Wenn Du nur glücklich bist...

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War es ein Fehler, zuzustimmen? Nina hat eine Vernunftehe mit dem Vater ihres kleinen Sohnes geschlossen. Nina will Jameson, ihrem Exgeliebten, der sie vor Jahren so enttäuschte, nicht noch einmal vertrauen. Doch Jameson scheint entschlossen zu sein, ihr zu beweisen, dass er sich geändert hat. Auf einer gemeinsamen Reise nach San Francisco wird Nina schwach: In Jamesons Hotelzimmer erlebt sie genau wie damals traumhafte Stunden der Liebe. Darf sie dem Glück diesmal trauen?


  • Erscheinungstag 29.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778675
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Jameson O’Connell saß in dem BMW seines Anwalts und starrte aus dem Fenster, während der silberfarbene Wagen mit ihm in Richtung Freiheit rollte. Die grauen, düsteren Mauern der Justizvollzugsanstalt Folsom verschwanden langsam hinter der Kurve, und schließlich war das Gefängnis aus seinem Blickfeld verloren.

Die Erinnerungen würden jedoch nicht verschwinden. Die schrecklichen Bilder und all die grausamen Erlebnisse würden ihm für immer im Gedächtnis haften bleiben.

„Ein Wagen wartet auf Sie“, bemerkte John Evans jetzt. „Ich habe ihn vor meiner Kanzlei abstellen lassen.“

„Ihrer“, erklärte John und stoppte am Ende der Prison Road. „Ein Geschenk Ihrer Großmutter.“

Grandma will sich nur von ihrer Schuld freikaufen, überlegte er grimmig. Im Moment war er allerdings gezwungen, ihre Großzügigkeit anzunehmen. Ohne ihre Finanzkraft hätte er seine Entlassung aus dem Gefängnis niemals erreichen können.

Sie waren bei der Dam Road angekommen, und rechts von ihnen lag der Folsom Lake. Das Wasser schimmerte dunkelgrün. Der Herbstwind jagte über die Oberfläche des Sees und peitschte das Wasser auf. Plötzlich verspürte er den Wunsch, in ein Boot zu springen und über die schaumgekrönten Wellen zu segeln.

Ich könnte es sogar tun, überlegte er einen Moment lang. Wenn ich wollte, könnte ich John Evans bitten, den Wagen anzuhalten, zu wenden und mich aussteigen zu lassen. Ich könnte mir ein Boot mieten, an Bord gehen und die zerklüftete Küste von Folsom genauestens erkunden. Ich bin ein freier Mann. Frei zu segeln, wann ich will, Steine über die Wasseroberfläche flitzen zu lassen und andere Dummheiten zu begehen, nach denen mir gerade der Sinn steht.

Als der BMW scharf in die letzte Kurve der Dam Road ging, stemmte Jameson sich mit seinem ganzen Gewicht in die Gegenrichtung. Mit eisernem Griff schloss er seine Hände um die glänzend polierte Mahagonibox, die er auf seinem Schoß hielt.

Wie albern, eine Holzbox mit Asche um jeden Preis schützen zu wollen, dachte er unwillkürlich. Aber solange sein Bruder Sean am Leben gewesen war, hatte Jameson sich ihm nie nahe gefühlt. Vielleicht fiel ihm die Trennung deshalb so schwer. Jetzt, wo Sean tot war.

„Wissen Sie schon, wohin Sie als Erstes fahren wollen?“, fragte Evans.

Hart Valley.

Die unausgesprochene Antwort traf ihn selbst wie ein Schlag, und er presste die Lippen fest zusammen. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend machte ihm unmissverständlich klar, wie gefährlich es war, auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Ort zu verschwenden. Hart Valley war für ihn mit einem strikten Tabu belegt.

Jameson hatte nicht die geringste Lust, weiter über das Thema nachzugrübeln oder mit seinem Anwalt zu plaudern. Evans hatte zwar weder Kosten noch Mühen gescheut, bis das Urteil gegen Jameson aufgehoben und er in die Freiheit entlassen worden war. Dafür war Jameson dankbar. Sehr dankbar. Aber er durfte nicht riskieren, dass seine Gedanken nach Hart Valley abschweiften, denn dann kreisten sie unwillkürlich um die Russos. Und wenn er die Russos erst im Kopf hatte, gesellte sich früher oder später unausweichlich Nina dazu.

