Werd ich dich jemals wiedersehen?

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Dr. Luca Ferrero kämpft nicht nur Tag für Tag um das Leben seiner Patienten, sondern auch um das Herz seiner jungen Kollegin Kelly Clayton. Doch dann muss er plötzlich nach Italien reisen, denn seine Jugendfreundin braucht seine Hilfe. Wird er Kelly jemals wiedersehen?


  • Erscheinungstag 01.06.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747190
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Kelly Carlyon hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie wollte kündigen und am Ende der Woche abreisen. Die ganze Nacht hatte sie darüber nachgedacht, und dies war die einzig vernünftige Lösung. Auch wenn mit dieser Arbeitsstelle ein Traum in Erfüllung gegangen war. Aber keine Stelle der Welt war solchen Kummer wert.

Kelly spürte, wie ihr Herz zu klopfen anfing, als die Bürotür geöffnet wurde. Sie wusste, was sie tun sollte. Dennoch konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass Luca womöglich glaubte, sie hätte Angst davor, mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie war schon seit Langem über ihn hinweg. Nämlich von dem Moment an, in dem sie herausgefunden hatte, dass er eine andere Frau heiraten würde.

Sie war hier ins Krankenhaus gekommen, um einen Posten als Assistenzärztin anzutreten. Und es war zugegebenermaßen ein Schock gewesen, als sie feststellte, dass er ihr neuer Chef war. Doch Kelly hatte beschlossen, auf professionelle Weise mit der Situation umzugehen. Nach ihrer gestrigen Auseinandersetzung war sie sich dessen allerdings nicht mehr so sicher. Konnte sie wirklich trotz ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Luca Ferrero zusammenarbeiten?

Buon giorno, Kelly.“

Luca kam herein und schloss die Tür hinter sich. Groll stieg in Kelly auf, als er zu seinem Schreibtisch ging. In seiner Miene war keinerlei Unbehagen zu erkennen, kein Hinweis darauf, dass er die Situation genauso problematisch fand wie sie. Ihm war es offenbar vollkommen egal, dass er ihre Welt schon wieder durcheinanderbrachte. Wenn Kelly ihm irgendetwas bedeutet hätte, hätte er sie vor zwei Jahren niemals so behandelt.

Bei der Erinnerung an das, was damals geschehen war, presste sie den Mund zusammen. Luca hatte für sechs Monate als Gastdozent auf derselben pädiatrischen Station gearbeitet wie Kelly. Auf diese Weise hatten sie sich kennengelernt. Die Intensität ihrer Gefühle für ihn hatte Kelly völlig überrumpelt. Bis dahin war sie viel zu sehr mit ihrer beruflichen Laufbahn beschäftigt gewesen, um irgendwelche Liebesbeziehungen einzugehen. Aber schon eine Woche nach ihrer ersten Begegnung waren Luca und sie ein Paar.

Als er schließlich wieder nach Rom zurückkehrte, war Kelly am Boden zerstört gewesen. Obwohl er ihr geschworen hatte, dass sie immer zusammenbleiben würden, hatte sie schreckliche Angst gehabt, ihn zu verlieren. Eine Woche später hatte er sie angerufen, um ihr zu sagen, dass er wieder in England wäre und dringend mit ihr sprechen müsste. Überglücklich war Kelly nach der Arbeit sofort nach Hause geeilt. Sie war sicher, dass Luca sie fragen würde, ob sie mit ihm nach Italien gehen wollte. Aber sie hatte sich geirrt.

Anstatt sich zu setzen, blieb Luca mitten im Raum stehen und teilte ihr schlicht mit, dass er demnächst heiraten werde. Oh ja, er versuchte, es ihr schonend beizubringen. Er behauptete, er hätte ihr nie wehtun wollen, aber Kelly hörte ihm gar nicht mehr zu. In Wahrheit hatte sie doch nur ihren Zweck erfüllt, und jetzt nutzte sie ihm nichts mehr.

Sie befahl ihm, sofort zu gehen, und hatte ihn danach nie wiedergesehen, bis sie hierher nach Sardinien gekommen war. Denn Luca war der neue Chefarzt im Santa Margherita Ospedale, einem renommierten Kinderkrankenhaus an der Nordküste Sardiniens.

