Wenn unser Stern erglüht

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Janine ist mit dem erfolgreichen Geschäftsmann Thomas verheiratet -eine reine Vernunftehe. Erst in einer schicksalhaften Nacht erkennt sie plötzlich, dass sie ihren Ehemann seit langem Ton ganzem Herzen liebt. Doch was bedeutet sie ihm?


  • Erscheinungstag 08.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777098
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Sie müssen Thomas Zachary sein“, sagte Janine, als sie atemlos das Büro betrat. „Tut mir Leid, dass ich zu spät komme, aber ich bin auf der 4th Avenue im Verkehr stecken geblieben.“ Sie knöpfte ihren Mantel auf, warf ihn über die Lehne des Lederstuhls vor dem schweren Schreibtisch und setzte sich.

Der Mann ihr gegenüber blickte sie befremdet an.

„Ich bin Janine Hartman.“ Sie holte tief Luft. „Gramps hat mich gebeten, mich selbst mit Ihnen bekannt zu machen, falls er von seiner Besprechung nicht rechtzeitig zurück sein sollte.“

„Ja, ich weiß.“ Der Mann musterte Janine schweigend. „Aber er hat mir nicht gesagt, dass Sie in diesem …“

„Oh, das Kleid.“ Janine strich den Stoff glatt. Das Kleid bestand ganz aus rotblauen Flicken und hatte einen knielangen Zipfelrock, der ihr weich über die Hüften fiel. „Es ist ein Geschenk. Und da ich das Mädchen, das es geschneidert hat, nachher treffe, dachte ich, ich ziehe es am besten gleich an.“

„Aha. Und die Kette?“

Janine spielte mit den bunten Girlandenglühbirnen, die, abwechselnd mit großen leuchtenden Perlen auf einer Schnur aufgereiht, ihren Hals zierten. „Ein bisschen ausgefallen, nicht wahr? Sie ist auch ein Geschenk. Ich finde sie lustig. Sie nicht auch? Pamela ist unglaublich schöpferisch.“

„Pamela?“

„Ein Mädchen aus dem Freundschaftsklub.“

„Ich … verstehe“, sagte Thomas stirnrunzelnd.

„Ich arbeite dort ehrenamtlich. Wir beide mochten uns auf Anhieb. Pams Mutter wohnt nicht hier, und Pam ist in diesem komischen Alter und braucht eine Freundin. Aus irgendeinem Grund mag sie mich. Das trifft sich gut, weil ich sie auch sehr mag.“

„Ich verstehe“, wiederholte Thomas Zachary.

Janine bezweifelte das.

„Die Kette ist wirklich ungewöhnlich.“ Er betrachtete die bunten Kugeln erneut.

Janine verstand jetzt, warum ihr Großvater so beeindruckt von diesem Mann war. Thomas Zachary trug einen eleganten Anzug und musste jünger sein, als sie angenommen hatte, vermutlich Anfang dreißig. Janine hätte ihn nicht direkt als attraktiv bezeichnet, aber er hatte markante Züge, die Kraft und Entschlossenheit ausstrahlten, kurzes dunkles Haar, ein energisches Kinn, hohe Wangenknochen und einen vollen Mund. Ihr Großvater war der Meinung, Thomas Zachary habe sehr viel mehr aufzuweisen, als das Äußere vermuten ließ.

Vor einigen Monaten hatte Anton Hartman sein erfolgreiches Bürozubehörunternehmen mit der rasch wachsenden Firma Thomas Zacharys zusammengelegt. Gemeinsam hatten sie in kurzer Zeit eine marktbeherrschende Stellung erreicht.

Schon seit Wochen hatte Gramps Janine mit Thomas bekannt machen wollen und immer wieder von ihm gesprochen. Janine wusste, dass ihr Großvater eine sehr hohe Meinung von seinem Partner hatte.

„Gramps hat … sehr gut von Ihnen gesprochen“, sagte sie.

Thomas Zachary lächelte, aber Janine hatte den Eindruck, dass er das nicht oft tat. „Ihr Großvater gehört zu den geschäftstüchtigsten Männern der Staaten.“

„Er ist unglaublich, nicht wahr?“

Thomas nickte.