Doch über Nina wollte er ganz gewiss nicht nachdenken. Über alles, nur nicht über sie.

„Wohin ich zuerst fahren will?“, wiederholte Jameson unwirsch, wandte hastig den Blick ab und starrte wieder aus dem Fenster. „Keine Ahnung.“ Evans begriff das Verhalten seines Mandanten und schwieg.

Nachdem sie bei Evans Kanzlei angekommen waren, tauschten sie nur die nötigsten Höflichkeiten aus, dann übergab der Anwalt Jameson die Schlüssel für seinen nagelneuen Wagen. Jameson schloss die Faust so heftig um die Schlüssel, dass seine Handflächen schmerzten. Die widersprüchlichsten Gefühle stiegen in ihm hoch: Dankbarkeit, die ihm verhasst war, dazu das unbändige Verlangen, die Schlüssel im hohen Bogen wegzuschmeißen. Scham und überwältigende Schuldgefühle, die er nie wieder abschütteln würde. Seine eigene Schuld, die Schuld seiner Großmutter und Seans Schuld.

Jameson schloss den silberglänzenden Viertürer auf und stellte die handgeschnitzte Mahagonibox vorsichtig auf den Beifahrersitz. Evans übergab ihm noch einen dicken Umschlag mit Papieren, die beglaubigten, dass seine Großmutter einen Teil ihres Vermögens auf ein Treuhandkonto für Sean überschrieben hatte und dass dieses Geld jetzt ihm, Jameson, gehörte. Er glitt hinter das Steuer und ließ den Umschlag auf die Fußmatte des Beifahrersitzes fallen.

So bald wie möglich wollte er das Geld seiner Großmutter loswerden. Blutgeld, dachte er, unentwirrbar verstrickt in Leid und Schmerzen.

Während er jedoch durch die Straßen von Sacramento fuhr und sich nach einer Bleibe umschaute, stellte er fest, dass er ebenso wenig in der Lage war, das Geschenk seiner Großmutter zurückzuweisen, wie er die verlorenen fünf Jahre wiederbekommen konnte. Sein Ruf war ruiniert, sein Leben verpfuscht. Obwohl er in der Gefängniswerkstatt mehrere Lehrgänge als Tischler absolviert hatte, waren seine Bewerbungen erfolglos geblieben. Sein kleines Vermögen würde es ihm allerdings erlauben, sich selbstständig zu machen. Von solchen Sicherheiten konnten frisch entlassene Sträflinge wie er normalerweise nur träumen.

Im Grunde genommen könnte ich sogar nach Hart Valley fahren, dachte er. Wenn ich wollte.

Sein Vater war kürzlich verstorben, und Jameson konnte sich auf den spärlichen fünf Hektar Land, die er geerbt hatte, ein neues Zuhause aufbauen. Vielleicht konnte er sich sogar eine Tischlerwerkstatt einrichten hinter der jämmerlichen Hütte, in der er aufgewachsen war. Sofern sie die knapp fünfjährige Vernachlässigung überstanden hatte.

Ob ich einer Begegnung mit Nina wohl gewachsen bin? fragte er sich insgeheim.

Die Ampel an der Kreuzung der Schnellstraße sprang von Gelb auf Rot, und Jameson trat abrupt auf die Bremse. Die Reifen des Pick-ups hinter ihm quietschten grauenvoll. Beinahe wäre er auf das Heck von Jamesons neuem Wagen geknallt. Die junge rothaarige Frau am Steuer stieß ein paar heftige Flüche aus und hupte wie verrückt, als die Ampel auf Grün sprang.

Jameson fuhr wieder an und schimpfte lauthals auf sich selbst, weil er den Gedanken an Nina überhaupt zugelassen hatte. Fünf lange Jahre lagen hinter ihm, fünf Jahre, in denen er alles unternommen hatte, um sie aus seinem Leben zu verbannen. Mit aller Kraft hatte er sich dagegen gesträubt, dass die Erinnerung an sie sich hinter den hässlichen Gefängnismauern einnistete. Wenn sein Verlangen nach ihr zu brennend wurde, hatte er die verführerischen Gedanken an sie verdrängt und seine Fantasien auf die prallen Pin-up-Girls konzentriert, mit deren Bildern die anderen Gefangenen die Wände tapeziert hatten. Noch nicht mal den Gedanken an Ninas Parfüm hatte er zugelassen.