„Also, Kelly, weißt du, was du tun willst?“

Luca setzte sich auf seinen Stuhl. Kelly holte tief Luft. Er hatte ihr vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben, um sich zu entscheiden, ob sie weiter hier im Krankenhaus arbeiten wollte oder nicht. Sie machte den Mund auf, doch er kam ihr zuvor.

„Aber ich glaube, vorher muss ich mich bei dir entschuldigen.“

„Entschuldigen?“, wiederholte sie unsicher.

„Sí.“ Er lehnte sich zurück und betrachtete sie prüfend über den Schreibtisch hinweg. „Es war falsch von mir, dich vor dem gesamten Team so anzugehen. Das tut mir leid.“

„Oh. Verstehe.“

Kelly biss sich auf die Lippen und hoffte, dass man ihr nicht anmerkte, wie nahe ihr die Sache ging. Der gestrige Vorfall hatte sie sehr verbittert und aufgeregt. Luca hatte ausgesprochen schroff reagiert, als sie bei einem der Kinder eine andere Behandlungsmethode vorgeschlagen hatte. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er sich wenigstens die Zeit genommen hätte, ihre Idee zu prüfen. Aber er hatte sie von vornherein einfach abgetan.

Kelly war wütend über die Art, wie er mit ihr redete, und hatte darüber auch kein Blatt vor den Mund genommen. Falls Luca nicht angepiept worden wäre, hätte sich bestimmt ein lautstarker Streit entwickelt. Und das wäre absolut unvertretbar gewesen.

„Ich denke, ich muss mich auch bei dir entschuldigen“, meinte sie. „Ich hätte deine Anweisung akzeptieren und dir nicht widersprechen sollen.“

„Dann haben wir wohl beide einen Fehler gemacht.“

Er zuckte die Achseln. Wie immer war er tadellos gekleidet. Der schwarze Anzug betonte die breiten Schultern und seine schlanke Gestalt. Und das weiße Hemd brachte seinen sonnengebräunten Teint perfekt zur Geltung. Mit seinen dunkelgrauen Augen und dem glänzenden schwarzen Haar sah Luca eher wie ein Filmstar aus als wie ein Arzt.

Doch nicht nur sein gutes Aussehen hatte Kelly damals angezogen, sondern einfach alles an ihm: seine Vitalität, sein Engagement, seine Intelligenz. Luca Ferrero war der Inbegriff all ihrer Träume gewesen. Kein Wunder, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Energisch verbannte sie die schmerzlichen Erinnerungen. Seitdem war viel passiert, und der Entschluss, ins Ausland zu gehen, war für sie und ihre Zwillingsschwester Katie ein großer Schritt gewesen. Während Kelly nach Sardinien gegangen war, hatte Katie sich für Zypern entschieden. Gestern Abend hatte sie mit ihrer Schwester gesprochen und erfahren, dass diese demnächst heiraten würde. Also war der Auslandsaufenthalt zumindest für eine von ihnen erfolgreich verlaufen.

„Nun, Kelly? Du wolltest mir deine Entscheidung mitteilen.“

Plötzlich war sie nicht mehr so sicher, ob sie wirklich gehen sollte.

„Ich weiß, wie schwierig es hier für dich ist. Für mich ist das auch nicht einfach.“

Lucas sanfter Tonfall schien beinahe ihre blank liegenden Nerven zu streicheln, und Kelly fröstelte unwillkürlich. Sie hatte schon immer sehr stark auf ihn reagiert. Ein Wort oder eine Berührung von ihm, und sie war Wachs in seinen Händen. Ein weiterer Grund, weshalb sie lieber gehen sollte. Sie wollte diese Gefühle nicht wieder aufleben lassen.

Luca war jetzt verheiratet und völlig tabu. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, dass wohlbekannte Empfindungen sie durchströmten. Kleine heiße Schauer, gegen die sie machtlos war, auch wenn sie sich noch sosehr dagegen wehrte.