Es klopfte, und eine große Frau mittleren Alters in einem dunkelblauen Nadelstreifenkostüm trat ein. „Mr. Hartman hat angerufen“, erklärte sie sachlich. „Er wird leider aufgehalten und schlägt deshalb vor, dass Sie beide sich schon mal auf den Weg machen und ihn später in dem Restaurant treffen.“

Thomas Zachary warf Janine einen unbehaglichen Blick zu. „Hat er gesagt, wie lange er aufgehalten wird?“

„Nein, Mr. Zachary.“

Janine sah auf die Uhr. Um drei war sie mit Pam verabredet. Wenn das Treffen sich in die Länge zog, würde sie zu spät kommen.

Thomas Zachary schien jedoch wenig Lust zu haben, mit ihr allein essen zu gehen.

„Vielleicht ist es besser, wir verschieben die Sache auf einen anderen Tag“, schlug Janine liebenswürdig vor. Die Aussicht, mit diesem Mann in dem Restaurant allein zu sein, bis ihr Großvater kam, behagte ihr genauso wenig wie ihm. „Großvater kommt erst später, ich bin mit Pam verabredet, und Sie sind zweifellos sehr beschäftigt.“

Thomas Zachary schwieg. „Machen Sie das immer, nicht zu Verabredungen zu erscheinen, zu denen Ihr Großvater Sie erwartet?“, fragte er endlich.

Janine ärgerte sich über den scharfen Ton. „Natürlich nicht.“ Sie hatte einen vernünftigen Vorschlag gemacht, und Thomas Zachary hatte kein Recht, ihr zu unterstellen, sie sei unhöflich und rücksichtslos.

„Dann schlage ich vor, wir treffen uns mit Ihrem Großvater in dem Restaurant“, erklärte er steif.

„Also gut.“ Janine lächelte gezwungen. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und griff nach ihrem Mantel, dabei beobachtete sie Thomas Zachary aus den Augenwinkeln. Er mochte sie nicht, das hatte sie vom ersten Moment an gespürt. Offenbar hielt er sie für eine verwöhnte, flatterhafte Person, denn sicher wusste er, dass sie keiner geregelten Arbeit nachging und am liebsten reiste. Janine hätte ihm den Grund für diese Lebensweise erklärt, doch seiner Miene nach zu urteilen, wäre das nur Zeitverschwendung gewesen.

Ihrem Großvater zuliebe beschloss Janine, Frieden zu halten. Gramps hatte sich am Morgen wie ein kleiner Junge auf das gemeinsame Treffen zum Mittagessen gefreut und Janine den Weg so genau beschrieben, als wäre sie noch nie mit dem Wagen durch die Innenstadt von Seattle gefahren.

Nur ganz nebenbei hatte ihr Großvater eine Vormittagsbesprechung mit einem wichtigen Kunden erwähnt. Gramps hatte sie gebeten, direkt zu Thomas Zacharys Büro zu fahren, sich ihm vorzustellen und dort auf ihn, Gramps, zu warten, falls er nicht rechtzeitig zurück sei.

Thomas Zachary zog einen Regenmantel über und ging zur Tür. „Sind Sie so weit?“

Janine nickte und schob die Hände in ihre Taschen. Sie war froh, dass das Restaurant, das ihr Großvater ausgewählt hatte, in der Nähe lag. In stillschweigender Übereinkunft gingen sie das kurze Stück zu Fuß. Dabei hatte Janine Mühe, mit Thomas Zacharys Tempo Schritt zu halten.

Janine betrachtete ihn von der Seite und versuchte herauszufinden, was sie an diesem Mann störte. Er mochte höchstens einen Meter achtzig groß sein, sodass der Unterschied zwischen ihnen nur wenige Zentimeter betrug. Doch warum kam sie sich neben ihm dann so klein vor?

Thomas Zachary musste ihre Musterung gespürt haben, denn er blickte sie an. Janine lächelte, aber er reagierte nicht darauf. Sie war nicht eitel, wusste jedoch, dass sie gut aussah. Das hatten ihr genug Verehrer bestätigt, darunter auch Brian, der Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte. Auf Thomas Zachary schien sie allerdings nicht den geringsten Eindruck zu machen.

