Wenn die Leidenschaft wieder erwacht

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Zeig ihm bloß nicht, wie sehr er dich aus der Fassung bringt, denkt Liz, als sie ihrem reichen Exmann wieder gegenübersteht! Alles fällt ihr wieder ein: ihre Liebe und die gemeinsame Vergangenheit, die ein dunkles Geheimnis birgt …


  • Erscheinungstag 26.09.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727420
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Rosa Unterwäsche?

Cain Nestor warf seinen ehemals weißen Baumwollslip in die Waschmaschine und knallte die Tür zu. Verdammt! Er hätte gestern Abend beim Einkaufszentrum halten und neue Slips kaufen sollen, aber sein Privatflugzeug war erst spät in Miami gelandet. Außerdem hatte er früher in Kansas oft selbst gewaschen. Konnte er in zwölf Jahren so viel vergessen haben, dass er schließlich rosa Unterwäsche hatte? Anscheinend ja.

Wütend zog Cain den Knoten in dem Handtuch fest, das er sich um die Taille gewickelt hatte. Gerade als die Hintertür aufging, kam er aus dem Wäscheraum in die Küche gestürmt. Wegen der hübschen gelben Rüschenschürze, die das Markenzeichen von Happy Maids war, wusste Cain, dass seine persönliche Assistentin Ava ihm wieder einen Schritt voraus war.

Schon seit Anfang Februar, drei Wochen lang, war Cain ohne Haushälterin. Zwar hatte Ava schon Einstellungsgespräche geführt, doch er hatte an jeder der von ihr ausgewählten Bewerberinnen etwas auszusetzen gehabt. Seine Haushälterin sollte bei ihm wohnen, und ein Mann konnte gar nicht genug aufpassen, wen er in sein Heim ließ.

Allerdings hatte der Mangel an sauberer Unterwäsche klar bewiesen, dass das Ende der Fahnenstange erreicht war. Deshalb sollte sich seine Assistentin eine Überbrückungsmaßnahme ausdenken. Ava hatte einen Reinigungsdienst beauftragt.

Drauf und dran, sich dafür zu entschuldigen, wie er aussah, fing Cain den Blick der Haushaltshilfe auf. Und sein Herz setzte aus. Ihm blieb die Luft weg. Er bekam weiche Knie.

„Liz?“

Ihr langes schwarzes Haar war zu einem strengen Knoten zurückgebunden, und sie hatte abgenommen in den drei Jahren, seit Cain sie zuletzt gesehen hatte, aber diese katzenhaften grünen Augen würde er überall erkennen.

„Cain?“

Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, wurden jedoch schnell von Schuldgefühlen verdrängt. Sie hatte einen sehr guten Job in Philadelphia aufgegeben und war zu ihm nach Miami gezogen, als sie ihn geheiratet hatte. Und jetzt war sie Haushaltshilfe? Nicht einmal eine fest angestellte Haushälterin. Eine Überbrückungsmaßnahme.

Und es war seine Schuld.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Liz Harper blinzelte mehrmals, um sicherzugehen, dass ihre Augen sie nicht täuschten und sie wirklich ihren Exmann nur mit einem Handtuch bekleidet in der Küche des Hauses stehen sah.

In den drei Jahren hatte sich Cain überhaupt nicht verändert. Noch immer gaben ihr seine dunkelbraunen Augen das unheimliche Gefühl, dass er ihr bis in die Seele blicken konnte. Noch immer trug er sein schwarzes Haar kurz. Und noch immer hatte er eine unglaublich athletische Figur. Breite Schultern. Muskulöse Brust. Waschbrettbauch.