„Ich wüsste nicht, warum dir das etwas ausmachen sollte“, entgegnete Kelly scharf. „Du hast mich doch schon vergessen, sobald du England verlassen hast. Immerhin hattest du ja noch ganz andere Dinge im Kopf, stimmt’s?“

„Wenn du meinst, dass mein Leben sich nach meiner Rückkehr nach Italien auf dramatische Weise verändert hat, kann ich das nicht leugnen“, sagte Luca ruhig. „Das heißt jedoch nicht, dass ich vergessen habe, was zwischen uns gewesen ist. Während meiner Zeit in England hast du eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Deshalb ist die jetzige Situation für mich ebenso schwierig wie für dich. Aber wir sind beide erwachsen, und ich bin davon überzeugt, dass wir einen Weg finden werden, miteinander zu arbeiten, wenn wir uns darum bemühen.“

„Soll das heißen, du willst, dass ich bleibe?“, fragte sie erstaunt. Seit ihrer Ankunft hatte Luca sich ihr gegenüber äußerst kühl verhalten und mit keinem Wort zu erkennen gegeben, dass er sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte.

„Ja, aber nur, wenn du es auch willst.“ Er beugte sich vor und sah sie eindringlich an. „Ich möchte dich zu nichts überreden, wenn es sich für dich nicht richtig anfühlt. Dazu achte ich dich viel zu sehr, als Mensch und als Ärztin.“

„Danke.“ Kelly atmete tief durch. „Ich würde gerne bleiben. Es war schon immer mein Traum, in einem Kinderkrankenhaus zu arbeiten. Und ich konnte es kaum glauben, als ich erfuhr, dass ich die Stelle hier bekommen habe.“

„Ging mir genauso.“ Ein Lächeln huschte über seine sinnlichen Lippen. „Ich wusste, dass es Dutzende von Bewerbern aus der ganzen Welt für diese Stelle gab. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als der Vorstand mir den Chefarztposten angeboten hat.“

„Sei nicht so bescheiden.“ Kelly erwiderte sein Lächeln, und ihre Anspannung ließ ein wenig nach. An diesen Luca erinnerte sie sich am liebsten, den warmherzigen, fürsorglichen Mann, der sich selbst über den kleinsten Erfolg freuen konnte. In Manchester hatten ihn alle verehrt. Er hätte jede Frau haben können, aber er hatte sie gewählt.

Doch rasch verdrängte Kelly den Gedanken und sagte: „Du weißt genau, dass es nur wenige Kinderärzte gibt, die dir das Wasser reichen können, Luca.“

„Hm. Ich glaube, ich sollte dir meine PR überlassen. Du tust meinem Ego ausgesprochen gut.“

Er lächelte sie an, ehe er unvermittelt wieder ernst wurde. Kelly hatte den Eindruck, dass er sich absichtlich zurückzog, und war enttäuscht. Doch dann wurde ihr bewusst, wie dumm das war. Eigentlich sollte sie froh sein, dass er ihre Beziehung auf einer rein platonischen Ebene halten wollte.

„Du bist eine hervorragende Ärztin, Kelly. Das beweist die Tatsache, dass die Klinikleitung dich für diese Stelle ausgewählt hat. Auch wenn ich zum Zeitpunkt deines Vorstellungsgesprächs noch nicht hier gearbeitet habe, hätte ich deine Bewerbung sofort unterstützt, falls man mich dazu befragt hätte.“

„Danke. Das bedeutet mir sehr viel. Ich habe angenommen … Na ja, das kannst du dir ja vermutlich denken.“

„Du meinst, ich hätte eher verhindert, dass du hierherkommst?“ Luca seufzte. „Auch wenn es jetzt nur noch reine Spekulation ist, hoffe ich, dass ich deine Bewerbung aufgrund deiner Fähigkeiten beurteilt hätte. Du hast eine sehr vielversprechende Karriere vor dir, Kelly. Das war mir schon in Manchester klar. Ich weiß, wie engagiert du bist, und ich will dich ganz sicher nicht daran hindern, deine Ziele zu erreichen.“

Irgendetwas an seinem Tonfall zeigte ihr, dass ihre Karriere ihm wirklich wichtig war und er es nicht nur so dahingesagt hatte. In diesem Augenblick läutete das Telefon, und Luca nahm ab. Offensichtlich gab es schlechte Nachrichten, da seine Miene sich verfinstert hatte, als er wieder auflegte.