Da das Flickenkleid ihn stört, dürfte meine Frisur ihn auch nicht gerade entzücken, dachte Janine. Ihr Haar war im Nacken sehr kurz geschnitten, vorn bedeckte ein langer Pony ihre Stirn. Sie hatte es in den letzten Jahren schulterlang mit einem Mittelscheitel getragen, es vor einigen Wochen jedoch aus einer Laune heraus abschneiden lassen. Der Schnitt, den sie jetzt trug, war der letzte Schrei. Pam hatte ihr begeistert versichert, sie sehe damit super aus. Janine war davon nicht so ganz überzeugt und hatte beschlossen, ihr dichtes, dunkles Haar wieder wachsen zu lassen.

Vermutlich fand Thomas sie ausgeflippt, wenn nicht gar unmöglich. Ihr wiederum war er viel zu ernst und beherrscht.

„Mr. Hartman erwartet Sie“, begrüßte sie der Oberkellner, als sie das elegante Restaurant am Wasser betraten. Er führte sie über einen flauschigen Teppich zu einer etwas erhöhten halbkreisförmigen und in blauem Samt gehaltenen Nische.

„Janine, Thomas.“ Anton Hartman war lächelnd aufgestanden. Die Jahre hatten ihm nicht viel anhaben können. Seine Haltung war gerade, er hatte volles weißes Haar, und seine hellblauen Augen strahlten Herzenswärme und Lebenserfahrung aus. „Tut mir Leid, dass es bei mir nicht rechtzeitig geklappt hat.“

„Das macht nichts“, antwortete Thomas für sie beide.

Janine streifte ihren Mantel ab und küsste ihren Großvater liebevoll auf die Wange.

„Janine …“ Er sprach nicht weiter. „Woher hast du dieses … Kleid?“

„Gefällt es dir, Gramps?“ Sie breitete die Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst, damit er sie von allen Seiten bewundern konnte. „Es fällt etwas aus dem Rahmen, aber ich war sicher, dass du nichts dagegen haben würdest.“

Ihr Großvater blickte zu Thomas, dann wieder zu Janine. „Bei jeder anderen würde es schockierend wirken, aber an dir, Liebling, ist es ein Kunstwerk.“

Janine lachte leise. „Du konntest noch nie gut lügen, Gramps.“ Sie glitt in die Nische neben ihren Großvater, der daraufhin in die Mitte rückte, sodass er zwischen Janine und Thomas saß. Nach der ersten turbulenten Begegnung mit Gramps’ Partner zog Janine es vor, ihn auf Abstand zu halten. Auch Thomas legte offenbar keinen Wert darauf, sie als Tischnachbarin zu haben. Er studierte bereits die Speisekarte und schien belangloses Geplauder für Zeitverschwendung zu halten. Janine nahm ihre Karte auf. Sie hatte Hunger, weil sie zum Frühstück nur Zeit für einen Schluck Kaffee und eine Scheibe Toast gehabt hatte.

Als der Kellner kam, bestellte Janine Meeresfrüchte, Suppe und einen Salat. Den Nachtisch werde sie sich später aussuchen, fügte sie hinzu. Sobald der Ober gegangen war, beugte Gramps sich zu Thomas. „Janine braucht sich um ihre schlanke Linie keine Sorgen zu machen. Sie kommt nach ihrer Großmutter. Meine Anna konnte essen, so viel sie wollte, ohne ein Gramm zuzunehmen.“

„Gramps“, flüsterte Janine ihm zu. „Thomas interessiert sich bestimmt nicht für mein Gewicht.“

„Unsinn“, erwiderte ihr Großvater und tätschelte ihre Hand. „Ihr beide habt euch schon bekannt gemacht, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Janine mechanisch.

„Deine Enkelin ist genau so, wie du sie mir beschrieben hast“, bemerkte Thomas.

Anton nickte und schien sich über die Antwort zu freuen.

„Wie war die Besprechung mit Anderson?“, fragte Thomas.

Anton sah ihn einen Moment verständnislos an. „Ach, Anderson … Gut. Bestens. Alles lief genau, wie ich gehofft hatte.“ Er räusperte sich und breitete die Leinenserviette sorgfältig über seinen Schoß. „Ich wollte schon lange, dass ihr euch kennen lernt. Janine ist mein Augapfel. Sie hält mich jung und macht mich glücklich. Ohne sie wäre ich ein alter Griesgram geworden.“

Gramps blickte Janine so zärtlich an, dass ihr warm ums Herz wurde. Ohne ihn hätte sie nach dem Tod ihrer Eltern kein Zuhause mehr gehabt. Ihr Großvater hatte sie aufgenommen, sie mit Liebe aufgezogen und ihr die Möglichkeit gelassen, sich frei zu entwickeln. Es war ihm sicher nicht ganz leicht gefallen, einer Sechsjährigen plötzlich die Eltern zu ersetzen, aber er hatte sich nie beklagt.

