Wie im Garten Eden

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Als Leonora in Kairo den faszinierenden Scheich Amer el-Barbary kennen lernt, ahnt sie, dass dieser Mann ihr gefährlich werden kann. Nach einem romantischen Mondschein-Picknick mit Amer sieht sie nur einen Ausweg: Sie kehrt nach London zurück, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Wird sie ihn je wieder sehen?


  • Erscheinungstag 01.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758882
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

„Worauf warten wir noch?“, fragte der Kopilot.

Der Pilot blickte vom Cockpit auf die Rollbahn des Kairoer Flughafens. Im frühen Morgenlicht wirkte der Staub darauf wie mit winzigen Diamanten durchsetzt, und die Dächer des Flughafengebäudes schimmerten unwirklich in der Ferne. Zwei Männer in Overalls fegten eifrig das Vorfeld, auf dem die Maschine zum Stehen gekommen war.

„Sicherheitskontrolle“, erwiderte der Pilot kurz angebunden.

Der Kopilot war neu in der Privatflotte des Scheichs von Dalmun. „Überprüfen sie das immer alles bis ins Letzte?“

Der Pilot zuckte die Schultern. „Er ist ein einflussreicher Mann.“

„Einer von den Gefährdeten?“

„Er ist superreich und der Thronerbe von Dalmun“, bemerkte der Pilot ironisch. „Natürlich ist er da gefährdet.“

Jetzt grinste sein Begleiter. Seine Freundin brachte regelmäßig Zeitschriften mit Berichten über Königshäuser nach Hause.

„Heiß begehrt bei der Damenwelt, stimmt’s?“

Die Sicherheitsleute hatten ihre Routinekontrollen beendet. Einer von ihnen hob die Hand, und eine weiße Stretch-Limousine kam langsam um die Maschine gerollt. Der Pilot nahm seine Mütze unter den Arm und ging zu dem aussteigenden Passagier, um sich von ihm zu verabschieden.

Der Morgenwind spielte mit dem weißen Gewand des Scheichs, der zielstrebig zur Limousine ging. Trotz seines Gefolges wirkte er einsam.

Der Pilot kehrte ins Cockpit zurück.

„Wir haben Bereitschaft“, erklärte er.

Weitere Wagen fuhren vor. Das Sicherheitsteam reihte sich ein, dann glitt die Limousine davon, flankiert von zwei schweren Mercedes. Die Piloten lehnten sich zurück und warteten auf die Mechaniker, die sie zum endgültigen Standplatz der Maschine geleiten sollten.

„Was führt ihn her?“, fragte der Kopilot neugierig. „Geschäft oder Vergnügen?“

„Beides, denke ich. Er war monatelang in Dalmun“, verriet der Pilot.

„Wieso?“

Der Pilot antwortete nicht.

„Soweit ich gehört habe, hat er Krach mit seinem alten Herrn, der wollte, dass er wieder heiratet.“

„Kann sein.“

„Was meinst du? War er unterwegs auf Brautschau?“

Jetzt konnte der Pilot nicht mehr an sich halten. „Amer el-Barbary auf Brautschau? Eher friert die Hölle ein.“

1. KAPITEL

Leonora fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. Die Eingangshalle des NilHilton war überfüllt. Ausgerechnet jetzt hatte Leo drei Teilnehmer ihrer Museumsführung aus den Augen verloren. Deshalb hatte sie keine Zeit für ihre Mutter gehabt, die darüber verärgert war. Und jetzt kam ihr auch noch ihre Problemkundin wieder mit einer ihrer wissbegierigen Fragen.

„Wie bitte?“, fragte Leo geistesabwesend.

„Er kommt gerade rein.“ Mrs. Silverstein deutete mit dem Kopf zur Drehtür. „Wer ist der Mann?“

Eine lang gezogene weiße Limousine mit getönten Scheiben, flankiert von zwei dunklen Mercedes, war in den Vorhof gerollt. Männer in grauen Anzügen stiegen aus und nahmen strategische Stellungen ein, während eine Schar Gepäckträger auf die Gruppe zuströmte. Die Türen der Limousine blieben geschlossen. Leo wusste, was das bedeutete.

