Wenn die Mandelbäume blühen

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Nach ihrer unglücklichen Ehe mit Ronald hat Daisy Angst, sich den sehnsüchtigen Gefühlen hinzugeben, die Slade Eastwood in ihr weckt. Und nur um Ronald zu entkommen, nimmt sie den Job als Erzieherin von Slades Sohn an: Doch als ihr Flugzeug in Meran landet, blühen die Mandelbäume - und der Blick in Slades Augen lässt Daisy Aufregendes ahnen …


  • Erscheinungstag 06.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757458
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Daisy atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und musterte sich unauffällig in einem Schaufenster. Ja, sie sah gut aus: groß und schlank, das silberblonde Haar nur noch schulterlang – ein Anblick, an den sie sich erst allmählich gewöhnte.

Ich werde es schaffen, ein neues Leben zu beginnen, sagte sie sich. Es musste ihr einfach gelingen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen!

Flüchtig blickte sie nochmals auf ihr Spiegelbild, dann wandte sie sich ab. Sie konzentrierte sich darauf, wie die anderen Menschen hier in London zu wirken: selbstsicher, ausgeglichen und zielstrebig. Ohne nach rechts und links zu sehen, ging sie auf die Straße.

Bremsen quietschten ohrenbetäubend, und Daisy blickte erschrocken auf. Ein Auto war nur noch ein kleines Stück von ihr entfernt, und sie konnte nicht mehr ausweichen. Wie gelähmt vor Furcht stand sie da. Und dann spürte sie nichts mehr.

„Daisy? Können Sie mich hören? Versuchen Sie, die Augen zu öffnen!“

Daisy hörte die beruhigende, ein wenig mütterlich klingende weibliche Stimme über ihrem Kopf durchaus, doch sie fühlte sich völlig kraftlos und konnte nicht einmal die Augen öffnen.

„Sie kommt allmählich zu sich, aber es ist ein langwieriger Prozess, verstehen Sie? Wahrscheinlich wird sie sich nicht an den Unfall erinnern und zuerst gar nicht wissen, wer sie ist. Nach einem Schock neigt das Gedächtnis dazu, sich sozusagen auszuschalten.“

Sie konnte sich nicht an den Unfall erinnern oder daran, wer sie war? Daisy wollte sagen, dass sie sich an jede Einzelheit erinnerte, aber sie war zu müde. Viel zu müde.

„Haben Sie inzwischen Angehörige oder Freunde ausfindig gemacht? Irgendjemand muss sie doch kennen“, meinte ein Mann mit tiefer Stimme und einem leichten fremdländischen Akzent.

„Die Polizei kümmert sich darum, Mr. Eastwood, aber in der Handtasche war nichts, was zu einer Identifizierung beitragen kann. Wir sind nicht einmal sicher, ob die Patientin Daisy heißt. Der Name ist lediglich in das Armband graviert.“

„Ich dachte immer, Frauen schleppen so viel Kram mit sich herum, dass man mit dem Ballast ein Schlachtschiff zum Sinken bringen könnte.“ Das klang gereizt.

„Diese jedenfalls nicht, aber die Polizei wird das Rätsel ihrer Identität bestimmt bald lösen“, erwiderte die Frau ungerührt.

„Dann haben Sie mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten als ich.“

Die Bemerkung war äußerst sarkastisch, und Daisy verspürte sofort Abneigung gegen den Unbekannten. Was ging es ihn an, was sie in der Tasche bei sich trug? Der hat vielleicht Nerven, dachte sie noch und wurde wieder bewusstlos.

Als Daisy das nächste Mal zu sich kam, war es still im Zimmer. Reglos lag sie mit geschlossenen Augen da und fühlte sich genauso kraftlos wie zuvor. Dann wurde ihr allmählich klar, dass ihr alles wehtat. Sogar das Atmen fiel ihr schwer.

Langsam öffnete sie die Augen, und grelles Licht blendete sie. War sie im Krankenhaus? Unbewusst musste sie darauf gefasst gewesen sein, denn dass neben dem Bett eine Krankenschwester saß, überraschte sie eigentlich nicht. Vorsichtig bewegte Daisy den Kopf und stöhnte.

