Wenn du mich so sinnlich küsst

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Um die Zukunft des Fürstentums Sherdana zu sichern, soll Prinz Gabriel Alessandro die ebenso schöne wie kühle Lady Olivia Darcy heiraten. Aber je besser er sie kennenlernt, desto mehr wünscht er sich, dass Olivia in ihm nicht nur den Prinzen sieht, sondern den leidenschaftlichen Liebhaber. Als die Öffentlichkeit von einem dunklen Geheimnis aus seiner Vergangenheit erfährt, kommt es zum Skandal, und Gabriel fürchtet, dass Olivia sich wieder von ihm abwendet. Zu seiner Überraschung hält sie zu ihm. Und wendet sich ihm zu. Noch weiß er nicht, dass auch sie etwas zu verbergen hat …


  • Erscheinungstag 07.02.2017
  • Bandnummer 1962
  • ISBN / Artikelnummer 9783733723583
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Sie ist die Richtige für dich“, sagte Christian Alessandro zu seinem Bruder Gabriel.

Die beiden Prinzen standen am Rande der Tanzfläche und beobachteten ihren Vater. Der Fürst von Sherdana wirbelte Gabriels Verlobte im Takt eines Walzers herum, während die Fürstin sich bemühte, ihre zierlichen Füße vor den großen des Premierministers in Sicherheit zu bringen.

„Natürlich ist sie das“, entgegnete Gabriel.

Lord Darcy, der Vater der Braut, hatte zugesagt, in Sherdana eine moderne Fabrikanlage zu bauen, was der Wirtschaft des kleinen Fürstentums den nötigen Aufschwung verleihen würde. Und seine Tochter, Lady Olivia Darcy, entsprach genau den Anforderungen an eine zukünftige Fürstin: Sie war von altem englischen Adel, schön, gebildet und bekannt für ihr soziales Engagement. In der Öffentlichkeit strahlte sie Würde und Wärme aus. Im Privatleben jedoch schien sie ständig auf der Hut zu sein und sich nie wirklich zu entspannen.

Zu Beginn ihrer Verlobungszeit hatte das Gabriel nicht gestört. Er wusste ja, dass er als Kronprinz nicht seinem Herzen folgen durfte, sondern das Wohl des Landes an die erste Stelle setzen musste. Im Übrigen hatte er die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass leidenschaftliche Liebe keineswegs unbedingt glücklich machte.

„Warum siehst du dann so grimmig aus, Gabriel?“, meinte sein Bruder.

Ja, warum? fragte sich Gabriel. Er mochte Olivia. Andererseits bedauerte er, dass es in seinem Privatleben zukünftig keine großen Gefühle mehr geben würde.

Die Hochzeitsvorbereitungen waren inzwischen ins entscheidende Stadium eingetreten, ohne dass Olivia auch nur eine theatralische Szene gemacht oder unrealistische Forderungen gestellt hatte. Dadurch unterschied sie sich grundlegend von Marissa, mit der Gabriel vor ein paar Jahren eine stürmische Affäre gehabt hatte.

Als Kronprinz war er ein begehrter Junggeselle. Im Laufe der Jahre hatten ihn viele schöne, interessante Frauen umschwärmt. Marissa war die hinreißendste von ihnen gewesen. Die Gesetze seines Landes schrieben ihm allerdings vor, eine Braut zu wählen, die entweder in Sherdana geboren oder von Adel war. Marissa hatte keine dieser Bedingungen erfüllt.

Ohne seine Verbitterung zu verbergen, meinte Gabriel zu seinem Bruder: „Würde es dir etwa gefallen, eine Frau zu heiraten, die du kaum kennst?“

Christian lachte. „Es hat Vorteile, der jüngste Sohn zu sein. Von mir erwartet niemand, dass ich eine Familie gründe.“

Gabriel wusste natürlich, dass keiner seiner Brüder ihn beneidete. Das war insofern gut, als dass er nicht befürchten musste, in einen Streit über die Erbfolge verwickelt zu werden. Christian betätigte sich auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaft und interessierte sich nicht besonders für Politik. Nic lebte in den Vereinigten Staaten, wo er sich an der Entwicklung von Raketen beteiligte, mit denen irgendwann reiche Privatleute ins All fliegen würden.