„Mein einziger Sohn ist viel zu früh gestorben“, gestand Anton schmerzlich.

„Das tut mir Leid“, sagte Thomas leise.

Das echte Mitgefühl in seiner Stimme überraschte Janine und machte ihn ihr gleich sympathischer.

„Der Verlust meines Kindes hat mich maßlos getroffen“, fuhr Anton mit festerer Stimme fort. „Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, um nicht zum Nachdenken zu kommen, und einen Konzern aufgebaut, der Niederlassungen überall in den Vereinigten Staaten hat. Dabei bin ich ein reicher Mann geworden.“

Janine sah ihren Großvater forschend an. Es war sonst nicht seine Art, seine Erfolge herauszustellen.

Anton fing ihren Blick auf. „Als Thomas mein Geschäftspartner wurde, war das für mich ein Geschenk des Himmels. Er ist ein Mann, der zupackt und etwas bewegt. Wir beide sind uns in vielem sehr ähnlich. Das war einer der Hauptgründe, warum ich ihm das Fusionsangebot gemacht habe.“

„Es ehrt mich, dass du so denkst“, sagte Thomas.

Anton winkte den Kellner heran. Kurz darauf kehrte dieser mit einer Flasche teurem Champagner zurück und schenkte ein.

„Ich bin glücklich, zum ersten Mal die beiden Menschen um mich zu haben, die mir am meisten bedeuten.“ Anton hob sein Glas. „Auf uns.“

„Auf uns.“ Janine sah ihren Großvater voller Liebe an.

Anton lächelte und sagte leise etwas auf Deutsch, seiner Muttersprache, die Janine bis auf wenige Brocken nicht verstand. Ihr Großvater blickte strahlend von einem zum anderen. „Und jetzt“, er stellte sein Glas ab, „möchte ich euch eine wichtige Mitteilung machen.“

Er blickte Janine an, und seine Züge wurden weich. „Vor lauter Arbeit habe ich immer viel zu wenig Zeit für dich gehabt“, gestand er. „Mir ist klar geworden, dass es für mich langsam Zeit wird, mich aus dem Geschäft zurückzuziehen, damit ich endlich mal ein bisschen reisen kann.“

„Mehr als Zeit“, betonte Janine. Seit Jahren hatte sie ihren Großvater gedrängt, die Dinge leichter angehen zu lassen. Er hatte oft davon gesprochen, seine Verwandten und Freunde in der Heimat zu besuchen.

„Und hier kommt Thomas ins Spiel“, fuhr Anton fort. „Ich kenne mich nur zu gut. Es wäre für mich ein Ding der Unmöglichkeit, mich ganz zur Ruhe zu setzen. Ich bin einfach nicht der Typ, der sich auf die faule Haut legen kann.“

Weder Janine noch Thomas bezweifelten das.

„Ich werde es wohl nie schaffen, mich ganz aus dem Geschäft zurückzuziehen, aber ich möchte beruhigt reisen können. Das wäre mir aber nicht möglich, wenn ich mir ständig Gedanken machen müsste, was in der Firma los sein könnte.“ Anton schwieg einen Augenblick, als erwartete er Widerspruch. „Jetzt glaube ich, die ideale Lösung gefunden zu haben. Ab heute Nachmittag, Thomas, übergebe ich dir das Ruder. Du übernimmst meine Stellung als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender. Ich weiß, das kommt früher, als wir abgesprochen hatten, aber der Zeitpunkt ist richtig, und ich hoffe, du nimmst an.“

„Aber Anton …“

„Gramps …“

Anton hob abwehrend die Hand. „Ich habe mir alles gründlich überlegt“, versicherte er und blickte Janine an. „Thomas ist ein Mann, an dessen Aufrichtigkeit, Loyalität und Geschäftssinn ich keinen Zweifel habe. Ich wüsste keinen Besseren für diesen verantwortungsvollen Posten.“

Janine bemerkte, dass die Lobesworte Thomas verlegen machten. „Danke“, sagte er schlicht.