Jetzt stürzten sämtliche Erinnerungen gleichzeitig auf ihn ein. Die Attacke war so heftig, dass seine Finger zitterten. Mit schweißnassen Händen umklammerte er das Lenkrad, bis er schließlich den Fuß vom Gas nahm und die Schnellstraße verließ, um nicht einen schlimmeren Unfall zu riskieren als den Zusammenstoß mit dem Pick-up.

Jameson bog in eine Einkaufsstraße ein und parkte den Viertürer vor einem Schuhgeschäft. Dann sank er in seinem Sitz zusammen, lehnte den Kopf nach hinten und blickte aus dem Fenster. Seine Brust fühlte sich an wie gepanzert. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sein Inneres. Wenn er diesen Schmerz nicht schon tausend Mal gespürt hätte, als er einsam in seiner Gefängniszelle lag, wäre er überzeugt gewesen, dass er gerade einen Herzinfarkt erlitt.

Du bist frei, jetzt darfst du an sie denken! meldete sich eine innere Stimme.

Die Tränen brannten ihm in den Augen, aber er drängte sie mit aller Macht zurück. Jameson kniff die Lider fest zusammen, atmete stockend aus und entspannte sich ganz langsam. Der Druck auf seiner Brust nahm ab. Die Zeiten waren vorbei, als er sich den Gedanken an Nina strengstens hatte verbieten müssen.

Andererseits wusste er, dass es noch immer gefährlich war, an sie zu denken. Fast befürchtete er, dass er es nicht überleben würde, wenn er es tat. Verzweifelt verstieg er sich ein paar Minuten lang in die Fantasie, dass Nina Russo noch immer die tolle Frau war, die er vor knapp fünf Jahren in seinen Armen gehalten hatte. Die echte Nina – die, die ihn todsicher wütend davonjagen würde – würde noch durch seine besten Absichten hindurch auf den dunklen Abgrund in seiner Seele blicken können. War es da nicht das Beste, er tat so, als würde sie gar nicht existieren?

1. KAPITEL

Das heißt, wenn mein Koch rechtzeitig zur Arbeit kommt, dachte sie spontan. Immer eine spannende Frage, ob er pünktlich ist oder nicht, denn Dale hatte gewiss keinen Orden für Pünktlichkeit verdient. Mit ihren Abendköchen hatte Nina noch nie Glück gehabt, aber Dale war der unzuverlässigste Koch von allen.

Wenn man von Jameson O’Connell absieht, fügte sie im Stillen hinzu.

Ein unangenehmes Gefühl kroch ihr den Rücken hinauf. Wie, um alles in der Welt, hatte es passieren können, dass Jameson plötzlich in ihren Gedanken auftauchte?

Ich bin müde, das ist alles, dachte sie. In den vergangenen sieben Nächten war Dale drei Mal nicht zur Arbeit erschienen, und Nina hatte ihn in der Küche ersetzen müssen. Der Teenager, der als Tellerwäscher bei ihr engagiert war, hatte sich die schwere Erkältung eingefangen, die gerade in Hart Valley grassierte. Noch ein weiteres Paar helfende Hände, auf das sie verzichten musste.

Erschöpft rieb Nina sich die Augen und lehnte sich seufzend auf dem Drehstuhl zurück. Sie war in diesem Café aufgewachsen. Ihre Hausaufgaben hatte sie in der Sitzbucht vorn in der Ecke erledigt, und auf dem Linoleumfußboden hatte sie mit Murmeln gespielt, während ihre Eltern kurz vor Ladenschluss damit beschäftigt gewesen waren, das Lokal aufzuräumen. Sie hatte den Betrieb von der Pike auf kennen gelernt. Jeder Handgriff war ihr vertraut, gleichgültig, ob es sich um den allabendlichen Kassenabschluss oder um die Auswahl des besten Rindfleisches handelte. Und als Kleinunternehmerin war genau das ihr Schlüssel zum Erfolg: jeden Mitarbeiter ersetzen zu können, wenn er nicht auftauchen sollte.

Das galt besonders für Jameson. Er war von seinem Wochenendtrip nach Sacramento nie zurückgekehrt.