„… heiß.“

„Heiß?“ Gabriel hatte nicht richtig zugehört. „Was ist heiß?“

„Nicht was, sondern wer.“ Christian betrachtete ihn stirnrunzelnd. „Deine Braut. Ich finde, du solltest dich ein bisschen mehr um sie bemühen. Es könnte spannend sein, sie besser kennenzulernen.“

Lady Olivia Darcy war sicher eine interessante Frau. Aber heiß? Gabriel hätte sie als gebildet, ernsthaft, elegant und hübsch beschrieben. Sie wirkte sehr feminin. Schlank, mit langen Beinen, hellem Teint und blauen Augen. Obwohl sich bekannte Modedesigner darum rissen, sie einzukleiden, war sie keineswegs ein Society-Püppchen, das die Tage mit Shoppen und die Nächte mit Feiern verbrachte. Stattdessen war sie im Vorstand verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen aktiv. Ihre wichtigste Aufgabe sah sie darin, das Los benachteiligter Kinder zu verbessern. Sie würde gut ins Fürstenhaus von Sherdana passen.

„Du hast die zukünftige Fürstin gerade als heiß bezeichnet, Christian. Glaubst du, das würde Mutter gefallen?“

„Aber sicher! Ich bin ihr Nesthäkchen. Ihr gefällt alles, was ich tue.“

Gabriel, Nic und Christian waren Drillinge, und Letzterem war es bisher noch immer gelungen, Vorteile aus seiner Rolle als jüngster Sohn zu ziehen.

„Unsinn! Deine Dummheiten gefallen ihr durchaus nicht. Sie hat dir gegenüber lediglich ein schlechtes Gewissen, weil sie dich dem Kindermädchen überlassen musste, wenn sie sich um Nic und mich kümmerte.“

Ohne darauf einzugehen, nickte Christian in Richtung der Fürstin. „Mutter ist selbst heiß. Wie sonst hätte sie sich Vaters Aufmerksamkeit all die Jahre lang bewahren können?“

Da er nicht daran interessiert war, das Liebesleben seiner Eltern zu diskutieren, fragte Gabriel nur: „Suchst du Streit?“

„Nein. Es ist nur, dass sich Mutter auf Nic und mich stürzen wird, wenn du erst einmal unter der Haube bist.“

„Nic interessiert sich mehr für Raketentreibstoff als für Frauen. Und du hast ihr und der ganzen Welt unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass du noch lange Junggeselle bleiben willst.“

Seit dem Autounfall vor fünf Jahren hatte Christian sich verändert. Aus dem Partylöwen war ein zurückhaltender und manchmal zynischer Mann geworden. Das Hemd mit dem hohen Kragen verbarg die Brandnarben auf Arm, Schulter und Brust. Doch Gabriel wusste, dass die schlimmsten Narben unsichtbar waren. Christians Seele hatte Verletzungen davongetragen. Aber das zeigte sich nur, wenn er sich unbeobachtet glaubte oder wenn er – was selten vorkam – zu viel trank.

„Ich bin sicher“, fuhr Gabriel fort, „dass unsere Eltern die Hoffnung aufgegeben haben, einer von euch würde bald heiraten.“

„Mutter ist romantisch“, widersprach Christian.

