Wie Sterne am Himmel

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Für die Modedesignerin Caroline Shelby waren die Sterne zum Greifen nah. Bis ihr New Yorker Chef ihre Entwürfe stahl und dann ihre beste Freundin plötzlich starb. Aber Caroline lässt sich nicht unterkriegen. Sie zieht mit den verwaisten Kindern an den einzigen Ort, der ihnen ein sicheres Zuhause bietet: das kleine Küstenörtchen Oysterville am Westpazifik. Hier begegnet sie ihrer ersten großen Liebe Will wieder, und die Frauen ihres Heimatorts tun sich zusammen, um bei ihrem Neuanfang zu helfen. Doch dann droht Caroline die Kinder zu verlieren …

»Meisterhaft beschreibt Susan Wiggs die Eigenheiten menschlicher Beziehungen.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Jodi Picoult

»Klug, kreativ und genial, hier hat sich Susan Wiggs selbst übertroffen. Ich habe das Buch verschlungen und so schnell umgeblättert, dass ich mich am Papier geschnitten habe.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber über »Dich im Herzen«


  • Erscheinungstag 18.02.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750607
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für die Überlebenden

Prolog

In der dunkelsten Stunde der Nacht, kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, rollte Caroline Shelby mit ihrem Wagen nach Oysterville hinein; ein Ort am äußersten Rand des Staates Washington. Das kleine Örtchen ruhte an der Spitze einer schmalen Halbinsel, die gebogen wie ein lockender Finger zwischen der ruhigen Bucht und dem tobenden Pazifik lag.

Sie war zu Hause.

Zu Hause an einem Ort, den sie für immer hinter sich gelassen hatte. An einem Ort, der ihr Herz und ihre Erinnerungen hielt, aber nicht ihre Zukunft – das hatte sie zumindest bis zu diesem Moment geglaubt. Die chaotische, überstürzte Reise hierher hatte ihre Nerven zerfranst und ihren Blick getrübt, und beinahe hätte sie den Schatten übersehen, der sich am Fahrbahnrand bewegte und dann auf die Straße schoss.

Sie wich dem trippelnden Opossum gerade noch rechtzeitig aus und hoffte, dass die Kinder von der ruckartigen Bewegung des Wagens nicht geweckt wurden. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihr, dass sie tief und fest schliefen. Träumt weiter, sagte sie stumm zu ihnen. Nur noch ein kleines bisschen länger.

Vertraute Wegzeichen tauchten an der neben einem Wasserweg verlaufenden Straße auf, als sie Long Beach durchquerte, den größten Ort der Insel. Im Gegensatz zu seinem bekannteren Namensvetter in Kalifornien gab es in Washingtons Long Beach eine Promenade, Karussells, ein Gruselkabinett und eine Sammlung anderer Merkwürdigkeiten, wie die größte Pfanne der Welt und eine aus Holz geschnitzte Schwertmuschel von der Größe eines Surfbretts.

Mehrere kleine Siedlungen und Kirchencamps lagen an der Hauptstraße, die nach Oysterville führte – ein Dorf, das von der Zeit vergessen worden war. Die Siedlung am Ende der Welt.

So hatten sie und ihre Freundinnen den Ort immer halb im Scherz genannt. Nie hätte sie gedacht, einmal wieder hier zu enden.

Und nie hätte sie gedacht, hier den ersten Mann wiederzusehen, den sie je geliebt hatte.

Will Jensen. Willem Karl Jensen.

Anfangs hielt sie ihn für eine Erscheinung, getaucht in den nebligen Schein der Natriumdampflampen, die die Kreuzung zwischen der Küstenstraße und dem Ortszentrum beleuchteten. Um diese Uhrzeit sollte sich doch niemand auf den Straßen herumtreiben, oder? Niemand außer gewitzte Otter, die um die Austernflotten herumglitten, oder Waschbär- und Opossumfamilien, die sich über die umgekippten Mülleimer hermachten.

Und doch war er hier, in seiner ganzen, fast eins neunzig großen, verschwitzten Pracht in einem T-Shirt, auf dessen Rücken sich der Schriftzug Jensen über seine breiten Schultern spannte. Joggend führte er eine Schar von Teenagerjungen in Sweatshirts der Peninsula Mariners und Laufschuhen an. Langsam fuhr sie auf der Gegenfahrbahn an der Gruppe vorbei, um ihnen ausreichend Platz zu lassen.

Will Jensen.

Natürlich würde er ihr Auto nicht erkennen, doch vielleicht würde er sich über das New Yorker Nummernschild wundern. In einem so kleinen Ort und so weit von der Ostküste entfernt, fielen den Einheimischen solche Dinge in der Regel auf. Vor allem, weil niemand aus New York je hierherkam. Sie war so lange fort gewesen, dass sie sich wie ein Fisch an Land fühlte.

Wie ironisch, dass sie nach zehn Jahren des Schweigens nun beide wieder hier gelandet waren, wo alles angefangen – und geendet hatte.

Die einzige Ampel im Dorf schaltete auf Rot, und als Caroline anhielt, erscholl ein wütendes Brüllen vom Rücksitz. Das Geschrei riss sie aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart. Flick und Addie hatten die anstrengende Fahrt quer durchs Land ohne Murren ertragen – vermutlich in einer Mischung aus Schock, Verwirrung und Trauer. Doch jetzt, da sie ihr Ziel fast erreicht hatten, ging den Kindern die Geduld aus.

»Hunger«, jammerte Flick, den der abrupte Tempowechsel aus dem Schlaf gerissen hatte.

Ich hätte einfach bei Rot rüberfahren sollen, dachte Caroline. Niemand außer den frühmorgendlichen Joggern hätte es gesehen. Sie wappnete sich gegen den erneuten Ansturm von Besorgnis und rief sich dann zum wiederholten Male in Erinnerung, dass sie und die Kinder in Sicherheit waren. In Sicherheit.

»Ich muss mal«, sagte Addie. »Dringend.«

Caroline biss die Zähne zusammen. Im Rückspiegel sah sie, dass Will und sein Team zu ihr aufschlossen. Zu ihrer Rechten befand sich der Bait & Switch Fuel Stop, die kleine Tankstelle mit Supermarkt, die auch Anglerbedarf verkaufte. Das Neonschild flackerte schwach vor dem blau-schwarzen Himmel. 24 Stunden geöffnet, genau wie damals, als sie und ihre Freundinnen hierhergekommen waren, um sich für ein paar Pennys Süßigkeiten und Drachenschnur zu kaufen. Mr. Espy, der Besitzer des Ladens, hatte immer behauptet, er wäre ein halber Vampir, weshalb er jahrzehntelang nachts an der Kasse gestanden hatte.

Sie bog auf den Parkplatz ein und hielt vor dem Laden an. Ein Bündel Morgenzeitungen lag auf der Fußmatte vor der Tür. »Ich hol dir hier was zu essen«, sagte sie zu Flick. »Und du kannst auf Toilette gehen«, fügte sie an Addie gewandt hinzu.

»Zu spät«, erklang die kleine, verlegene Stimme. »Ich habe in die Hose gemacht.« Dann brach Addie in Tränen aus.

»Igitt!«, rief Flick. »Das stinkt.« Und dann fing auch er an zu weinen.

Die Lippen fest zusammengepresst, um ihre Gereiztheit zu unterdrücken, löste Caroline den Gurt, stieg aus und hob Addie von ihrer Sitzerhöhung. »Wir machen dich schnell sauber, meine Süße«, sagte sie und ging zur Rückseite des verbeulten Kombis, um aus einer der Taschen eine frische Unterhose und eine Leggins zu holen.

»Ich will zu meiner Mama«, schluchzte Addie.

»Mama ist nicht hier«, erwiderte Flick. »Mama ist tot.«

Addies Weinen steigerte sich zu einem Brüllen.

»Es tut mir leid, Liebes«, sagte Caroline, obwohl sie wusste, dass diese tröstenden, aber gleichwohl abgenutzten Worte niemals die verständnislose Trauer einer Fünfjährigen durchdringen konnten. Mit einem finsteren Blick in Richtung Flick sagte sie: »Das ist nicht hilfreich.« Dann nahm sie die kleine Hand des Mädchens. »Komm.«

Eine Glocke erklang, als sie die Ladentür öffnete. Caroline drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, dass Flick in wütendem, blindem Zorn in die andere Richtung auf die Straße zulief. »Flick!«, rief sie. »Komm sofort zurück.«

»Ich will zu meiner Mama«, schluchzte Addie erneut.

Caroline ließ ihre Hand los. »Warte hier und rühr dich nicht vom Fleck. Ich muss eben deinen Bruder holen.«

Er war schneller, als ein Sechsjähriger es sein sollte, und schoss im Halbdunkel wie der Blitz über den feuchten Asphalt des Parkplatzes. Innerhalb von Sekunden wurde er vom Nebel verschluckt, während er in Richtung des Sumpfes hinter dem Laden lief, in dem Cranberrys wuchsen. »Flick, komm sofort zurück!«, brüllte Caroline und rannte los. »Ich schwöre …«

»Ganz ruhig«, erklang da eine tiefe Stimme. Ein großer Schatten kam in Sicht und blockierte dem Jungen den Weg.

Caroline eilte hinüber. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich. »Danke«, sagte sie und packte Flick an der Hand.

Der Junge riss sich von ihr los. »Lass mich in Ruhe!«

»Flick …«

Will Jensen ging in die Hocke und versperrte ihm erneut den Weg. Dann schaute er dem Jungen direkt in die Augen. »Du heißt Flick?«

Der Junge blieb ganz still stehen, nur seine Brust hob und senkte sich unter seinen heftigen Atemzügen. Er funkelte Will, diesen fremden Mann, böse und misstrauisch an.

»Ich bin Coach Jensen«, sagte Will und zeigte eine geübte Leichtigkeit im Umgang mit dem Jungen. »Du bist ein ganz schön schneller Läufer, Flick. Vielleicht wirst du eines Tages in mein Team kommen. Ich bin Trainer für Football und Geländelauf. Wir trainieren jeden Morgen.«

Flick nickte kurz. »Okay«, sagte er.

»Cool. Denk darüber nach. Einen schnellen Läufer kann unser Team immer gebrauchen.«

Caroline konnte Will nur stumm anstarren. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie die Haltung seiner Schultern, die Form seiner Hände, das Timbre seiner Stimme ganz genau gekannt.

Will richtete sich auf. Sie spürte den Moment, in dem er sie wiedererkannte. Sein gesamter Körper spannte sich an, und die freundliche Miene wich einem Ausdruck der Verwunderung. Leicht kniff er seine blauen Augen zusammen und sagte: »Hey, Fremde. Du bist zurück.«

Hey, Fremder.