Es reicht, ermahnte sie sich, lass endlich die Vergangenheit ruhen. Du hast heute Nachmittag etwas Besseres zu tun, als dich mit Erinnerungen an alte Zeiten herumzuplagen.

Nina lächelte, als Lacey Mills aus der Küche kam. Sie war dankbar für jede Ablenkung.

Nina schüttelte den Kopf und spürte die langen dunklen Haare wie ein Gewicht auf ihrem Rücken. Schluss für heute, dachte sie. „Du bist seit heute früh um sechs Uhr hier“, lehnte sie ab. „Hast du heute Nachmittag gar keine Vorlesung?“

Lacey zuckte die Schultern. „Doch. Aber ich könnte direkt von hier aus nach Marbleville fahren.“

Die Türglocke ging, was hieß, dass ein Gast das Café betreten hatte. Nina erhob sich und drehte sich zum Eingang hin. Die spätherbstliche Sonne schien dem Mann in den Rücken, so dass sein Gesicht im Schatten lag. Wieder kroch ihr ein ungutes Gefühl in den Nacken. Ganz so, als würden unsichtbare Fingerspitzen die Haut um ihre Schultern herum betasten. Nervös versuchte Nina, die Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

Der Mann trat aus der Sonne und drehte sich so zur Seite, dass das Licht jetzt sein Gesicht erhellte. Die strengen Konturen seiner Wangen und seines Kiefers, die mit den Jahren noch härter, ja fast hager geworden waren, standen plötzlich als Bild vor ihrem inneren Auge. Ein Bild, das spöttisch umhertanzte. Sein dunkles Haar war extrem kurz geschnitten, aber sie hatte nicht vergessen, wie seidig es sich früher angefühlt hatte. Und die Kraft, die von seinen breiten Schultern ausging, ließ unwillkürlich eine unbestimmte Hitze in ihr aufsteigen.

Plötzlich sah er sie mit seinen blauen Augen direkt an und hielt ihren Blick gefangen. Sie entdeckte einen Schmerz in diesen Augen, der vor fünf Jahren nicht darin gelegen hatte, und die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, die aus ihnen sprach, versetzte ihrem Herzen einen heftigen Stich. Der verbitterte Zug um seine Lippen war ebenfalls neu, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wer gerade ihr Café betreten hatte. Entsetzt rang Nina nach Luft.

Lacey trat zu ihr hin und legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Nina? Was ist los?“

Nina schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte krampfhaft, sich einzureden, es könne nicht sein. Aber er war da und stand nur wenige Meter vor ihr.

Jameson O’Connell. Er war aus der Haft entlassen worden.

Hatte Jameson etwa erwartet, dass sie ihn mit offenen Armen und einem bezaubernden Lächeln empfangen würde? Er war überzeugt gewesen, dass die gewaltigen grauen Gefängnismauern jede Hoffnung auf sie zunichte gemacht hatten. Doch offensichtlich hatte tief in seinem Herzen ein winziges Samenkorn überlebt, und jetzt, beim ersten Wiedersehen mit Nina, war es aufgesprungen.

Eigentlich hätte der Anblick ihres entsetzten Gesichtsausdrucks die aufkeimende Hoffnung sofort ersticken müssen, aber irgendwie lebte und atmete sie weiter. Und diese Erkenntnis brachte ihn beinahe um den Verstand, weil er sich bewiesen hatte, dass er noch nicht mal in der Lage war, diese kleine Gefühlsregung unter Kontrolle zu bringen.

Er machte ein paar Schritte auf Nina zu und blieb auf Armeslänge vor ihr stehen. Die Gegenwart prallte heftig mit den jahrelang unterdrückten Erinnerungen an sie zusammen. Natürlich wusste er, dass er sie in seiner Fantasie idealisiert hatte. Ihr Gesicht hatte dem Antlitz eines Goldengels geglichen, und ihr Körper war zu üppig und zu sinnlich gewesen, um wahr zu sein. Aber der seidige Schimmer, den das Sonnenlicht jetzt auf ihre Wangen zauberte, das dichte schwarze Haar, das ihr über die Schultern fiel, und ihr süßes Kinn – ihm stockte schier der Atem.