„Aber auch realistisch.“

„Das wäre schön. Denn dann bliebe es dir überlassen, alle zukünftigen Prinzen von Sherdana zu zeugen. Und Nic und ich hätten unsere Ruhe.“

Gabriel verspürte einen Knoten im Magen, als er an die Zukunft dachte. Einen Moment lang beobachtete er seine Braut, die jetzt mit dem Premierminister tanzte. Obwohl sie den Mann anlächelte, wirkte sie unnahbar. Ganz anders als Marissa, die temperamentvoll, sinnlich und besitzergreifend gewesen war. Wehmütig dachte er an ihre gemeinsame Zeit in Paris zurück. Frühmorgens hatten sie sich oft wild und leidenschaftlich geliebt und dann vom Fenster aus zugeschaut, wie die Sonne aufging. Sie hatten Croissants geknabbert, starken Kaffee getrunken und …

„Durchlaucht?“

Überrascht stellte Gabriel fest, dass sein Privatsekretär neben ihm aufgetaucht war. Wie schaffte der Mann es nur immer, sich so unbemerkt zu nähern? Und warum standen Schweißperlen auf seiner Stirn? Im Allgemeinen war Stewart Barnes die Ruhe selbst.

Gabriel erschrak. „Probleme?“

Auch Christian sah alarmiert drein. „Ich kümmere mich darum“, bot er seinem Bruder an und wandte sich zur Tür.

„Nein danke, Prinz.“ Stewart trat Christian in den Weg und suchte dann Gabriels Blick, um ihm zu signalisieren, wie ernst die Angelegenheit war. „Durchlaucht, ein Anwalt mit einer äußerst dringenden Botschaft erwartet Sie. Ich weiß, der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, aber …“

„Ein Anwalt?“

„Wie ist er in den Palast gekommen?“

Christian und Gabriel hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen.

„Was könnte so wichtig sein?“

„Hat das nicht Zeit bis nach dem Ball?“

Stewart Barnes schaute von einem zum anderen, um sich dann noch einmal an den Kronprinzen zu wenden. „Er wollte mir nicht sagen, worum es geht. Aber der Name seiner Auftraggeberin hat mich veranlasst, Sie zu benachrichtigen.“

„Seine Auftraggeberin?“

„Marissa Somme.“

Der Name seiner ehemaligen Geliebten weckte heftige Emotionen in Gabriel. Im Grunde war er erstaunt, dass Marissa so lange gewartet hatte, ehe sie ihn kontaktierte. Vor fünf Monaten, als er sich offiziell verlobt hatte und die Medien voll von Berichten über dieses Ereignis gewesen waren, hatte er sich für eine Auseinandersetzung mit Marissa gewappnet. Sie neigte zu dramatischen Ausbrüchen und liebte es, große Szenen zu machen.

„Was will sie?“, murmelte Gabriel, während Christian leise fluchte. „Die Hochzeit darf auf keinen Fall gefährdet werden“, fuhr Gabriel fort. Die Zukunft seines Landes hing von der Übereinkunft ab, die er mit Lord Darcy getroffen hatte. Olivias Vater würde die Fabrik nur dann bauen lassen, wenn seine Tochter Prinzessin von Sherdana wurde. Marissa durfte die Hochzeit auf keinen Fall verhindern.

Gabriel schaute sich um. Hatte jemand beobachtet, wie er und Christian sich mit Stewart unterhielten? Oh nein, ausgerechnet Olivia schaute zu ihm her! Sie sah bezaubernd aus. Aber er hatte sie nicht ihrer Schönheit wegen ausgewählt, sondern weil er wusste, dass sein Volk sie lieben würde. Außerdem war sie klug, einfallsreich und hoffentlich in der Lage, Probleme zu erkennen und zu lösen. Eigenschaften, die die zukünftige Fürstin brauchen würde.

Sie stand jetzt am Rande der Tanzfläche und unterhielt sich mit dem Fürsten, seinem Vater, der lachte und dadurch jünger aussah als vor drei, vier Jahren. Damals hatten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes ihn so sehr niedergedrückt, dass er schließlich sogar krank geworden war. Deshalb hatte Gabriel im Laufe der letzten Jahre immer mehr Regierungsaufgaben übernommen.

Olivia lächelte, aber Gabriel spürte, dass Stewarts Auftauchen im Ballsaal sie beunruhigte. Und plötzlich fühlte er sich ihr sehr nahe. Das war seltsam, denn bisher waren sie einander stets freundlich, aber mit kühler Zurückhaltung begegnet. Unerwartet regte sich eine Hoffnung in ihm: Vielleicht würden sie doch mehr miteinander teilen als ihre Pflichten.