So hatte sie ihn in ihrer Jugend zu Beginn eines jeden Sommers begrüßt. Sie war auf der Halbinsel aufgewachsen, umgeben vom Meerwasser, das ihr durch die Adern floss, und dem Sand vom Strandrestaurant ihrer Eltern, der ihre Füße bestäubte wie Zimt einen Donut. Will Jensen war einer der Sommergäste aus der Stadt gewesen – gebildet und privilegiert –, und er war jedes Jahr im Juni an die Küste gekommen.

Du bist zurück.

Doch jetzt wurde die jahrzehntealte Begrüßung nicht von dem vorfreudigen Grinsen begleitet, das sie jedes Mal beim ersten Treffen ausgetauscht hatten. Als Kinder hatten sie sich immer die Abenteuer ausgemalt, die sie erwarteten – mit den Drachen an den endlosen Stränden entlanglaufen, nach Schwertmuscheln graben, während die Brandung ihre sonnengebräunten, nackten Füße umspülte, das schüchterne Drängen der jugendlichen Anziehungskraft spüren, nach dem mythischen grünen Blitz Ausschau halten, wenn die Sonne über dem Meer unterging, am Lagerfeuer aus Treibholz sitzen und Geschichten erzählen.

Jetzt sagte sie nur: »Jupp, das bin ich.« Dann ergriff sie Flicks Hand und wandte sich in Richtung Bait & Switch. »Komm, gehen wir zu deiner Schwester.«

Der Eingang des Ladens, wo sie das kleine Mädchen zurückgelassen hatte, lag verlassen da.

Von Addie keine Spur.

»Wo ist sie hin?«, fragte Caroline und schaute sich um. Dann setzte sie sich in Bewegung und zog Flick mit sich. »Addie?«, rief sie, als sie den Laden betrat. Ein kurzer Blick zwischen die Regale ergab nichts. Und auch in den Spiegeln, die in den Ecken hingen, war nichts zu entdecken. »Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?«, fragte sie den schläfrig wirkenden Jungen an der Kasse. Nicht Mr. Espy, sondern ein übergewichtiger Jugendlicher, der ein Spiel auf seinem Handy spielte. »Sie ist fünf Jahre alt und hat milchkaffeebraune Haut, genau wie ihr Bruder.« Sie zeigte auf Flick.

»Ist Addie verschwunden?«, fragte Flick und schaute sich hektisch zwischen den Regalreihen um.

Der Junge an der Kasse zuckte nur mit den Schultern und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Hab keinen gesehen.«

»Ich habe sie vor nicht mal einer Minute direkt hier an der Tür zurückgelassen.« Eine Eisschicht legte sich um Carolines Herz. »Addie!«, rief sie. »Adeline Marie, wo bist du? Hilf mir, sie zu suchen. Sie kann nicht weit sein«, sagte sie zu dem Jungen.

Will, der ihr in den Laden gefolgt war, wandte sich an sein Team aus verschwitzten Athleten, das inzwischen zu ihnen gestoßen war. »Helft sie suchen!«, befahl er. »Ein kleines Mädchen namens Addie. Vor einer Minute war sie noch hier. Kommt schon, bewegt euch.«

Die Jungs – ungefähr ein halbes Dutzend – verteilten sich auf dem Parkplatz und riefen Addies Namen.

Caroline fand die Leggins und die Unterhose neben der Tür. »Sie musste mal. Ich habe ihr gesagt, sie soll warten. Ich war nur eine Minute weg.« Ihre Stimme zitterte vor Entsetzen. »O mein Gott …«

»Wir finden sie. Such du im Laden«, sagte Will.

Sie schnappte sich die Sachen und stopfte sie in ihre Jackentasche. »Bleib bei mir, Flick«, befahl sie. »Lass meine Hand nicht los, verstanden?«

Sein süßes, rundes Gesicht war wie versteinert, seine Augen vor Furcht weit aufgerissen. »Addie hat sich verlaufen«, sagte er. »Das wollte ich nicht.«

»Vor einer Minute war sie noch hier«, erwiderte Caroline. »Addie! Wo bist du, Süße?« Sie schritten jeden Gang ab, schauten unter und sogar auf den Regalen nach. Der Laden schien sich nicht verändert zu haben. Sie kamen an Gläsern mit Süßigkeiten und Tüten mit Marshmallows vorbei. Es gab Unmengen an Anglerbedarf und eine laut vor sich hin brummende Tiefkühltruhe mit Ködern und Eiscreme. Dazu Tütensuppen und Willapa-Bay-Panade zum Frittieren von Austern und Fisch. Ein Schild wies auf Produkte von einheimischen Produzenten hin – Mais, Brot, Eier von der Seaside Farm, Milch von Smith’s Dairy. Carolines Mutter hatte sie oder ihre Geschwister immer zu Bait & Switch geschickt, um schnell noch etwas zu kaufen: Brot, Erdnussbutter, Toilettenpapier, Cupcake-Förmchen … Mit fünf Kindern im Haus fehlte ihnen ständig irgendetwas.

Methodisch nahm sie sich einen Gang nach dem anderen vor. Sie sah auch zweimal auf der Toilette nach. Der träge Kassierer setzte sich endlich auch in Bewegung und suchte im Lager. Aber nirgendwo eine Spur von Addie.

Guter Gott. Verfluchter Mist, sie war erst seit einer Woche für diese Kinder zuständig, und schon hatte sie eines von ihnen verloren. Sie kamen mitten aus Hell’s Kitchen in New York City, und hier, in dem womöglich kleinsten Örtchen Amerikas, war Addie verloren gegangen.

Caroline öffnete ihre Handtasche und holte ihr Handy heraus. Kein Signal. Kein gottverdammtes Signal.

»Ich muss mal dein Handy benutzen«, sagte sie und griff sich das Telefon des Kassierers vom Tresen. »Ich rufe die Polizei.«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Im gleichen Moment steckte Will den Kopf zur Tür herein und rief: »Ich habe sie gefunden!«

Carolines Beine drohten unter ihr nachzugeben. Sie legte das Telefon wieder zurück. »Wo ist sie? Geht es ihr gut?«

Er nickte und winkte sie mit dem Finger zu sich. Schwach vor Erleichterung schnappte sie sich Flick und folgte Will hinaus zu Angeliques Auto – das vermutlich jetzt mein Auto ist, dachte Caroline.

Sie beugte sich vor und schaute durchs Fenster. Da lag Addie zusammengerollt auf dem Rücksitz und schlief. In der Hand hielt sie ihr Lieblingsspielzeug, eine Wonder-Woman-Puppe mit langen schwarzen Haaren. Caroline atmete tief ein. »Gott sei Dank. Addie.«

»Einer der Jungs hat sie entdeckt«, sagte Will.

Mit reumütiger Miene stieg Flick auf der anderen Seite ein.

Caroline ließ sich kurz gegen den Wagen sinken und versuchte sich zu beruhigen. Die überstürzte Abreise, die scheinbar endlosen Tage auf der Straße, ihre fürchterlichen Ängste und ihre Verwirrung, das schwindelig machende Gefühl, dass ihr Leben immer mehr außer Kontrolle geriet – all das brach in einer großen Welle der Erschöpfung über ihr zusammen.

»Geht es dir gut?«, fragte Will.

Ein Echo seiner Worte hallte Caroline durch den Kopf. Vor zehn Jahren hatte er sie das Gleiche gefragt, in der Nacht, in der alles zusammengebrochen war. Geht es dir gut?

Nein, dachte sie, mir geht es nicht einmal ansatzweise gut. Hatte sie das Richtige getan, indem sie hierhergekommen war? Sie nickte. »Danke für die Hilfe. Auch an deine Jungs.«

»Ich richte es ihnen aus.«

Obwohl so viele Jahre ins Land gegangen waren, hatte er sich nicht groß verändert. Er wirkte nur … solider, vielleicht. Geerdet vom Leben. Groß und sportlich, mit kantigem Kiefer wie der typische All-American-Boy, doch mit gütigen Augen und einem fröhlichen Lächeln. Das jetzt schwand.

»Ich nehme an … du bist auf dem Weg zum Haus deiner Eltern?«

»Ja, sie erwarten mich.« Leichtes Grauen überkam sie bei dem Gedanken daran, wie sie willkommen geheißen würde. Doch das war nichts im Vergleich mit der Situation, aus der sie geflüchtet war.

»Das ist gut.« Er räusperte sich und ließ seinen Blick über sie gleiten, über das verbeulte Auto mit den hastig gepackten Habseligkeiten darin, über die kleinen Kinder auf dem Rücksitz. Dann sah er Caroline eindringlich an. In seinen Augen standen Fragen, die zu beantworten sie viel zu müde war.

Sie erinnerte sich daran, wie er sie auch ohne Worte verstanden hatte, jede ihrer Stimmungen hatte er spüren können. Das war alles so lange her; es war in einer Ära gewesen, die zu anderen Menschen in einem anderen Leben gehört hatte. Jetzt war er ein Fremder. Ein Fremder, den sie nie vergessen hatte.

Er ging um den Wagen herum und schloss die Kofferraumklappe. Dabei huschte sein Blick über das darin herrschende Durcheinander – in Eile gepackte Taschen, ihre alte, auseinandergebaute Tischnähmaschine, ihre Overlock-Nähmaschine, Kisten mit ihren bescheidenen Besitztümern. Er drückte die Klappe zu und drehte sich zu Caroline um.

»Du bist also zurück«, sagte er.

»Ja, ich bin zurück.«

Er schaute durch das Wagenfenster. »Die Kinder …?«

Nicht jetzt, dachte sie. Es war alles viel zu kompliziert, um es jemandem zu erklären, den sie kaum mehr kannte. Im Moment musste sie einfach nur nach Hause.

»Das sind meine«, sagte sie schlicht und stieg ein.

1. Kapitel

NEW YORK CITY

Fashion Week

Das Dampfbügeleisen stieß eine Wolke aus, die durch den Backstagebereich schwebte, wo Caroline arbeitete. Sie und einige andere vom Mick-Taylor-Design-Team überprüften und beschrifteten die einzelnen Kleidungsstücke in Vorbereitung auf die Show und hängten sie ordentlich auf. Die Luft hier hinten war stickig von den Glühlampen der Schminkspiegel, den Strahlern und dem Gedränge von zu vielen Menschen auf zu engem Raum.