„Wahrscheinlich jemand von der Königsfamilie.“ An der war sie nicht weiter interessiert. Das von ihrem Vater kürzlich übernommene Reisebüro hatte noch keine königliche Kundschaft. „Das geht mich zum Glück nichts an. Haben Sie die Familie Harris gesehen?“

„Königsfamilie“, wiederholte Mrs. Silverstein verträumt.

Leo lächelte. Sie mochte die alte Dame.

„Ein Wüstenherrscher“, schwärmte Mrs. Silverstein.

„Schon möglich.“

Um der Frau die Illusion nicht zu rauben, behielt Leo für sich, dass der Mann vermutlich in Harvard studiert hatte, mehrere Fremdsprachen beherrschte und die Wüste im klimatisierten Geländewagen durchquerte statt auf dem Kamelrücken. Im Gegensatz zu Leo war Mrs. Silverstein unglaublich romantisch.

„Möchte wissen, wer er ist …“

Den Ton kannte Leo. „Keine Ahnung“, erklärte sie bestimmt.

Mrs. Silverstein warf ihr einen schalkhaften Blick zu. „Sie könnten sich erkundigen.“

Leo lachte schallend. Das erwartete die alte Dame seit drei Wochen immer wieder von ihr.

„Hören sie“, sagte sie geduldig, „ich bin Ihr Laufbursche und tue so manches für Sie. Ich frage Frauen, wie alt sie sind, und Männer, wie viel es kostet, einen Esel zu versorgen. Aber ich denke nicht daran, eine Armee bewaffneter Kerle auszuhorchen, wen sie bewachen. Dann würden sie mich wahrscheinlich verhaften.“

Mrs. Silverstein lächelte verschmitzt. In den drei Wochen, die sie sich nun kannten, hatten sie sich verstehen gelernt. „Feigling.“

„Und jetzt muss ich die Familie Harris suchen.“

Leo bahnte sich einen Weg zwischen der Menge hindurch zu einem Marmortisch, auf dem hinter einer Blumenanordnung ein Haustelefon stand. Nachdem sie die Zimmernummer der Familie Harris gewählt hatte, blickte sie sich kurz um, für den Fall, dass die Leute gerade die Treppe herunterkamen.

Die Begleiter der Limousine hatten sich in Bewegung gesetzt. Männer mit Handy teilten die Menge. Hinter ihnen schritt ein großer breitschultriger Mann im wallendem Gewand. Mrs. Silverstein hat recht, dachte Leo. Er sah umwerfend aus.

In diesem Augenblick drehte er sich um und sah sie an. Zu ihrer Verwunderung stand sie wie versteinert da.

„Hallo?“, meldete Mary Harris sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo?“

Leo war sicher, dass sie den Mann noch nie gesehen hatte. Doch er hatte etwas an sich, das sie elektrisierte. Als wäre er wichtig für sie. Als würde sie ihn kennen.

„Hallo? Hallo?“

Er trug das makellos weiße Gewand und den Kopfputz eines Wüstenarabers. In der prächtigen Hotelhalle zog er schon durch die Schlichtheit seiner Kleidung die Blicke auf sich, dazu kamen seine große Erscheinung und die wachsame Geschäftigkeit seiner Begleiter. Seine Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, doch seine Miene wirkte gelangweilt, als er sich abwandte und den Blick weiter über die Menge schweifen ließ.

„Hallo? Wer ist dort?“

Alles an ihm wirkte arrogant. Leo mochte ihn nicht. Dennoch stand sie völlig unter seinem Bann und musste den Mann einfach ansehen.

Mrs. Silverstein war ihr gefolgt und nahm ihr den Hörer ab. Leo merkte es kaum. Sie konnte den Blick nicht von dem Fremden lösen und wartete, dass er sich ihr noch einmal zuwandte.

Ein Mann, den Leo als den stellvertretenden Geschäftsführer des Hotels erkannte, geleitete die Gruppe. Immer wieder verbeugte er sich vor dem Ankömmling und schien niemand anders zu sehen. Er kam so nah an Leo vorbei, dass sie scharf zurückweichen musste. Dabei stieß sie mit der Hüfte an den Tisch und griff Halt suchend nach einer Säule. Der sonst so höfliche stellvertretende Geschäftsführer bemerkte es nicht einmal.

