Wenn heiße Träume wahr werden

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Der Bauunternehmer Murphy Munroe ist richtig glücklich! Wieder hat er mit seiner Freundin Jordan eine leidenschaftliche Nacht erlebt. Doch seine Hoffnung, sie endlich für immer erobert zu haben, wird bitter enttäuscht ...


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777319
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Freitag, 29. März

Westlich von Alberta spannte sich der wolkenlose blaue Himmel über den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains. Im Osten ging die Sonne auf. Vom Pazifik wehte ein warmer Wind.

Die Luft war noch kühl, aber überall tauten Eis und Schnee, so dass die Bauarbeiten bereits wieder begonnen hatten und die morgendliche Stille störten.

Murphy Munroe saß auf dem Dach einer neuen Garage und sah sich zufrieden um. Die Baustelle lag am südlichen Stadtrand von Calgary, und von dem Hochsitz aus hatte er einen freien Blick auf die Hügel und die dahinter liegenden Berggipfel. Das war eine Aussicht, die er immer wieder genoss.

Die in Bau befindliche Straße unter ihm war ein einziges Schlammloch, aber das störte ihn nicht. Die Hauptsache war, dass es nicht wieder Minusgrade gab und vor allem nicht schneite. Der letzte Winter war schlimm gewesen. Alles war schief gegangen. Wenn Murphy an übersinnliche Kräfte glauben würde, dann hätte er geschworen, dass ihn jemand mit einem Fluch belegt hatte.

Aber solche Denkweise lag ihm fern. Schließlich war er sechsunddreißig Jahre alt und leitete eine erfolgreiche Baufirma. Allerdings hatte er so viel Pech auf einmal wirklich nicht verdient. Er baute hochwertige, erschwingliche Häuser, bezahlte seine Steuern und spendete für wohltätige Zwecke. Trotzdem lag er schon vier bis fünf Wochen hinter dem Zeitplan.

Nun, jetzt schien sich das Blatt endlich zu wenden. In den vergangenen Tagen war alles wie am Schnürchen gelaufen. Das hatte er nicht zuletzt seinen tüchtigen Mitarbeitern und Subunternehmern zu verdanken, von denen die meisten mit ihm verwandt waren.

Genau genommen stimmte das nicht ganz. Eine seiner Schwestern hatte in eine weit verzweigte italienische Familie eingeheiratet, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Im Moment arbeiteten fast nur Verwandte von Marco, seinem Schwager, auf der Baustelle.

Murphy war mit Menschen verschiedenster Herkunft vertraut. Er hatte einen irischen Vater, eine schwedische Mutter, eine ukrainische Großmutter, russische und indianische Tanten und einen portugiesischen Onkel. Nur bei den angeheirateten Italienern verlor er den Überblick. Schließlich hatte er schon Schwierigkeiten, sich alles über seine beiden Brüder und drei Schwestern zu merken.

Im Moment lief es also bestens, und Murphy hoffte, dass er bald auf die Magentabletten verzichten konnte, von denen er sich vorsichtshalber eine in den Mund schob. Seufzend griff er nach der Blechschere und arbeitete weiter am Dach. Seit Monaten hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Trotzdem packte er selbst mit an, um bloß kein Risiko einzugehen.

Er griff zu dem mit Druckluft betriebenen Tacker und rief nach unten, dass jemand den Kompressor einschalten sollte. Das geschah auch gleich darauf, aber im nächsten Moment gab es einen lauten Krach. Glas splitterte, und jemand fluchte, was das Zeug hielt.

Hoffentlich war das nicht die speziell für das Arbeitszimmer angefertigte bleiverglaste Tür gewesen.

Wieder fluchte jemand, diesmal auf Italienisch und noch heftiger, und Murphy ließ seufzend den Kopf sinken. Nein, es war nicht die bleiverglaste Tür, sondern das nach Maß angefertigte, doppelt verglaste Panoramafenster gewesen. Und dabei war es noch nicht mal acht Uhr morgens.

Murphy schob den zum Kompressor führenden roten Schlauch zur Seite, griff zum Tacker, drehte sich zu dem Stapel Holzschindeln um … und erstarrte.