Jameson erlaubte sich einen hastigen Blick auf ihre Brüste. Sie waren noch üppiger, als er sie in Erinnerung hatte, ihre schmale Taille war noch weiblicher, und ihre Hüften schienen danach zu verlangen, gestreichelt zu werden. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte er daran, wie herrlich ihr Körper sich unter seinen Händen angefühlt, wie er ihre verborgenen Kurven erkundet hatte …

Mit aller Macht zügelte er seine Fantasie, weil ihm schlagartig klar wurde, dass es fatal enden würde, wenn er der Versuchung nachgab. Unablässig fixierte er dennoch ihre großen braunen Augen. Dann betrachtete er kurz ihren Mund und ihre leicht geöffneten Lippen. Unwillkürlich formte sich in seiner Vorstellung die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Kuss, und angestrengt lenkte er seine Gedanken auf etwas, was ihm weniger gefährlich vorkam. Plötzlich allerdings drang eine Stimme an sein Ohr.

„Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Tisch?“

Jameson begriff nicht auf Anhieb. Verwirrt wandte er sich der schlanken blonden Frau zu, die neben Nina saß. „Wie bitte?“

„Möchten Sie einen T…“

Nina legte der Blonden eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, Lacey. Ich kümmere mich darum.“

Ich kümmere mich darum, wiederholte er den Satz grimmig in Gedanken. Sie tut so, als ob ich für sie nichts anderes sei als eine lästige Pflicht, dachte er ärgerlich. Und genau das war er auch. Niemand wusste besser als er, dass er sich auf der Liste von Leuten, die Nina in ihrem Leben nie wieder unter die Augen treten sollten, einen Platz ganz weit oben erobert hatte. Nur änderte das leider nichts an dem brennenden Verlangen, das sich zwischen seinen Schenkeln ausbreitete.

Die dünne Blonde stand auf und stellte sich neben ihre Chefin. „Soll ich nicht besser …“

„Nicht nötig“, unterbrach Nina. „Geh ruhig nach Hause, ich komme schon zurecht.“

Die junge Frau schaute unschlüssig in die Runde, ging dann hinter den Tresen und griff nach der Dose mit den Trinkgeldern. Sie ließ Jameson nicht aus den Augen, während sie sich die Münzen und Scheine in die Taschen ihrer Schürze stopfte. „Wenn du willst, dann …“

„Geh doch endlich“, unterbrach Nina ziemlich ungeduldig. „Bis morgen.“

Lacey stellte die leere Dose wieder an ihren Platz zurück und eilte zu den hinteren Räumen. Das Schweigen im Café nahm jetzt bedrohliche Ausmaße an.

Nina verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Es sah aus, als wollte sie in Verteidigungsstellung gehen, und die Haltung betonte die üppigen Brüste unter ihrem weißen Hemd. Nina strahlte immer noch dieselbe weiche Sinnlichkeit aus, die ihn damals schon fasziniert hatte. Plötzlich merkte er, in welche Richtung seine Gedanken drifteten, und er trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Entschlossen streckte sie ihm das Kinn entgegen. „Was willst du?“

Das klang mehr nach einer Herausforderung als nach einer Frage. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und antwortete im selben Ton, in dem sie ihre Frage gestellt hatte. „Wo sind deine Eltern?“

Sie musterte ihn eindringlich. „Wie kommst du darauf, dass ich das ausgerechnet dir verrate?“

„Ich möchte mit ihnen sprechen“, entgegnete er. Ihr gereizter Tonfall passte ihm überhaupt nicht, obwohl er nur zu gut wusste, dass er sich ihre scharfe Erwiderung selbst zuzuschreiben hatte.

„Worüber?“

Mit einem ungeduldigen Seufzer atmete er aus. Das geht dich überhaupt nichts an, schoss es Jameson durch den Kopf, aber zum Glück gelang es ihm, diese Bemerkung zurückzuhalten. „Ich will mich bei ihnen bedanken.“

Wütend presste sie die Lippen aufeinander, bevor sie antwortete. „Besser, du entschuldigst dich vorher.“

Wie verführerisch ihre Lippen sich bewegen, wenn sie spricht, dachte er vollkommen fasziniert. Für den Bruchteil einer Sekunde schweiften seine Gedanken in verbotene Regionen. Blitzartig erinnerte er sich daran, wie wundervoll es sich angefühlt hatte, wenn sie ihre weichen Lippen auf seinen Hals gepresst hatte.