Rasch stand die Schwester auf. „Sie sind also endlich aufgewacht! Wie fühlen Sie sich, Daisy? Sie heißen doch Daisy, oder?“

„Ja.“ Ihr Mund war wie ausgetrocknet, deshalb fiel es Daisy schwer zu sprechen. „Kann … ich Wasser haben?“

„Natürlich, aber zuerst nur einen kleinen Schluck.“

Die Schwester half ihr, sich aufzurichten, und reichte ihr ein Glas Wasser. Es schmeckte himmlisch. Sie, Daisy, war noch nie im Leben so durstig gewesen.

„Sie hatten einen Unfall. Erinnern Sie sich daran?“, fragte die Schwester in dem Ton, in dem man mit Kleinkindern sprach.

„Ja. Es war allein meine Schuld.“ Daisy zuckte zusammen, als sie sich bequemer hinzusetzen versuchte. Jeder Muskel und Knochen tat ihr weh, und sie hatte höllische Kopfschmerzen.

„Sie hatten großes Glück“, meinte die Schwester munter und stopfte die Decke am Fußende des Betts unter die Matratze. „Es hätte viel schlimmer ausgehen können, aber Sie sind mit Abschürfungen an Armen und Beinen, einigen gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung davongekommen. Und natürlich einigen Schnittwunden und Prellungen“, fügte sie hinzu.

Das soll Glück sein?, dachte Daisy. „Wie lang bin ich schon hier?“, fragte sie matt. Und wo war sie hier überhaupt?

„Sie sind gestern Morgen, also vor mehr als vierundzwanzig Stunden eingeliefert worden. Wir haben vergeblich versucht, Ihre Angehörigen ausfindig zu machen.“ Es klang wie eine Frage.

„Die leben im Ausland“, erklärte Daisy und fuhr fort, um weiteren Fragen vorzubeugen. „Ich bin erst vor Kurzem nach London gekommen, deshalb kenne ich hier niemand. Gestern war ich unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch.“

„Ich fürchte, Sie werden die nächsten zwei, drei Wochen nicht ans Arbeiten denken können, Daisy. Machen Sie sich aber keine Sorgen, sondern konzentrieren Sie sich darauf, bald wieder gesund zu werden. Mr. Eastwood übernimmt übrigens die Kosten für Ihren Aufenthalt bei uns.“

„Kosten?“ Daisy runzelte die Stirn, hörte jedoch sofort damit auf, weil es wehtat.

„Sie sind hier in einer Privatklinik.“

Verwirrt betrachtete Daisy den großen, behaglich eingerichteten Raum. Es gab sogar zwei Sessel und einen kleinen Tisch, und die Vorhänge passten zu den Sesselbezügen. Ja, das war nicht der übliche Krankenhausstil! Sie schluckte und fragte leise: „Und wer ist Mr. Eastwood?“

„Der bedauernswerte Mann, dem Sie den schlimmsten Schreck seines Lebens verpasst haben, als Sie sich vor sein Auto geworfen haben“, erklang eine tiefe Stimme von der Tür her.

Die Schwester wandte sich rasch um, und Daisy verspannte sich. Diese Stimme hatte sie erst einmal gehört, doch sie würde sie immer und überall wieder erkennen.

„Es ist eine Sache, sich mir vor die Füße zu werfen.“ Der Mann blickte Daisy an, und seine Augen funkelten. „Das hätte ich vielleicht sogar genossen. Aber vor meine Autoräder …“

„Es tut mir leid!“ Ihr war schwindlig, doch sie konnte nicht sagen, ob es an der Gehirnerschütterung oder an dem durchdringenden Blick des Unbekannten lag.

Der Mann war groß und muskulös, hatte pechschwarzes Haar und schwarze Brauen. Auch seine Augen waren auffallend dunkel, die markanten Züge und die geschwungenen Lippen wirkten sehr attraktiv. Ja, er sah umwerfend aus – aber er beunruhigte sie. Er strahlte Dynamik und Vitalität aus, und er schien sehr arrogant zu sein.

Unwillkürlich presste Daisy sich tiefer in die Kissen, als der Mann zum Bett kam.

„Ich bin Slade Eastwood“, stellte er sich vor und ergriff kurz ihre Hand.

Ein Stromstoß schien sie zu durchzucken. „Ich bin Daisy Summers“, erwiderte sie mit bebender Stimme.