Plötzlich nervös, befeuchtete sich Liz die Lippen. „Du könntest sagen: ‚Entschuldige, dass ich fast nackt bin. Ich laufe nur schnell nach oben und hole einen Bademantel.‘“

Das brachte ihn zum Lachen, und sie wurde von unzähligen Erinnerungen überwältigt …

Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich auf dem Flug von Dallas nach Philadelphia kennengelernt hatten. Daran, wie sie Visitenkarten ausgetauscht hatten und Cain sie auf dem Handy angerufen hatte, noch bevor sie aus der Ankunftshalle raus war …

Wie sie am Abend essen gegangen waren, eine Fernbeziehung begonnen, zum ersten Mal am Strand vor seinem schönen Haus in Miami miteinander geschlafen, spontan in Las Vegas geheiratet hatten …

Und jetzt war sie seine Haushaltshilfe.

Konnte eine Frau noch tiefer sinken?

Schlimmer, sie war nicht in der Lage, diesen Auftrag abzulehnen.

„In Ordnung, ich werde nur …“

„Hast du …?“

Beide verstummten. Der Duft seines Aftershaves wehte zu ihr, und Liz erkannte, dass Cain die Marke nicht gewechselt hatte. Noch mehr Erinnerungen schwirrten ihr durch den Kopf. Cains leidenschaftliche Berührungen. Mit welcher Ernsthaftigkeit er küsste.

Liz räusperte sich. „Du zuerst.“

„Nein. Ladies first.“

Ihre Geheimnisse brauchte sie ihm nicht zu offenbaren. Sie würde nicht wieder so dumm sein, ihm ihre Träume anzuvertrauen. Wenn alles gut ging, musste sie ihn nicht einmal sehen, während sie ihre Arbeit machte. „Hast du ein Problem damit?“

„Damit, dass du für mich arbeitest? Oder damit, dass wir darüber reden, während ich so gut wie nichts anhabe?“

Ihre Wangen röteten sich. Bei dem zarten Wink, dass er abgesehen von einem dünnen Handtuch nackt war, brachte Vorfreude ihr Blut in Wallung. Drei Jahre nach der Scheidung mochte das lächerlich klingen, aber sie hatten immer eine starke erotische Anziehungskraft aufeinander ausgeübt.

Und die verschwand nicht einfach. Schließlich war sie so stark gewesen, dass eine vernünftige junge Frau aus Pennsylvania wie Liz ihren Traumjob aufgegeben und zu Cain nach Miami gezogen war. So stark, dass ein zurückgezogen lebender Unternehmer sie in sein Leben gelassen hatte.

„Damit, dass ich für dich arbeite, bis du eine neue Haushälterin einstellst. Ist das ein Problem für dich?“

Er blickte auf den Keramikfliesenboden, dann sah er wieder sie an. „Wenn ich ehrlich bin, es ist mir unangenehm.“

„Warum? Angeblich bist du nicht zu Hause, solange ich hier bin. Tatsächlich wurde mir gesagt, du seist normalerweise um acht im Büro. Dass wir uns über den Weg gelaufen sind, ist reiner Zufall. Und ich brauche diesen Auftrag!“

„Genau deshalb fühle ich mich ja so mies.“

Diesmal geriet ihr Blut vor Wut in Wallung. „Du bemitleidest mich?“ Mit drei Schritten erreichte Liz die große Kücheninsel in der Mitte des Raums. „Weil du glaubst, dass ich nach unserer Scheidung zusammengebrochen bin und jetzt nur noch einen Job als Putzfrau bekomme?“

„Also, ich …“

Mit drei weiteren Schritten stand sie vor ihm. „Schätzchen, mir gehört das Unternehmen. Ich bin die Gründerin von Happy Maids.“

Liz war keine kleine Frau. Sie musste lediglich ein wenig den Kopf zurückneigen, um ihm in die Augen zu sehen. Sofort bereute sie es. Sein Blick verriet ihr, dass mit der Nähe auch für Cain die gegenseitige Anziehungskraft wieder aufgelebt war. Heißes Verlangen durchströmte Liz. Ihr stockte der Atem. Der schwache Duft seines Aftershaves traf sie jetzt mit voller Wucht und brachte wunderschöne, schmerzliche Erinnerungen mit sich.