„Durchlaucht?“

Gabriel nickte Stewart Barnes zu und wandte sich dann an Christian: „Kümmerst du dich um Olivia, solange ich beschäftigt bin?“

„Du möchtest, dass ich sie ablenke?“

„Bitte entschuldige zumindest meine Abwesenheit. Ich komme sobald wie möglich zurück.“ Damit verließ er den Ballsaal, in dem festlich gekleidete Gäste aus dem In- und Ausland sich versammelt hatten, um Sherdanas Unabhängigkeit von Frankreich zu feiern.

Seit jenem Tag im Jahr 1664 hatte sich für das Fürstentum vieles geändert, doch nach wie vor war es ein Staat, dessen Wirtschaft von der Landwirtschaft abhängig war. Zwischen Frankreich und Italien gelegen, herrschte in Sherdana ein mediterranes Klima. Die Felder waren fruchtbar und die Weinberge von der Sonne verwöhnt. Doch im einundzwanzigsten Jahrhundert brauchte jeder Staat – und sei er noch so klein – auch eine technologische Kultur. Deshalb war es so wichtig, dass Lord Darcy die versprochene Fabrik wirklich baute. Eine moderne Wirtschaft war dringend notwendig, um den Menschen auch in Zukunft ein Leben ohne finanzielle Not zu ermöglichen. Das wusste Gabriel genau.

In Gedanken bei seinem Land und bei Marissa betrat er mit Stewart Barnes an seiner Seite den Grünen Salon, wo ihn ein blasser Mann mit Halbglatze erwartete.

„Guten Abend, Durchlaucht.“ Der Fremde verbeugte sich. „Bitte verzeihen Sie die Störung. Es handelt sich um eine wirklich dringende Angelegenheit.“

„Marissa Somme will mir Ärger machen, nicht wahr?“

Schockiert schüttelte der Anwalt den Kopf.

„Worum geht es dann? Sie hat eine Botschaft für mich?“

„Nun, ein bisschen komplizierter ist es schon …“

„Sie strapazieren meine Geduld.“

„Durchlaucht.“ Der Mann räusperte sich. „Marissa Somme ist tot.“

Im ersten Moment begriff Gabriel die Worte gar nicht. Dann wurde ihm kalt. Die lebenshungrige, wunderschöne, temperamentvolle Marissa war tot? „Was …“, stammelte er. „Wie …“

„Sie hatte Krebs.“

Obwohl er Marissa lange nicht gesehen hatte, war Gabriel zutiefst erschüttert. Sie war die erste Frau, die er je wirklich geliebt hatte. Die einzige Frau. Ihre Trennung vor mehr als vier Jahren war die schrecklichste, schmerzvollste Erfahrung seines Lebens gewesen. Nun brachen die alten Wunden wieder auf. Er würde Marissa nie wieder sehen, würde nie wieder ihr Lachen hören.

Warum hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet? Er hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um ihr zu helfen.

„Sie sind hier, um mich über ihren Tod zu informieren?“ Hatte sie ihn womöglich doch noch geliebt? Nein, das war unvorstellbar. Dann hätte sie doch früher versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

„Ich soll Ihnen etwas von ihr bringen.“

Gabriel runzelte die Stirn. Hatte Marissa den Anwalt beauftragt, irgendwelche Geschenke zurückzugeben, die er ihr gemacht hatte?

Ich bin damals so romantisch gewesen. So unerfahren. So töricht.

„Ich bringe Ihnen Ihre Töchter.“

„Meine Töchter?“, echote er. „Marissa und ich haben keine Kinder.“

„Ich fürchte, Sie täuschen sich, Durchlaucht. Es sind Zwillinge.“ Der Anwalt reichte ihm zwei Geburtsurkunden.

Gabriel bedeutete Stewart, dass er die Dokumente nehmen und prüfen solle.