Doch dem Mann im weißen Gewand, dem aller Aufmerksamkeit galt, entging der Zwischenfall nicht.

Er blieb stehen und blickte in Leos Richtung.

Der Boden unter ihr schien plötzlich zu beben, und sie klammerte sich hilflos an die Säule.

„Meine Güte“, sagte Mrs. Silverstein aufgeregt.

Leo wurde heiß und kalt, und sie fühlte sich schwach und ausgeliefert.

Dann wandte der Fremde sich ab.

Sie war erlöst. Die Anspannung ließ nach. Erst jetzt wurde Leo bewusst, dass sie sich immer noch an der Säule festhielt und unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Ihre Knie fühlten sich wachsweich an, und sie griff sich mit bebender Hand an die Kehle.

„Meine Güte“, wiederholte Mrs. Silverstein und legte den Hörer auf.

Auf der anderen Seite der Hotelhalle machte der Fremde eine gebieterische Handbewegung. Einer seiner Begleiter im grauen Anzug trat achtungsvoll näher. Sein Gebieter sagte etwas zu ihm, und er blickte überrascht durch die Halle zu Mrs. Silverstein und Leo.

Leo wusste, warum er verwundert war. Sie war nicht der Typ Frau, der Männern in überfüllten Hotelhallen auffiel. Das war ihr ebenso klar wie dem Mann im grauen Anzug.

Sie war zu groß, zu blass, zu steif. Von ihrem Vater hatte sie die dichten Augenbrauen geerbt, die sie streng aussehen ließen, wenn sie nicht aufpasste. Und jetzt war ihr weiches dunkles Haar voller Staub, das schlichte Kostüm zerknittert.

Kein aufregender Anblick, dachte Leo ironisch. Sie hatte sich daran gewöhnt, durchschnittlich auszusehen, und glaubte, sich damit abgefunden zu haben. Doch die verwunderte Reaktion des Begleiters tat weh.

Der Mann im weißen Gewand sagte erneut etwas zu ihm. Er nickte und kam zu Leo und Mrs. Silverstein herüber.

„Entschuldigen Sie bitte“, erklärte er in akzentfreiem Englisch. „Seine Exzellenz lässt fragen, ob Sie sich verletzt haben.“

Benommen schüttelte Leo den Kopf. Sie war zu durcheinander, um sprechen zu können. Dabei war sie nicht einmal sicher, ob der Scheich mit der Sonnenbrille sie überhaupt ansah. Dennoch spürte sie, dass er es tat.

Mrs. Silverstein war aus härterem Holz geschnitzt.

„Sehr freundlich von Seiner Exzellenz, sich zu erkundigen“, strahlte sie den Abgesandten an und wandte sich Leo zu. „Der Mann hat Sie doch nicht verletzt, nicht wahr, meine Liebe?“

„Verletzt?“, wiederholte Leo verwirrt. Hatte der Mann mit der Sonnenbrille Laseraugen?

Mrs. Silverstein war geduldig. „Als er mit Ihnen zusammengestoßen ist?“

Erst jetzt fiel Leo der Zwischenfall wieder ein, und sie riss sich zusammen. „Ach, Mr. Ahmed.“

Der Scheich sah sie nicht mehr an, das wusste sie, auch ohne hinzublicken. Sie war sich seiner so stark bewusst, als würde sie von ihm ausgehende Schwingungen empfangen.

So etwas war ihr noch nie passiert. Schon gar nicht bei einem Fremden, dessen Augen sie nicht einmal sehen konnte. Das machte ihr Angst.