„Daisy“, wiederholte Slade Eastwood und musterte ihr zartes Gesicht, die großen hellbraunen Augen und das silberblonde Haar. „Ein seltener Name, aber er passt zu Ihnen.“

„Wieso?“

„Es ist das englische Wort für ‚Tausendschönchen‘“, antwortete er beiläufig und wandte sich der Schwester zu. „Wann ist sie zu sich gekommen?“

„Erst vor Kurzem, Mr. Eastwood.“

„Dann will ich Sie nicht länger stören, Daisy. Sie brauchen noch Ruhe.“ Er blickte Daisy nochmals an und ging zur Tür.

„Mr. Eastwood, bitte!“ Daisy nahm allen Mut zusammen, als er sich wieder umdrehte, und erklärte stockend: „Ich kann nicht hier bleiben. So, wie ich es verstanden habe, bezahlen Sie für meinen Aufenthalt. Das Geld kann ich Ihnen nicht sofort zurückerstatten, aber natürlich werde ich es tun, sobald ich …“

„Das kommt gar nicht infrage!“

„Doch. Aber ich kann es mir nicht leisten, länger zu bleiben. Ich meine, ich muss heute noch die Klinik verlassen und …“

„Unsinn!“, sagte er scharf. Als er sah, wie sie zusammenzuckte, fügte er ruhiger hinzu: „Sie sind mir vors Auto gelaufen, deshalb ist es nur recht und billig, dass ich für die Kosten Ihrer Genesung aufkomme. Bitte denken Sie nicht länger darüber nach. Und nennen Sie mich Slade.“

„An dem Unfall war allein ich schuld. Sie konnten mir nicht ausweichen.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Wurde das Auto beschädigt?“

Er sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Der Wagen ist doch völlig egal.“

„Dann habe ich ihn also beschädigt?“, flüsterte sie bedrückt.

Slade wollte ihr nicht erzählen, dass er das Steuer beim Versuch, ihr auszuweichen, verrissen hatte und mit dem Aston Martin gegen einen Laternenpfahl geprallt war, deshalb zuckte er nur die Schultern. „Dem Auto geht es gut, Ihnen nicht – Ende der Geschichte. Und Sie bleiben hier, bis die Ärzte Sie als geheilt entlassen.“

Das klang so kühl und herrisch, dass es auf Daisy wie ein Adrenalinstoß wirkte. Sie richtete sich auf, achtete nicht auf die Schmerzen, die sie dabei empfand, und sagte energisch: „Tut mir leid, aber das kann ich nicht, Mr. Eastwood!“

Zur Hölle noch mal, was ist bloß mit der Frau los?, dachte Slade gereizt, versuchte aber, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. „Doch, das können Sie, Daisy“, entgegnete er ruhig. „Sie haben mir gestern einen fürchterlichen Schreck eingejagt.“ Allein bei der Erinnerung daran wurde ihm flau. „Und Sie haben mir in den vergangenen vierundzwanzig Stunden viele Sorgen beschert. Geld spielt keine Rolle. Selbst wenn es plump und selbstherrlich klingt, ich könnte es mir leisten, Ihnen einen unbegrenzten Aufenthalt hier zu bezahlen. Also tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich die Kosten übernehmen. Und Sie schulden mir einen Gefallen, finden Sie nicht?“

Das nahm ihr den Wind aus den Segeln.

Slade Eastwood spürte es und fügte hinzu: „Es geht nur um einige Tage, höchstens eine Woche, und es würde bedeuten, dass ich nachts ruhig schlafen kann.“

Was soll ich denn jetzt tun?, fragte Daisy sich. Plötzlich wurde ihr alles zu viel. Sie war zu krank und zu erschöpft, um mit ihm zu streiten, und wollte nur schlafen.

„Na gut“, gab sie nach und verachtete sich dabei für ihre Schwäche. „Ich bestehe aber darauf, Ihnen das Geld irgendwann zurückzuzahlen. Das könnte allerdings eine Weile dauern.“

„Darüber reden wir, wenn es Ihnen besser geht.“ Er blickte auf die goldene Armbanduhr an seinem gebräunten Handgelenk, und erst jetzt fiel Daisy auf, dass allein sein Anzug ein Vermögen gekostet haben musste. „Ich habe eine Verabredung. Auf Wiedersehen!“

Sie nickte nur, und bevor Slade Eastwood hinausgegangen war, war sie schon eingeschlafen.