Cain sah weg und trat zurück. „Netter Versuch.“

„Ruf deine persönliche Assistentin an. Ich bin diejenige, mit der sie gesprochen hat. Ich habe den Vertrag unterschrieben.“

„Wenn du die Besitzerin von Happy Maids bist, warum putzt du dann selbst mein Haus?“ Cain kniff die Augen zusammen. „Du spionierst mir nach.“

„Ach ja? Nach drei Jahren?“, erwiderte Liz empört. „Noch eingebildeter als du kann man ja wohl nicht sein! Deine Assistentin hat mich beauftragt, das Haus des Vorstandsvorsitzenden der Cain Corporation zu putzen. Ich habe zwischen dir und dem Unternehmen überhaupt keinen Zusammenhang gesehen. Deine Firma hieß doch Nestor Construction.“

„Nestor Construction ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Cain Corporation.“

„Toll.“ Liz ging zurück zur Kücheninsel. „Die Sache ist die, dass ich sechs Angestellte und genug Arbeit für sieben habe. Neu einstellen und ausschließlich im Büro bleiben kann ich aber erst, wenn ich genug Arbeit für acht habe.“

Nicht erzählen wollte ihm Liz, dass sie sich bemühte, den Frauen einen Job zu geben, die in den Häusern von A Friend Indeed wohnten, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sichere Unterkünfte für Frauen bereitstellte, die eine zweite Chance brauchten. Mit wohltätigen Einrichtungen wusste Cain nichts anzufangen. Ganz bestimmt wusste er mit zweiten Chancen nichts anzufangen.

„Dann wird mir mein Gewinn erlauben, mir ein Gehalt zu zahlen, mich nur noch ums Geschäftliche zu kümmern und die geplanten Erweiterungen voranzutreiben.“

„Erweiterungen?“

„Ich steige in Gartenarbeiten und Poolreinigung ein.“ Liz strich die losen Haarsträhnen zurück, die aus dem Nackenknoten herausgerutscht waren. „Das steht an. Im Moment befinde ich mich in einer Umbruchphase mit dem Haushaltshilfedienst. Ich benötige dreißig neue Kunden.“

Cain stieß einen Pfiff aus.

„In einer Großstadt wie Miami ist das nicht übertrieben ehrgeizig!“

„Dass es zu schwierig ist, habe ich nicht gemeint. Ich bin beeindruckt. Wann hast du damit angefangen?“

„Vor drei Jahren.“

„Nachdem wir uns haben scheiden lassen, hast du beschlossen, ein Unternehmen zu gründen?“

Trotzig hob Liz das Kinn. Cain würde sie nicht dazu bringen, wegen ihrer Entscheidung ein schlechtes Gewissen zu haben. „Nein. Als ich ausgezogen bin, habe ich ein paar Putzstellen angenommen, und daraus hat es sich entwickelt.“

„Ich habe dir angeboten, Unterhalt zu zahlen.“

„Das wollte ich nicht. Nach einem Jahr hatte ich genug Arbeit für mich selbst und eine Angestellte. Sechs Monate später hatte ich vier Angestellte. Auf dem Stand bin ich geblieben, bis ich einen Boom erlebte und noch zwei einstellte. Und da ist mir klar geworden, dass ich etwas Tolles aus der Firma machen kann.“

„In Ordnung. Ich verstehe es. Ich weiß, wie es ist, voller Pläne zu stecken und Erfolg haben zu wollen. Und, wie du gesagt hast, wir werden uns nicht über den Weg laufen.“ Cain verzog das Gesicht. „Du hattest wohl nicht zufällig vor, als Erstes die Wäsche zu waschen?“

„Warum?“

„Irgendwie ist die Hälfte meiner Unterwäsche rosa geworden.“

Liz lachte, erinnerte sich an andere heitere Augenblicke und hatte das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Ihre Ehe mit Cain hatte ein so schlimmes Ende genommen, dass Liz die schönen Momente vergessen hatte. Plötzlich waren sie alle wieder da und ließen sie nicht los.