Leo atmete tief durch und sagte, so ruhig wie sie konnte: „Nein, nein. Es war nichts weiter.“

Prüfend sah Mrs. Silverstein sie an. „Sicher? Sie sehen schrecklich blass aus.“

Der Sicherheitsmann äußerte sich dazu nicht. Leo hatte den Verdacht, dass er nicht zum ersten Mal einer Unbekannten eine Botschaft überbrachte. Doch normalerweise waren die Botschaften sicher sehr viel amüsanter, die Damen sehr viel eleganter und attraktiver …

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Madam?“

Leo befeuchtete sich die Lippen und rief sich zur Ordnung. „Nein, danke“, erwiderte sie gefasst. „Es ist nichts passiert. Ich brauche keine Hilfe.“ Höflich setzte sie hinzu: „Bitte danken Sie Seiner Exzellenz für seine Besorgnis, aber sie war unnötig.“

Sie wollte sich abwenden, doch Mrs. Silverstein konnte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, etwas mehr zu erfahren.

Forsch tippte sie dem Sicherheitsmann auf den Arm. „Wer ist Seine Exzellenz?“

„Scheich Amer el-Barbary.“

Mrs. Silverstein war entzückt. „Scheich“, wiederholte sie verklärt.

Wenige Schritte von ihnen entfernt drehte sich der Fremde mit der Sonnenbrille erneut um. Leo spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Obwohl sie ihn nicht ansah, fühlte sie seinen Blick auf sich gerichtet. Ein Schauer überlief sie. Wütend auf sich selbst, warf sie den Kopf zurück und sah dem Mann im weißen Gewand voll ins Gesicht. Bildete sie es sich ein, oder blieb er kurz stehen? Leo hatte das Gefühl, dass er jetzt erst richtig auf sie aufmerksam wurde. Und dass er nicht gerade erfreut war.

Hilfe! Dachte sie. Er wird doch nicht herüberkommen? Ihr wurde heiß.

Rettung kam von unerwarteter Seite.

„Darling!“, rief eine Frauenstimme.

Leo fuhr zusammen und blickte sich um. In der Hotelhalle drängten sich Gruppen, die in verschiedenen Sprachen lautstark aufeinander einredeten. Doch gegen ihre Mutter kamen sie nicht an. Nach jahrelanger Übung auf Damenessen hatte Deborah Grooms Stimme eine Durchdringungskraft erreicht, die es mit allem aufnehmen konnte.

„Darling!“, rief sie erneut und winkte heftig mit der ringgeschmückten Hand. „Ich bin hier drüben.“

Leo zählte bis zehn. Sie hatte versucht, ihre Mutter davon abzubringen, während der hektischsten Tage der Touristensaison nach Kairo zu kommen. Aber natürlich hatte Deborah sich nicht darum gekümmert.

Seufzend erklärte Leo dem wartenden Sicherheitsmann: „Vielen Dank, aber es ist alles in bester Ordnung. Bitte sagen Sie das Seiner Exzellenz.“ Sanfter bat sie Mrs. Silverstein: „Geben Sie mir zehn Minuten. Ich muss erst noch einiges regeln. Wenn Sie dann immer noch zu den Pyramiden von Giseh wollen, bringe ich Sie gern hin.“

„Gehen Sie nur.“ Mrs. Silverstein stand immer noch ganz im Bann ihrer Begegnung mit einem echten Scheich. „Ich setze mich solange ins Café und trinke einen Cappuccino. Dort finden Sie mich, wenn Sie fertig sind.“

Erleichtert schob Leo sich ihr Klemmbrett unter den Arm und bahnte sich einen Weg zwischen der Menge hindurch.

„Hallo, Mutter.“ Leo ließ sich einen Kuss auf die Wange hauchen. „Amüsierst du dich gut?“

Wie stets nahm Deborah Groom kein Blatt vor den Mund. „Das könnte ich, wenn ich meine einzige Tochter öfter sehen würde.“

Leo lächelte tapfer. „Ich hatte dir doch gesagt, dass ich arbeiten muss.“

„Aber nicht ständig.“

„Wir haben viel zu tun, Mutter“, erwiderte sie geistesabwesend. In einiger Entfernung hatte sie Andy Frances entdeckt, der eine Gruppe mühsam zum wartenden Bus zu geleiten versuchte. Aber das hätte er auch nicht allein tun müssen. Roy Ormerod, der Leiter von „Adventures in Time“, hätte sich ebenfalls um die Gruppe kümmern sollen.