Wenn ein Spitzendesigner kurz davor stand, seine Arbeit der Öffentlichkeit zu präsentieren, war die Energie beinahe mit den Händen zu greifen. Trotz des Stresses und der Anspannung liebte Caroline diese Momente kurz vor der Show. Die heutige Veranstaltung war für sie besonders aufregend, weil einige der Entwürfe, die sie für Micks Label designt hatte, gezeigt werden würden. Das war nicht ganz das Gleiche, wie eine eigene Modelinie zu haben, aber es war definitiv ein Schritt in diese Richtung. Ihre Arbeitstage für Mick waren lang und anstrengend, und doch nutzte sie jede freie Minute, um an ihrer eigenen Kollektion zu arbeiten. Sie verzichtete auf Mittagspausen, Zeit mit Freunden und Schlaf. Sie war ehrgeizig. Sie tat alles, was nötig war.

Für Mick Taylor war die heutige Show ebenfalls wichtig. Die letzten Saisons war es ihm nicht gelungen, die Modekritiker und Influencer zu beeindrucken, und die Investoren wurden langsam nervös. Einkäufer für Luxuskaufhäuser wollten von den Socken gehauen werden. Mick und seine Chefdesignerin waren angespannt. Die gesamte Branche lauerte darauf, zu sehen, ob er es schaffen würde, wieder an die Spitze der Nahrungskette zu klettern.

Das gesamte Team war angehalten worden, sich auf den Wow-Effekt zu konzentrieren, der den Designer wieder in den Mode-Olymp befördern sollte. Rilla Stein, besagte Chefdesignerin, verlangte viel von ihren Mitarbeitern. Sie war verbissen und beinahe grimmig in ihrer Loyalität Mick gegenüber. Die meisten Teammitglieder hatten Angst vor ihr. Mit ihren Cat-Eye-Brillen und Peter-Pan-Kragen sah sie zwar aus wie eine Bibliothekarin aus einem Zeichentrickfilm, aber sie hauchte dem Atelier Feuer ein und hatte die Persönlichkeit einer Grubenotter.

»Hey, Caroline, kannst du mir hier zur Hand gehen?«, rief Daria. Das Model machte aufgrund seiner Schwangerschaft eine Pause vom Laufsteg und arbeitete in der Zwischenzeit als Stylistin. Ihr »Mädchen von nebenan«-Look und der wachsende Babybauch bildeten einen starken Kontrast zu Angelique, Micks derzeitigem Lieblingsmodel, das gerade auf einer umgedrehten Kiste stand. Angelique war das heißeste Laufstegmodel der Stadt. Sie hatte nicht mal bei den Castings mitmachen müssen, sondern war von Mick sofort zu seiner neuen Muse ernannt worden.

Sie war gefragt, weil sie es verstand, sich in Szene zu setzen und sich in Lichtgeschwindigkeit umzuziehen – manchmal in gerade einmal dreißig Sekunden. Sie hatte ausgeprägte hohe Wangenknochen, volle Lippen und eine winzige Lücke zwischen den Vorderzähnen. In ihren weit auseinanderstehenden Augen lag immer ein Schatten des Geheimnisvollen. Daria hatte sie mit knalligen Farben geschminkt und Angeliques Haare in einem Wirbel hochgesteckt, um ihre Gesichtszüge noch stärker hervorzuheben. Wenn man Angelique nicht kannte, hatte sie etwas leicht Furchteinflößendes an sich. Doch sie war eine von Carolines besten Freundinnen in der Stadt, und anstatt Angst vor ihr zu haben, fühlte sie sich von ihr inspiriert.

Orson Maynard, ein Klatschreporter und Fashion-Blogger, stellte Angelique gerade seine neueste Praktikantin Becky Barrow vor. »Sie arbeitet für mich an einem Blog-Post und wollte dich mal kennenlernen«, sagte Orson.

»Das hast du jetzt ja.« Angeliques Miene wurde weicher, als sie die Hand von Becky schüttelte, die sie voller Bewunderung anschaute. Angelique hatte begeisterte Fans in der Modewelt. Mick selbst hatte sie bei einem Shooting an einem der atemberaubenden Strände ihrer Heimatinsel Haiti entdeckt. Der Spitzendesigner war dafür bekannt, in Länder der Dritten Welt zu reisen und einheimische Talente für seine Modeshootings zu nutzen. Er war sogar mit einem Preis für sein humanitäres Engagement in den Orten, die er besuchte, ausgezeichnet worden.

»Das muss so aufregend gewesen sein, als Mick dich entdeckt hat«, sagte Becky. »Ich würde so gerne hören, wie das gelaufen ist. Und ist es okay, wenn ich das alles aufnehme?«

Angelique nickte. In den richtigen Blogs erwähnt zu werden war wichtig. »Ach, das war keine sonderlich große Geschichte. Ich war erst sechzehn und so grün hinter den Ohren wie Dünengras. Natürlich dachte ich, ich wäre darauf vorbereitet, weil ich es so gerne wollte. Haiti hat einige der schönsten Strände der Welt. Jedes Mal, wenn ich gehört habe, dass in der Nähe von Port-au-Prince ein Shooting stattfand, bin ich dahin, habe mich nützlich gemacht, alle möglichen Aufgaben übernommen und alles wie ein Schwamm in mich aufgesaugt. Ich habe gelernt, wie man geht, wie man posiert. Ich habe den Umgang mit Make-up gelernt und wie man schminkt. Dann habe ich angefangen, nach bezahlter Arbeit zu fragen. Alles, was kam – Sachen holen und bringen, Erledigungen übernehmen, übersetzen, weil die Leute aus den USA immer einen Übersetzer brauchten.«

»Und so hat Mick Taylor dich entdeckt.« Becky war hingerissen.

»Entdeckt ist nicht ganz das richtige Wort. Ich bin ihm bei einem Shooting aufgefallen, als ich noch zu jung zum Arbeiten war. Und dann wieder bei einem Shooting ein Jahr später. Damals hatte ich schon meinen Sohn Francis – er ist jetzt sechs. Ja, ich war eine echte Teen-Mom.«

»Du bist eine fabelhafte Mom, und Flick ist umwerfend«, warf Daria ein.

»Ein Jahr danach bekam ich Addie und konnte nach New York kommen.«

»Er hat dein Leben verändert.«

»Wo wir gerade von Veränderungen sprechen«, sagte Orson und stupste Caroline an. »Ich habe gehört, du stellst deine eigenen Entwürfe im Emerging Talent-Programm aus.«

»Das tue ich«, bestätigte Caroline betont lässig. Doch insgeheim freute sie sich wahnsinnig über diese Gelegenheit. Sie wandte sich an Becky. »Aber schreib das nicht in deinem Blog. Es ist nicht mein erstes Mal, aber ich bin noch ein Geheimtipp.«

»Du hast also schon vorher ausgestellt?«

»Mehrmals.«

Das Emerging-Talent-Programm war, wie der Name schon sagte, ein Programm zur Nachwuchsförderung. Es wurde von einem Konsortium bestehend aus etablierten Designern finanziert, die eine Non-Profit-Organisation gegründet hatten, um junge Künstler zu fördern, und war in der New Yorker Fashionwelt höchst angesehen. Eine Jury aus Experten der Branche schaute sich die Arbeiten von verschiedenen Designern an. Der oder die Auserwählte bekam die Chance, die eigene Kollektion auf dem größten Laufsteg der jeweiligen Saison zu zeigen.

Wenn die ausgewählten Designs die richtigen Leute beeindruckten, konnte das der Anfang einer erfolgreichen Karriere sein.

»Fünf Minuten noch!«, rief eine der Produktionsassistentinnen.

»Wir kommen am Ende der Show noch mal vorbei«, sagte Orson. »Um den Rest der Geschichte zu hören.«

Die Atmosphäre im Raum wurde noch hektischer. Mit kritischem Blick musterte Caroline das Jersey-Kleid mit Cut-Outs, das sie entworfen hatte. Zu dem Look gehörte ein experimenteller Serape-Umhang, der aus dem Garn eines recycelten Seiden-Saris gefertigt worden war. Rilla hatte Einspruch gegen das handgewebte Stück erhoben, aber Caroline war standhaft geblieben. Worüber sie jetzt, wo sie Angelique mit ihrer für die Show frisierten Haare und dem Make-up sah, froh war. Der Look war faszinierend, wie aus einer anderen Welt, und ein atemberaubender Auftakt für die Show.

»Du bist eine Fantasiefrau«, sagte Caroline. »Die Leute werden umfallen, wenn sie dich sehen.«

Angelique lachte leise. »Ich möchte aber doch keine Unfälle verursachen, Chérie.« Sie neigte den Kopf, trat dann von der Kiste herunter und machte ein paar Probeschritte.

»Umwerfend«, sagte Caroline. »Du bist das lebende Beispiel dafür, wie man in der Öffentlichkeit an seinem Ex vorbeilaufen sollte.« Sie zögerte, dann sagte sie: »Wo wir gerade vom Ex sprechen, was ist mit Roman?«

Vor ein paar Wochen hatte Angelique sich verliebt. Roman Blake, ein Fitnessmodel für eine große Sportmarke, war wie der perfekte Partner erschienen. Er war unglaublich attraktiv, an den richtigen Stellen tätowiert, hatte einen rasierten Kopf, der ihn noch besser aussehen ließ, und war – laut Angelique – der Hammer im Bett. Die wenigen Male, die Caroline ihn getroffen hatte, fand sie ihn einschüchternd. Er hatte einen harten Glanz in den Augen und redete nicht viel. Letzte Woche hatten er und Angelique Schluss gemacht.

Angelique murmelte etwas auf Kreolisch, ihrer Muttersprache, das keiner Übersetzung bedurfte. »Ich nehme an, er ist jetzt das Problem einer anderen«, sagte sie dann auf Englisch.

»Und du?«, fragte Caroline. »Geht es dir gut?«

»Mir geht es fabelhaft.« Angelique drehte sich um, sodass der Serape wie Flügel hinter ihr aufflatterte. »Ich glaube, das hat etwas mit diesem umwerfenden Outfit zu tun, das ich anhabe.«

Caroline beschloss, nicht weiter nachzuhaken. Sie, Angelique und Daria waren zwar befreundet, doch Angelique war immer sehr zurückhaltend, was ihr Privatleben betraf. »Danke«, sagte sie. »Gefällt es dir wirklich?« Sie zog sich ständig selbst in Zweifel.

»Wirklich, copine.« Angelique ließ ein Lächeln aufblitzen, das im Widerspruch zu ihrer üblichen Coolness stand.

»Ich schulde dir was für diesen Auftritt«, sagte Caroline. Angelique hatte Caroline und Rilla einander vorgestellt, was dazu geführt hatte, dass sie diesen Job bekommen hatte. »Wenn ich je etwas für dich tun kann …«

»Mal sehen … Du könntest mein Konto ausgleichen? Meine Kinder erziehen? Eine größere Wohnung für mich finden?« Angelique steckte die Zunge heraus. »Nur ein paar kleine Gefallen.«

»Ist quasi schon erledigt.« Caroline dachte an ihr eigenes spärlich gefülltes Konto und ihre entsprechende Wohnung. Sie könnte sich keine Kinder leisten, selbst wenn sie welche hätte haben wollen.