Aber das war verkehrt. Sechs Jahre waren seit den „schönen Momenten“ vergangen, die Cain und sie dazu gebracht hatten, in Las Vegas zu heiraten. Nur wenige Wochen nach ihrer überstürzten Hochzeit wurden die schönen Momente seltener. Als Liz ihn verließ, gab es keine mehr.

Und jetzt war sie sein Hausmädchen.

„Die andere Hälfte liegt irgendwo in einem Korb?“

„Im Wäscheraum.“ Cain deutete mit dem Daumen hinter sich.

„Hast du hier zu tun, während du wartest?“

„Ja.“

„Und du gehst dafür in dein Arbeits- oder Schlafzimmer?“

„Ich habe an der Rückseite des Hauses ein Arbeitszimmer.“

„Prima. Ich mache mich ans Waschen.“

Eine gute Stunde später hielt Cain auf dem Parkplatz vor dem Bürogebäude, das ihm gehörte. Er stieg aus, durchquerte die Eingangshalle und fuhr mit dem Aufzug in den obersten Stock, wo die Türen in sein riesiges Büro hinausführten.

„Ava!“

Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch warf Cain die Aktentasche auf den runden Konferenztisch. Es war ihm gelungen, nicht an Liz zu denken, während sie in der Zeit, in der erst die Waschmaschine und dann der Trockner liefen, in seinem Haus herumging und staubsaugte.

Zu ihrer Ehre musste gesagt werden, dass Liz nicht in sein Arbeitszimmer gekommen und einen sauberen weißen Slip auf das Dokument gelegt hatte, das er gerade durchsah. Sie hatte nur hineingerufen, die Wäsche sei fertig und liege auf seinem Bett. Aber der Anblick des ordentlichen Stapels auf der schwarzen Satintagesdecke hatte unerwünschte Emotionen ausgelöst.

Solange sie verheiratet waren, hatte Liz darauf bestanden, selbst zu waschen. Ein Hausmädchen hatte sie nicht haben wollen. Sie war zu Hause geblieben und hatte für ihn gesorgt.

Wie angewurzelt stand Cain da und starrte auf sein Bett. Gefühle, die er jahrelang verdrängt hatte, stiegen wie Lava auf. Sie hatte ihn angebetet, und er hatte sie vergöttert. Keine Frau, mit der er vor ihr oder nach ihr geschlafen hatte, hatte solche Empfindungen wie Liz in ihm wecken können. Und jetzt war sie wieder in seinem Haus.

Das war falsch. Völlig falsch. Im letzten Ehejahr hatten sie sich gegenseitig unglaublich wehgetan. Sie hatte nicht einmal einen Brief hinterlassen, als sie gegangen war. Ihr Anwalt hatte sich bei Cain gemeldet. Liz hatte sein Geld nicht haben, sich nicht von ihm verabschieden wollen. Sie hatte nur den Wunsch gehabt, von ihm wegzukommen, und Cain war erleichtert gewesen.

Auch nur mit ihr im selben Zimmer zu sein, war falsch, falsch, falsch. Er konnte nicht fassen, dass er dieser Sache zugestimmt hatte. Fast nackt zu sein hatte ihn zweifellos aus dem Konzept gebracht.

Schnell zog er sich an und überlegte, ob er Ava auftragen sollte, Liz anzurufen und sie zu bitten, eine ihrer Angestellten für sein Haus einzusetzen.

Aber wie sie versprochen hatte, war sie nirgendwo zu sehen gewesen, als er gegangen war.