Stirnrunzelnd fragte Deborah: „Weiß dein Vorgesetzter, wer du bist?“

Leo lachte ironisch. „Dass ich die Tochter vom Chef bin? Natürlich nicht. Das würde mir alles verderben. Hier bin ich Leo Roberts.“

Deborah gab einen verächtlichen Laut von sich. „Manchmal verstehe ich deinen Vater wirklich nicht.“

Das war nicht neu. Vor vierzehn Jahren hatte sie Gordon Groom mit genau dieser Begründung verlassen und ihm die zehnjährige Leo anvertraut.

„Er hält das für eine gute Idee, damit ich wie er frühzeitig auf eigenen Füßen stehen lerne“, erklärte Leo geduldig. „Hör mal, Mutter …“

„Du meinst, er hofft, du würdest dich in einen Jungen verwandeln, wenn du lernst, dich allein durchzuschlagen?“, hielt Deborah kampflustig dagegen.

In Leos Augen blitzte es auf. Da der Vorwurf jedoch berechtigt war, hielt sie es für klüger, darauf nicht einzugehen. Sie wussten beide, dass Gordon sich immer einen Sohn gewünscht hatte. Da dieser Wunsch jedoch unerfüllt geblieben war, führte er jetzt seine Tochter ins Geschäft ein, damit sie das Unternehmen eines Tages übernehmen sollte. Daraus machte er auch längst keinen Hehl mehr.

Deborah bewegte sich unbehaglich. „Tut mir leid, Darling. Ich hatte davon wirklich nicht wieder anfangen wollen. Aber wenn ich sehe, wie erschöpft und gehetzt du aussiehst, kann ich einfach nicht anders.“

„Vergiss es“, riet Leo ihr trocken.

Unauffällig blickte sie auf ihr Klemmbrett. Wo blieb Roy? Er müsste den Fahrer der japanischen Gruppe längst bezahlt haben. Leo überlegte rasch. Wenn er nicht gleich auftauchte, musste sie das tun. Und was war mit der Familie Harris? Die hatte sie ganz vergessen. Dabei fuhr der Bus zur Museumsbesichtigung gleich ab.

Ihre Mutter seufzte. „Dann sehe ich dich heute den ganzen Tag nicht mehr?“

Nun schlug Leo doch das Gewissen. „Kaum. Es sei denn …“

Mary Harris kam atemlos angelaufen.

„Ach Leo, bitte entschuldigen Sie. Timothy hatte sich im Bad eingeschlossen, und da wusste ich nicht, was ich tun sollte. Das Zimmermädchen hat ihn befreit. Haben wir die Tour jetzt verpasst?“

Leo beruhigte die Frau und sorgte sofort dafür, dass die Familie ihre Gruppe noch erreichte.

Als Leo zu ihrer Mutter zurückkehrte, ging sie im Geist ihren Terminplan durch.

„Hör mal, Mutter, ich muss jetzt noch eine Gruppe auf die Reise schicken. Dann ist da noch eine Dame, die ich zu den Pyramiden bringen soll. Aber es ist heiß, und sie ist schon älter, da wird sie dort nicht lange bleiben wollen. Treffen wir uns am Nachmittag zum Tee?“

Deborahs Stimmung hob sich. „Kann ich dich zum Abendessen einladen?“

Doch Leo zögerte.

„Du denkst, das würde deinem Vater nicht gefallen“, vermutete Deborah enttäuscht.

Fast hätte Leo ihrer Mutter tröstend die Hand gedrückt, doch Gefühlsregungen dieser Art waren in ihrer Familie nicht üblich.

Also sagte Leo nur sanft: „Das ist es nicht. Aber heute Abend haben wir ein Konferenzessen in einem historischen Gebäude. Wir erwarten dort viele wichtige Leute, und ich muss unbedingt dabei sein.“

„Wenn die Leute so wichtig sind, kann dein Vorgesetzter das doch übernehmen“, schlug Deborah vor.

Leo lachte spöttisch. „Roy? Der und …“

Doch dann dachte sie darüber nach. Auf der Gästeliste standen hochkarätige Vertreter internationaler Wohltätigkeitsorganisationen, darunter auch Mitglieder von Königshäusern. Roy hatte eine Schwäche für Veranstaltungen, bei denen er hoffen konnte, mit den Reichen und Berühmten fotografiert zu werden.