Angelique stellte sich wieder auf die Kiste und überprüfte ihr Make-up im Spiegel. »Deine Kleider tragen zu dürfen ist Dank genug«, sagte sie, und Caroline spürte eine Welle von Dankbarkeit.

»Ich liebe alles an diesem Look«, sagte Daria. »Der wird ein echter Showstopper, glaub mir.«

»Danke, Dar.« Caroline schaute die beiden an – zwei umwerfende Schönheiten auf langen Beinen. »Im Himmel ist ein Platz für besonders loyale Freunde reserviert.« Sie hatte enormen Respekt vor dem, was die beiden als Models leisteten. Doch sie selbst hatte nie den Drang verspürt – geschweige denn das Aussehen gehabt –, es ihnen gleichzutun.

Die Branche konnte hart, teilweise sogar brutal sein. Täglich konnte sie miterleben, wie junge Frauen kaum genug Geld für ihren Lebensunterhalt verdienten, zusammengepfercht in überfüllten Wohnungen hausten und sich abrackerten, um über die Runden zu kommen. Zu viele von ihnen – selbst einige der erfolgreichsten Models – litten unter Essstörungen, finanzieller Ausbeutung durch ihre Agenturen, sexuellen Übergriffen und Einsamkeit.

Als Designerin kämpfte sie ständig mit ihrem Gewissen. Sie war Teil einer Industrie, die die Models auf einen harten, gefährlichen Weg schickte. Schon früh hatte sie sich geschworen, es anders zu machen. Ihre Entwürfe waren dazu gemacht, an jeder Frau schön auszusehen, nicht nur an denen mit Size Zero.

Die Luft fing an zu vibrieren, als Mick höchstpersönlich im Backstagebereich auftauchte und ein aufgeregtes Tuscheln auslöste. Trotz seines Rufs in der Modewelt sah er nicht sonderlich bemerkenswert aus – im Gegenteil, er wirkte beinahe bescheiden. Er war mittleren Alters, trug eine schlichte Jeans und ein Polohemd und hatte das freundliche Gesicht eines Lieblingsonkels. Aber diese Augen. Sie waren von dem klarsten, strahlendsten Blau, das Herz einer Flamme, und so scharf, dass sie nicht in dieses durchschnittliche Gesicht zu gehören schienen.

Als er in der Modewelt aufgetaucht war, hatte die Presse ihn als einen Jedermann bezeichnet, dessen innovative Designs sich nahtlos auf tragbare Looks übertragen ließen. Aufstrebende Designer wie Caro betrachteten ihn als den perfekten Mentor – er ermutigte, ohne zu viel zu verlangen, kritisierte, ohne einen niederzumachen. Sie arbeitete gerne für ihn, weil sie so viel von ihm lernen konnte. Wenn man ihn jetzt so sah, würde man nicht denken, dass seine Marke auf wackligen Beinen stand und er gerade von einem Ausflug in die Entzugsklinik zurückgekommen war.

Er durchquerte den vollen Raum, blieb hier und da stehen, um einen Kommentar abzugeben oder etwas zu richten, begrüßte Models und Designer mit einem freundlichen Lächeln. Rilla, sein Schatten, folgte ihm und machte weitere Korrekturen, wobei sie überhaupt nicht freundlich wirkte.

»Schau an, schau an«, sagte Mick, als er zu Angelique kam, die immer noch auf der Kiste stand. Sie sah aus wie eine Göttin, den Blick geradeaus gerichtet, als würde sie seine Existenz kaum wahrnehmen. »Das ist also unser heutiger Lead-Look.«

Caroline hielt den Atem an, während er das Outfit musterte. Als er sich zu ihr umdrehte, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden.

»Ist das deine Arbeit?«, fragte er.

»Ich … Ja. Ja, das ist von mir.« Nicht stottern, Caroline, ermahnte sie sich. Sei stolz darauf.

Rilla hielt ihr Klemmbrett hoch und sagte mit leiser Stimme etwas zu Mick.

Er nickte.

Als er endlich wieder das Wort ergriff, war Caroline vor Aufregung halb tot. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hasste er es? War der recycelte Sari zu anspruchsvoll? Würde Mick darauf bestehen, die Show mit einem anderen Look zu eröffnen?

Nachdenklich musterte er das Outfit. Caroline hatte Stunden daran gearbeitet, um es perfekt zu machen. Mick ging einmal um Angelique herum, dann wandte er sich wieder Caroline zu. »Das ist brillant«, sagte er. »Wie heißt du noch mal?«

»Caroline Shelby«, stieß sie erleichtert aus.

»Gute Arbeit, Ms. Shelby.« Er hob den Daumen und schlenderte weiter.

»Richte den Armausschnitt«, sagte Rilla kurz angebunden.

Caroline ließ sich gegen Daria sinken. »Es gefällt ihm.«

Daria klatschte mit ihr ab. »Es gefällt ihm!«

»Hilf mir, herauszufinden, was mit dem Armausschnitt nicht in Ordnung ist.« Caroline hob Angeliques Ellbogen.

Angelique zuckte zusammen und atmete scharf ein.

»Oh, sorry! Habe ich dir wehgetan? Steckt da noch irgendwo eine Nadel drin?« Caroline schob den Umhang beiseite. Ihr fiel ein kleiner Concealer-Fleck am Halsausschnitt des Kleides auf. Sie schnappte sich einen Wattepad und rieb vorsichtig darüber. Dabei sah sie eine schillernde Prellung, die von Angeliques Rippen bis zu ihrer Achselhöhle reichte. »Hey, was ist denn da passiert? Daria, hast du das gesehen?«

»Nein.« Daria runzelte die Stirn. »Das sieht schmerzhaft aus, Ange. Was hast du denn da gemacht?«

»Ach, das.« Angelique winkte ab. »Ich bin gestolpert und die Treppe hinuntergefallen. Manchmal bin ich so ungeschickt.«

Caroline verspürte einen Anflug von Besorgnis. »Du bist nicht ungeschickt«, sagte sie und tauschte einen Blick mit Daria, die sie aus großen Augen anschaute. »Du bist eines der elegantesten und grazilsten Models im Business. Hat dir jemand wehgetan?«

Eine Produktionsassistentin mit Headset und Klemmbrett rauschte an ihnen vorbei. »Zwei Minuten!«, rief sie ihnen zu.

»Ich sagte doch, ich bin gefallen«, murmelte Angelique.

Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Hände arbeiteten unabhängig von ihrem Gehirn und korrigierten Armausschnitt, während sie die Prellung ihrer Freundin musterte. »So sieht es aber nicht aus. Sprich mit mir.«

»Kümmere dich um die Änderungen«, sagte Angelique, »und mach nicht aus einer Mücke einen Elefanten.«

Vielleicht ist es wirklich nichts, sagte Caroline sich. Extrem dünne Models neigten dazu, schnell blaue Flecken zu bekommen, was noch etwas war, worüber man sich Sorgen machen sollte. Aber vielleicht sollte sie auf das hören, was ihr sich leise meldender Instinkt ihr verriet – Angelique steckte in Schwierigkeiten.

»Wenn du je etwas brauchst … vielleicht einfach nur mal reden willst …«

»Ich hasse es, zu reden.«

»Ich weiß. Ich hingegen rede ständig.«

»Ich weiß«, bestätigte Angelique.

»Es ist nur … Ich helfe dir, wann immer du mich brauchst. Das meine ich ernst. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kannst du zu mir kommen oder mich anrufen.«

Angelique verdrehte die Augen. »Hör mal, ich bin auf mich allein gestellt, seitdem ich sechzehn bin. Eine Treppe hinunterzufallen ist wirklich die geringste meiner Sorgen.«

»Alle auf Position!«, rief jemand. »Hier drüben aufstellen.« Eine Assistentin reihte die Models am seitlichen Bühneneingang auf.

»Denk daran, was ich gesagt habe«, wiederholte Caroline. »Wenn du je etwas brauchst, ich kann dir helfen …«

»Nom de Dieu, hör einfach auf.« Angeliques Gesicht erstarrte zu einer hoheitlichen Maske, als sie sich auf ihren Walk vorbereitete. Ein Profi vom Scheitel bis zur Sohle, straffte sie die Schultern und schlüpfte in ihre Rolle für die Show. »Wir müssen arbeiten.«

»Wir sind mit dieser Unterhaltung noch nicht fertig«, sagte Caroline.

»Doch, das sind wir.« Angelique stieg von der Kiste und folgte einer Produktionsassistentin in Richtung Aufstellung, wo sie mühelos den Platz ganz vorne in der Reihe einnahm.

Vom Laufsteg drang Musik zu ihnen herüber, und die Monitore im Backstagebereich zeigten ein volles Haus. Carolines Blick hing wie gebannt an ihnen.

»Ich mache mir Sorgen um sie«, sagte sie zu Daria, als sie Angeliques Weg durch die Menge an die Spitze der Aufstellung verfolgte.

»Ich mir auch. Hat sie sich gestritten? Hat jemand sie geschlagen?«

»Ich habe sofort an Roman Blake gedacht«, sagte Caroline. »Sie haben zwar Schluss gemacht, aber was ist, wenn er das nicht so gut aufgenommen hat?«

»In dem Fall ist es besser, dass das mit ihnen vorbei ist«, entgegnete Daria.

In Caroline blitzte eine Erinnerung von vor ein paar Wochen auf. Sie war mit einer Gruppe von Freunden im Terminus gewesen, einem Club, der bevorzugt von Models und Schauspielerinnen besucht wurde. Dort hatte sie Angelique und Roman auf der Dachterrasse gesehen. Ihre Haltung war angespannt gewesen, und sie hatten sich hitzig unterhalten. Roman hatte Angeliques Arm gepackt, und sie hatte sich von ihm losgerissen und war weggegangen. An jenem Abend hatte Caroline nichts gesagt. Jetzt wünschte sie, sie hätte es getan.