Ein teures und glänzendes silbergraues Coupé kam die fast unbefahrbare Straße entlang und hielt hinter seinem schlammbespritzten Pick-up. Murphy traute seinen Augen nicht, aber die Erscheinung war keine Halluzination. Der schlimmste Albtraum wurde wahr. Prompt bekam er wieder Sodbrennen.

Niemand in Calgary fuhr einen solchen Wagen und hatte einen Grund, ihn auf der Baustelle zu besuchen. Das konnte nur Jordan Kennedy sein. Er biss die Zähne zusammen, blickte auf den Wagen hinunter und hoffte, dass bloß nicht sie am Steuer saß.

Die Fahrertür öffnete sich. Zuerst sah Murphy sehr lange Beine, und dann stieg eine elegante Blondine in einem langen weißen Kaschmir-Mantel aus. Verdammt. Er hätte liebend gern auf das Wiedersehen mit Jordan Kennedy verzichtet.

Wäre er klug gewesen, hätte er von Anfang an erkannt, dass sie eine Schneekönigin und kalt wie Eis war, eine von diesen unnahbaren Blondinen. Das hatte ihn damals jedoch nicht abgeschreckt. Vom ersten Moment an hatte er sie blindlings begehrt, was nicht gerade von großer Intelligenz zeugte. Die Katastrophe war vorprogrammiert gewesen. Dazu kam, dass Jordan Kennedy auch noch seine Steuerberaterin war, die ihn beim ersten Blick in ihre großen grauen Augen in ihren Bann geschlagen hatte.

Während sie sich vorsichtig einen Weg über die Straße suchte, verbesserte sich Murphy. So viel Verstand war ihm noch geblieben, um zu erkennen, dass diese Frau dichter abgeschottet war als Fort Knox. Darum war er auch ganz behutsam vorgegangen. Erst im letzten Sommer hatte er nach Monaten intensiver Werbung ihre Abwehr überwunden, und noch heute träumte er manchmal davon, wie sie nackt und voller Leidenschaft unter ihm gelegen hatte.

Im vergangenen Dezember hatte er schon laut an eine dauerhafte Bindung gedacht. Er wollte ihr zu Weihnachten sogar einen Ring schenken. Aber Jordan hatte plötzlich die Tür zugeschlagen. Einfach so. Aus und vorbei. Sie sagte nur, es wäre doch ein Fehler gewesen, und er sollte sich eine andere Steuerberatungsfirma suchen. Ja, sie hatte ihn fallen lassen, als hätte ihr der ganze Sommer mit ihm überhaupt nichts bedeutet.

Während sie unaufhaltsam näher kam, schalt Murphy sich einen Dummkopf. Schließlich hatte er sie doch als Steuerberaterin behalten!

Murphys Blick fiel auf einen Italiener, der auf der anderen Straßenseite auf einer Türschwelle saß und eifrig krumme Nägel auf einem flachen Stein gerade klopfte. Wenn er sich nicht täuschte, war das der Schwiegervater des Cousins von Marcos Mutter, doch sicher war er nicht. Sein Name endete jedenfalls auf o, und er klopfte bereits seit vier Jahren Nägel gerade. Wie viel bekam er wohl dafür?

Seufzend wechselte Murphy aufs Hausdach und zwängte sich durch die Öffnung, in die heute noch ein Dachfenster eingebaut werden sollte. Wenn es schon sein musste, brachte er das Gespräch mit Miss Herzlos lieber gleich hinter sich. Vermutlich ging es um den Jahresabschluss seiner Firma. Und hinterher brauchte er eine neue Packung Magentabletten.

Er achtete sorgfältig darauf, dass Jordan ihm nichts anmerkte, bog um eine Ecke und sah sie direkt vor sich. Er hätte wissen müssen, dass ihn ihr Anblick auch jetzt noch umwerfen würde. Zu dem weißen Mantel trug sie einen leuchtenden Seidenschal in Blau, Purpur und Smaragd. Das aschblonde Haar hatte sie zu einem eleganten Knoten geschlungen. An den Ohren glänzten Perlen. Diese Ohrringe hatte er ihr zum Geburtstag geschenkt.