„Nur aus Neugier, Ava“, sagte Cain zu der kleinen, ein bisschen molligen Frau knapp über fünfzig, die in diesem Moment sein Büro betrat. „Warum haben Sie Happy Maids ausgewählt?“

„Sie wurden mir empfohlen und nehmen noch neue Kunden an.“ Über den Rand ihrer Brille sah seine persönliche Assistentin ihn forschend an. „Wissen Sie, wie schwer es ist, in Miami ein gutes Hausmädchen zu finden?“

„Anscheinend äußerst schwer, denn sonst hätte ich inzwischen eine fest angestellte Haushälterin.“

„Ich habe meinen Teil getan. Sie sind es, der … Oh. Sie waren da, als die Haushaltshilfe auftauchte, stimmt’s?“

„Nackt, nur mit einem Handtuch bekleidet.“

Entsetzt drückte Ava die Hand an ihre Brust. „Es tut mir so leid.“

Wusste seine Assistentin, dass Liz seine Exfrau war? Aufmerksam musterte Cain ihr Gesicht, doch Ava guckte völlig unschuldig.

„Dass Sie nach einer viertägigen Geschäftsreise länger schlafen, hätte ich mir denken sollen.“ Ava sank auf das Sofa gleich neben der Tür. „Es tut mir leid.“

„Ist schon gut.“

„Nein. Schließlich geben Sie sich ungern mit Leuten ab.“ Sie sprang vom Sofa hoch und eilte zum Schreibtisch. „Halten wir uns jetzt nicht damit auf. Es wird nicht wieder vorkommen. Das da ist die Post dieser Woche. Rechts davon liegen die Nachrichten aus Ihrer Voicemail, die ich Ihnen ausgedruckt habe. Hier haben Sie die Liste der Anrufer, mit denen ich gesprochen habe.“

Lächelnd sah Ava auf. „Ich werde die Putzfrau anrufen und ihr sagen, dass sie nächste Woche erst nach neun anfangen soll.“

„Sie ist in Ordnung.“ Jetzt, da seine Gefühle wieder unter Kontrolle waren, konnte Cain die Sache logisch betrachten. Liz war nicht in der Nähe gewesen, als er das Haus verlassen hatte. Das bewies, dass sie ihn ebenso wenig sehen wollte wie er sie. Eins wusste er über Liz: Sie war ehrlich. Wenn sie behauptete, sie würden sich nicht begegnen, würde sie auch alles tun, um es zu verhindern.

Zwar war sie gegangen, doch am Scheitern ihrer Ehe trug er die Schuld. Er wollte jede Aufregung vermeiden.

„Nein, nein, lassen Sie mich anrufen. Sie mögen es doch nicht, Leuten über den Weg zu laufen. Oder sich überhaupt mit Leuten abzugeben. Das ist mein Job.“

„Mit einer Haushaltshilfe kann ich umgehen.“

„Wirklich?“, fragte Ava völlig verwirrt.

Beinahe hätte Cain sie gefragt, warum sie das bezweifelte. Aber sie hatte recht. Ihre Aufgabe war es, Kleinkram von ihm fernzuhalten. Nicht unbedingt Menschen. Das hatte Ava wahrscheinlich missverstanden.

„Ich muss mich nicht mit ihr abgeben. Nächste Woche werde ich jeden Tag um halb acht aus dem Haus sein. Es ist kein Problem.“

„Schön.“ Ava nickte eifrig und rannte fast hinaus.

Stirnrunzelnd sank Cain in seinen Bürosessel. Lag es an einem Missverständnis, dass seine Assistentin gesagt hatte, er gebe sich nicht gern mit Leuten ab? Oder war es tatsächlich so schwer, mit ihm auszukommen?

Unwichtig. Er kam mit denjenigen gut aus, mit denen er gut auskommen musste.

Die Post war von Ava geöffnet und danach sortiert worden, welches seiner drei Unternehmen sie betraf. Cain las Dokumente, Geschäftsbriefe und Angebote für zukünftige Projekte, bis er auf einen Umschlag stieß, der noch zu war.