»Vermutlich hast du recht.«

»Und wir könnten uns auch irren«, sagte Daria, während sie die Utensilien in ihrem großen Make-up-Koffer sortierte. »Ich bin mal während eines Shootings vom Pferd gefallen und sah tagelang aus wie ein Zombie. Wie stehen die Chancen, dass es genauso war, wie sie gesagt hat, und sie die Treppe hinuntergefallen ist?«

»Wann bist du das letzte Mal eine Treppe hinuntergefallen?« Caroline machte einen Schritt zurück, als immer mehr Models sich auf den Weg zum Lineup machten. Ein weiterer ihrer Entwürfe schwebte an ihr vorbei, aber sie war zu abgelenkt, um ihn sich noch einmal genau anzuschauen. »Ich hoffe, wir sehen Roman nie wieder.«

Daria nickte. »Könnte es jemand anders sein? Ein neuer Typ? Jemand aus ihrer Vergangenheit? Was weißt du über den Vater ihrer Kinder?«

»Sie hat mal gesagt, dass er keine Rolle in ihrem Leben spielt, und ihn danach nie wieder erwähnt.«

Daria zeigte auf den Backstage-Monitor. »Sieh sie dir nur an. Mein Gott, Caroline.«

Auf dem Monitor war das Geschehen auf dem Laufsteg zu sehen. Angelique befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und führte eine der wichtigsten Kollektionen der Saison an. Die dramatische Lichtshow und die sinnliche Musik von Sade umflossen ihre aufrechte, förmlich schwebende Gestalt, während sie den Laufsteg eroberte. Die Zuschauer hielten den Atem an, beugten sich vor und verschlangen sie mit den Blicken.

»Sie sieht aus wie eine verdammte Königin«, flüsterte Daria. »Und das Outfit …«

Caroline konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie sah, dass das von ihr entworfene Design Aufregung in der Menge auslöste. Die einflussreichsten Modekritiker und Blogger kritzelten oder tippten hektisch ihre Notizen, während ein regelrechtes Blitzlichtgewitter ausbrach.

Angelique wirkte wirklich wie eine Königin. Der umstrittene Umhang floss wie eine Königsrobe hinter ihr her. Wie ein Opfer sah sie definitiv nicht aus.

2. Kapitel

An dem Tag, an dem sie ihre Originalentwürfe der Jury vorstellen sollte, verließ Caroline ihre Wohnung im Meatpacking District. Die kühle Luft war von dieser besonderen Klarheit, die selbst den abgestumpftesten New Yorker den Blick zum strahlend blauen Himmel heben ließ.

Das Licht des Nachmittags tauchte die gesamte Umgebung in einen seltenen goldenen Schimmer. Die Temperatur war perfekt für Jeans und Stiefel und einen kuscheligen Pullover. Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, die aufregendste Stadt der Welt nicht zu lieben. Caroline nahm das Wetter als Zeichen von oben. Die Leute neigten dazu, den Herbst in New York City zu romantisieren, und das aus gutem Grund. Wenn das Wetter der Stadt ein Geschenk machte, war es immer spektakulär.

Sie rollte die Kleiderstange mit den verhüllten Entwürfen neben sich die Straße hinunter und summte dabei innerlich vor Aufregung. Ihre beiden laufstegerfahrenen Freundinnen ragten wie Türme neben ihr auf: Daria und Angelique. Die beiden würden ihr helfen, ihre Designs der Jury vorzustellen, die die Aufgabe hatte, den nächsten Kandidaten für das Emerging-Talent-Programm auszusuchen. Als sie an dem Flagship-Store von Diane von Furstenberg vorbeikamen, dessen blitzblanke Schaufenster den Rahmen für die ikonischen Designs bildeten, wurde Caroline nervös.

»Ich sterbe«, sagte sie. »Was ist, wenn sie meine Entwürfe hassen?«

»Sie werden sie lieben«, versicherte Angelique. Selbst ohne kunstvoll frisierte Haare und ungeschminkt sah sie immer noch umwerfend aus. Sie hatte einen langen, schlanken Hals und bewegte sich mit einer natürlichen Eleganz. »Diese Leute haben Geschmack.«

Caroline schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »Ohne euch würde ich das hier nicht schaffen«, gestand sie.

»Würdest du schon, aber ich freue mich, dass ich dich unterstützen kann.«

»Wie geht es dir?«, fragte Caroline zögerlich. Sie wollte nicht neugierig sein, konnte aber den Anblick des von blauen Flecken überzogenen Körpers ihrer Freundin nicht vergessen.

»Fabelhaft«, erwiderte Angelique mit einem Lächeln. »Ich bin bereit, zu sehen, wie du die Jury mit dieser Kollektion vom Hocker haust.«

»So etwas wie das haben die noch nie gesehen«, warf Daria ein. Sie war im achten Monat schwanger und legte deshalb eine Pause mit dem Modeln ein, aber mit ihrem dicken Bauch und den weichen Gesichtszügen war sie genau das, was Caroline jetzt brauchte.

Sie war zu pleite, um ihre Models zu bezahlen, aber sie hatten einen Tauschhandel gemacht. Caroline nähte die Schulkleidung für Angeliques Kinder Flick und Addie. Für Daria hatte sie eine sechsteilige Umstandsgarderobe entworfen, und Daria schwor, dass sie jedes Mal, wenn sie ein Teil davon trug, gefragt wurde, wo sie es gekauft hatte.

»Hast du Krämpfe in den Beinen gehabt?«, fragte Daria jetzt Angelique, während sie nebeneinander hergingen. »Ich meine, während der Schwangerschaften.«

»O ja. Vor allem bei Flick. Als ich mit meinem kleinen Jungen schwanger war, haben mich die Krämpfe die ganze Nacht wach gehalten. Probier doch mal, vor dem Zubettgehen eine Banane zu essen. Das Kalium könnte helfen.«

Caroline versuchte, sich ihre Freundin schwanger vorzustellen. Angelique war damals gerade sechzehn oder siebzehn Jahre alt und auf Haiti schon auf sich allein gestellt gewesen. Erst war Flick gekommen, ein Jahr später dann Addie – ohne Partner, ohne Hilfe. Bei dem Gedanken fühlte Caroline sich beinahe schuldig für ihre total normale Familie in Washington State.

»Musstest du auch alle paar Stunden aufstehen, um zu pinkeln?«, fragte Daria weiter. »Mir kommt es vor, als wenn ich in letzter Zeit nichts anderes mehr mache.«

»Willkommen im dritten Trimester«, sagte Angelique. »Betrachte es als Training für das kommende nächtliche Stillen.«

»Bei euch beiden klingt es so wunderbar, Kinder zu kriegen«, merkte Caroline ironisch an.

»In welchem Krankenhaus bist du gewesen?«, erkundigte sich Daria.

»Das war in Port-au-Prince.« Angelique wandte schnell den Blick ab und wich einem Riss im Bürgersteig aus. »Ich bin nach New York gekommen, als die beiden Babys waren. Addie habe ich damals noch gestillt. Daran erinnere ich mich, weil mir bei einem Vorstellungsgespräch in einer Agentur die Milch ausgelaufen ist.«

»Oje.«

»Du hättest ihre Gesichter sehen sollen. Sie haben mich aber trotzdem unter Vertrag genommen, und dank Mick musste ich nicht mal ein Casting mitmachen.«

»Sie wären auch verrückt gewesen, wenn sie dich nicht genommen hätten«, warf Caroline ein. »Du bist unglaublich.«

Der Ort, an dem der Design-Wettkampf stattfand, war ein höhlenartiges, lichterfülltes altes Gebäude, das einst ein Lagerhaus für Metzger gewesen war. Nun war es das Zentrum des Design-Distrikts, ein Sammelplatz, der vor Kreativität förmlich platzte. Als sie sich der großen Flügeltür näherten, verlangsamte Caroline ihre Schritte.

»Du wirkst nervös«, merkte Daria an und half ihr, den Kleiderständer an einem Foodtruck, vor dem sich die Menschen drängten, vorbei in den Backstagebereich zu schieben.

»Was ist, wenn sie die anderen Sachen besser finden?« Caroline musterte die anderen hoffnungsvollen Designer, die ebenfalls darauf warteten, ihre Entwürfe zu präsentieren. Die meisten von ihnen kannte sie, wenn auch nur vom Sehen. Die Welt der Designer war klein, und die große Menge an Talenten sorgte für einen erbitterten Wettbewerb.

»So darfst du nicht denken«, schalt Daria sie.

»Bin ich ein schrecklicher Mensch, weil ich das hier so sehr will?«, fragte Caroline. Die Veranstaltung war in der Modewelt sehr anerkannt, und die Einsätze hätten kaum höher sein können. Schon mehrmals hatte sie an dem Wettbewerb teilgenommen, es jedoch nie in die engere Auswahl geschafft. Ihre Kollektion war nicht edgy genug gewesen. Nicht geschmackvoll genug. Nicht mutig genug. Zu mutig. Zusammenhanglos. Nicht umsetzbar. Sie hatte schon alles gehört.

»Ganz schrecklich, Chérie«, zog Angelique sie auf.

»Das ist heute mein sechster Versuch«, sagte sie. »Wenn es dieses Mal auch nicht klappt …«

»Was dann?«, hakte Daria nach.

Caroline atmete tief durch. Sie erinnerte sich an etwas, das sie mal irgendwo gelesen hatte: Frag nicht, wer dich hereinlässt. Frag, wer dich aufhalten soll. »Dann versuche ich es noch einmal.«

»Du gibst niemals auf«, sagte Daria. »Das gefällt mir an dir. Heute wird dein Tag. Aller guten Dinge sind sechs.« Sie tätschelte ihren dicken Bauch. »Das ist unsere Chance, und du hast dir den Arsch dafür aufgerissen. Das kann nicht schiefgehen.« Sie befühlte einen der Entwürfe. »Was ist das für ein Stoff?«

Caroline hatte die Schutzhülle von der Kleiderstange heruntergenommen und machte sich jetzt an ihren Entwürfen zu schaffen. »Das ist Seidenjersey. Den Schimmer erhält er von einem eingewebten Kupferfaden.« Die Entwürfe mussten fehlerfrei und makellos sein. Kein loser Faden, kein Staubflöckchen. Sie hatte Stunden in die Entwürfe investiert, und sie wollte, dass sie auf dem Laufsteg strahlten.

Während sie ihre Models im Backstagebereich stylte, krochen die alten Zweifel in ihr hoch. Auf dieser winzigen Fläche war so viel Talent versammelt, dass es schon beinahe lächerlich war. Einige der anderen Designer waren genau wie sie aufs Fashion Institute of Technology gegangen. Andere kannte sie von Jobs in den großen Modehäusern. Und sie waren gut. Sie sah spektakuläre Kleider, Palazzo-Hosen, dramatische Etuikleider, handbemalte Stoffe und Formen, die die Models wie lebende Statuen einhüllten.