Sie war vollkommen und unberührbar, und sie hatte ihm das Herz gebrochen.

„Hast du dich verirrt, oder begibst du dich absichtlich in die Niederungen des Lebens?“ fragte er schroff.

Sie wirbelte herum und fasste sich an die Brust. Sekunden vergingen, bevor sie sich ein Lächeln abrang. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Straße hier so aufgeweicht ist.“

Murphy stützte sich gegen die Wand und musterte Jordan unverwandt. „Das kann ich mir denken.“

Offenbar fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Nervös spielte sie mit dem Schal. Murphys Schwestern trugen schon seit Jahren nichts Weißes mehr, weil es in ihren Familien zu viele kleine schmutzige Hände gab, aber nun stand Miss Jordan Kennedy ganz in Weiß vor ihm. Und er hätte gewettet, dass sie sich draußen im Schlamm nicht einmal die teuren Schuhe schmutzig gemacht hatte.

„Kommen wir zur Sache, Jordan“, sagte er unfreundlich. „Was willst du?“

Sie sah sich um. „Könnten wir vielleicht irgendwo in Ruhe reden?“

Wenn es um die Firma ging, dann sollte Murphy sie besser anhören. Doch dafür wirkte sie eigentlich zu nervös und unsicher. Wortlos ging er in die unfertige Küche und trat ans Fenster. Einer seiner Männer räumte im Garten auf und warf Abfälle in einen Container. Murphy gab ihm ein Zeichen, den Kompressor abzustellen. Schließlich drehte er sich um, verschränkte die Arme und wartete schweigend.

Jordan starrte ihn an wie ein Reh, das in den Scheinwerferkegel eines Autos geraten war, blickte dann zur Seite und strich über den Rand der Kücheninsel. Endlich holte sie tief Luft, richtete sich hoch auf und sagte gepresst und ohne Vorrede: „Du hast ein Recht, es zu erfahren. Ich bin im vierten Monat schwanger.“

Murphy kam sich vor, als wäre ihm ein Gerüst auf den Kopf gestürzt. Das konnte doch nicht wahr sein! Schwanger? Wie das denn? Er war immer wieder vorsichtig gewesen. Dennoch zweifelte er keinen Moment daran, dass sie die Wahrheit sagte und das Kind von ihm war. Trotz allem, was sie ihm angetan hatte, hielt er sie für aufrichtig und ehrlich. Sie mochte Ausflüchte suchen und die Wahrheit verschweigen, aber sie würde nie lügen. Dafür war sie auch viel zu stolz.

Jordan ging an ihm vorbei ans Fenster und blickte nach draußen. Erst jetzt merkte er, dass sie zitterte. Und zu allem Überfluss nahm er auch noch den Duft ihres Parfums wahr. Trotzdem wurde er wütend. Vier Monate! Sie war schon im vierten Monat schwanger, gestand es ihm aber erst jetzt!

„Ich habe keinen Moment an eine Abtreibung gedacht“, sagte sie und wich seinem Blick aus. „Ich habe zwar niemals damit gerechnet, aber ich behalte das Kind.“ Als er nicht antwortete, atmete sie tief durch. „Mir ist klar, dass ich dich überrumpelt habe und du Zeit zum Nachdenken brauchst. Trotzdem sollst du wissen, dass ich die volle Verantwortung übernehmen werde.“

„Und warum bist du dann hier?“ fragte Murphy wütend.

Sie sah ihn nur kurz an. „Weil es dein Kind ist. Ich habe nichts dagegen, wenn du eine Rolle in seinem Leben spielen willst. Trotz des Fiaskos mit uns beiden finde ich, dass du ein ausgezeichneter Vater sein könntest, und ich hoffe wirklich, dass du dich nicht meinetwegen von deinem Kind fern halten wirst.“

Was sollte denn das? Noch vor wenigen Monaten hatte Jordan ihn zum Teufel gejagt, und jetzt gab er ihrer Meinung nach einen ausgezeichneten Vater ab? Sie war doch stiften gegangen und nicht er, und nun war sie im vierten Monat und …

Er stockte, weil er nachrechnete. Vier Monate! „Bei der Trennung hast du schon gewusst, dass du schwanger bist“, warf er ihr wütend vor.