Sofort versteifte sich sein Körper. Er trat einen weiteren Schritt zurück, weil er befürchtete, dass er jeden Augenblick die Kontrolle über seine Hände verlieren würde und sie berühren musste.

„Nina …“ Sein Mund war trocken, und er schluckte mühsam. Es klang ihm ungewohnt und fremd in den Ohren, ihren Namen auszusprechen. „Ich bin nicht zurückgekehrt, weil ich euch Ärger machen will. Ich will nur kurz mit deiner Familie sprechen.“

Schweigend starrte sie ihn an, griff dann hinter sich und langte nach dem Bestellblock auf dem Tresen. „Gib mir deine Telefonnummer. Ich werde sie wissen lassen, dass du wieder aufgetaucht bist.“

„Ich habe kein …“, begann er und erinnerte sich dann an das Handy, das Evans ihm gegeben hatte. „Warte.“ Er eilte nach draußen zu seinem Wagen.

Als er das Gerät aus dem Lederetui zog, entdeckte er, dass die Nummer zum Glück auf einem Aufkleber hinten auf dem Gerät notiert war. Mit dem Handy ging er zurück ins Café. Nina hatte sich in der Zwischenzeit nicht von der Stelle gerührt.

Er nannte die Nummer, und sie notierte sie auf dem Block, riss das Blatt ab und steckte es in die Tasche ihrer schwarzen Hose. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe zu arbeiten.“ Sie machte sich auf den Weg in die Küche.

Jamesons Magen rumorte. Plötzlich merkte er, dass er einen riesigen Hunger hatte. Automatisch rechnete er nach, wie lange es noch dauern würde, bis es endlich sechs Uhr war. Abends um sechs war in Folsom immer das Essen aufgetischt worden. Seine Entlassung lag zwar inzwischen schon drei Wochen zurück, aber manchmal war es für ihn immer noch wie ein Wunder, wenn er feststellte, dass er auf nichts und niemanden mehr zu warten brauchte. Wenn er wollte, konnte er sofort essen. Und er konnte sich das bestellen, worauf er Lust hatte. Schließlich besaß er immer noch das Bargeld, das ihm bei der Entlassung von der Gefängnisverwaltung ausgehändigt worden war, und er verfügte über eine Reihe Kreditkarten aus dem Umschlag, den Evans ihm gegeben hatte.

„Ich möchte etwas essen.“

Sie blieb abrupt stehen, bevor sie die Küche erreicht hatte.

„Machst du immer noch Hackbraten?“

Nina drehte sich um und schaute ihn an. Ihre verspannten Schultern verrieten ihren Widerwillen nur zu deutlich. „Ja.“

„Dann bitte eine Portion Hackbraten mit Kartoffeln.“

Hilflos gab sie nach. „Gebraten oder püriert?“

„Püriert. Mit einer Extraportion Soße.“

Jameson hatte keine Ahnung, was der Grund dafür sein mochte, aber plötzlich drehte sie sich zu ihm herum, und er machte eine Entdeckung, mit der er nie und nimmer gerechnet hatte: Aus ihrem Blick sprachen Verständnis und Mitgefühl.

„Setz dich“, antwortete Nina. „Ich bringe es dir an den Platz.“

Sie ging in die Küche, während Jameson sich die nächstgelegene Sitzecke auswählte und das Besteck aus der Serviette auswickelte. Messer, Gabel und Löffel. Wieder schoss ihm die Erinnerung an die Mahlzeiten im Gefängnis durch den Kopf. An den Lärm und an den Geruch der Körper, die sich dicht an dicht drängten.

Zu spät. Schlagartig traf ihn eine Panikattacke, und obwohl ihm das Gefühl nur zu vertraut war, empfand er zwei Sekunden später den überwältigenden Wunsch zu fliehen. Aber wie? Flucht war ausgeschlossen. Unüberwindliche Mauern umzingelten das Gefängnis. Bewaffnetes Sicherheitspersonal beobachtete jede seiner Bewegungen. Noch in diesem Augenblick schlug ihm das Herz bis zum Hals, es pochte so heftig, dass es einen geradezu ohrenbetäubenden Lärm in seinem Kopf zu verursachen schien.