„Alessandro Alessi, der Junge, den wir uns gestern bei der Visite angesehen haben, krampft. Ich gehe sofort zu ihm. Kannst du dem Rest des Teams Bescheid sagen, dass wir uns dort treffen?“

„Natürlich.“

Kelly folgte ihm hinaus und eilte zum Aufenthaltsraum, um ihre Kollegen zu verständigen. Gemeinsam gingen sie auf die Station, und als Kelly die Tür aufstieß und Luca sah, der mit der Stationsschwester sprach, zog sich ihr das Herz zusammen. Ob sie wegging oder blieb, es würde so oder so wehtun. Daran bestand kein Zweifel.

„Grazie.“

Luca gab der Schwester das Krankenblatt und trat an das Bett des Jungen. Der zehnjährige Alessandro war vor zehn Tagen mit starken Kopfschmerzen und Fieber eingeliefert worden. Luca, der eine bakteriell verursachte Hirnhautentzündung vermutete, hatte ihn sofort auf die Intensivstation verlegen lassen. Die schnelle Antibiotikabehandlung hatte ihm das Leben gerettet. Aber dieser Rückfall des Jungen war ein herber Schlag.

„Wie lange hat der Krampf gedauert?“, fragte Luca, ohne den Blick von dem kleinen Patienten abzuwenden.

Als jemand ihn im Vorbeigehen streifte, beschleunigte sich unwillkürlich sein Pulsschlag. Er brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass es Kelly war. Seit ihrer Ankunft machte sein innerer Radar Überstunden. Luca war imstande, mit absoluter Genauigkeit wahrzunehmen, wo im Raum sie sich gerade befand. Und das machte ihm zu schaffen.

Er konnte sich solche Gefühle nicht leisten. Das war weder Kelly noch ihm selbst gegenüber fair. Er hatte Sophia versprochen, dass er Matteo sein Leben lang lieben und für ihn sorgen würde. Und das würde er auch tun. In seinem Leben gab es keinen Platz für irgendjemanden außer seinem Sohn. Auf keinen Fall wollte Luca Kellys Karriereaussichten aufs Spiel setzen, indem er sie in seine Privatangelegenheiten hineinzog.

„Nur ein paar Minuten“, antwortete die Stationsschwester auf seine Frage. „Eine der jüngeren Schwestern hat mich alarmiert. Als ich kam, ging es Alessandro wieder gut. Aber ich dachte, ich sollte Ihnen trotzdem sofort Bescheid geben.“

„Sie haben genau das Richtige getan. Ich möchte über jede Veränderung bei dem Zustand eines Patienten schnellstmöglich informiert werden“, erklärte Luca und lächelte den Jungen an. „Na, und wie fühlst du dich jetzt, Alessandro?“

„Ganz gut“, murmelte der Junge.

„Bene.“ Luca nickte, obwohl er merkte, dass Alessandro nicht so munter war wie beim letzten Mal. Mit einer Taschenlampe testete Luca die Augenreaktion des Jungen. Das rechte Auge schien nicht so schnell zu reagieren, wie es sollte.

Er blickte auf, befriedigt, das gesamte Team versammelt zu sehen. Von Anfang an hatte er klargemacht, dass er von allen die Anwesenheit bei der Visite erwartete. Nach dem Ausscheiden seines Vorgängers waren die Mitarbeiter ein wenig nachlässig geworden. Doch Luca verlangte von jedem hundertprozentigen Einsatz.

Er warf einen Blick zu seinem Stationsarzt Carlo Baldovini hinüber, einem ernsthaften jungen Mann Anfang Dreißig. Neben ihm stand Letizia Sentini, eine der beiden Assistenzärztinnen. Letizia lächelte Luca zu, obwohl dieser sie ignorierte. Er hatte kein Interesse an Letizias nicht gerade dezenten Flirtversuchen.

Dann blieb sein Blick an Kelly hängen, und er wurde wehmütig. Luca wusste, wie schwer es sein würde, ihre Beziehung auf das rein Berufliche zu beschränken, wenn sie hier im Krankenhaus blieb. Von allen Frauen, die ihm je begegnet waren, hatte Kelly ihn am meisten berührt. In ihr hatte er seine Seelenpartnerin gefunden. Aber als Sophia ihm von ihrem Baby erzählte, war ihm klar geworden, dass er Kelly aufgeben musste.