Im Lauf des Tages wachte Daisy immer wieder für einige Minuten auf und nickte gleich darauf erneut ein, aber nachdem sie die Nacht durchgeschlafen hatte, fühlte sie sich am folgenden Morgen schon viel besser. Das dumpfe Gefühl im Kopf hatte nachgelassen, sie konnte wieder klar denken, und sie hatte großen Hunger. Allerdings tat ihr noch jeder Atemzug weh.

Von der Schwester erfuhr sie, dass Slade Eastwood am Vortag mehrmals angerufen hatte, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er besuchte sie jedoch erst, nachdem sie zu Abend gegessen hatte – Hühnchen mit Pilzen in Weißweinsoße und frischem Gemüse und als Nachtisch Schokoladenmousse. Da ihr rechter Arm ganz steif war, musste sie die linke Hand benutzen, und sie war gerade mit dem Nachtisch fertig, als es klopfte. Sie wusste, wer es war.

„Herein.“ Erfreut stellte sie fest, dass es beherrscht klang, auch wenn sie sich nicht so fühlte. Sie schob das Tablett beiseite und atmete tief durch – so gut es mit den schmerzenden Rippen ging.

„Guten Abend!“ Slade trug schwarze Jeans und eine schwarze Lederjacke und sah umwerfend aus.

Diesmal war sie auf die Wirkung gefasst, die er auf sie ausübte. „Hallo!“ Sie brachte sogar ein relativ normales Lächeln zustande, das ihr allerdings verging, als er ihr einen Blumenstrauß aus Rosen und Tausendschönchen überreichte. „Oh! Danke, die sind wunderschön“, sagte sie schnell und atmete den zarten Duft der Blüten ein.

„Gern geschehen“, erwiderte Slade spöttisch und betrachtete sie so eingehend, dass sie errötete. Dann zog er einen Stuhl ans Bett und setzte sich rittlings darauf, die Arme auf der Rückenlehne verschränkt. „Wie fühlen Sie sich, Daisy?“

Bis vor einer Minute hatte sie noch das Gefühl gehabt, sie hätte große Fortschritte gemacht, aber jetzt war sie so benommen wie in dem Moment, als sie zum ersten Mal das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Das wollte sie sich jedoch nicht anmerken lassen.

„Viel besser! Ich bin mir sicher, dass ich die Klinik morgen verlassen kann und …“

„Die Schwester hat mir erzählt, Ihre Angehörigen würden in den USA leben“, unterbrach Slade sie und hob fragend die Brauen. „Bedeutet das, es gibt niemand, der sich um Sie kümmert, wenn Sie aus dem Krankenhaus kommen?“

Daisy sah ihn schweigend an und überlegte fieberhaft. Die Schwester hatte am Nachmittag fast eine Stunde lang mit ihr über alles Mögliche geplaudert, und sie hatte den Eindruck gehabt, dass hinter manchen Fragen mehr steckte als beiläufiges Interesse. Auch wenn sie versucht hatte, ausweichend zu antworten, war sie sich schließlich nicht sicher gewesen, wie viel sie über sich verraten hatte – ein ziemlich unbehagliches Gefühl.

Daisy zuckte die Schultern. „Ich brauche niemand, der sich um mich kümmert. Ich bin eine erwachsene Frau.“

„Eine Erwachsene, die sich glücklich schätzen darf, noch am Leben zu sein“, konterte Slade. „Und wenn Sie erst vor Kurzem aus Schottland nach London gekommen sind …“

Die Schwester hat mich tatsächlich ausgehorcht, um Informationen für Slade Eastwood zu sammeln, dachte sie empört.

„Dann fühlen Sie sich hier in der Großstadt bestimmt sehr einsam“, beendete er den Satz.

Mit Einsamkeit konnte sie fertig werden. Ja, in den vergangenen sechzehn Monaten, die die Hölle gewesen waren, hätte sie Einsamkeit manchmal willkommen geheißen.

„Das ist wirklich kein Problem für mich“, behauptete Daisy gelassen.

„Ich glaube Ihnen nicht!“ Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

Wie gebannt sah sie ihm in die dunklen Augen. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar für alles, was Sie bisher für mich getan haben, Mr. Eastwood, aber …“

„Nennen Sie mich Slade“, unterbrach er sie und betrachtete sie so herablassend, dass sie wütend wurde.

