Wiedersehen in Virgin River

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John »Preacher« Middleton genießt die Ruhe in dem friedvollen Virgin River. Plötzlich wird seine Welt auf den Kopf gestellt: Mitten in der Nacht steht eine Frau vor seiner Tür. Ohne zu zögern, kümmert er sich um sie. Denn Paige weckt nicht nur seinen Beschützerinstinkt, sondern ebenso Gefühle, an die Preacher nicht mehr geglaubt hat. Doch Paige kann auch in Virgin River ihre tragische Vergangenheit nicht hinter sich lassen. Wird es Preacher gelingen, ihre verletzte Seele zu heilen?

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  • Erscheinungstag 18.02.2020
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752205
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ein für September ungewöhnlich heftiger, kühler Wind peitschte kalten Regen gegen die Fensterscheiben, und es war bereits dunkel, obwohl es erst halb acht war. Preacher reinigte den Tresen, denn niemand in Virgin River würde in einer solchen Nacht noch ausgehen. An kalten, regnerischen Abenden blieben die Leute nach dem Abendessen lieber zu Hause, und die Camper und Angler, die in der Gegend waren, dürften sich längst gegen den Sturm verbarrikadiert haben. Es war zwar Jagdsaison auf Bären und Rehe, aber bei einem solchen Wetter war kaum damit zu rechnen, dass ein Jäger um diese Zeit noch auf dem Weg von oder zu den Jagdhütten und Schießständen vorbeikam. Sein Partner Jack, der Besitzer der Bar, und dessen frischgebackene Ehefrau hatten sich bereits in ihr Waldhaus zurückgezogen, denn er wusste, dass es nur noch wenig, wenn überhaupt etwas zu tun gab. Auch ihre siebzehnjährige Hilfskraft Rick hatte Preacher längst heimgeschickt, und er selbst plante, das „Geöffnet“-Schild auszuschalten und die Tür abzuschließen, sobald das Feuer ein wenig weiter heruntergebrannt war.

Er schenkte sich einen Schluck Whiskey ein und trug ihn zu dem Tisch, der dem Feuer am nächsten stand. Dann drehte er einen Sessel zum Kamin und legte die Beine hoch. Preacher mochte solche ruhigen Abende wie heute, denn er war ein eigenbrötlerischer Typ.

Der Frieden sollte jedoch nicht lange dauern. Jemand zerrte an der Tür, und er runzelte die Stirn. Einen Spaltbreit ging sie auf, wurde dann vom Wind erfasst und flog mit einem lauten Knall ganz auf. Sofort war er auf den Beinen. Eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm war hereingekommen und kämpfte nun damit, die Tür wieder zuzuziehen. Sie trug eine Baseballkappe und hatte eine schwere Patchworktasche über der Schulter hängen. Preacher ging hinüber, um die Tür festzuhalten. Die Frau drehte sich um, sah zu ihm hoch, und beide fuhren überrascht zurück. Sie war vermutlich vor Schreck erstarrt, weil Preacher so bedrohlich aussah mit seinen ein Meter fünfundneunzig, der Glatze, den buschigen schwarzen Augenbrauen, einem diamantenen Ohrstecker und Schultern so breit, wie ein Axtstiel lang war.

Preacher seinerseits sah unter dem Schirm der Baseballkappe das hübsche Gesicht einer jungen Frau mit einem blauen Fleck auf der Wange und einem Riss in der Unterlippe.

„Es tut … Es tut mir leid. Ich sah das Schild …“

„Ja, kommen Sie nur herein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass heute Abend noch jemand unterwegs sein würde.“

„Wollten Sie schließen?“, fragte sie und schob ihre Last ein wenig nach oben. Es war ein kleiner Junge, nicht älter als drei oder vier Jahre, der an ihrer Schulter schlief und die Beine lang und schlaff herunterbaumeln ließ. „Weil ich … Schließen Sie?“

„Kommen Sie schon“, sagte er und trat einen Schritt zurück, sodass sie an ihm vorbei konnte. „Es ist in Ordnung. Ich hab nichts anderes vor.“ Mit ausgestrecktem Arm wies er auf einen Tisch. „Setzen Sie sich dort ans Feuer. Wärmen Sie sich. Trocknen Sie sich.“

„Danke“, sagte sie leise und ging zu dem Tisch am Feuer. Als sie den Drink sah, fragte sie ihn: „Ist das Ihr Platz?“

„Nur zu. Setzen Sie sich ruhig dorthin. Ich wollte nur einen Schluck trinken, bevor ich dichtmache. Aber ich habe keine Eile. Normalerweise schließen wir eh nicht so früh, aber heute, bei dem Regen …“

„Wollten Sie nach Hause?“, fragte sie.