„Ich habe es für möglich gehalten, war mir aber nicht sicher“, räumte sie ein.

Es machte ihn rasend, dass sie so beherrscht blieb. „Und wieso kommst du dann nach vier Monaten doch wieder zu mir?“

Ihre Stimme bebte, als sie antwortete. „Zu Beginn gab es Probleme. Mein Arzt befürchtete eine Fehlgeburt. Ich wollte erst sicher sein, dass alles überstanden ist.“

„Du warst also nicht der Ansicht, dass ich es gleich erfahren sollte?“

„Nein“, gab sie entschieden zurück. „Ich wollte es dir erst sagen, nachdem der Arzt sicher sein konnte, dass kein Risiko mehr besteht.“

Das wollte Murphy nicht einfach hinnehmen, aber ausgerechnet in diesem Moment steckte einer von Marcos Verwandten den Kopf zur Tür herein, warf Jordan einen anerkennenden Blick zu und wandte sich an Murphy. „Hey, Boss, die neuen Dachfenster sind gerade angekommen. Wo sollen wir sie abladen?“

Murphy zwang sich zur Ruhe. „Verstaut sie in der Garage von Nummer 104 und schließt hinterher die Tür.“

Jordan war sichtlich dankbar für die Unterbrechung und lächelte plötzlich, auch wenn es unecht wirkte. „Offenbar habe ich einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt. Es wäre wohl besser, wenn ich jetzt gehe, und wenn du etwas mit mir besprechen willst, rufst du mich im Büro an.“ Noch immer strahlend, ging sie zur Tür, und der junge Mann straffte sich und drückte die Brust heraus.

Murphy wäre fast geplatzt, weil sie sich so anstellte, als hätte sie ihm erzählt, ihr Hund würde Junge bekommen, und noch mehr ärgerte er sich über Marcos Neffen oder Cousin, weil dieser sich wie ein Pfau gebärdete. Trotzdem nahm er sich zusammen und lächelte kühl zurück. „Und ob ich etwas mit dir besprechen will“, sagte er warnend. „Aber garantiert nicht in deinem Büro.“

2. KAPITEL

Sonntag, 4. August

Rosa Häschen, blaue Elefanten und gelbe Enten kamen durch die Gitterstäbe eines haushohen Kinderbettes auf ihn zugerannt und begruben ihn unter sich, bis …

Murphy wurde schlagartig wach und setzte sich auf. Es war nur ein Traum gewesen! Er wurde nicht von diesen verrückten Stofftieren erschlagen, sondern saß in einem Jet von Toronto nach Calgary. Das einzige Gewicht, das auf ihm lastete, waren seine Jacke und ein Kissen, das ihm die Flugbegleiterin gegeben hatte.

Murphy schloss die Augen. Es war ein seit Wochen wiederkehrender Traum, den seine Schwester, die als Psychologin arbeitete, liebend gern gedeutet hätte. Dieses Baby trieb ihn noch zum Wahnsinn. Manchmal war er auf Jordan so wütend, dass er sie am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte. Die meiste Zeit aber war er begeistert, dass er einen Sohn oder eine Tochter bekam. Damit hatte er nie gerechnet – und schon gar nicht mit dieser Frau.

Das erste Wiedersehen mit Jordan war schlimm verlaufen. Es hatte fast zwei Wochen gedauert, bis er seinen verletzten Stolz überwunden hatte. Schließlich wollte er im Leben seines Kindes eine wichtige Rolle spielen. Er wollte ein liebevoller Vater sein und sich nicht nur zu Geburtstagen und an jedem zweiten Wochenende zeigen.

Seit er seinen persönlichen Groll verdrängt hatte, behandelte er Jordan freundlich, aber unverbindlich. Er hatte sie zu allen Arztterminen und zu den Schwangerschaftskursen begleitet. Gemeinsam hatten sie alles Nötige für das Kind gekauft. Murphy hatte sogar das Kinderzimmer tapeziert.