Falls er seine Entscheidung noch einmal treffen müsste, würde er es genauso machen. Und dennoch, als er Kellys Gesicht sah, wünschte er sich, die Umstände wären anders gewesen. Wenn er sich nicht um Sophia und ihr ungeborenes Kind hätte kümmern müssen, wären er und Kelly vielleicht immer noch zusammen.

Auf Lucas Aufforderung hin untersuchte sie die Augen des Jungen, auch wenn sie nach dem gestrigen Zusammenstoß nicht damit gerechnet hatte, dass er auf ihre Ansicht Wert legte.

„Eine kaum merkliche Verzögerung im rechten Auge“, sagte sie.

Sí. Das kam mir auch so vor.“

Luca nahm die Taschenlampe wieder an sich und beugte sich noch einmal über Alessandro. Kelly seufzte erleichtert. Wenigstens diesmal schienen sie einer Meinung zu sein. Das war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Verblüfft schaute sie sich um, als Letizia plötzlich vortrat und sie grob zur Seite stieß.

„Vielleicht gibt es da eine Durchblutungsstörung“, meinte Letizia, die nun Kellys Platz einnahm. „Falls sich zu viel Rückenmarkflüssigkeit im Schädel angesammelt hat, könnte dies den Krampf ausgelöst haben. Wir müssen operieren, um den Hirndruck zu verringern.“

„Das ist eine Möglichkeit“, erwiderte Luca und sah Kelly mit erhobenen Brauen an. „Bist du der gleichen Ansicht wie Letizia, Kelly? Sollten wir operieren?“

„Ich glaube, dass es momentan noch zu früh ist, um das zu sagen“, antwortete sie, wobei sie Letizias giftigen Blick geflissentlich ignorierte. „Erst durch ein CT lässt sich feststellen, ob eine Durchblutungsstörung vorliegt oder nicht.“

„Allerdings, und deshalb wollen wir nicht vorschnell handeln.“ Luca schaute zu Letizia. „Könnten Sie für Alessandro ein CT veranlassen? Sobald die Ergebnisse da sind, werden wir über das weitere Vorgehen entscheiden. Außerdem müssen wir überprüfen, ob noch eine Infektion vorhanden ist.“

„Sie wollen eine Lumbalpunktion machen?“, meinte Letizia sofort.

„Nein. Man sollte niemals eine Lumbalpunktion durchführen, wenn ein Verdacht auf erhöhten Hirndruck besteht“, entgegnete er tadelnd. „Im Augenblick dürften Bluttests reichen.“

Kelly folgte der Gruppe, die zum nächsten Bett weiterging. Letizia warf ihr einen gehässigen Blick zu, als sie an ihr vorbei zum Telefon marschierte. Kelly seufzte. Offenbar hatte sie sich nun eine Feindin gemacht.

Der Rest der Visite verlief problemlos, wobei Kelly jedoch darauf achtete, Letizia aus dem Weg zu gehen. Nach der Visite war Vormittagssprechstunde, und Kelly ging hinunter zur Ambulanz im Erdgeschoss. Aldo, einer der Reinigungskräfte, wischte gerade verschütteten Orangensaft vom Boden auf, hielt dann aber inne. Er lernte Englisch und übte gerne, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot.

„Heute ist ein schöner Tag, dottoressa“, sagte er mit einem schüchternen Lächeln.

„Sí, Aldo, molto bello“, antwortete Kelly freundlich. Vom Italienischlernen wusste sie aus eigener Erfahrung, wie wichtig es war, seine Kenntnisse anzuwenden. Dann ging sie weiter zum Büro.