Er lächelte ihr zu. „Ich wohne hier. Deshalb bin ich wirklich flexibel mit der Zeit.“

„Wenn Sie sicher sind …“

„Ich bin mir sicher“, beruhigte er sie. „Bei gutem Wetter haben wir mindestens bis neun Uhr geöffnet.“

Also nahm sie auf dem Sitz am Feuer Platz und spreizte die schlaffen Beine des Jungen über ihren Schoß. Die Patchworktasche ließ sie von der Schulter auf den Boden fallen und zog das Kind enger an sich, nahm es fest in die Arme und streichelte seinen Rücken.

Preacher verschwand nach hinten und gab ihr Zeit, sich einen Moment lang aufzuwärmen. Mit ein paar Kissen von seinem Bett und der Decke von seiner Couch kehrte er dann zurück. Er legte die Kissen auf den Tisch neben sie und sagte: „Hier. Legen Sie das Kind darauf. Der Junge dürfte etwas schwer für Sie sein.“

Sie sah ihn mit Augen an, die jeden Augenblick überzulaufen drohten. Oh, er hoffte, sie würde es nicht tun. Er hasste es, wenn Frauen weinten, denn er wusste nie, was er dann tun sollte. Jack konnte damit umgehen. Jack war ritterlich und wusste in allen Situationen immer ganz genau, wie man eine Frau behandeln musste. Preacher hingegen fühlte sich in Gegenwart von Frauen unwohl, bis er sie näher kannte. Um genau zu sein, er war unerfahren, und obwohl es nicht seine Absicht war, jagte er Frauen und Kindern einfach schon aufgrund seiner äußeren Erscheinung häufig Angst ein. Allerdings wussten sie auch nicht, dass er hinter seiner manchmal grimmigen Miene bloß seine Schüchternheit verbarg.

„Danke“, sagte sie noch einmal und legte das Kind auf die Kissen, wo es sich augenblicklich zusammenrollte und den Daumen in den Mund steckte. Lahm stand Preacher daneben und hielt die Decke bereit. Erst als sie sie ihm nicht abnahm, legte er sie über den Jungen und steckte sie um ihn herum fest. Dabei fiel ihm auf, dass er rote Wangen und hellrosa Lippen hatte.

Bevor sie sich wieder setzte, sah sie sich um, und als sie über der Eingangstür den Hirschkopf entdeckte, schreckte sie zurück. Dann drehte sie sich einmal im Kreis herum und fand auch noch das Bärenfell an der Wand und den Stör über der Bar. „Ist das hier so etwas wie eine Jagdhütte?“, fragte sie.

„Nicht direkt, aber es kommen viele Jäger und Angler hierher. Den Bären hat mein Partner in Notwehr erschossen, aber den Stör hat er mit Absicht gefangen. Das war einer der größten Störe in diesem Fluss. Den Hirsch habe ich erlegt, aber eigentlich gehe ich lieber angeln. Ich mag die Ruhe.“ Er zuckte die Schultern. „Ich bin der Koch hier. Wenn ich etwas töte, dann essen wir es.“

„Ja, Rehe kann man essen“, stellte sie fest.

„Und das haben wir auch getan. Letzten Winter hatten wir eine Menge Wildfleisch auf dem Tisch. Vielleicht sollten Sie etwas trinken“, sagte er und bemühte sich, seine Stimme sanft und nicht bedrohlich klingen zu lassen.

„Ich muss einen Platz finden, wo wir bleiben können. Wo bin ich hier überhaupt?“

„Virgin River. Das ist schon ziemlich abgelegen. Wie haben Sie uns gefunden?“

„Ich …“, sie schüttelte den Kopf und lachte kurz. „Ich bin vom Highway runtergefahren, weil ich nach einem Ort mit Hotel suchte …“

„Es ist aber schon eine Weile her, dass Sie den Highway verlassen haben.“

„Hier gibt es nicht so viele Stellen, die breit genug sind, dass man wenden kann“, erklärte sie. „Dann sah ich dieses Lokal, Ihr Schild. Mein Sohn … ich glaube, er hat Fieber. Wir sollten nicht mehr weiterfahren.“