Sie spürte aber auch die Aufmerksamkeit, die ihr galt – und das aus gutem Grund. Es kam nicht jeden Tag vor, dass eine Designerin mit einem schwangeren Model und jemandem, der so bekannt war wie Angelique, auftauchte. Aber Darias Schwangerschaft war ein Schlüsselelement in Carolines Show. Eine Kollektion wie diese zu entwickeln war höchst riskant, das wusste sie. Sie wusste aber auch, dass die größten Erfolge in ihrer bisherigen Laufbahn möglich gewesen waren, weil sie ein Risiko eingegangen war. Vor zwei Jahren hatte sie den Job bei Mick Taylor ergattert, indem sie eine Regenwetterkollektion gezeigt hatte, die die Farbe änderte, wenn der Stoff nass wurde.

Daria und Angelique standen hinter einem Paravent und legten letzte Hand an ihre Looks. Angelique trat einen Moment beiseite. »Ich möchte, dass du einen Glücksbringer bei dir trägst«, sagte sie und hielt ihr ein geflochtenes Armband mit Muscheln hin. »Als kleines Mädchen habe ich am Strand Kaurimuscheln gesammelt und daraus Armbänder gemacht, die ich an die Touristen verkauft habe. Die Muschel ist ein Symbol des Meeresgeistes des Reichtums und der Erde, und sie bietet den Schutz der Göttin – einen sehr mächtigen Schutz, weil er mit der Stärke des Ozeans verbunden ist.«

Caroline streckte ihren Arm aus, damit Angelique die drei Bänder um ihr Handgelenk knoten konnte. »Du bringst mich noch zum Weinen«, sagte sie. »Womit habe ich nur eine Freundin wie dich verdient?«

Angelique antwortete nicht, sondern trat nur einen Schritt zurück und sagte: »So, nun bist du beschützt. Und jetzt zieh los und zeige ihnen, was du kannst.«

Caroline schob die Kleiderstange zurück in den Showroom. Die fünfköpfige Jury saß an einem Tisch, der von Papieren, Kameras, Handys und Kaffeebechern übersät war, und bestand aus prominenten Persönlichkeiten der Modewelt – die Chefredakteurin eines Modemagazins, ein Modekritiker und drei Topdesigner, die alle ganz wild darauf waren, ein neues Talent zu entdecken. Ich kann auf so viele Arten scheitern, dachte Caroline und hoffte, dass die Jury nicht sah, wie sehr sie schwitzte.

Sie trat vor die Kleiderstange und öffnete den Reißverschluss der Hülle, die sie für den Weg hierher wieder über die Kleidungsstücke gestülpt hatte. Maisie Trellis, die Kritikerin, setzte sich eine Lesebrille auf und warf einen Blick auf das Tablet, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Du bist Caroline Shelby aus Oysterville, Washington.«

Caroline nickte. »Ja, dort bin ich aufgewachsen. Das liegt so weit im Westen, wie man nur gehen kann, bevor man ins Meer fällt.«

»Erzähl uns ein wenig von deinem bisherigen Berufsweg.«

»Ich bin auf dem Fashion Institute of Technology gewesen und arbeite seitdem als Freelancerin. Mein erster Job nach dem Studium war das Aufarbeiten von Vintage-Modellen. Ich habe Änderungen gemacht, im Akkord gearbeitet, alles, was mir half, meine Miete zu bezahlen.«

»Und jetzt entwirfst du für Mick Taylor.«

»Ja, ich habe gerade die Arbeit an einer Prêt-à-porter-Kollektion für ihn beendet.«

»Erzähl uns von deinen Entwürfen«, bat Maisie und schaute über den Rand ihrer Brille zu Carolines Kleiderstange.

Caroline atmete tief durch. Jetzt war der Moment gekommen. »Ich nenne diese Linie Chrysalis.« Sie zog die Hülle von der Kleiderstange. Stoffe in warmen Erd- und Himmelstönen schimmerten im Herbstlicht, das durch die Fenster fiel. Daria trat hinter dem Paravent hervor. Ihre Schwangerschaft sorgte für Gemurmel in der Jury. Der Stoff umhüllte ihren Bauch wie ein hauchdünner Kokon und umfloss sie bei jedem Schritt. Als Nächstes kam Angelique heraus, eine schlanke, schmale Göttin in einem ähnlichen Look.

»Meine Kleider werden nach der Geburt des Kindes nicht überflüssig«, erklärte Caroline, ermutigt von den Mienen der Jurymitglieder. »Das Oberteil verwandelt sich wie ein Kokon – daher der Name Chrysalis

Mit einem dramatischen Schwung führte Angelique die Verwandlung vor. Die göttliche Tunika konnte nach oben gehoben und an der Schulter befestigt werden. »So entsteht eine Trageschlinge für das Baby und ein Sichtschutz für die stillende Mutter«, fuhr Caroline fort. »Dieses Kleidungsstück wird die Schwangerschaft und auch die Stillzeit überdauern.«

Dann zeigte sie Stück für Stück den Rest der Kollektion. Jedes Kleidungsstück konnte durch verschiedene Arten, es zu drapieren oder zu befestigen, verändert werden. Die Stoffe waren nachhaltig produziert und mit Akzenten aus Perlmutt versehen als Verneigung vor Carolines Kindheit am Meer. An den Schultern aller Stücke hatte sie ein kleines, markantes Markenzeichen angebracht: eine stilisierte Nautilusmuschel aus schimmerndem Garn.

»Was war deine Inspiration für diese Kollektion?«, fragte einer aus der Jury. »Hast du Kinder?«

»Nein, habe ich nicht.« In einem Anflug von Ehrlichkeit fügte sie hinzu: »Ich bezweifle auch, dass ich jemals Kinder haben werden. Ich bin das mittlere von fünf Geschwistern und bin in meiner geschäftigen Familie irgendwie untergegangen. Ich mag die Kinder anderer Leute, aber ich liebe meine Unabhängigkeit. Mich inspirieren Menschen wie Angelique und Daria. Sie sind arbeitende Mütter und haben es verdient, jeden Tag schöne Sachen zu tragen – während der Schwangerschaft, in der Stillzeit und danach. Außerdem ist es mein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Ich schätze, das hören Sie oft. Nachhaltigkeit ist ja derzeit ein Modewort, und wir alle stellen uns die Frage, was wir mit dem Müllberg anfangen sollen, der durch weggeworfene Kleidung entsteht. Meine Schwangerschaftstunika kann als Stilloberteil und Tragetuch weitergetragen werden, und der Stoff für die meisten Stücke stammt von CycleUp.« Das war der Industriestandard für recycelte Stoffe.

Caroline beobachtete, wie die Jury jedes einzelne Teil ihrer Kollektion genau anschaute. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihre Handwerkskunst war fehlerfrei, jeder Stich saß an der richtigen Stelle, jede Falte war messerscharf. Sie wusste, dass das hier ihre bisher beste Arbeit war. Und als die Vorführung langsam zum Ende kam, verspürte sie Stolz. »Das ist das Beste, was ich habe. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, Ihnen meine Arbeit zu zeigen.«

Die Jury besprach sich, stellte weitere Fragen, machte sich Notizen. Dann entließ Maisie sie mit einem undurchdringlichen Blick. »Wir sind fasziniert, Caroline Shelby. Aber wir haben heute noch einiges vor uns. Wir melden uns bei dir.«

3. Kapitel

Caroline schleppte den schweren Koffer die Treppe von ihrer Wohnung ins Erdgeschoss hinunter. Zu einer Show brachte sie immer alles für Notfälle mit: Stoffe und Garne, Nadeln, eine Schere, Make-up, Handtücher, eine Taschenlampe und doppelseitiges Klebeband, dazu Taschentücher für den Fall, dass eines der Models einen Nervenzusammenbruch bekam … oder einer der Designer.

Sie würde heute keinen Nervenzusammenbruch kriegen. Ganz im Gegenteil. Der heutige Tag markierte einen großen Sprung in ihrer Karriere. Endlich, nach so vielen Fehlschlägen und Beinahe-Erfolgen, war ihre Chrysalis-Linie für das Emerging-Talent-Programm ausgewählt worden. Die Kollektion mit ihrem Namen würde auf dem Laufsteg vor der gesamten Mode-Elite der Stadt gezeigt werden.

Wenn sie die richtigen Leute beeindruckte, würde sie die Chance erhalten, eine eigene Modelinie unter ihrem Namen herauszubringen.

Das würde, wie sie wusste, ihr gesamtes Leben verändern. Die Leute zu Hause hatten nie verstanden, was sie tat, was sie antrieb. Sicher, sie waren nett gewesen, hatten gesagt, dass sie ihre Kreativität bewunderten. Und doch schien Carolines Leben und ihre Arbeit für sie ein Mysterium zu bleiben. Ihre Einstiegsjobs, die meist aus vielen Stunden Arbeit für geringe Bezahlung bestanden hatten, waren ihnen undankbar und wenig lohnenswert vorgekommen. Was in ihrer Familie, die ein Restaurant betrieb, schon was heißen sollte.

Aber eine eigene Modelinie – das wäre der konkrete Beweis dafür, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Eine Prêt-á-porter-Kollektion war ein greifbarer Erfolg, etwas, das jeder sehen konnte. Dieser Gedanke allein war schon aufregend genug. Aber er schenkte Caroline auch die Erfüllung, nach der sie immer gesucht hatte – die Befriedigung eines ganz besonderen kreativen Hungers.

In den acht Saisons, in denen sie bisher für Mick Taylor gearbeitet hatte, hatte sie sich ganz auf dieses Ziel konzentriert. Sie hatte viel gelernt, aber diese Arbeit für ihn war nicht ihr Traum. Ihr Traum war vielmehr das, was sie tat, wenn sie abends nach Hause kam, nachdem sie unzählige Stunden unter dem strengen Blick von Rilla Stein modernste Entwürfe für die jeweilige Saison designt hatte. Sie hatte gelernt, von Mikrowellen-Burritos und zu viel Koffein zu leben und nachts lange aufzubleiben, um etwas zu erschaffen, das allein ihres war, ein ausgelassener Ausdruck ihrer eigenen, einzigartigen Ästhetik.

Sie zog ihren Koffer über den Bürgersteig in Richtung des Illumination und gab sich dabei Tagträumen an die Zeit hin, in der sie Assistenten und Stylisten haben würde, die sie unterstützten. Die Location für die heutige Show hatte einen langen Laufsteg und fabelhaftes Licht, dazu im Hintergrund einen Wasserfall und unzählige Backstage-Monitore, damit man auch ja keinen Moment verpasste. Jedes Mal, wenn sie sich ihre Kollektion auf diesem Laufsteg vorstellte, musste sie sich kneifen.

Sie hoffte, dass ihr eigenes Outfit okay war. Sie hatte sich für schlichtes Schwarz und Weiß entschieden, ihre übliche Arbeitskombination. Die schmal geschnittene schwarze Hose und das kastenförmig geschnittene Oberteil, dazu klobiger Schmuck und flache Schuhe, waren wie gemacht, um in der Stadt herumzuflitzen.