Der Sekretär studierte die Papiere aufmerksam. „Die Mädchen tragen den Namen ihrer Mutter. Aber Miss Somme hat Sie als Vater angegeben, Durchlaucht.“

„Unmöglich. Wir waren immer vorsichtig.“ Vielleicht nicht vorsichtig genug? „Wie alt sind die beiden?“

„Zwei Jahre und elf Monate.“

Die Rechnung war einfach. Die Kinder mussten entstanden sein, als Marissa ihn einige Zeit nach ihrer Trennung in Venedig aufgesucht hatte, um ein letztes Mal zu versuchen, ihn zurückzuerobern. Er war zu schwach gewesen, um sie abzuweisen. Eine ganze Nacht lang hatten sie sich wie im Fieber geküsst, umarmt, geliebt. Erst im Morgengrauen hatte er sich an seine Pflicht gegenüber Sherdana erinnert. Er hatte Marissa erklärt, dass es endgültig aus sei zwischen ihnen.

Seitdem quälte ihn die Erinnerung an Marissas Verzweiflung. Sie hatte nie verstanden, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte und er in erster Linie seinem Land verpflichtet war.

Jetzt fragte er sich, wie er reagiert hätte, wenn er von der Schwangerschaft erfahren hätte. Hätte er ihr eine Villa in der Nähe des Palasts gekauft, um sie und die Kinder regelmäßig besuchen zu können? Nein, undenkbar. Nie hätte sie sich mit einem solchen Arrangement einverstanden erklärt.

„Es könnte ein Betrug sein“, stellte Stewart fest.

„Marissa neigte zu theatralischen Gesten. Aber sie hätte mich nie auf diese Art hintergangen.“

„Wir lassen einen DNA-Test machen“, bestimmte der Sekretär.

„Was soll bis dahin mit den Mädchen geschehen?“, meldete sich der Anwalt zu Wort.

„Wo sind sie?“ Gabriel brannte darauf, die Kinder zu sehen.

„Mit ihrem Kindermädchen in meinem Hotel.“

„Bringen Sie sie sofort her!“

„Denken Sie an die bevorstehende Hochzeit, Durchlaucht“, warnte Stewart. „Schon jetzt wimmelt es überall von Journalisten. Es ist gefährlich, die Kinder holen zu lassen.“

Ungeduldig musterte Gabriel seinen Sekretär. „Sie können zwei kleine Kinder nicht in den Palast holen, ohne dass die Presse davon erfährt?“

Stewart straffte die Schultern, genau, wie Gabriel erwartet hatte. „Durchlaucht!“ Dann wandte er sich dem Anwalt zu. „Gehen wir.“

Ich werde wohl zu meinen Gästen zurückkehren müssen, überlegte Gabriel unwillig. Viel lieber hätte er den Anwalt begleitet, um die Kinder so bald wie möglich zu sehen. Aber das war unmöglich. Man würde ihn auf dem Ball vermissen. Vermutlich tat man das bereits. Dennoch brauchte er ein paar Minuten, um sich zu fassen, also ging er in die Bibliothek, wo er seine Gedanken ordnen und seine Gefühle unter Kontrolle bringen konnte.

Wenig später kehrte er, entschlossen, sich von seiner charmantesten Seite zu zeigen, in den Ballsaal und zu seiner Verlobten zurück.

Olivia wunderte sich, als ihr Verlobter den Ball so eilig verließ. Irgendetwas musste geschehen sein. Etwas Unangenehmes, vermutlich. Würde Gabriel mit ihr darüber reden?

Es beunruhigte sie, dass sie den Prinzen, den sie doch in vier Wochen heiraten würde, so wenig kannte. Sicher, sie schlossen keine Liebesehe wie Prinz William und Kate. Trotzdem sah Olivia sich in gewisser Weise am Ziel ihrer Träume. Als kleines Kind hatte sie von einem Leben als Prinzessin geträumt. Als Teenager hatte sie beschlossen, realistisch zu sein. Als Studentin hatte sie begonnen, sich für benachteiligte Kinder einzusetzen.