„Ein Teil der Firma wird eines Tages dir gehören, Janine“, erklärte Anton als Nächstes. „Hast du etwas gegen diese Ernennung einzuwenden?“

Was hätte sie dagegen sagen können? „Was immer du beschließt, Gramps, ich bin damit einverstanden.“

Anton wandte seine Aufmerksamkeit wieder Thomas zu. „Nimmst du an?“

Obwohl sie sich gerade erst kennen gelernt hatten, wusste Janine instinktiv, dass Thomas Zachary nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Ihrem Großvater war es jedoch gelungen.

Thomas blickte ihn fassungslos an, als könnte er immer noch nicht glauben, was er gehört hatte. Doch als er endlich sprach, verriet seine Stimme nur wenig von seinen Empfindungen. „Ich fühle mich geehrt, Anton.“

„In den nächsten beiden Monaten werden wir wie bisher eng zusammenarbeiten, aber mit einem Unterschied. Ich werde dich nicht mehr einweisen, sondern dir die Zügel übergeben.“

Der erste Gang wurde serviert, und Janine entspannte sich. Ihr Großvater bestritt das Gespräch und gab sich unterhaltsam, geistreich und charmant. Es war unmöglich, sich von seiner guten Stimmung nicht anstecken zu lassen.

Als sie mit dem Essen fertig waren, blickte Thomas bedauernd auf die Uhr. „Tut mir Leid, dass ich schon gehen muss, aber ich habe einen Termin, den ich nicht verschieben kann.“

Janine trank ihren Kaffee aus. „Ich muss auch gehen.“ Sie nahm Handtasche und Mantel auf und glitt aus der Nische, in der Annahme, ihr Großvater wolle ebenfalls aufbrechen.

„Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich in aller Ruhe austrinken.“ Anton deutete auf die Tasse mit dem dampfenden Kaffee.

„Natürlich.“ Janine küsste ihn zum Abschied.

Thomas begleitete sie auf die Straße hinaus und drückte ihre Hand. „Es war mir ein Vergnügen, Miss Hartman.“

„Sind Sie sich da sicher?“, scherzte sie.

„Ja.“ Thomas blickte ihr in die Augen und lächelte.

Als Janine davonging, fühlte sie sich seltsam beschwingt. Thomas Zachary mochte kein einfacher Mensch sein, aber sie hatte den Eindruck, dass er die Erwartungen ihres Großvaters auf der ganzen Linie erfüllen würde.

Gramps war immer noch in Hochstimmung, als er am Abend nach Hause kam. Janine saß mit einer Tasse Kräutertee vor dem Fernseher in der Bibliothek und verfolgte die Nachrichten.

Ihr Großvater machte es sich neben ihr in seinem Ledersessel bequem, schlug die Beine übereinander und genehmigte sich eine seiner geliebten Havanna-Zigarren. Janine sah ihm nachsichtig zu. Sie liebte ihren Großvater und wünschte, er würde zu rauchen aufhören, aber sie hatte sich längst abgewöhnt, ihn darum zu bitten. Anton Hartman war ein Mann, der sich nichts sagen ließ und sich stets durchsetzte. Der Ausgang des Mittagessens schien ihn froh gestimmt zu haben, und Janine fragte sich, ob Thomas ihm hinterher etwas über sie gesagt hatte.

„Nun, Liebes“, meinte Anton schließlich, „was hältst du von Thomas Zachary?“ Er paffte Rauchringe zur Decke, während er auf ihre Antwort wartete.

Janine hatte sich den ganzen Nachmittag über auf diese Frage vorbereitet und sich ausweichende Bemerkungen zurechtgelegt, doch jetzt entschied sie sich zur Offenheit. „Das weiß ich nicht genau, Gramps. Er scheint ein komplizierter Mann zu sein.“

Anton lachte erheitert. „Da magst du recht haben. Aber ich weiß, dass du einer Herausforderung nicht widerstehen kannst. Der Junge ist wie ein Rohdiamant. Er mag eine raue Oberfläche haben, aber wenn er geschliffen ist, kommt die innere Schönheit ans Licht.“

Als Herausforderung hatte Janine Thomas noch nicht betrachtet. „Ich bin froh, dass du dich von der Firma zurückziehen willst“, sagte sie.

Anton ließ sich nicht vom Thema abbringen. „Thomas wird sich ändern“, betonte er.