Preacher wusste, dass in der Nähe kein Zimmer zu finden war, und sie war eine Frau, die in Schwierigkeiten steckte. Man musste kein Genie sein, um das zu erkennen. „Irgendwie werde ich Sie schon unterbringen“, versprach er. „Aber erst einmal – möchten Sie etwas trinken? Essen? Heute Abend habe ich eine gute Suppe da. Bohnen mit Speck. Und Brot. Das Brot habe ich heute frisch gebacken. Wenn es kalt und regnerisch ist, mache ich das gern. Wie wär’s mit einem Brandy, damit Sie erst einmal warm werden?“

„Brandy?“

„Oder was Sie sonst gern mögen …“

„Das wäre gut. Suppe auch. Ich habe seit Stunden nichts mehr gegessen. Danke.“

„Warten Sie.“

Er ging zum Tresen, nahm ein Kognakglas und schenkte ihr einen Remy ein. An diesem Ort eine ziemlich ungewöhnliche Sache, denn für seine üblichen Gäste brauchte er nur selten einmal ein Kognakglas. Für das Mädchen aber wollte er etwas Besonderes tun, denn mit Sicherheit war sie vom Glück verlassen. Er brachte ihr den Weinbrand und ging dann nach hinten in die Küche.

Die Suppe hatte er für die Nacht schon weggestellt, aber nun nahm er sie aus dem Kühlschrank, schöpfte eine Kelle voll heraus und stellte sie in die Mikrowelle. Während sie aufwärmte, brachte er ihr eine Serviette und Besteck. Als er wieder in die Küche zurückkam, war die Suppe fertig und er nahm das Brot heraus. Es war ihm besonders gut gelungen – weich, lecker und herzhaft. Er wärmte es ein paar Minuten in der Mikrowelle und legte es dann mit ein wenig Butter auf einen Teller. Als er aus der Küche trat, sah er, wie sie damit kämpfte, sich die Jacke auszuziehen, als wäre sie ganz steif oder hätte Schmerzen. Bei diesem Anblick blieb er kurz stehen und runzelte die Stirn. Über die Schulter warf sie ihm einen Blick zu, als hätte jemand sie dabei ertappt, wie sie etwas Böses tat.

Preacher stellte das Essen vor sie hin, und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie war vielleicht ein Meter siebenundsechzig groß und schlank. Sie trug Jeans und hatte ihr lockiges braunes Haar wie einen Pferdeschwanz hinten durch die Baseballkappe gezogen. Zwar sah sie aus wie ein Mädchen, aber er schätzte, dass sie mindestens in ihren Zwanzigern sein musste. Vielleicht hatte sie einen Autounfall gehabt, aber wahrscheinlicher schien ihm, dass jemand sie verprügelt hatte. Und wenn er nur daran dachte, fing er auch schon an, innerlich zu brodeln.

„Das sieht ja gut aus“, sagte sie und zog sich die Suppe heran.

Während sie aß, ging er zum Tresen zurück und sah ihr zu, wie sie die Suppe in sich hineinlöffelte, die Butter aufs Brot schmierte und es gierig verschlang. Nachdem sie mit ihrem Mahl zur Hälfte fertig war, sah sie mit einem verlegenen, beinahe um Entschuldigung bittenden Lächeln zu ihm herüber. Innerlich zerriss es ihn – dieses blau geschlagene Gesicht, der Riss in der Lippe. Ihr Hunger.

Als sie mit dem letzten Stückchen Brot auch noch das letzte bisschen Suppe aufgetunkt hatte, kehrte er an ihren Tisch zurück. „Ich hole Ihnen noch etwas.“

„Nein. Nein, es reicht. Ich glaube, ich werde jetzt etwas von diesem Kognak nehmen. Aber ich danke Ihnen. Gleich danach werde ich mich dann wieder auf den Weg …“

„Entspannen Sie sich“, unterbrach er sie und hoffte, dass es nicht barsch klang. Es dauerte immer eine Weile, bis die Leute anfingen, ihn zu mögen. Er räumte den Tisch ab und trug das Geschirr zum Tresen. „Hier in der Gegend werden Sie nirgends ein Zimmer finden“, sagte er, als er wieder zurückkam. Er setzte sich ihr gegenüber und beugte sich zu ihr vor. „In dieser Richtung sind die Straßen nicht besonders gut, vor allem nicht im Regen. Wirklich, Sie werden nicht wieder da hinaus wollen. Gewissermaßen sitzen Sie fest.“

