist nett, und er hätte wohl auch gerne was mit mir, aber …“

Sie brach ab, weil sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte.

„Kein Funke?“, meinte Nick.

„Überhaupt keiner“, bestätigte Bill. „Für mich wäre es Zeitverschwendung, und ihm gegenüber fände ich es unfair, mit ihm auszugehen, bloß um ein Date zu haben.“

„Sehr nobel von dir“, antwortete Nick amüsiert. Sein Lächeln löste eine noch stärkere Reaktion bei ihr aus.

Das war wirklich merkwürdig, denn schließlich handelte es sich hier um Nick. Aber vielleicht lag es auch nur an ihrer Erschöpfung.

„Bei Nigel muss es dann ja einen Funken gegeben haben“, fuhr er fort. „Was ist da eigentlich passiert? Du hättest ihn heiraten können, den großen Halbgott der Chirurgie. Dann wärst du von all dem hier weggekommen. Du könntest jetzt in der Stadt leben und dich sozial engagieren. Wohltätigkeitsbälle organisieren, Gala-Lunches veranstalten und in Designerklamotten herumlaufen anstatt in blutverschmierten Krankenhausanzügen.“

„Wie schrecklich!“

Sie schlug zwar einen leichten Tonfall an, doch Schmerz durchzuckte sie, als sie sich daran erinnerte, wie dieser Halbgott ihr befohlen hatte, einen Monat vor der Hochzeit eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Niemand sollte denken, dass sie nur heirateten, weil sie schwanger war.

Sie atmete tief durch. Noch immer empfand sie Bitterkeit, wenn sie an diese schlimme Zeit dachte.

Die Erkenntnis, dass der Mann, den sie liebte, nichts weiter war als ein oberflächlicher, karrieresüchtiger Hochstapler, hatte ihr Selbstvertrauen schwer erschüttert. Seitdem zweifelte sie an ihrem Urteilsvermögen anderen Menschen und besonders Männern gegenüber. Durch die Fehlgeburt zwei Monate danach hatte ihr Selbstwertgefühl noch mehr gelitten. Es hatte lange gedauert, es im Kreise ihrer Familie und Freunde in Willowby wieder aufzubauen.

Jetzt jedoch hatte sie sich ein dickeres Fell zugelegt und Schutzmauern um ihr Herz hochgezogen.

Nick, dem der veränderte Tonfall in ihrer Stimme nicht entgangen war, fragte sich, wie sehr die gescheiterte Verlobung sie wohl verletzt hatte. Denn Bill war der vertrauensvollste Mensch, den er kannte. Es beunruhigte ihn, dass er nicht wusste, was damals passiert war.

„Aber wenn wir schon davon reden, was in unserem Leben jeweils hätte geschehen können“, meinte Bill herausfordernd. „Du hättest ja auch Seraphina heiraten können, oder wie hieß sie noch gleich? Damals, als sie schwanger wurde und nach New York ging, um dort ihre Einkünfte als Supermodel zu verprassen.“

„Serena“, verbesserte Nick. „Du verwechselst sie mit Delphina, ihrer Vorgängerin. Außerdem habe ich Serena angeboten, sie zu heiraten. Sie wollte aber nicht – weder mich noch ein Kind und schon gar keine Ehe.“

Beide schwiegen sie eine Weile, bis Bill sich schließlich aufrappelte, die verschmutzte Schürze abnahm und in die Wäschetonne warf. Dann begann sie, den Müll vom Boden einzusammeln.

„Das mache ich.“ Der junge Pflegehelfer, der mit Mopp und Putzeimer erschien, scheuchte sie fort.

Bill hob noch ein paar Dinge auf, war aber ganz froh, ihm den Rest überlassen zu können. Sie folgte Nick hinaus. Der große, offene Raum der Notaufnahme wirkte jetzt um sechs Uhr am Montagmorgen beinahe unheimlich still und menschenleer.

„Heute schlafen anscheinend alle aus“, erklärte Andy, der Stationsleiter. Er war gerade zum Dienst gekommen, frisch und energiegeladen. Er lächelte. „Geht nach Hause, ihr zwei.“

„Ich muss vorher noch die Eintragungen zu unserem letzten Fall diktieren“, antwortete Nick.

„Und ich gehe erst unter die Dusche und dann an den Strand“, sagte Bill. „Ich brauche ein bisschen frische Seeluft, um meinen Kopf freizukriegen, bevor ich überhaupt an Schlaf denken kann.“

Ob sie zum Woodchoppers-Strand ging? Nick wollte sie vor Andy nicht direkt danach fragen, aber er wäre gerne mit ihr dorthin gefahren. Früher war dies ihr Lieblingsstrand gewesen. Bill und ihre Brüder hatten ihn zu ihrem persönlichen Territorium erklärt und ihn von unerwünschten Personen freigehalten. Vor allem von Dealern, die versuchten, ihre Drogen an Teenager zu verkaufen.

Whillimina de Groote und ihre Brüder waren für Nick zu der Familie geworden, die er nie gehabt hatte. Nach jenem ersten Tag, als Bill ihn mit zu sich nach Hause geschleppt hatte, damit ihre Brüder dem fünfjährigen Jungen das Kämpfen beibringen sollten, hatte er von ihnen noch vieles mehr gelernt.

Autor

Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
Aber all das genügte ihr nicht, und sie suchte nach einer neuen Herausforderung, die sie...
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