„Warum sollte er?“, gab Janine zu bedenken. „Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und hat die besten Aussichten, noch sehr viel mehr zu erreichen. Warum sollte er sich da ändern?“

Anton stand auf und schenkte sich Cognac ein. Er schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam im Glas, ehe er antwortete: „Du wirst ihn ändern, Janine.“

„Ich?“ Janine lachte schallend. „Ich soll Thomas Zachary ändern?“

„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen“, sagte ihr Großvater nachdenklich. „Leider ist sie sehr traurig.“

Janine schaltete den Fernseher über die Fernsteuerung aus. Großvater hatte ihr oft Gleichnisse erzählt. „Ich höre.“

„Es geht um einen Jungen, der in einem Armenviertel aufwuchs. Er hatte kaum eine Chance, es im Leben zu etwas zu bringen. Seine Mutter war zu schwach, um sich gegen den Vater, einen Alkoholiker, durchzusetzen. Wenn er getrunken hatte, wurde er gewalttätig. Schließlich mussten die Behörden eingreifen und den Jungen und seine jüngere Schwester in einem Heim unterbringen. Er war noch nicht einmal acht und wurde von einer Anstalt in die andere geschoben. Doch stets bestand er darauf, auf keinen Fall von seiner Schwester getrennt zu werden. Er hatte ihr versprochen, sich immer um sie zu kümmern. Eines Tages kamen die beiden dennoch in getrennte Heime. Der Junge verging vor Sorge um seine Schwester und brannte durch. Die Behörden suchten nach ihm, doch drei Tage später tauchte er dreihundert Kilometer entfernt in dem Heim auf, in das man seine Schwester Beth Ann gebracht hatte.“

„Er fühlte sich für sie verantwortlich.“

„Richtig. Deshalb traf es den Jungen umso härter, als das Mädchen beim Schwimmen ertrank. Er war damals gerade erst zwölf Jahre alt.“

„Oh Gott!“ Janine empfand tiefes Mitleid mit dem Kleinen, der seine Schwester auf so tragische Weise verloren hatte.

„Der Junge gab sich die Schuld an ihrem Tod“, fuhr Anton fort. „Er war ein Entwurzelter, der nirgendwohin gehörte. Seine Mutter starb einen Monat nach seiner Schwester. Die beiden waren die Einzigen gewesen, die ihn geliebt hatten. Er hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Vater, was wohl auch besser so war. Andere Angehörige gab es nicht. Niemand wollte den verstörten, seelisch gebrochenen Jungen haben.“

„Da geriet er auf die schiefe Bahn“, vermutete Janine.

„Das nicht. Aber er hatte eine freudlose Kindheit ohne menschliche Wärme und inneren Halt.“

„Gramps …“

Anton hob abwehrend die Hand. „Als der Junge achtzehn war, meldete er sich zum Militär. Dort machte er Karriere. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er war intelligent und hatte keine Angst vor dem Tod. Er meldete sich sogar freiwillig für gefährliche Einsätze an internationalen Krisenherden. Er hätte es beim Militär weit bringen können, doch eines Tages stieg er aus. Niemand verstand, warum. Vermutlich wollte er ganz von vorn anfangen. Er gründete eine Zulieferfirma. Es dauerte kein Jahr, bis ich auf ihn aufmerksam wurde. Er ging den Markt gezielt und mit neuen Ideen an, die mir imponierten. Innerhalb von fünf Jahren wurde er zu einem meiner schärfsten Konkurrenten. Er besaß eine Kraft und Dynamik, die ich mit meinem Alter nicht mehr aufbrachte. Wir trafen uns und redeten miteinander. Das Ergebnis war: Wir taten uns zusammen.“

„Du sprichst von Thomas Zachary, nicht wahr?“, fragte Janine.

Anton lächelte zufrieden und trank von seinem Cognac. „Du hattest sofort erkannt, dass er ein sehr zurückhaltender Mensch ist. Da dachte ich, es würde dir helfen, wenn du seine Geschichte kennst. Zachary hat die Zuwendung und Geborgenheit in einer Familie nie kennen gelernt, und auch was Liebe bedeutet, hat er nur bei seiner Schwester Beth Ann erfahren. Sein Leben war eine Aneinanderreihung schmerzlicher Erfahrungen, und nur seine Willenskraft hat ihm geholfen, die Widerstände zu überwinden. Thomas Zachary mag kein liebenswürdiger Mann sein, aber ich habe Hochachtung vor ihm.“