„Oh, nein! Hören Sie, wenn Sie mir nur sagen, wo der nächste Ort ist … Ich muss etwas finden …“

„Nicht aufregen“, sagte er. „Ich habe ein separates Zimmer. Kein Problem. Heute Abend ist das Wetter einfach scheußlich.“ Wie zu erwarten, machte sie große Augen. „Es ist in Ordnung. Das Zimmer hat ein Schloss.“

„Ich hatte nicht die Absicht …“

„Schon okay. Ich sehe irgendwie furchterregend aus. Das weiß ich.“

„Nein. Es ist nur …“

„Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Ich weiß, wie ich aussehe. Bei Männern ist die Wirkung prima. Die machen gleich einen Rückzieher.“ Er schenkte ihr ein leises Lächeln, ohne dabei die Zähne zu zeigen.

„Das ist aber nicht nötig“, sagte sie. „Ich habe ein Auto …“

„Um Himmels willen! Ich würde es nicht ertragen, mir vorzustellen, dass Sie im Auto schlafen!“, unterbrach er sie. „Tut mir leid, manchmal klinge ich so böse, wie ich aussehe. Aber im Ernst – wenn der Kleine sich doch nicht wohlfühlt …“

„Das kann ich nicht machen. Ich kenne Sie nicht …“

„Ja, ich weiß. Wahrscheinlich wundern Sie sich, hm? Aber ich bin sehr viel harmloser, als es scheint. Hier wären Sie gut untergebracht. Besser hier als in irgendeinem Hotel an der Straße. Und bei Weitem sicherer, als wenn Sie versuchen, da draußen im Sturm auf diesen Bergstraßen klarzukommen.“

Eine Minute lang sah sie ihn prüfend an. Dann sagte sie: „Nein. Ich werde weiterfahren. Wenn Sie mir bitte sagen wollen, wie viel …“

„Sie haben da eine ziemlich heftige Prellung“, meinte Preacher. „Soll ich Ihnen etwas für Ihre Lippe holen? In der Küche habe ich einen Verbandskasten.“

„Danke, geht schon“, wehrte sie ab und schüttelte den Kopf. „Wie wär’s, wenn Sie mir jetzt die Rechnung machen, und …“

„Ein Fiebermittel für Kinder habe ich nicht. Außer einem Zimmer. Mit einem Schloss an der Tür, sodass Sie sich sicher fühlen können. Bei diesem Wetter wollen Sie doch ein solches Angebot nicht ausschlagen, mit einem Kind, das vielleicht eine Krankheit ausbrütet. Ich sehe groß und böse aus, aber bei mir können Sie sich absolut sicher fühlen. Es sei denn, Sie wären Jagdwild.“ Er grinste sie an.

„Sie sehen nicht böse aus“, sagte sie ängstlich.

„Frauen und Kinder kann ich wirklich nervös machen, und diese Rolle hasse ich. Sind Sie auf der Flucht?“, fragte er sie.

Sie senkte den Blick.

„Was glauben Sie denn? Dass ich die Polizei rufe? Wer hat Ihnen das angetan?“

Auf der Stelle fing sie an zu weinen.

„Ah. Hey. Nicht doch.“

Sie legte ihren Kopf auf die Arme, die sie auf der Tischplatte gekreuzt hatte, und schluchzte los.

„Ah. Nicht doch. Tun Sie das nicht. Ich weiß doch nie, was ich dann machen soll.“ Zögernd und vorsichtig berührte er ihren Rücken, und sie zuckte zusammen. Ganz leicht tippte er ihr auf die Hand. „Nun kommen Sie schon. Weinen Sie nicht. Vielleicht kann ich ja helfen.“

„Nein. Können Sie nicht.“

„Man kann nie wissen“, meinte er und tätschelte zögernd ihre Hand.

Sie hob den Kopf. „Tut mir leid“, sagte sie und wischte sich über die Augen. „Ich bin erschöpft, glaube ich. Es war ein Unfall. Eine wirklich dumme Sache, aber ich hatte mit Chris gekämpft …“ Plötzlich unterbrach sie sich, sah sich nervös um, als fürchtete sie, er könne sie hören, und leckte sich über die Unterlippe. „Ich hatte versucht, Christopher ins Auto zu setzen, der sich irgendwo festhielt, und dabei habe ich mir die Tür beim Öffnen direkt ins Gesicht geschlagen. Heftig. Man sollte nie etwas in Eile tun, wissen Sie? Es war nur ein kleines Missgeschick. Alles in Ordnung.“ Sie putzte sich die Nase mit der Serviette.