Sie atmete tief durch und sagte beherrscht: „Ich bin durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen und mich um alles zu kümmern, wenn ich die Klinik verlasse.“

„An meinem Auto sieht man noch die Beweise dafür, wie gut Sie auf sich aufpassen können“, erwiderte er ironisch.

Verzweifelt suchte sie nach einer vernichtenden Entgegnung.

Plötzlich lächelte er strahlend. „Wir scheinen schon wieder auf Kriegsfuß miteinander zu stehen.“

Nein, es ist nur so, dass ich Ihnen nicht über den Weg traue, dachte Daisy und tadelte sich sofort dafür. Slade hatte sich rührend um sie gekümmert, sie in diesem fabelhaften Zimmer untergebracht, die Kosten dafür übernommen, Sorge um ihr Wohlergehen gezeigt … Aber sie traute ihm trotzdem nicht! Er wirkte zu dynamisch, zu herrisch, zu männlich – und er gab ihr das Gefühl, völlig hilflos zu sein. Ja, sie fand ihn überwältigend und bedrohlich zugleich.

„Mir liegt absolut nichts an einer Fehde mit Ihnen“, erwiderte sie nicht ganz aufrichtig. „Mir ist es lediglich lieber, wenn ich unabhängig bin und selbst für meinen Lebensunterhalt aufkomme …“

„Und wie wollen Sie das ohne Job und in Ihrem derzeitigen Zustand bewerkstelligen?“, unterbrach Slade sie schon wieder.

Wenn er das noch einmal wagt, gebe ich ihm deutlich zu verstehen, was ich von seiner Überheblichkeit halte, schwor Daisy sich.

„Ich habe etwas Geld gespart“, erklärte sie mühsam beherrscht. „Der Arzt hat mir gesagt, in einigen Wochen würde ich wieder fit sein. Sobald ich einen Job gefunden habe, werde ich Ihnen die Kosten für den Klinikaufenthalt zurückerstatten.“

„Soviel ich gehört habe, arbeiten Sie mit Kindern?“, fragte Slade.

Sie nickte. Die Schwester hatte ihm ja einiges an Informationen zugetragen. „Ich bin Kindergärtnerin und war zwei Jahre lang in einer Kindertagesstätte tätig, bevor …“ Sie verstummte erschrocken. „Bevor ich beschloss, nach London zu kommen“, beendete sie schnell den Satz.

Slade bemerkte ihr Zögern, kommentierte es aber nicht. „Sie können bestimmt Zeugnisse und Empfehlungsschreiben vorlegen, oder?“

„Selbstverständlich!“ Worauf will er hinaus?, fragte Daisy sich verunsichert. Bestimmt ging es ihm nicht nur um höfliches Geplauder!

„Sehr gut.“ Er lächelte nachdenklich.

„Warum interessiert Sie das überhaupt?“, erkundigte sie sich unverblümt.

„Weil ich ein Problem habe, bei dessen Lösung Sie mir vielleicht helfen können, Daisy. Und das würde auch Sie aus der Zwickmühle befreien, in der Sie momentan stecken. Kurz gesagt, wir würden beide davon profitieren. Sie sind doch weiterhin fest entschlossen, mir die Kosten zurückzuerstatten, obwohl es nicht nötig ist. Richtig?“

„Absolut richtig“, erwiderte sie nachdrücklich. Sie wollte ihm auf keinen Fall verpflichtet sein. Den Unfall hatte sie verursacht, vermutlich hatte sie sogar Schaden an dem Auto angerichtet – obwohl seine Versicherung bestimmt dafür aufkommen würde. Trotzdem stand sie schon jetzt tief in Slade Eastwoods Schuld, und das behagte ihr überhaupt nicht.

„Darf ich die Lage kurz zusammenfassen?“ Er sprach, ohne eine Antwort abzuwarten, sofort weiter. „Sie werden die nächsten zwei, drei Wochen arbeitsunfähig sein, und die Lebenshaltungskosten werden Ihr Kapital ziemlich dezimieren, egal, wie hoch Ihre Ersparnisse auch sind. Stimmen Sie mir zu?“

Kapital? Sie würde vierhundert Pfund nicht unbedingt Kapital nennen. Die Miete für das winzige Zimmer hatte sie glücklicherweise für drei Monate im Voraus bezahlt, doch einige Wochen ohne Gehalt würden sie bald an den Rand des Ruins bringen.