Ihm wurde klar, warum, als er ihn umdrehte und den Absender sah. Seine Eltern. In dieser Woche hatte Cain Geburtstag gehabt. Den seine Eltern natürlich nicht vergessen hatten. Seine Schwester hatte wohl auch daran gedacht. Cain nicht.

Er nahm den Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und zog eine zehn Zentimeter dicke Luftpolsterhülle heraus, die ein gerahmtes Bild schützte – sein Vater tat des Guten immer zu viel. Als Cain das Bild auswickelte, wurde er reglos.

Das Familienfoto.

Auf dem Post-it am Rahmen stand:

Wir dachten, dass Du dieses Foto vielleicht gern für Deinen Schreibtisch hättest. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

Cain wollte es einfach zurück in den Umschlag stecken, doch er konnte nicht. Sein Blick wurde zu den glücklich in die Kamera lächelnden Menschen gezogen.

Seine Eltern trugen ihre Sonntagskleidung. Seine Schwester hatte ein Outfit an, das aussah, als hätte sie es aus dem Abfall von irgendjemand. Wenn man bedachte, dass sie damals sechzehn war, stimmte es vielleicht sogar. Cain trug einen Anzug, wie auch sein Bruder Tom, der die Hand auf Cains Schulter gelegt hatte.

„Wenn du in Schwierigkeiten bist, rufst du erst mich an“, hatte Tom tausendmal gesagt. „Nicht Mom und Dad. Ich hole dich da raus, danach bringen wir die schlechte Nachricht den Aufsehern bei.“

Schniefend lachte Cain. Die Aufseher. Oder die Wärter. So hatte Tom ihre Eltern genannt, die unglaublich nette, aufgeschlossene Menschen waren. Tom hatte eben gern Witze gemacht. Mit Worten gespielt. Wegen seines Sinns für Humor war er bei allen beliebt gewesen.

Langsam schob Cain das Foto zurück in den Umschlag. Er wusste, was ihm sein Vater in Wirklichkeit sagen wollte, wenn er vorschlug, dass Cain es auf seinen Schreibtisch stellte.

Sechs Jahre waren vergangen. Es war an der Zeit, weiterzugehen. Sich lebensbejahend, nicht traurig, daran zu erinnern, dass sein älterer Bruder, der netteste, lustigste und intelligenteste der Nestors, drei Tage vor seiner eigenen Hochzeit ums Leben gekommen war, nur drei Wochen nachdem Cain und Liz geheiratet hatten.

Aber er war noch nicht so weit.

Vielleicht würde er es niemals sein.

2. KAPITEL

„Willst du mich veräppeln?“ Kartons mit Lebensmitteln in den Armen, drehte sich Ellie „Magic“ Swanson auf dem Weg zum Eingang eines der Häuser im Besitz der Hilfsorganisation A Friend Indeed zu Liz um.

„Nein. Mein erster Kunde heute war mein Exmann.“ Eigentlich hatte Liz das nicht erzählen wollen, doch es war ihr einfach herausgerutscht. Wie bei Ellie immer alles herauszurutschen schien. Die nette, intelligente, eifrige Zweiundzwanzigjährige hatte sich mit dem falschen Mann eingelassen und dringend einen Neubeginn gebraucht. Liz hatte ihr einen Job gegeben, nur um die Erfahrung zu machen, dass sie mehr von der Beziehung profitierte als Ellie.

Versessen auf eine zweite Chance, war Ellie eine Mitarbeiterin von unschätzbarem Wert geworden. Weshalb Liz für A Friend Indeed nicht bloß Reinigungsdienste und Lebensmittel zur Verfügung stellte, sondern auch jeder Bewohnerin eines Frauenhauses einen Job zu geben versuchte, die einen wollte. Liz glaubte fest an zweite Chancen.