„Mutter, du bist genial. Das ist genau das Richtige für Roy“, erklärte Leo und zog ihr Handy heraus.

Es meldete sich jedoch nur Roys Anrufbeantworter. Leo hinterließ eine kurze Nachricht und schaltete ab.

„So, Mutter. Das hätten wir. Wir sehen uns also heute Abend. Und jetzt muss ich die zweiundsiebzig Jahre alte Dame nach Giseh bringen.“

Ihre Mutter wirkte jedoch keineswegs zufrieden.

Irritiert sah Leo sie an. „Was ist?“

„Kann nicht jemand anders die Frau zu den Pyramiden begleiten?“

Die Frage entlockte Leo ein verständnisinniges Lächeln. Deborah war die Tochter eines reichen Mannes gewesen, als sie Gordon Groom geheiratet hatte. Und ihr Leben lang hatte es immer jemanden gegeben, dem sie lästige Aufgaben übertragen konnte. Auch deshalb hatte Gordon so hartnäckig um das Sorgerecht für sein einziges Kind gekämpft.

„Solange ich zum Team gehöre, erfülle ich meine Pflichten“, beharrte Leo.

„Manchmal bist du genau wie dein Vater“, murrte Deborah.

Leo lachte. „Danke.“

Ohne darauf einzugehen, fuhr ihre Mutter fort: „Ich verstehe einfach nicht, wieso er ‚Adventures in Time‘ überhaupt kaufen musste. Warum konnte er nicht bei Hotels bleiben? Und bei zivilisierten Unternehmen? Was will er mit einer Reisebürokette?“

„Wer nicht expandiert, stirbt“, bemerkte Leo trocken. „Du kennst doch Pops.“ Beunruhigt verstummte sie.

Im Wiener Café unterhielt Mrs. Silverstein sich mit einem Mann im grauen Anzug, der zur Gefolgschaft von Scheich el-Barbary gehören musste.

„Sieht so aus, als würde meine Kundin sich langweilen. Ich hol dich heute Abend um acht ab, Mutter.“

Erleichtert mischte Leo sich unter die Menge.

Ihre Eltern hatten sich gütlich scheiden lassen. Dabei war Deborah so großzügig abgefunden worden, dass sie ein Leben in Luxus führen konnte. Dennoch regte sie sich immer wieder über ihren arbeitsbesessenen Exmann auf. Jedesmal, wenn Leo mit ihrer Mutter zusammenkam, gerieten sie deswegen aneinander.

Heute Abend würde sie sich auf das Thema Gordon nicht mehr einlassen, nahm Leo sich vor und eilte dem Sicherheitsmann zu Hilfe.

Das Gefolge des Scheichs schwärmte mit strategischer Zielstrebigkeit in der Suite aus. Ein Sicherheitsexperte ging direkt zum Balkon. Ein anderer verschwand im Schlafzimmer. Unter Verbeugungen bemühte sich der stellvertretende Geschäftsführer, den Scheich auf die luxuriöse Ausstattung der Suite aufmerksam zu machen. Der hohe Gast hörte ihm gar nicht zu.

Ein Assistent mit Aktenkoffer und Laptopcomputer dirigierte den stellvertretenden Geschäftsführer sanft, aber bestimmt auf die Tür zu.

„Danke“, sagte der Assistent. „Und jetzt die anderen Räume.“

Der stellvertretende Geschäftsführer verneigte sich erneut und ging voraus. Das Sicherheitsgeschwader folgte ihm.

Endlich war der Scheich allein. Er trat auf den Balkon hinaus und blickte über den Nil. Der sanft gewundene Fluss glitzerte wie eine träge Schlange in der Sonne. Eine Dhau mitten auf dem Strom zog die Aufmerksamkeit des Scheichs auf sich. Mit ihrem dreieckigen Segel sah sie wie ein Spielzeug aus.

Einen Moment schloss er die Augen, und das nicht nur, weil das vom Wasser zurückgeworfene Sonnenlicht ihn blendete. Warum erinnerte ihn heutzutage alles an Spielzeug?