Durch die Ehe mit Prinz Gabriel würde sie nun doch eine Prinzessin werden. Sie würde ihre Wohltätigkeitsarbeit fortsetzen können, aber auch eigene Kinder haben. Eine wunderbare Vorstellung! Wenn sie sich nur ihrem Bräutigam etwas näher gefühlt hätte …

„Bitte entschuldigen Sie mich, Durchlaucht“, wandte sie sich an den Fürsten. Und als er lächelnd nickte, wollte sie eilig den Ballsaal verlassen, um sich auf die Suche nach ihrem Verlobten zu machen.

Stattdessen stieß sie auf Prinz Christian. „Gefällt dir der Ball?“, fragte er freundlich.

„Sehr.“ Sie unterdrückte ein Seufzen. Offenbar war er entschlossen, sie aufzuhalten. Vermutlich hatte sein Bruder ihn darum gebeten.

Christian und Olivia kannten sich aus ihrer Studentenzeit in London. Obwohl er öfter auf Partys als an der Universität gesehen worden war, hatte Olivia doch bemerkt, wie intelligent er war.

„Ich habe gesehen, dass Barnes den Kronprinzen vom Ball weggeholt hat. Es ist hoffentlich nichts Schlimmes passiert?“

Christians Miene war undurchdringlich. „Gabriel musste sich um eine Angelegenheit kümmern, aber er wird bald zurück sein.“

„Ich fand, dass er ziemlich … ziemlich erschüttert wirkte.“ Ja, erschüttert war das richtige Wort. Und wenn er erschüttert war, bedeutete das, dass er etwas Wichtiges vor ihr verbarg. Anscheinend war sie nicht die Einzige mit Geheimnissen.

Obwohl Gabriel schon vor Monaten begonnen hatte, mit ihrem Vater wegen der Heirat zu verhandeln, hatte Olivia kaum Gelegenheit gehabt, ihren zukünftigen Ehemann besser kennenzulernen. Selbst in den letzten Tagen, die sie im fürstlichen Palast von Sherdana verbracht hatte, war sie Gabriel praktisch nur bei offiziellen Anlässen begegnet. Einmal hatte er mit ihr einen kurzen Spaziergang im Palastgarten gemacht. Leider waren sie schon nach ein paar Minuten auf den sehr schmutzigen Ungarischen Jagdhund der Fürstin gestoßen, der Gabriel so mit Schlamm bespritzt hatte, dass sie zum Umkleiden in den Palast zurückgekehrt waren.

Auf dem Rückweg hatte Gabriel ihr ein Kompliment zu ihrem Geschick im Umgang mit Hunden gemacht. Ein anderes Mal hatte er sich lobend über ihr hübsches Kleid geäußert. Und während des Balls hatte er gesagt, sie sei eine großartige Tänzerin. Immer hatte er sich so verhalten, wie man es von einem Prinzen erwartete. Höflich, galant, weltgewandt. Und sie hatte sich benommen wie die Tochter eines Earls, die sich der Ehre bewusst war, bald in den Stand einer Prinzessin erhoben zu werden.

Aber sie war auch eine ganz normale Frau, die sich danach sehnte, einen ganz normalen Mann zu heiraten! Warum war Gabriel so distanziert? Was erwartete er von ihr? Würde sie seine Partnerin im Politischen wie im Privaten sein? Oder suchte er nur nach einer Gattin, die repräsentative Aufgaben übernehmen konnte und deren Mitgift sein Land wirtschaftlich stärkte?

Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er seine Rolle als zukünftiger Fürst von Sherdana sehr ernst nahm. Die Treue zu seinem Land und die zu seinem Volk standen für ihn an erster Stelle.