Aber nach jedem Besuch bei Jordan war er so aufgewühlt und wütend, dass er erst einmal zwei Stunden im Fitness-Center Gewichte stemmen musste, bevor er wieder unter Menschen gehen konnte.

Das Kind sollte in elf Tagen auf die Welt kommen. Jetzt kehrte Murphy gerade von der jährlichen Handelsmesse in Toronto nach Hause zurück. Seit Monaten hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Nach der Geburt des Kindes würde es sicher wieder besser. Er war das zweitälteste von sechs Kindern und hatte Babys herumgeschleppt, seit er laufen konnte. Das Kind selbst jagte ihm daher keine Angst ein, aber die Geburt.

Genau deshalb hatte er eigentlich gar nicht zu der Messe fliegen wollen, aber Jordan hatte darauf bestanden, weil vor seiner Rückkehr nichts passieren konnte. In dem Punkt musste er sich auf sie verlassen. Der errechnete Geburtstermin war der 15. August.

Wie sollte er diese elf Tage bloß überstehen? Und wenn das Kind erst da war, ging es richtig los. Bisher hatte er nur seine Eltern und seinen älteren Bruder Mitch eingeweiht. Für den Rest der Familie musste er sich noch eine gute Erklärung für die gegenwärtige Situation ausdenken. Und wenn er an die Reaktion seiner Angehörigen dachte, wurde ihm jetzt schon schlecht.

Kurz nach neun Uhr abends war Murphy wieder in seinem Wagen unterwegs. Es hatte geregnet, und die Lichter der Stadt spiegelten sich in den nassen Straßen wider. Die Wolkendecke war jedoch aufgerissen, und die restlichen Wolken entlang der Rocky Mountains leuchteten rötlich im Schein der untergehenden Sonne.

Murphy liebte solche Sommerabende nach einem Regen. Zu Hause hätte er jetzt auf der Veranda gesessen und mit einem Bier in der Hand den Sonnenuntergang genossen. Doch so verlockend die Vorstellung auch war, entschied er sich doch dafür, zuerst nach Jordan zu sehen.

Sie mochte es gar nicht, wenn er sie kontrollierte. Vielleicht war er im Verlauf der letzten Monate gerade deshalb so oft bei ihr gewesen. Außerdem hatte er sich ernsthafte Sorgen gemacht.

Ihre schicke Wohnung lag in einem Stadtteil, der zurzeit total angesagt war. Murphy parkte genau vor der Wohnanlage unter einem der mächtigen Bäume und stieg aus. Im letzten Sommer hatte Jordan ihm ihren Schlüssel gegeben, damit er den Müllschlucker reparieren konnte, und er hatte ihr den Schlüssel nicht zurückgebracht. Auch das passte ihr nicht, und bei dem Gedanken daran umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen.

Er betrat die luxuriös ausgestattete Eingangshalle und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Auch dabei lächelte er wegen der Überwachungskamera. Mehr als einmal wäre es zwischen ihm und Jordan schon im Aufzug zur Sache gegangen, wenn es diese Kamera nicht gegeben hätte. Doch das war vorüber.

Als sich die Türen im dritten Stock öffneten, glaubte Murphy, ein Baby schreien zu hören. Er schüttelte den Kopf. Jetzt träumte er nicht nur völlig verrückt, sondern hörte auch schon alles Mögliche.

Der Flur war wie ein großes Wohnzimmer eingerichtet, von dem vier Türen in die einzelnen Apartments führten. Dunkelgrüne Wände, bequeme Sessel, Seidenblumensträuße und indirekte Beleuchtung – das hatte so viel Klasse wie Miss Kennedy selbst.

Kaum hatte er an Jordans Tür geklingelt, als er das Schreien wieder hörte, nur diesmal wesentlich lauter. Sein Magen krampfte sich zusammen. Nein, Murphy hatte sich nichts eingebildet!

Plötzlich bekam er panische Angst, und er sah Jordan schon in ihrem Blut liegen, weil sie das Kind ganz allein bekommen hatte. Er fluchte und schaffte es erst nach mehreren Anläufen, die Tür zu öffnen und in die Wohnung zu stürmen.