Sogar die Menschen. Moustafa, sein Chefleibwächter, wirkte auf ihn wie ein Roboter. Und auch die Frau, mit der er sich am Abend treffen würde. Ihretwegen hatte er vor, das langweilige Konferenzessen unter einem Vorwand zu verlassen. Doch in diesem Augenblick wurde ihm unbehaglich bewusst, dass sie ihn an eine Designerpuppe erinnerte. Und eigentlich alle Frauen, mit denen er in letzter Zeit zusammen gewesen war.

Bis auf … flüchtig drängte sich ihm das Bild der jungen Frau auf, die in der Hotelhalle gegen die Säule gefallen war. Aber natürlich war sie zu groß. Sie hatte aufgelöst ausgesehen, das Haar voller Staub, und ihr dunkles Kostüm wirkte eher wie eine Uniform. Dennoch hätte er diese Frau nie mit einer Puppe verglichen. Und ihre großen, überrascht blickenden Augen. Ihr schockierter Ausdruck hatte ihn berührt … er war echt gewesen.

Stirnrunzelnd überlegte der Scheich. Warum war sie so schockiert gewesen? Auf einmal war es ihm wichtig, es zu erfahren. Aber natürlich war das jetzt nicht mehr möglich. Er gab einen Laut der Verärgerung von sich.

Sein persönlicher Assistent kehrte zurück und blieb an der Tür stehen.

Der Scheich straffte die Schultern. „Ich bin hier draußen, Hari“, rief er resigniert.

Zögernd trat der Assistent auf den Balkon hinaus.

„Es scheint alles in Ordnung zu sein“, berichtete er.

Der Scheich nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen wirkten müde.

„Bestimmt? Haben die Männer alles gründlich überprüft? Keine Wanzen im Telefon? Kein Gift im Honigkuchen?“

Jetzt lächelte der Assistent. „Moustafa nimmt seinen Job manchmal zu ernst“, gab er zu. „Aber man kann nicht gründlich genug sein.“

Der Scheich schnitt ein Gesicht. „Das ist Unsinn, wie wir beide wissen.“

„Die Entführungen haben zugenommen“, gab Hari zu bedenken.

„Zu Hause“, widersprach der Scheich leicht gereizt. „Sie haben nicht das Geld, um mir rund um den Erdball nachzuspüren, die armen Teufel. Außerdem halten sie sich lieber an reiche Ausländer, die Lösegeld zahlen, statt sich an einem Einheimischen wie mir zu vergreifen. Mein Vater würde ihnen keinen Penny geben, um mich freizukaufen.“ Er dachte kurz nach. „Vermutlich würde er ihnen sogar etwas zahlen, damit sie mich behalten.“

Hari unterdrückte ein Lächeln. Er war bei der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn nicht dabei gewesen, zu der es vor Amers Abreise aus Dalmun gekommen sein sollte. Doch was davon durchgesickert war, hatte in der Stadt für Aufruhr gesorgt.

Ein unerbittlicher Machtkampf, hatte man aus dem Palast vernommen. Der Vater wolle nie mehr mit seinem Sohn sprechen. Ein Ultimatum, hörte man aus Amers Haushalt. Der Sohn habe seinem Vater jede weitere Einmischung verboten und würde erst nach Dalmun zurückkehren, wenn der alte Scheich sich damit abgefunden habe.

Amer sah seinen Assistenten streng an. „Hören Sie auf, wie ein ausgestopftes Kamel dreinzuschauen. Mir ist klar, dass Sie über alles Bescheid wissen.“

„Wie alle anderen habe ich nur die Gerüchte gehört, die in den Basaren die Runde machen“, zog Hari sich geschickt aus der Affäre.

Amer lächelte ironisch. „Das belebt das Geschäft, stimmt’s?“

„Der Klatsch bringt viele Händler in die Stadt“, gab Hari zu.