Mit der Schulter stieß Ellie die Hintertür auf, und sie betraten die unmoderne, aber blitzsaubere Küche. „Wie kann denn so etwas passieren?“

„Seine Assistentin Ava hat uns beauftragt, das Haus des Vorstandsvorsitzenden der Cain Corporation zu putzen.“

„Und du wusstest nicht, dass das dein Exmann ist?“

Liz wuchtete ihren Lebensmittelkarton auf die Frühstückstheke. „Solange wir verheiratet waren, gehörte ihm lediglich Nestor Construction. Anscheinend hat er seine Geschäfte innerhalb von drei Jahren ausgeweitet. In ein größeres Haus ist er auch gezogen.“

Dass er das Strandhaus verkauft hatte, in dem sie zusammen gelebt hatten, tat weh, aber es überraschte Liz nicht. Nach dem Tod seines Bruders war Cain so verloren, so verzweifelt gewesen, dass er sich noch mehr in die Arbeit gestürzt hatte. Mit der viel größeren Villa am Meer hatte er sich vermutlich dafür belohnt, ein Ziel erreicht zu haben.

Mit wehenden langen blonden Locken kam Ellie aus der Vorratskammer, wo sie Konserven verstaut hatte. „Nächste Woche übernehme ich sein Haus.“

„Bist du verrückt? Dann denkt er, ich habe mich einschüchtern lassen.“ Liz zeigte mit dem Daumen auf ihre Brust. „Ich gehe hin. Außerdem habe ich für dich etwas anderes.“ Aus ihrer Umhängetasche zog Liz das Bewerbungsformular einer jungen Frau, Rita, mit der sie am vergangenen Abend ein Einstellungsgespräch geführt hatte. Sie reichte Ellie das Blatt Papier. „Was meinst du?“

„Für mich sieht das gut aus.“ Ellie sah auf. „Hast du ihre Zeugnisse überprüft?“

„Ja. Aber sie wohnt in einem Haus von A Friend Indeed. Ich dachte, du kennst sie vielleicht.“

„Nein.“

„Sobald wir hier fertig sind, fahren wir zu ihr und sagen ihr, dass sie die Stelle hat und du sie mit zu den Kunden nimmst.“

„Ich soll sie einarbeiten?“

„Mein Ziel ist es, den Außendienst aufzugeben und ganz im Büro zu bleiben.“ Ein äußerst bescheidenes Büro: Den Schreibtisch und die Stühle hatte Liz gebraucht gekauft. Die Klimaanlage funktionierte selten. Der Fliesenboden musste ersetzt werden. Hübsch waren in dem vollgestopften Raum nur die leuchtend gelb gestrichenen Wände und der gelbschwarze Teppich, den Liz aufgetan hatte, um zumindest den größten Teil des Bodens zu bedecken.

Trotzdem war sie viel besser dran als die Frauen, die bei A Friend Indeed Hilfe suchten. Und mit ihnen zusammenzuarbeiten sorgte dafür, dass sie nicht abhob und dankbar für das war, was sie erreicht hatte.

Es war noch gar nicht so lange her, dass ihre Mutter mit den drei Töchtern vor ihrem gewalttätigen Ehemann davongelaufen war. Durch ein Frauenhaus hatten sie eine zweite Chance bekommen.

„Deswegen muss ich anfangen, dich als stellvertretende Geschäftsführerin aufzubauen.“ Liz lächelte. „Zur Beförderung gehört eine Gehaltserhöhung.“

Ellie ließ die Konserven fallen, die sie gerade aus dem Karton auf der Frühstückstheke gehoben hatte, rannte zu Liz und umarmte sie. „Ich werde die beste Arbeit leisten, die du jemals gesehen hast!“

„Das weiß ich.“

Autor

Susan Meier
<p>Susan Meier wuchs als eines von 11 Kindern auf einer kleinen Farm in Pennsylvania auf. Sie genoss es, sich in der Natur aufzuhalten, im Gras zu liegen, in die Wolken zu starren und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Dort wurde ihrer Meinung nach auch ihre Liebe zu Geschichten und zum Schreiben...
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