„Klar“, sagte Preacher. „Sicher. Es tut mir schrecklich leid. Sieht aus, als würde es wehtun.“

„Das wird schon wieder.“

„Sicher wird es das. Also, wie heißen Sie?“ Nachdem sie eine ganze Weile nicht antwortete, fügte er hinzu: „Das ist schon in Ordnung. Ich werde es niemandem sagen. Falls jemand auftauchen und nach Ihnen fragen sollte, werde ich nicht einmal erwähnen, dass ich Sie gesehen habe.“ Sie bekam ganz runde Augen und öffnete den Mund ein wenig. „Oh, verdammt, das hätte ich jetzt wohl lieber nicht sagen sollen, oder? Ich meine ja nur, falls Sie sich verstecken oder auf der Flucht sind, es ist in Ordnung. Sie können sich hier verstecken oder hierher flüchten. Ich werde Sie nicht verraten. Wie heißen Sie?“

Sie streckte die Hand aus und strich zärtlich mit den Fingern durch das Haar des Jungen. Und schwieg.

Preacher erhob sich, schaltete das „Geöffnet“-Schild aus und verschloss die Tür. „Also“, begann er, als er sich wieder zu ihr setzte. Der kleine Junge nahm einen großen Teil des Tisches neben ihnen ein. „Lassen Sie sich Zeit“, sagte er sanft. „Hier wird Ihnen niemand etwas tun. Ich kann ein Freund sein, und ich habe bestimmt keine Angst vor einem Schlappschwanz, der einer Frau so etwas antut. Entschuldigung.“

Sie hielt den Blick gesenkt, um Augenkontakt zu vermeiden. „Es war die Autotür …“

„Auch vor einer bösen, ollen Autotür habe ich keine Angst.“

Sie lachte leicht schnaubend, hatte aber immer noch Mühe, ihm in die Augen zu schauen. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie zu ihrem Kognak griff und ihn an die Lippen hob.

„Ja, so ist’s gut“, sagte Preacher. „Wenn Sie meinen, dass der Junge heute Abend noch von einem Arzt untersucht werden sollte, gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite gibt es einen. Ich könnte ihn holen oder Sie zu ihm bringen.“

„Ich denke, dass er sich nur erkältet hat. Aber ich werde ihn gut im Auge behalten.“

„Sollte er irgendein Medikament brauchen oder sonst etwas …“

„Ich glaube, das wird nicht nötig sein …“

„Mein Kumpel, der Typ, dem der Laden hier gehört, also dessen Frau ist Krankenschwester. Irgendeine besondere Krankenschwester, die auch Medikamente verschreiben darf, Patienten untersucht … Sie kümmert sich sehr gut um die Frauen hier in der Gegend. In zehn Minuten wäre sie hier. Falls eine Frau unter diesen Umständen besser wäre.“

„Umstände?“, fragte sie, und in ihrem Gesicht stand Panik.

„Die Autotür und all das …“

„Nein. Wirklich. Es war bloß ein langer Tag. Verstehen Sie?“

„Ja, das wird es wohl sein. Und die letzte Stunde oder so, nachdem Sie den Highway verlassen hatten, das war sicherlich ziemlich schrecklich. Wenn man sich mit solchen Straßen nicht auskennt.“

„Es hat mir etwas Angst gemacht“, gab sie leise zu. „Und ohne zu wissen, wo ich war …“

„Jetzt sind Sie in Virgin River, das ist das, worauf es ankommt. Es ist zwar nur eine kleine Biegung in der Straße, aber die Leute sind gut und helfen, wo sie können. Verstehen Sie?“

Sie schenkte ihm ein kleines, schüchternes Lächeln, aber die Augen hatte sie wieder niedergeschlagen.

„Wie heißen Sie?“, wiederholte er die Frage. Mit fest zusammengepressten Lippen schüttelte sie den Kopf. Und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. „Ist schon gut“, besänftigte er sie. „Wirklich.“

„Paige“, flüsterte sie, und eine Träne lief ihr über die Wange. „Paige“, wiederholte sie leise.