Sein Bruder Christian war ganz anders. Er gab sich gerade große Mühe, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Doch als Gabriel den Ballsaal betrat, spürte Olivia es sofort. Sie wandte sich um, entdeckte ihn und betrachtete ihn fasziniert. Athletisch gebaut, mit dunklem Haar und einem markanten männlichen Gesicht, fiel er überall auf. In seiner festlichen Kleidung sah er umwerfend aus. Orden schmückten seine Brust, und die blaue Schärpe ließ ihn geradezu majestätisch wirken.

„Bitte verzeih mir, dass ich dich vernachlässigt habe“, sagte er, als er zu ihr trat, nach ihrer Hand griff und sie an die Lippen zog. „Ich hoffe, Christian hat dich gut unterhalten.“

„Er hat mir ein paar interessante Informationen über eure Gäste gegeben.“

Offenbar beunruhigt wandte sich Gabriel an seinen Bruder. „Was hast du ihr erzählt?“

„Dinge, die sie als Prinzessin von Sherdana wissen sollte, die ihr aber bestimmt niemand außer mir verraten hätte.“

„Um dem Land und mir zur Seite zu stehen, braucht sie deine Klatschgeschichten nicht.“

Olivia sank das Herz. Was Gabriel zum Ausdruck bringen wollte, war eindeutig: Er beabsichtigte nicht, politische Probleme mit ihr zu erörtern.

„Sie ist viel klüger, als du denkst“, stellte Christian fest. „Sie könnte dir eine gute Beraterin sein.“

„Danke für den Hinweis.“ Gabriels Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass das Thema für ihn beendet war. Dann sagte er in einem ganz anderen Ton zu Olivia: „Ich weiß, dass du gern mehr von Sherdana sehen würdest. Vielleicht können wir nächste Wochen einmal einen Ausflug machen.“

„Das wäre wundervoll. Ich würde so gern die Weinberge besuchen.“

„Wir sind stolz auf unseren Wein.“

„Zu Recht!“ Sie lächelte. „Ich bin froh, dass diese Angelegenheit dich nicht zu lange aufgehalten hat.“

Verständnislos schaute er sie an.

„Ich habe beobachtet, wie dein Sekretär mit dir sprach“, erklärte sie. „Und Christian meinte, du müsstest dich um etwas kümmern.“

„Ein Missverständnis.“ Gabriel war sichtlich geübt darin, seine wahren Gefühle zu verbergen. „Wollen wir tanzen?“

Sie war müde, ihre Füße schmerzten, aber sie antwortete, wie es sich gehörte. „Gern.“

Das Orchester spielte schon wieder einen Walzer.

Als sie zu tanzen begannen, spürte Olivia deutlich die Wärme, die von Gabriels Hand ausging. Es war, als würden seine Finger auf ihrer Haut ein Feuer entzünden, das sich nach und nach in ihrem gesamten Körper ausbreitete.

„Heiratest du mich eigentlich nur, weil dein Vater dich dazu drängt?“, fragte er plötzlich.

Die Vorstellung war so absurd, dass Olivia beinahe gelacht hätte. Dann sagte sie: „Welches Mädchen würde nicht davon träumen, einen gut aussehenden Prinzen zu heiraten?“

„Das beantwortet meine Frage nicht.“

Sie legte den Kopf in den Nacken, damit sie Gabriel in die Augen schauen konnte. „Niemand zwingt mich, deine Frau zu werden. Befürchtest du, ich könnte meine Entscheidung bereuen? Oder suchst du nach einem Grund, unsere Verlobung zu lösen?“

„Nichts davon“, versicherte er ihr. „Ich habe nur überlegt, ob du vielleicht ein anderes Leben vorziehen würdest.“

„Manchmal wünscht man sich, man hätte sich an einem bestimmten Punkt anders entschieden, nicht wahr? Aber wir alle müssen uns mit den Gegebenheiten arrangieren. Die einen kämpfen gegen die Armut. Andere verzichten auf ihre berufliche Karriere, um ganz für die Familie da zu sein. Und du …“ Sie gab ihrer Stimme einen mitfühlenden Ton. „Du tust, was nötig ist, damit die Menschen von Sherdana in Wohlstand leben können. Ich wiederum darf zuerst in die Rolle einer Prinzessin und dann in die der Fürstin schlüpfen.“