Der Backstagebereich war in einen West- und den Ostflügel aufgeteilt, die durch eine Faltwand voneinander getrennt waren. Caroline war dem Ostflügel zugeteilt worden. Hier herrschte die vertraute Atmosphäre, die vor Aufregung nur so vibrierte und in der es nach Haarspray und frisch gefärbten Stoffen roch. Sie stürzte sich in das Gewimmel aus herumeilenden Designern, Anziehhilfen, Assistenten, Models, Produzenten, Fotografen samt Entourage, Bloggern und Reportern. Das Getümmel glich einer chaotischen Choreografie, die hektischer wurde, je näher der Anfang der Show rückte. Die etablierten Designer würden ihre Kollektionen als erste zeigen, und Carolines Debüt würde ganz am Ende erfolgen.

Sie bahnte sich ihren Weg zwischen den Kleiderstangen hindurch und fand den Platz, der für sie reserviert worden war. Dort warf sie noch einen Blick auf ihre Notizen, bevor sie Angelique erblickte, die auf einem Podest stand und mit Orson Maynard plauderte, der sich Notizen machte.

»Es geht das Gerücht um, dass du für diese bezaubernde Kreation verantwortlich bist«, sagte Orson zu Caroline, als sie näher trat, und musterte das Fantasie-Ballkleid, das sie für Mick Taylor entworfen hatte.

»Ja, das Kleid ist mein Entwurf, aber das Bezaubernde bekommt das Stück erst durch Angelique.« Caroline fiel ein Stück Stoff auf, das aus der Korsage schaute. »Halt still«, sagte sie und fädelte schnell einen Faden ein, um das Problem zu beheben.

Daria gesellte sich schnaufend und stöhnend zu ihnen und stellte eine Kiste mit Accessoires ab. Dann trat sie einen Schritt zurück, um Angelique zu bewundern. »Wow.«

»Wie geht es dir?« Caroline nahm einen klobigen Cocktailring aus dem mitgebrachten Schmuckkästchen und steckte ihn Angelique an.

»Gut«, erwiderte Daria. »Ich wäre zwar lieber draußen auf dem Laufsteg, aber du bist die einzige Designerin, die ein hochschwangeres Model braucht.« Sie wählte einen Pinsel aus und begann, Angelique zu schminken.

»Ihre beide habt bei meiner Präsentation unglaublich ausgesehen«, sagte Caroline.

Orson trat mit seinem Notizblock in der Hand näher. »Und …?«, fragte er.

Caroline hatte ganz vergessen, dass er da war. Sie senkte den Kopf und beschäftigte sich damit, ihre Accessoires durchzugehen.

»Du darfst offiziell noch nichts davon gehört haben«, sagte sie und unterdrückte ihre Aufregung.

»Du weißt doch, wie schnell sich Gerüchte verbreiten«, gab er zurück.

»Was hast du gehört?«

»Dass deine Entwürfe für das Emerging-Talent-Programm ausgewählt wurden.«

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, nicht zu hyperventilieren. »Ach ja?«

»Stampf einmal mit dem Fuß auf, wenn es stimmt, zweimal, wenn es nicht stimmt.«

»Es stimmt«, murmelte Angelique unter Darias Pinselstrichen. »Aber du darfst noch nichts darüber verraten.«

»Sie hat recht«, bestätigte Caroline. »Diese ganze Unterhaltung hat nie stattgefunden.«

»Natürlich.« Orson steckte seine Notizen weg. »Also gehe ich davon aus, dass du einmal aufgestampft hast.«

Caroline konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Die ganze Welt wird es am Ende der heutigen Show sehen.«

»Das ist so großartig«, sagte Daria. »Als sie mir die Sachen gezeigt hat, die sie vorstellen wollte, wusste ich, dass sie sie nehmen würden.«

»Jetzt läuft mir langsam das Wasser im Mund zusammen«, gestand Orson.

»Ich habe seit dem Anruf kaum schlafen oder essen können.« Caroline platzte fast. In dem Moment, in dem sie die Neuigkeiten gehört hatte, war ihre Welt auf den Kopf gestellt worden.

»Kannst du mir mal mein Handy geben?«, bat Angelique. »Ich muss meine Kinder anrufen.«

Caroline stellte das Telefon auf ein Regal in der Nähe, und Angelique machte einen Videoanruf. Ihre Tochter ging ran und hielt das Telefon ganz nah an ihr Gesicht. »Maman«, sagte sie mit ihrer Minnie-Maus-Stimme und fragte dann etwas auf Kreolisch.

»Bei der Modenschau, ti cheri mwen. Hol mal deinen Bruder.«

Das Bild verrutschte, als Addie nach Flick rief. Dann beugten sich beide über das Handy und plapperten in einer Mischung aus Französisch und Englisch mit ihrer Mutter.

»Ihre Kinder sind so verdammt süß!« Daria seufzte.

Caroline hielt ihr Gesicht neben das von Angelique. »Hey Leute! Erinnert ihr euch noch an mich?«

»Caroline!« Addie klatschte in die Hände. »Du hast mir eine Kapuze mit einer Maske gemacht.«

»Ganz genau. Für den Fall, dass du dich vor den Paparazzi verstecken musst.«

»Was sind Paparazzi?«, fragte Flick.

»Die ganzen Leute, die Fotos von euch machen wollen, wenn ihr einen Kaffee trinken geht«, erklärte Caroline.

»Ich mag keinen Kaffee«, erwiderte Flick.

»Dann musst du dir auch keine Gedanken über Paparazzi machen«, sagte Angelique.

»Wann kommst du nach Hause, Maman?«, fragte Addie.

»Nach der Show. Wenn ihr schon schlaft. Seid lieb zu Nila, okay?« Sie sagte noch etwas auf Französisch und warf den beiden einen Luftkuss zu.

»Sie sind wundervoll«, sagte Caroline.

Angelique lächelte. »Sie sind mein Leben.«

»Ich weiß nicht, wie du das alles schaffst – alleinerziehende Mutter zu sein und gleichzeitig diese unglaubliche Karriere zu machen.«

Daria nickte. »Das muss echt schwer sein. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen würde, wenn ich Layton nicht hätte.«

»Ich versuche, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen«, sagte Angelique. »Ich tue einfach, was getan werden muss.«

Darias Hand glitt zu ihrem dicken Bauch. Sie keuchte auf und schob die Hand ein wenig nach unten.

»Geht es dir gut?«, fragte Caroline besorgt.

Sie nickte. »Das sind nur Vorwehen.«

»Bist du sicher?«

»Jupp. Ich war heute früh bei meinem Arzt.«

»Los geht’s!«, rief ein Produktionsmanager. »Noch fünf Minuten!«

In der immer größer werdenden Aufregung im Backstagebereich musste Caroline ihre Sorgen für den Moment beiseiteschieben. Jeder legte letzte Hand an die Models, um sie dann zu dem Percussion-Soundtrack loszuschicken, der durch die Lautsprecher hallte. Zwischen hektischen Kleiderwechseln verfolgten Caroline und Daria die Show auf den Monitoren. Die hochkarätigsten Stars und Medienvertreter saßen in der ersten Reihe direkt am Laufsteg. Hinzugeschaltete Blogger kommentierten die Show live, und der Feed lief am unteren Rand der Monitore.

Selbst auf den Bildschirmen sah die Show unglaublich aus. Das Thema Wasser und Licht funktionierte wunderbar. Die Models schienen auf dem auf den Laufsteg projizierten fließenden Wasser zu schweben.

»Mein Gott, ich liebe meinen Job«, murmelte Caroline, als das Model mit der Goucho-Hose und der bauchfreien Bluse über den Laufsteg ging, die sie für Mick Taylor entworfen hatte.

Die Kollektion war ein Erfolg, wenn man dem stürmischen Applaus, den blitzenden Kameras und den wild tweetenden und tippenden Kritikern und Bloggern glauben durfte. Caroline warf einen Blick auf den Live-Feed auf ihrem Handy. Die Einträge, die über das Display liefen, waren voll des Lobes.

Daria klatschte mit ihr ab. »Das war unglaublich. Und wir sind hier jetzt fertig. Das Finale startet auf der anderen Seite des Laufstegs. Danach ist dann dein großer Augenblick.«

Caroline erschauerte vor Vorfreude und Nervosität. »Cool. Gucken wir es uns an.«

Inmitten der Models, die hin und her eilten, um sich umzuziehen, fanden sie gerade in dem Moment einen Platz vor einem der großen Bildschirme, als die Show für die finale Kollektion auf der anderen Seite des Laufstegs begann. Die Musik wechselte zu einer eindringlichen Version von Händels Wassermusik.

Das erste Model erschien, und die Zuschauer keuchten kollektiv auf. Sofort wurden die ersten Kommentare im Live-Feed am unteren Bildschirmrand angezeigt. Caroline legte den Kopf in den Nacken, um besser sehen zu können. Sie blinzelte und zog dann verwirrt die Stirn kraus. Was zum Teufel …?

Das unübersehbar hochschwangere Model trug eine Tunika. Und nicht irgendeine Tunika, sondern genau die, die Caroline für ihre Kollektion entworfen hatte.

Sie packte Darias Arm so fest, dass ihre Fingernägel sich in die Haut gruben.

»Autsch! Hey …«

»Schau auf den Laufsteg«, flüsterte sie drängend. Dort demonstrierte das Model gerade, wie sich die Tunika in ein Stilloberteil verwandeln ließ, und die Zuschauer drehten durch.

»Heilige Scheiße«, sagte Daria. »Ist das …? O Gott.«

»Das ist meine Kollektion.« Caroline wurde schlecht, als ihre Entwürfe auf dem Laufsteg präsentiert wurden und bewundernde Blicke und Zwischenapplaus einheimsten. Die Stücke waren von ihren beinahe nicht zu unterscheiden. Sie waren aus anderen Stoffen gefertigt, die Models trugen teureren Kopfschmuck und andere Schuhe. Und die Models hatte Caroline noch nie zuvor gesehen.

Doch die Einzigartigkeit ihrer Kleidung – die Wandelbarkeit von Umstandsmode zu Stillmode zu Alltagsmode, selbst die stilisierte Nautilusmuschel auf der Schulter – waren direkt geklaut worden.

Die Kollektion wurde als Mick Taylors innovative neue Linie namens Cocoon angepriesen.

Caroline verschränkte die Arme vor der Brust, als eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg. Das Gefühl, bestohlen worden zu sein, war so überwältigend wie ein körperlicher Übergriff. Der Live-Feed am Fuß des Monitors verkündete weiteres Lob: Mick Taylor ist mit einer umwerfenden neuen Kollektion zurück.