„Ja, so ist es gut. Ein hübscher Name. Hier können Sie Ihren Namen nennen, ohne Angst haben zu müssen.“

„Und wie heißen Sie?“

„John“, antwortete er und wunderte sich gleich darauf, warum er das getan hatte. Das musste wohl an ihr liegen. „John Middleton. Aber niemand nennt mich John. Für alle bin ich Preacher.“

„Sind Sie denn ein Prediger?“

„Nein“, er lachte kurz auf. „Weit davon entfernt. Aber der einzige Mensch, der mich je John genannt hat, war meine Mutter.“

„Und wie hat Ihr Vater Sie gerufen?“

„Kid“, sagte er mit einem Lächeln und dann mit Betonung: „Hey Kid.“

„Und warum nennt man Sie Preacher?“

„Ah“, scheu versuchte er, der Frage auszuweichen. „Ich weiß nicht. Diesen Spitznamen haben sie mir schon vor Langem verpasst, damals, als ich als Junge zum Marine Corps kam. Die Jungs fanden mich irgendwie puritanisch und konservativ.“

„Tatsächlich? Sind Sie das denn?“

„Nee, nicht wirklich. Aber ich habe nie geflucht und bin immer zur Messe gegangen, wenn es eine Messe gab. Ich bin mit Priestern und Nonnen aufgewachsen, denn meine Mutter war unheimlich gläubig. Und von den Jungs ist nie mal einer zur Messe gegangen. Daran kann ich mich noch erinnern. Und dann habe ich mich auch immer zurückgehalten, wenn sie ausgingen, um sich zu betrinken und Frauen zu suchen. Ich weiß nicht … irgendwie hatte ich nie Lust, dabei mitzumachen. Ich komme bei Frauen nicht so gut an.“ Er lächelte plötzlich. „Das merkt man ja wohl auf den ersten Blick, oder? Und es hat mir auch noch nie wirklich gefallen, mich zu betrinken.“

„Aber Sie haben doch eine Bar?“

„Die Bar gehört Jack. Und er behält die Leute sehr genau im Auge. Wir lassen hier niemanden raus, wenn es nicht sicher ist, verstehen Sie? Nach Feierabend trinke ich dann ganz gerne einen Schluck, aber das ist ja kein Grund, sich Sorgen zu machen, nicht wahr?“ Er grinste sie an.

„Soll ich Sie John nennen?“, fragte sie ihn. „Oder Preacher?“

„Wie Sie möchten.“

„John“, sagte sie. „Okay?“

„Wenn Sie wollen, gerne. Ja, gut, das gefällt mir. Es ist schon eine Weile her, dass mich jemand so genannt hat.“

Einen Moment lang senkte sie den Blick, sah dann aber gleich wieder auf. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, John. Dass sie die Bar aufgelassen haben und überhaupt für alles.“

„Das ist wirklich nichts Besonderes. Wir haben meistens abends länger geöffnet als heute.“ Preacher deutete mit einer Kopfbewegung auf den Jungen. „Wird er hungrig sein, wenn er aufwacht?“

„Vielleicht“, antwortete sie. „Ich hatte etwas Erdnussbutter und Marmelade im Auto, und das hat er ganz schön schnell verputzt.“

„Also gut, da oben ist ein separates Zimmer, gleich über der Küche. In der Küche bedienen Sie sich einfach. Ich werde ein Licht für Sie anlassen. Nehmen Sie sich, was Sie wollen. Im Kühlschrank stehen Milch und Orangensaft. Dann gibt’s auch noch Cornflakes, Brot, Erdnussbutter, und von der Suppe ist auch noch etwas im Kühlschrank. Eine Mikrowelle haben wir auch. Alles klar?“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber …“

„Paige, Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Schlaf gebrauchen, und wenn der Junge auch noch krank werden sollte, dann wollen Sie ihn doch wohl nicht diesem nasskalten Mistwetter aussetzen.“

Einen Moment lang dachte Sie darüber nach, dann fragte sie: „Wie viel?“

Unwillkürlich musste er lachen, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht lachen. Es ist nur – das ist mein altes Zimmer. Es ist kein Hotelbett oder so. Zwei Jahre lang habe ich da oben gewohnt, aber dann haben Jack und Mel geheiratet, und ich konnte in das Apartment dort hinten umziehen. Das Zimmer liegt über der Küche, und manchmal riecht es dort morgens ein bisschen nach Schinken und Kaffee, aber es ist ganz geräumig und hat ein großes Badezimmer. Für eine Nacht reicht es bestimmt.“ Er zuckte die Schultern. „Einfach Nachbarschaftshilfe. Okay?“

„Das ist sehr großzügig“, sagte sie.