Serafina, eine der Sprechstundenhilfen, lächelte sie an, als sie hereinkam. „Buon giorno, Kelly. Ich fürchte, Sie haben heute eine lange Patientenliste. Einige der Kinder möchte sich Dr. Ferrero auch noch selbst ansehen. Wissen Sie, wann er kommt?“

„Er müsste gleich da sein“, versicherte Kelly und blickte auf ihre Liste. Wahrscheinlich würde sie keine Zeit zum Mittagessen haben. Aber das störte sie nicht. Die Patienten kamen bei ihr immer an erster Stelle. Sie legte die Liste wieder auf den Tresen und nahm den Stapel an Patientenakten, die Serafina für sie vorbereitet hatte.

„Na, dann will ich mal anfangen“, meinte Kelly, doch da kam auch Luca. An ihr vorbei griff er nach der Patientenliste, und Kelly spürte, wie ihr der Atem stockte, als sein Arm ihre Schulter streifte.

„Wir haben hier einen Fall, den ich gern mit dir besprechen würde, Kelly.“ An seinem Blick merkte sie, dass er keine Ahnung hatte, was in ihr vorging. Sein Tonfall war vollkommen neutral. „Es ist einfacher, wenn wir das nach der Sprechstunde machen. Komm also am besten in mein Büro, sobald du fertig bist.“

Damit ging er, und sie eilte ins Sprechzimmer, an dem heute ihr Namensschild hing. Sie betrachtete es, um sich selbst daran zu erinnern, wer sie war: Dr. Kelly Carlyon, Assistenzärztin.

Sie war eine Mitarbeiterin in Lucas Team, mehr nicht. Wenn sie hierbleiben wollte, musste sie vergessen, dass er der Mann war, den sie von ganzem Herzen geliebt hatte. Es durfte keinen Blick zurück in die Vergangenheit geben, und vor allem keine Wiederholung dessen, was gerade passiert war.

Ihr wurde heiß, als sie daran dachte, wie sein Arm sie gestreift hatte. Ein flüchtiger Kontakt, und dennoch kribbelte ihre Haut wie damals, wenn Luca sie berührt hatte. Er war ein wunderbarer Liebhaber gewesen. Kelly hatte nur wenig Erfahrung gehabt, aber er hatte ihr beigebracht, Liebe zu geben und zu empfangen. In seinen Armen hatte sie sich so lebendig gefühlt wie nie zuvor. Aber sie durfte sich nicht dazu verleiten lassen, zu glauben, dass es wieder so werden könnte. Luca war jetzt verheiratet, und mit ihm würde sie nie mehr solche Gefühle erleben.

Ein trockenes Schluchzen stieg in ihr auf, doch sie unterdrückte es. Sie legte die Patientenakten auf den Schreibtisch und zog einen sauberen weißen Kittel an. Rasch überprüfte sie ihr Aussehen im Spiegel. Das rote Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst, so wie Kelly es meistens zur Arbeit trug. Mit dem dezenten Lipgloss und ein wenig Mascara wirkte sie wie eine Frau, die ihr Leben unter Kontrolle hatte. Zumindest äußerlich sah sie aus wie immer. Nur die Augen verrieten ihren inneren Aufruhr.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie, während sie die Schatten sah, die ihre meergrünen Augen verdunkelten. Dass der flüchtige Kontakt von vorhin Luca so völlig kalt gelassen hatte, verletzte sie zutiefst. Früher hätte sie voller Überzeugung behauptet, dass er sie ebenso liebte wie sie ihn. Aber sie hatte sich getäuscht. Luca hatte sie schon damals nicht geliebt, und jetzt erst recht nicht.

„Herein.“

Luca wappnete sich, als die Tür geöffnet wurde. Doch es war nur Serafina, die ihm einige Akten brachte.

„Grazie.“ Es gelang ihm, sein Lächeln beizubehalten, bis sie den Raum verließ. Aber die ständige Anspannung forderte allmählich ihren Tribut. Den ganzen Vormittag hatte er versucht, die Erinnerung an die Berührung zwischen ihm und Kelly zu verdrängen. Vergeblich. Noch immer konnte er es tief in seinem Inneren spüren – ihren weichen Körper, die feste, glatte Haut, ihre Wärme …

Leise fluchte er vor sich hin, und zwar mit den Worten, die er als Kind in einer der ärmsten Gegenden Italiens gelernt hatte. Die Leute aus dem Waisenhaus, in dem er später aufwuchs, hatten es Gossensprache genannt und ihm deshalb mit Wasser und Seife den Mund ausgespült. Nicht einmal das hatte ihn jedoch davon abgehalten. Denn es war für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, all den Schmerz und die Wut loszuwerden, die er in sich trug.