„Kauf ein Kilo Reis, und du bekommst den neuesten Palastschmutz dazu.“ Amer lachte verächtlich. „Was reden die Leute denn so?“

Prompt begann Hari, die Gerüchte an den Fingern abzuzählen. „Ihr Vater wolle Sie umbringen. Sie wollten Ihren Vater umbringen. Sie weigerten sich, wieder zu heiraten. Sie wollten unbedingt wieder heiraten.“ Er setzte eine feierliche Miene auf, doch seine Augen funkelten amüsiert. „Sie wollten nach Hollywood gehen und dort einen Film drehen.“

„Meine Güte.“ Amer lachte schallend. „Wieso das denn?“

Hari war nicht nur sein Assistent, sondern auch sein Vertrauter. „Cannes, letztes Jahr, glaube ich.“

„Aha.“ Amer verstand. „Wir sprechen von der schönen Catherine.“

„Oder der schönen Julie, Kim oder Michelle“, bemerkte Hari trocken.

Amer lächelte belustigt. „Ich mag Cannes.“

„Wie man auf den Fotos sieht“, pflichtete sein Assistent ihm bei.

„Höre ich da leise Kritik heraus?“

„Es steht mir nicht an, etwas zu kritisieren“, versicherte Hari hastig. „Ich frage mich nur …“

„Ich habe nun mal eine Schwäche für Frauen.“

Unwillkürlich musste Hari an Amers beharrliche Weigerung denken, wieder zu heiraten, nachdem seine Frau bei dem Reitunfall ums Leben gekommen war. Doch er war klug genug, seine Überlegungen für sich zu behalten.

„Es amüsiert mich, was für verrückte Ideen in ihren Köpfen herumspuken“, fuhr Amer fort. „Faszinierend, wie sie tun, als würden sie nicht merken, wenn man sie ansieht. Und sie riechen so gut.“

Die letzte Bemerkung überraschte Hari. „Nicht alle Frauen riechen nach Seide und französischem Parfüm, wie Ihre Julies und Catherines.“

„Puppen“, sagte Amer.

„Wie bitte?“

„Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, wie viele lebende Roboter ich kenne? Ja, sicher, sie sehen wie Menschen aus. Sie laufen und reden und klingen sogar so. Aber wenn man mit ihnen spricht, sagen sie nur die Dinge, mit denen sie programmiert worden sind.“

Hari blieb ungerührt. „Vermutlich sind das die Dinge, die Sie von ihnen erwarten. Und wer hat sie programmiert?“

Amer zuckte die Schulter und erwiderte: „Ich jedenfalls nicht. Ich will nicht …“

„Mit einer Frau ausgehen, die nicht programmiert worden ist, Ihnen zu sagen, wie wunderbar Sie sind?“ Hari lächelte wissend. „Sie sollten es trotzdem mal versuchen.“

Amer machte eine gelangweilte Handbewegung. „Das soll wohl ein Scherz sein.“

Doch Hari schien sich für die Idee zu erwärmen. „Nein, ich meine es ernst. Nehmen wir die junge Frau vorhin in der Hotelhalle …“

Jetzt kam Leben in Amer. „Können Sie Gedanken lesen?“

„Ich habe bemerkt, dass Sie zu ihr hinübergesehen haben“, erklärte Hari. „Offen gestanden, hat mich das gewundert. Sie ist überhaupt nicht Ihr Typ.“

Amer schüttelte sich, als schauderte es ihn. „Kein französisches Parfüm, meinen Sie? Sicher. Eher Staub und billige Sonnenlotion.“ Er lächelte schwach. „Trotzdem kennt sie alle weiblichen Tricks. Haben Sie gesehen, wie sie tat, als würde sie nicht merken, dass ich sie ansehe?“

Das interessierte Hari. „Und warum haben Sie sie angesehen?“

Einen Augenblick lang zögerte Amer, dann zuckte er die Schultern. „Das liegt wohl an den drei Monaten in Dalmun“, erklärte er abschätzig. „Halt einem Verhungernden ein Stück trockenes Brot hin, und er vergisst, dass er mal Kaviar gegessen hat.“

Autor

Sophie Weston
Sophie Weston reist leidenschaftlich gern, kehrt aber danach immer wieder in ihre Geburtsstadt London zurück. Ihr erstes Buch schrieb und bastelte sie mit vier Jahren. Ihre erste Romance veröffentlichte sie jedoch erst Mitte 20. Es fiel ihr sehr schwer, sich für eine Karriere zu entscheiden, denn es gab so viele...
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