Daria sagte etwas, aber Caroline hörte sie nicht durch das wütende Brausen in ihren Ohren. Ihr Blick hing wie gebannt an dem Bildschirm, auf dem nun Mick Taylor auf den Laufsteg trat und die Huldigungen wie ein siegreicher Held entgegennahm.

Im Backstagebereich herrschte immer noch die übliche Hektik nach einer Show, aber Caroline rührte sich nicht. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Mick Taylor hatte ihre Kollektion kopiert. Die Kollektion, mit der sie ihre Karriere hatte starten wollen. Der Mann, für den sie gearbeitet hatte, dem sie ihre Loyalität und harte Arbeit geschenkt hatte, hatte ihre Entwürfe gestohlen.

Vor Entsetzen wurde ihr ganz schwindelig, und sie geriet ins Wanken. Sofort war Angelique an ihrer Seite und führte sie zu einem Hocker. »Hast du das gesehen?«, fragte Caroline vollkommen fassungslos.

»Es tut mir so leid. Komm, setz dich«, sagte Angelique.

»Wie scheiße ist das denn bitte?« Daria schüttelte ungläubig den Kopf. »Was für ein hinterhältiges Verhalten.«

Caroline atmete tief ein. Die Taubheit ließ nach, aber das Unwohlsein nahm zu. Nichts hätte sie auf diesen Schock vorbereiten können. »Ich zittere am ganzen Körper. Mein Gott, ich fühle mich so verletzt.«

»Er ist schrecklich«, sagte Angelique. »Ich schäme mich, dass ich ihn überhaupt kenne.«

Caroline musste sich ermahnen, das Atmen nicht zu vergessen. In der Modewelt passierte es ständig und auf allen Ebenen, dass man sich gegenseitig die Ideen klaute. Niemand war davor gefeit. Diese spezielle Situation war praktisch eine Fallstudie darüber, wie sich ein großes Label die Entwürfe eines freien Designers aneignete. Im Studium wurde man gewarnt, dass man damit rechnen musste, und vielleicht hatte sie das unbewusst auch getan. Die Praxis hatte verschiedene Namen – »ein Verweis auf«, »inspiriert von«, »eine Hommage an«.

Um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben, schlang sie sich die Arme um den Oberkörper. »Niemand ist gestorben oder verletzt«, murmelte sie. »Niemand hat eine Krebsdiagnose erhalten. Das ist nicht das Ende der Welt.«

»So ist es richtig«, sagte Angelique. »Du bist stark. Du stehst das durch. Du wirst noch Großes leisten.«

Caroline versuchte, die Übelkeit abzuschütteln. Sich zusammenzureißen. Ihr Handy vibrierte, und auf dem Display überschlugen sich die Nachrichten. Nach ein paar Minuten stieg ein neues Gefühl in ihr auf – eine langsame, schwelende Wut. »Okay«, sagte sie. »Ich habe es nicht so weit geschafft, weil es leicht war, richtig?«

»Richtig«, bestätigte Daria.

»Ich werde ihn suchen gehen.«

»Nein«, sagte Angelique und riss die Augen auf. »Tu das nicht, Caroline. Mick wird …«

»Er wird was?« Caroline stand auf. Die Wut brannte wie ein Fieber in ihr und schärfte ihre Sinne. »Was wird er tun? Meine Karriere zerstören? Das hat er bereits getan.« Die Erkenntnis schlug wie ein Blitz in ihr ein. »Ich kann meine Kollektion jetzt nicht mehr zeigen. Ich habe also nichts mehr zu verlieren.«

Daria und Angelique schauten einander an. »Es tut mir so leid«, flüsterte Daria.

Mick hatte den Diebstahl perfekt geplant, erkannte Caroline. Er war ihrem Debüt zuvorgekommen und hatte so jeden Versuch sabotiert, ihre eigene Modelinie auf die Beine zu stellen – zumindest mit diesen Entwürfen. »Ich werde es überleben«, sagte sie mit ruhiger Überzeugung. »Aber das bedeutet nicht, dass ich mich kampflos ergebe.«

Zu ihrer absoluten Demütigung wurde nun ihre Kollektion angekündigt und auf den Laufsteg geschickt. Das Publikum erwartete eine Sensation von der Gewinnerin des Emerging-Talents-Programms. Caroline brachte es nicht über sich, zu den Monitoren zu schauen. Sie wollte die Mienen der Zuschauer nicht sehen. Wollte nicht sehen, wie sie mit den Fingern zeigten und flüsterten, wie sie über die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen ihren Entwürfen und denen von Mick Taylor spekulierten. Soweit es die Zuschauer betraf, war sie die Diebin, nicht er.

Das war der ultimative Verrat eines Mannes, dem sie vertraut hatte. Ihre Beziehung zu ihm war kompliziert; in den letzten Jahren war es die wichtigste Beziehung in ihrem Leben gewesen, die nur wenig Raum für etwas anderes gelassen hatte. Sie hatte ihm viel zu verdanken. Und doch hatte er ihre Karriere heute zerstört und sie in aller Öffentlichkeit ins offene Messer laufen lassen. Sie kam sich betrogen und unglaublich naiv vor. Wie hatte sie ihm jemals vertrauen können? Wieso hatte sie das nicht kommen sehen?

Vielleicht war sie von seinem Ruhm geblendet gewesen, angezogen von seinem lässigen Charme und seinem Charisma. Vielleicht hatte sie die Zeichen übersehen.

Irgendjemand – ein Produktionsassistent oder Praktikant – gab ihr einen kleinen Schubs, damit sie dem letzten Model auf den Laufsteg folgte. Was ein Triumphzug hätte werden sollen, war zu einem Gang der Schande geworden. Der Applaus war gedämpft, und anstatt ihrer vorbereiteten Worte über ihre Inspiration und ihre Dankbarkeit gegenüber Mick Taylor brachte sie nur ein »Danke für die Chance« hervor.

Stille senkte sich über den Raum, gefolgt vom Kleiderrascheln, als die Zuschauer sich erhoben und sich zu den Ausgängen begaben. Mit dem Gefühl, verraten worden zu sein, lief Caroline in den Backstagebereich zurück.

»Caroline, warte.« Angelique streckte die Hand nach ihr aus.

Doch Caroline schüttelte den Kopf und bahnte sich einen Weg durch die Menge in den Zuschauerraum, der sich langsam leerte. Die Stardesigner hatten sich neben dem Laufsteg versammelt. Umgeben von ihrer jeweiligen Entourage nahmen sie Glückwünsche und Einladungen zu After-Show-Partys entgegen, posierten für die Fotografen und beantworteten die Fragen der Medienvertreter.

Mick war leicht zu finden. Er war umringt von einer Gruppe von Reportern und Fotografen. Strahlend lächelnd sonnten er und Rilla sich im Erfolg ihrer Show.

Caroline drängte sich durch die Menge. Rilla bemerkte sie zuerst. »Gute Show, Caroline«, sagte sie. »Deine Entwürfe sahen super aus.«

Caroline ignorierte sie, auch wenn Rilla bei der Arbeit ihre Mentorin war, diejenige, die sie angestellt hatte, die Vorgesetzte, der gegenüber sie Bericht erstatten musste. Rilla hätte ihre Entwürfe schützen sollen. Aber natürlich galt die Loyalität der Chefdesignerin einzig Mick Taylor.

Sie sah eine Lücke und zwängte sich hindurch. Dann stellte sie sich direkt vor ihn. »Du hast meine Entwürfe geklaut«, sagte sie langsam und deutlich.

Er schaute sie an und zog die Augenbrauen leicht zusammen. »Sorry, wie bitte?«

Mehrere Fotografen schossen ein Bild von ihnen.

Caroline stellte sich auf die Zehenspitzen und wiederholte dicht an seinem Ohr: »Du hast meine Entwürfe geklaut – deine sogenannte Cocoon-Linie.«

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Dann glitt sein Blick kurz zu Rilla, bevor er herablassend lächelte. Weitere Kameras blitzten auf. »Und wer bist du noch mal?«

Caroline wusste, dass diese absichtliche Spitze sie auf ihren Platz verweisen sollte. Wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen, legte ihm eine Hand hinters Ohr und flüsterte: »Ich bin dein schlimmster Albtraum.«

Sein Lächeln geriet nicht einmal ins Wanken. Carolines Mut verwandelte sich in ein Gefühl des Grauens. Sie ahnte, was er tun würde. »Und in fünf Minuten«, sagte Mick, »wird sich niemand mehr an deinen Namen erinnern.«

4. Kapitel

Mitten in der Nacht klingelte es. Caroline krabbelte verschlafen aus dem Bett und ging zur Gegensprechanlage an der Tür. Alle ihre Schlösser waren vorgelegt.

Wieder klingelte es.

Trotzdem zögerte sie. Niemand kam mitten in der Nacht bei ihr vorbei. Es kam überhaupt niemand mehr zu ihr. Nicht, seitdem sie Mick Taylor den Krieg erklärt – und verloren hatte. Sie war in den Flammen des Ruhms untergegangen. Nein, nicht mal des Ruhms. Keine rechtschaffene Wut der Welt konnte es mit der Realität der Modewelt aufnehmen – Designer stahlen ständig und schamlos voneinander. Und die Opfer hatten keinerlei Rechte. Mick hielt alle Karten in der Hand. Er hatte die Macht, mit einem einzigen Anruf jemanden feuern zu lassen und zum Paria zu machen.

Sie schlüpfte in einen Hoodie und trat ans Fenster, um hinauszuschauen. Vor der Tür des Deli im Erdgeschoss stand Angeliques Wagen. Was zum Teufel …? Sie drückte auf den Türöffner und eilte ihr die Stufen hinunter entgegen.

»Wir brauchen einen Platz zum Übernachten«, sagte Angelique. »Ich und die Kinder.« Addie und Flick klammerte sich an ihre Beine.

»Ist was passiert?«

Angelique nickte mit dem Kopf in Richtung der Kinder. »Kannst du uns helfen?«

Caroline war nicht überrascht. Sie war sich sicher, es hatte etwas mit den blauen Flecken zu tun, die sie vor einer Weile bei der Modenschau an Angelique gesehen hatte. Also nickte sie. Schnell brachten sie die Kinder nach oben in ihre Wohnung. In ihre unglaublich winzige Wohnung. Flick und Addie jammerten in schläfrigem Protest. Caroline und Angelique schafften es, sie auf das Klappsofa zu betten. Nachdem sie eingeschlafen waren, ließ Angelique sich in einen Sessel fallen. Selbst in dem dämmrigen Licht sah Caroline, dass die Lippen ihrer Freundin geschwollen waren und verkrustetes Blut an ihnen klebte.

»Wer war das?« Sie holte einen feuchten Lappen und etwas Eis. »War das Roman?«

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