Nach dem Abschluss seines Studiums hatte Luca sich dazu erzogen, nicht mehr laut zu fluchen. Obwohl der Zorn und die schmerzlichen Erinnerungen an seine Kindheit natürlich noch immer da waren. Doch erst als er Kelly kennenlernte, verblassten sie nach und nach. Sie zeigte ihm, dass er kein zerlumptes, verwahrlostes Straßenkind mehr war, sondern ein Mann, den eine Frau lieben konnte.

Zu wissen, dass er unter anderen Umständen ihre Liebe sein ganzes Leben lang hätte haben können, tat schrecklich weh. Es war nicht so, dass er Kellys Liebe einfach achtlos weggeworfen hatte. Ihm war keine andere Wahl geblieben.

Sophia hatte ihn gebraucht, und er hätte es niemals übers Herz gebracht, sie und ihr ungeborenes Kind im Stich zu lassen. Er hatte eine Liebe für eine andere eingetauscht, und er bereute seine Entscheidung nicht. Kelly war seine große Liebe gewesen, aber sie hatte ihn nicht so sehr gebraucht wie Sophia.

Es klopfte erneut, und Luca zuckte zusammen. „Herein“, rief er und tat dann so, als beschäftigte er sich eingehend mit Serafinas Akten.

Er hörte, dass die Tür aufging und jemand durchs Zimmer kam, doch er schaute nicht auf. Er wusste auch so, dass es Kelly war. Er konnte ihren Duft wahrnehmen und spürte ihre Nähe mit jeder Faser seines Seins. Einen winzigen Moment lang gestattete Luca es sich, die Empfindungen auszukosten, die ihn durchströmten, ehe er sie entschlossen verbannte.

„Wie war die Sprechstunde?“, erkundigte er sich in höflich distanziertem Ton.

„Gut. Die meisten Kinder sind nur zur Nachsorge gekommen. Es gab also keine Probleme.“

„Bene.“ Endlich blickte Luca auf, und sein Herz schien für Sekundenbruchteile auszusetzen. Doch rasch hatte er sich wieder gefasst. Auch wenn Kellys prachtvolles Haar im Sonnenlicht schimmerte, das zum Fenster hereinfiel, hatte dies keinerlei Bedeutung für ihn. Für ihn zählte ausschließlich seine Arbeit.

Als Kelly sich bewegte und er ihren schlanken Körper unter dem weißen Kittel betrachtete, gab es ihm wieder einen Stich. Nichts hätte Luca lieber getan, als ihr diesen weißen Kittel abzustreifen und danach die sittsame Bluse aufzuknöpfen, die sie darunter trug. Er wusste, dass Kellys Teint kaum dunkler war als der Stoff – milchfarben, glatt und makellos. Er sehnte sich danach, ihren Duft einzuatmen, die Wärme ihrer Haut zu spüren, sie an sich zu ziehen und …

„Du wolltest einen Fall mit mir besprechen?“

Ihre scharfe Stimme riss ihn unsanft aus seinen Träumen.

„Ja, das stimmt.“ Luca ging zum Aktenschrank und wies auf einen Stuhl, damit Kelly Platz nahm. Heftiger als nötig stieß er die Schublade wieder zu. „Es geht um Domenico de Pietro, einen Fünfzehnjährigen aus Palau.“ Er gab Kelly die Patientenakte und setzte sich. „Sein Hausarzt hat ihn zu uns überwiesen.“

Stirnrunzelnd las sie die Krankengeschichte. „Fieber, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit und allgemeines Unwohlsein.“ Sie schaute auf. „Hier steht nichts über seinen psychischen Zustand. Wie hat er auf dich gewirkt?“

„Ziemlich deprimiert.“ Luca lächelte in sich hinein. Offenbar hatte Kelly den richtigen Verdacht. Doch das überraschte ihn nicht. Sie war schon immer eine gute Diagnostikerin gewesen.

„Wurde schon eine volle neurologische Untersuchung durchgeführt?“

Autor

Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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