Im ersten Moment glaubte er, das falsche Apartment betreten zu haben, obwohl er Jordans Möbel vor sich sah. Hier herrschte jedoch eine unbeschreibliche Unordnung, als hätte jemand die Wohnung verwüstet.

Verstört ging er durch die Diele in das Wohnzimmer, das früher so elegant eingerichtet und aufgeräumt gewesen war, und hielt den Atem an. Womöglich war tatsächlich eingebrochen worden und …

Das Babygeschrei wurde noch lauter, und dann erschien Jordan im Durchgang mit einem winzigen dunkelhaarigen Kind in den Armen.

Es war tatsächlich ein Baby. Murphy starrte vor sich hin, und wieder dachte er für einen Moment, sich in der Tür geirrt zu haben. Die Frau vor ihm war völlig zerzaust, und sie war sichtlich mit den Nerven fertig. Außerdem hatte sie geweint. Bis zu dieser Sekunde hätte er schwören können, dass Miss Kennedy in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Träne vergossen hatte.

Jordan sah ihn, schlug die Hand vor den Mund und schluchzte hemmungslos. „Murphy, endlich bist du da! Mit dem Baby stimmt etwas nicht. Ich wollte gerade ein Taxi rufen und ins Krankenhaus fahren!“

Das Baby hatte also nicht bis zum errechneten Termin gewartet. Allmählich ließ bei Murphy der Schock nach, und weil er aus Jordan vermutlich kein einziges vernünftiges Wort herausbrachte, solange das Kind schrie, lächelte er möglichst beruhigend. „Ist schon gut, Jordan. Jetzt wird alles gut.“

Sein Herz schlug zum Zerspringen, als er ihr das winzige Etwas abnahm und zum ersten Mal sein Kind an sich drückte. Sein Kind! Beinahe hätte er gesungen und getanzt.

„Hey“, sagte er und strich Jordan das Haar aus dem Gesicht. „Das klingt mir nach einem typischen Munroe-Gefühlsausbruch. Mit dem Kind ist sicher alles in Ordnung.“

Jordan schlug daraufhin beide Hände vors Gesicht und wirkte unbeschreiblich zart und verwundbar. Murphy sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, aber das kam nicht infrage. Darum führte er sie nur zu einem der weißen Sofas, setzte sich mit dem Kind und zog Jordan an sich.

Sie sank kraftlos gegen ihn.

Das Baby spürte wohl die plötzlich eintretende Ruhe und hörte auf zu schreien.

Murphy schnürte es die Kehle zu, und er gab Jordan einen Kuss aufs Haar.

„Verrätst du mir endlich, wer der kleine Schreihals ist?“ fragte er leise.

Sie wischte sich über die Wangen und richtete sich auf. „Das ist dein Sohn, drei Kilo und zweihundertundzwanzig Gramm schwer.“

Ein Sohn. Murphy hatte einen Sohn! Für einen Moment schloss er die Augen. Jordan hatte ihm einen Sohn geschenkt.

Erst nach einer Weile war er in der Lage, Fragen zu stellen, und weitere zehn Minuten später hatte er alles erfahren. Das Baby war vor drei Tagen zur Welt gekommen. Jordan hatte nachts Wehen gehabt und war mit dem Taxi ins Krankenhaus gefahren. Sie und das Kind waren gestern entlassen worden, und seither kam sie nicht mehr klar.

Jordan hatte sich mittlerweile gefasst. Sie rutschte ans andere Ende des Sofas und zog die Beine an. Die graue Hose war verknittert, und das Baby hatte auf die hellblaue Bluse gespuckt. Jordan sah völlig fertig und mitgenommen aus – und absolut hinreißend.

„Ich habe schreckliche Angst, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt“, flüsterte sie und putzte sich die Nase.