Daisy nickte widerstrebend. Slade hatte ihren Kontostand offensichtlich recht genau eingeschätzt.

„Und nun zu meinem Problem.“ Er setzte sich bequemer hin. „Ich habe in London ein Apartment, aber mein Zuhause ist in Italien. Dort lebt auch meine Familie.“

Groß sah Daisy ihn an. Er war also gebürtiger Italiener? Das erklärte natürlich sein schwarzes Haar, die dunklen Augen und den leichten Akzent. Italienern sagte man ja auch einen ausgeprägten Familiensinn nach. Handelte es sich bei der Familie, von der er sprach, um seine Eltern und Geschwister oder …?

„Meine Mutter ist Italienerin, mein Vater war Engländer“, erklärte Slade, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbrachte ich in England, aber nachdem mein Vater gestorben war, zog meine Mutter zurück nach Italien, und für mich wurde das Leben ziemlich kompliziert. Ich habe mich hier um die Firma gekümmert, die ich von meinem Vater geerbt habe, aber auch viel Zeit mit meiner Mutter und ihren Angehörigen verbracht, vor allem nachdem ich meine Frau geheiratet hatte, die aus dem weitverzweigten Clan stammt.“

Ich hätte mir gleich denken können, dass er verheiratet ist, sagte Daisy sich. Ein Mann wie er blieb nicht ungebunden, sondern wurde irgendwann von einer Frau erobert. Sie, Daisy, beneidete die Unbekannte nicht! Als Ehemann war er bestimmt nicht einfach, so dynamisch, mitreißend und attraktiv, wie er war.

Du bist unfair, warf eine innere Stimme ihr vor. Nein, rechtfertigte Daisy sich, ich weiß über attraktive Ehemänner Bescheid – und ich will nie wieder mit einem zu tun haben.

„Meine Frau wollte nicht in England leben, deshalb hatten wir unseren Wohnsitz in Italien, und ich teilte meine Zeit weiterhin zwischen beiden Ländern auf“, berichtete Slade sachlich weiter. „Als unser Sohn geboren wurde, mochte Luisa überhaupt nicht mehr verreisen, sondern wurde fast krankhaft häuslich.“

„Sie haben nur ein Kind?“, fragte sie zögernd.

Er nickte. „Francesco ist jetzt sechs Jahre alt.“ Seine Stimme klang sanft. „Vor achtzehn Monaten kam meine Frau bei einem Autounfall ums Leben. Francesco, der mit im Wagen war, wurde so schwer verletzt, dass er im Rollstuhl sitzen musste.“

„Oh nein! Das ist ja schrecklich.“ Daisy war entsetzt.

„Er kann jetzt wieder gehen“, erklärte er schnell. „Aber er ist ein schwieriger Junge. Das hat wohl weniger mit dem Tod seiner Mutter zu tun als damit, dass er von seinen Großeltern und sonstigen Verwandten fürchterlich verzogen wird. Es ist zwar verständlich …“ Sein Tonfall ließ erkennen, dass Slade es weder verstand noch guthieß. „… aber so kann es nicht weitergehen. Als er aus dem Krankenhaus kam, engagierte seine Großmutter – genauer gesagt, die Mutter meiner Frau Luisa – eigenmächtig eine Pflegerin und ein Kindermädchen für ihn. Da meine Schwiegermutter wegen des Todes ihrer Tochter noch sehr verstört war und sich irgendwie beschäftigen musste, habe ich es ihr durchgehen lassen. Das war ein Fehler. Die Pflegerin verließ uns, als der Junge nach einem halben Jahr wieder gehen konnte, aber noch immer kommt Luisas Mutter fast jeden Tag ins Haus und mischt sich in die Erziehung meines Sohnes ein. Das Kindermädchen steht leider völlig unter ihrem Einfluss.“

„Und was ist mit Ihrer Mutter, Slade? Lebt sie auch in Ihrer Nähe?“

„Sie hat vor vier Jahren wieder geheiratet und wohnt jetzt in Madesimo, einem Ort nahe der Schweizer Grenze. Das ist weit genug von Meran entfernt, um tägliche Besuche unmöglich zu machen“, fügte er trocken hinzu. „Francescos Kindermädchen möchte demnächst heiraten und die Stellung aufgeben, deshalb brauche ich jemand, der sich um den Jungen kümmert, wenn ich nicht zu Hause bin. Eine englische Nanny wäre mir besonders willkommen, weil ich möchte, dass Francesco mit der englischen Sprache und Lebensart von klein auf vertraut gemacht wird. Hätten Sie Lust, als Francescos Nanny zu arbeiten? Dann kann ich mir die Mühe sparen, eine Annonce in die Zeitung zu setzen.“

„Ich?“ Ihre Stimme klang unnatürlich schrill. Er machte wohl einen Scherz!