Janine hatte ihren Großvater nur selten so gefühlvoll erlebt. „Thomas hat dir das alles erzählt?“

Anton lachte. „Aber nein. Er hat seine Vergangenheit mit keinem Wort erwähnt.“

„Du hast also Erkundigungen über ihn einziehen lassen?“

Gramps paffte an seiner Zigarre, ehe er antwortete: „Das war notwendig, obwohl ich mir schon gedacht hatte, dass er es im Leben nicht leicht gehabt hat.“

Janine nickte mitfühlend. „Eine traurige Geschichte.“

„Du wirst ihm gut tun, Liebes.“

Janine sah ihren Großvater verständnislos an. „Ich?“

„Ja, du. Du wirst ihn das Lachen, die Freude am Leben lehren. Noch wichtiger: Du wirst ihn lehren, was Liebe ist.“

Janine wusste nicht, wie sie das verstehen sollte. „Wie meinst du das, Gramps? Da Thomas die Leitung der Firma übernimmt, werden wir einander von jetzt ab sicher ab und zu sehen, aber ich wüsste nicht, wie ich sein Leben beeinflussen könnte.“

Gramps lächelte geheimnisvoll. „Da irrst du dich, Liebes. Du wirst sogar eine sehr große Rolle in Thomas’ Leben spielen … und er in deinem.“

Janine war verwirrt. „Vielleicht ist mir am Nachmittag etwas entgangen. Ich dachte, du hättest ihn zu deinem Nachfolger ernannt.“

„Das habe ich auch.“ Gramps blickte einem Rauchring nach.

„Ich verstehe nicht, welche Rolle ich dabei spiele.“

„Das kannst du wohl auch nicht“, sagte Gramps leise. „Du musst wissen, Janine, ich habe Thomas als Ehemann für dich ausgesucht.“

Janine war sprachlos. Endlich sagte sie: „Du willst mich auf den Arm nehmen, Gramps.“

„Nein, Liebes.“ Ihr Großvater steckte sich eine neue Zigarre an und blickte auf ihre glimmende Spitze. „Ich meine es todernst.“

„Aber …“ Janine war so durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

„Ich habe mir die Sache schon längere Zeit durch den Kopf gehen lassen“, setzte Anton hinzu. „Thomas Zachary ist genau der richtige Mann für dich. Ihr werdet euch wunderbar ergänzen. Ihr werdet hübsche, blonde Kinder haben.“

„Aber …“ Janine fehlten die Worte. Eben noch hatte sie sich eine rührende Geschichte angehört, und jetzt sprach ihr Großvater von einem Ehemann, den er ihr ausgesucht hatte, und der Haarfarbe ihrer Kinder.

„Wenn du darüber nachdenkst“, fuhr Gramps zuversichtlich fort, „wirst du mir recht geben. Thomas ist ein sympathischer junger Mann und wird dir ein wunderbarer Ehemann sein.“

„Du … und Thomas … ihr habt euch abgesprochen?“, fragte Janine fassungslos.

„Du meinst, ob ich mit diesem Angebot an ihn herangetreten bin? Himmel, nein. Jedenfalls bis jetzt noch nicht.“ Gramps lachte belustigt. „Es würde Thomas bestimmt nicht gefallen, wenn ich mich in seine Privatangelegenheiten einmischte. Bei ihm muss ich sehr behutsam vorgehen. Offen gestanden, hatte ich eigentlich vorgehabt, den Heiratsvorschlag mit der Firmenübergabe zu verbinden. Nach längerem Nachdenken hielt ich es jedoch für klüger, darauf zu verzichten, denn da hätte Thomas wohl nicht mitgespielt. Es gibt andere, bessere Gelegenheiten. Aber darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Liebes. Das bespreche ich mit Thomas unter vier Augen.“

„Ich … verstehe.“ Gramps hat nun mal altmodische Ansichten, dachte Janine.

Autor

Debbie Macomber
<p>SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber hat weltweit mehr als 200 Millionen Bücher verkauft. Sie ist die internationale Sprecherin der World-Vision-Wohltätigkeitsinitiative Knit for Kids. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Wayne lebt sie inmitten ihrer Kinder und Enkelkinder in Port Orchard im Bundesstaat Washington, der Stadt, die sie zu ihrer <em>Cedar Cove</em>-Serie inspiriert hat.</p>
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