Murphy rieb die Wange behutsam am flaumigen Haar seines Sohnes. „Du hättest mich anrufen sollen. Ich wäre sofort zu dir gekommen.“

Sie wischte sich über die Augen. „Ich habe heute Vormittag angerufen, aber da warst du nicht mehr im Hotel.“

„Also“, meinte er und rang sich zu einem schwachen Lächeln durch. „Darf ich mir meinen Sohn ansehen, oder muss ich warten, bis er alt genug ist, dass er sich meinen Wagen ausleihen kann?“

Jordan kam wieder ein Stück näher und streichelte die Wange des Babys. Murphy nahm den Kleinen in beide Arme und stützte ihm dabei den Kopf. Das Baby gab einen leisen Ton von sich und saugte geräuschvoll an der Hand. Murphy berührte die kleine Faust. Wie winzig sein Sohn doch war. Und dieses schwarze Haar. Sein winziger, vollkommener Sohn.

Das Baby war mit dem Nuckeln an der Faust offenbar nicht zufrieden und begann wieder zu schreien – sehr laut sogar.

„Da stimmt doch etwas nicht, wenn er so laut schreit“, sagte Jordan besorgt.

Murphy war dankbar für die Erfahrungen, die er mit den Kindern in der Familie gesammelt hatte. Er stand auf, ging mit dem Baby auf und ab und rieb ihm den Rücken. „Ganz ruhig, Kleiner, ganz ruhig. Keine Angst, Jordan“, sagte er zu Jordan, die sichtlich in Panik geriet. „Wahrscheinlich ist er nur hungrig.“

„Das kann nicht sein“, wehrte sie ab. „Ich hatte ihn gerade erst gestillt, kurz bevor du gekommen bist.“

Sie hatte dem Baby die Brust gegeben. Murphy wandte sich ab, damit sie nicht sah, welche Auswirkungen die Erinnerungen an ihre Brüste bei ihm hatten. „Nun“, meinte er möglichst gelassen, „vielleicht hast du noch nicht genug Milch. Wir sollten es mit einem Fläschchen versuchen.“

„Findest du?“ fragte sie hoffnungsvoll.

„Unbedingt“, versicherte er, als der Kleine noch lauter schrie.

Sie stand vom Sofa auf und streichelte den kleinen Kopf. „Armer Kleiner.“

„Von wegen armer Kleiner“, widersprach Murphy, schaukelte das Kind und hoffte, das Geschrei abstellen zu können. „Bisher hat er seiner Mutter nichts als Probleme bereitet.“

Jordan warf ihm einen betroffenen Blick zu. „Ich mache das Fläschchen fertig“, sagte sie unsicher und zog sich hastig in die Küche zurück. Das Wort Mutter hatte sie völlig aus der Fassung gebracht.

Weil das Geschrei eines Babys beinahe die Tapeten von den Wänden lösen konnte, ging Murphy mit dem Kleinen in das Zimmer, das am weitesten von der Küche entfernt war, und das war das Schlafzimmer, das er nur allzu gut kannte. Dunkelblaue Wände, elfenbeinfarbener Teppichboden, die beiden runden Nachttische mit Messinglampen, die zwei altrosa Sessel und ein antiker Tisch aus Kirschholz erzeugten eine intime Atmosphäre.

Murphy schloss hinter sich die Tür und ging mit dem Baby auf und ab. Auch hier sah es aus, als hätten die Vandalen gehaust. Der Schrank stand offen, ein weißes Handtuch lag auf der Seitenlehne eines Sessels, Windeln türmten sich auf der Holztruhe. Neben dem Bett stand das Kinderbett. Das alles entsprach so gar nicht der Jordan, die er kannte.

Junior war das Warten endgültig leid und brüllte noch lauter. Jetzt wünschte Murphy sich, nicht auf Jordan gehört und einen Schnuller gekauft zu haben. Das Baby lief bereits rot an. Um es abzulenken, schob Murphy ihm den kleinen Finger in den Mund. Sofort verstummte das Geschrei.

„Erzähl das bloß nicht deiner Mutter, Tiger, sonst häutet sie mich bei lebendigem Leib.“

Murphy zog den Finger erst wieder zurück, als Jordan mit einem Fläschchen hereinkam. Er wollte ihr das sofort wieder schreiende Baby geben, aber sie reichte ihm das Fläschchen.

„Mach du das lieber“, sagte sie und lächelte matt. „Dich mag er im Moment sicher mehr als mich.“

Autor

Judith Duncan
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