„Gäbe es für Sie einen unüberwindlichen Hinderungsgrund, die Stellung anzunehmen?“, fragte Slade ungerührt und sah sie durchdringend an.

Oh ja, und der sitzt neben meinem Bett, dachte Daisy verzweifelt.

„Wie die Schwester mir berichtete, haben Sie keine Verpflichtungen hier in England“, fügte er hinzu. „Außerdem sind Sie doch nach London gekommen, um hier einen Neuanfang zu wagen.“

Sie hatte der Schwester nicht erzählt, wovor sie aus Schottland geflohen war, und Slade fragte nicht nach. Sie hätte es ihm ohnehin nicht gesagt, und vielleicht spürte er es.

„Dafür ist ein Ort so gut wie der andere, oder? Francescos Kindermädchen teilte mir letzte Woche mit, dass sie in drei Monaten die Stellung aufgeben möchte.“ Er presste kurz die Lippen zusammen. „Diesmal wird sich meine Schwiegermutter nicht einmischen.“

„Sie wollen mich engagieren, ohne mich zu kennen?“, fragte Daisy ratlos. Die Situation kam ihr fast unwirklich vor. Vielleicht träumte sie?

„Ich weiß bereits mehr über Sie, als ich bei einem Vorstellungsgespräch herausfinden würde. Sie lassen sich nicht leicht einschüchtern, Sie sind aufrichtig und trauen sich zu, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Andernfalls würden Sie nicht so hartnäckig darauf bestehen, mir die Klinikkosten zurückzuerstatten“, fügte er trocken hinzu. „Das sind ganz wesentliche Eigenschaften, um mit meinem Sohn, meinem Personal und meiner Verwandtschaft fertig zu werden. Wenn Ihre Qualifikationen und Zeugnisse zufriedenstellend sind, dann kann man vielleicht sagen, dass unsere Begegnung Schicksal war.“

Sie fand eher, dass das Schicksal ihr übel mitgespielt hatte. Sie konnte unmöglich für Slade Eastwood arbeiten, in seinem Haus leben und ihn jeden Tag sehen. Nein, das ging einfach nicht!

„Ich wollte noch nie als Kindermädchen arbeiten, Mr. Eastwood“, erklärte sie zögernd. „Bisher habe ich mich immer mit Gruppen von etwa zwanzig Kindern beschäftigt.“

„Umso einfacher ist es für Sie, wenn Sie sich nur um eins kümmern“, konterte er. „Und woher wollen Sie wissen, dass es Ihnen nicht gefällt, wenn Sie es nicht versuchen? Wir könnten eine Probezeit von drei Monaten vereinbaren, um erst einmal festzustellen, ob es für alle Beteiligten von Vorteil ist. Ich bin gern bereit, Ihnen einen Vorschuss zu zahlen, der es Ihnen ermöglicht, in Ruhe gesund zu werden und Ihre Angelegenheiten hier zu regeln.“ Er nannte eine Summe, die ihr den Atem verschlug. „Und wenn Sie dann wieder völlig fit sind, kommen Sie nach Italien und verbringen die Zeit, die Angelica noch bei mir im Haus ist, mit ihr und meinem Sohn, um zu sehen, ob es klappt.“

Wie gebannt sah Daisy ihn an. Seine dunklen Augen schienen sie zu hypnotisieren.

Autor

Helen Brooks
Bereits seit über 20 Jahren veröffentlicht die britische Autorin unter dem Pseudonym Helen Brooks Liebesromane, unter ihrem richtigen Namen Rita Bradshaw schreibt sie seit 1998 historische Romane. Weit über 40 Bücher sowie einige andere Werke sind bisher unter dem Namen Helen Brooks erschienen, von Rita Bradshaw gibt es 14 Romane....
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