„Aber willst du das wirklich?“

Sie machte kein Hehl aus ihrer Überraschung. „Natürlich!“

Er wirkte nicht überzeugt. „Wir kennen uns so wenig. Es wäre schön, wenn wir das in den nächsten Tagen ändern könnten.“

„Warum fangen wir nicht sofort damit an? Was möchtest du über mich wissen?“

Er hob die Brauen. „Also gut. Beginnen wir mit einer einfachen Frage: Wie kommt es, dass du so gut Französisch und Italienisch sprichst?“

„Ich habe schon sehr früh Unterricht bekommen. Und man sagt, ich hätte eine Begabung für Sprachen.“

„Wie viele beherrscht du denn?“

„Sechs spreche ich einigermaßen fließend. Drei weitere verstehe ich zumindest ein bisschen.“

„Oh! Das wird ein echter Vorteil sein, wenn wir ausländische Würdenträger empfangen.“

Olivia wurde bewusst, dass sie nicht mehr oft in ihre Heimat zurückkehren würde. Zu ihren Freundinnen in London würde sie nur schriftlich oder telefonisch Kontakt halten können. Als Prinzessin von Sherdana war ihr Platz in Sherdana. Nur gut, dass ihr Vater sich oft hier aufhalten würde, weil er sich um die Fabrik kümmern musste.

„Du lächelst nicht viel, Olivia.“

„Ich lächele beinahe ständig.“

Gabriel musterte sie ganz genau. „Ja, dieses höfliche Lächeln. Ich dachte eher an ein glückliches.“

„Aber ich bin glücklich.“

„Hör bitte auf, immer das zu sagen, was ich deiner Meinung nach hören möchte. Das ist nicht das richtige Benehmen für eine Prinzessin und auch nicht das, was ich mir von meiner Frau wünsche.“

Sein Ausbruch überraschte sie. „Du gestattest mir, mit dir zu streiten, Prinz Gabriel?“

Er verzog das Gesicht. „Nur Gabriel!“

„Gabriel“, wiederholte sie.

„Olivia.“ Diesmal sprach er ihren Namen aus wie eine Liebkosung. „Ich wäre sehr glücklich, wenn du in mir nicht mehr den Prinzen, sondern den Mann sehen würdest.“

„Gern. Wenn du in mir nicht länger die Garantin wirtschaftlicher Vorteile, sondern die Frau siehst.“

Erstaunt musterte er ihr Gesicht. Hatte er gerade zum ersten Mal bemerkt, wer sich hinter der Maske der wohlerzogenen, gebildeten, adligen Engländerin verbarg? Er lächelte. „Mir scheint fast, ich habe dich unterschätzt.“

Sein Blick ließ ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht würde ihre Ehe doch mehr als ein angenehmes und vernunftbetontes Zusammenleben werden. Ich habe nicht damit gerechnet, meinen Gatten aufregend zu finden. An Begierde, Lust und leidenschaftliche Stunden hatte sie tatsächlich nie gedacht. Zumal sie – da sie sehr behütet aufgewachsen war – bisher nichts davon kennengelernt hatte. Sie hatte sogar bezweifelt, dass sie dergleichen überhaupt empfinden könnte.

Aber da war sie: die Sehnsucht nach körperlicher Nähe, nach wilden Küssen und mehr. Vor Erleichterung und Freude wurde Olivia ganz schwindelig. Auf einmal sah sie die Zukunft in einem viel freundlicheren Licht.

Autor

Cat Schield
<p>Cat Schield lebt gemeinsam mit ihrer Tochter, zwei Birma-Katzen und einem Dobermann in Minnesota, USA und ist die Gewinnerin des Romance Writers of America 2010 Golden Heart® für romantische Serienromane. Wenn sie nicht gerade neue romantisch-heiße Geschichten schreibt, trifft sie sie sich mit ihren Freunden um auf dem St. Croix...
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