„Alles in Ordnung?“

Erschrocken schaute er Nina an, die an seinen Tisch getreten war und ihn besorgt ansah. Die Freundlichkeit in ihrem Blick beruhigte ihn auf Anhieb.

Nervös fingerte er an seinem Besteck herum und ordnete es schließlich sorgfältig. „Ja, alles bestens.“

Nina zögerte kurz, musterte ihn eindringlich und verschwand dann wieder in der Küche. Er konnte nicht widerstehen, den Blick an ihren Hüften hinuntergleiten zu lassen. Ausnehmend verführerisch, wie sie leicht hin und her schwangen. Entschlossen riss er sich von dem Anblick los und schaute auf die Zeitung The Sacramento Bee, die auf einem unordentlichen Stapel am Ende des Tresens lag.

Ein paar Blätter der Reno Gazette lugten aus der zusammengefalteten Zeitung heraus. Jameson stand auf, ging zum Tresen hinüber, sortierte die Sacramento Bee und die Reno Gazette sauber auseinander und legte die Zeitungen auf zwei verschiedenen Stapeln ab. Dann griff er sich die erste Seite der Sacramento Bee und wollte zu seinem Platz zurückgehen.

Plötzlich stand Nina neben ihm, in der Hand eine dampfende Platte. Vor Schreck stolperte sie beinahe, als sie ihn völlig unerwartet am Tresen stehen sah. Er ließ die Zeitung fallen und stützte Nina gerade noch rechtzeitig, um einen Sturz zu verhindern. Schützend glitten seine Hände über ihre Schultern. Nina fühlte sich unbeschreiblich weich und verführerisch an, und er brachte es kaum fertig, sie wieder loszulassen.

Unsicher hob Nina das Gesicht und fing seinen Blick auf. Ihre Lippen teilten sich leicht. Deutlich konnte er sich daran erinnern, wie sie schmeckten, wie warm sie gewesen waren, damals, als er seinen Mund auf ihren gepresst hatte. Ihr warmer Atem hatte seine Wangen gestreichelt, und das leise Stöhnen, das ihr wieder und wieder entschlüpfte, während ihre Lust immer höher stieg, klang ihm noch jetzt in den Ohren. Jede Berührung, jede Empfindung, jedes Detail ihrer unvergleichlichen Liebesnacht hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt und drängte jetzt mit Macht an die Oberfläche.

Er musste schleunigst auf Distanz gehen. Verzweifelt versuchte er, einen Schritt zurückzutreten. Vergeblich. Er fühlte sich, als würden die grauen Mauersteine des Gefängnisses ihn immer noch festhalten. Aber er hatte keine Wahl, denn wenn es ihm nicht augenblicklich gelang, die Hände von ihren Schultern zu nehmen, würde er sie in die Arme schließen und sich in ihr Leben drängen, genau wie er es vor knapp fünf Jahren getan hatte.

Nina ging auf Abstand. Ein Glück! dachte er spontan. Sie atmete tief durch, und dabei hoben sich ihre Brüste. Wieder musste er sie anschauen. Aber immerhin hatte er die Hände von ihren Schultern genommen, als sie den Schritt zurück gemacht hatte.

Mit zitternden Fingern hob er die Zeitung auf, die zu Boden gefallen war. Als er sich wieder aufrichtete, hatte Nina die Servierplatte mit Hackbraten und Kartoffelbrei auf dem Tisch abgestellt und war gerade dabei, sich hinter dem Tresen zu verschanzen.

Jameson nahm entschlossen Platz und legte das Titelblatt der Bee neben dem Teller ab. Verstohlen schaute er zum Tresen hinüber. Sein kurzer Blick reichte, um Nina endgültig in die Küche zu verscheuchen. Durch die Scheibe, die die Küche vom Gastraum trennte, konnte er ihre weit aufgerissenen braunen Augen erkennen.

Autor

Karen Sandler
Karen Sandler wusste schon immer, dass sie eines Tages eine Autorin sein würde. Doch bis dahin war es ein langer Weg. Sie schrieb schon während ihrer Schulzeiten Kurzgeschichten und Gedichte – dennoch entschied sie sich, Mathematik, Physik und Informatik zu studieren. Nach Karens Abschluss in Mathematik an einem staatlichen College...
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