„Es ist ja nicht so, als würde ich dabei auf irgendwelchen Komfort verzichten. Der Raum steht leer. Ich freue mich, Ihnen helfen zu können.“ Er räusperte sich. „Haben Sie einen Koffer, den ich Ihnen holen kann, oder sonst etwas?“

„Nur einen. Auf dem Rücksitz.“

„Ich werde ihn für Sie holen. Trinken Sie nur Ihren Brandy, und nehmen Sie sich noch einen Schluck, wenn Sie ihn brauchen. Wenn ich an Ihrer Stelle bei dem Regen durch diese Berge hier gefahren wäre, würde ich ihn brauchen.“ Er stand auf. „Nehmen Sie das Glas mit, und ich zeige Ihnen das Zimmer. Es ist oben. Hm, soll ich das Kind für Sie rauftragen?“

Auch sie stand auf. „Danke.“ Sie reckte die Schultern, als wären sie vom Fahren steif. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Kein Problem“, sagte er. „Hören Sie, damit Sie sich keine Sorgen machen. Mein Apartment und Ihr Zimmer sind nicht einmal miteinander verbunden. Wir sind durch die Küche und die Treppe voneinander getrennt. Schließen Sie einfach die Tür ab, dann können Sie entspannen.“ Vorsichtig und etwas unbeholfen nahm Preacher den kleinen Jungen in die Arme, und als der Kopf des Kindes an seine Schulter rutschte, fühlte sich das für ihn ganz seltsam an. Preacher hatte nicht viel Erfahrung damit, Kinder herumzutragen, aber er mochte das Gefühl und strich dem Jungen ein paarmal langsam über den Rücken. „Hier entlang.“

Er ging ihr durch die Küche voraus und stieg die Hintertreppe hinauf. Dann öffnete er die Tür und entschuldigte sich: „Es ist etwas unordentlich. Ein paar Sachen, wie meine Gewichte, habe ich hiergelassen. Aber die Bettwäsche ist sauber.“

„Es sieht doch gut aus“, meinte sie. „Morgen, ganz früh, bin ich ja auch wieder weg.“

„Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Wenn Sie ein paar Tage brauchen, lässt sich das regeln. Wie gesagt, es ist nicht unbedingt ein Mietzimmer oder so. Steht einfach nur leer. Ich meine, falls der Junge sich einen kleinen Virus eingefangen hat oder so …“

Vorsichtig legte er den Kleinen aufs Bett und war dann seltsam unwillig, ihn loszulassen. Das Kind hatte an seiner Brust eine angenehme Wärme hinterlassen. Er musste einfach noch mal sein weiches blondes Haar berühren. Ein hübscher kleiner Junge. „Was ist mit den Autoschlüsseln? Ich sollte wohl besser mal den Koffer holen …“

Sie wühlte in dieser Patchworktasche, die irgendwie aussah wie eine Windeltasche, obwohl der Junge für Windeln zu alt war. Dann gab sie ihm die Schlüssel.

„Dauert bloß eine Minute“, sagte er.

Preacher ging zu ihrem Wagen, einem kleinen Honda, und setzte sich hinein. Dazu musste er den Sitz ganz nach hinten schieben, und trotzdem rieben sich seine Knie noch immer am Lenkrad. Er fuhr hinter das Gebäude und parkte ihn neben seinem Truck, wo er von der Hauptstraße aus nicht gesehen werden konnte. Nur für den Fall, dass jemand nach ihr suchen würde. Dabei wusste er nicht einmal, wie er ihr das erklären sollte, ohne dass sie Angst bekam.

Er zog den Koffer vom Rücksitz, der viel zu klein war für jemanden, der eine Reise machte, allerdings groß genug für eine Frau, die mit den Kleidern, die sie am Leibe trug, flüchtete.

Als er wieder nach oben ins Zimmer kam, saß sie steif auf dem Bettrand, hinter sich ihren Sohn. Er stellte den Koffer ab, legte den Schlüssel auf die Kommode neben der Tür und blieb dann unschlüssig im Türrahmen stehen. Sie stand auf und sah ihn an. „Sehen Sie, äh, ich habe Ihren Wagen umgesetzt. Er steht jetzt hinter dem Haus, gleich neben meinem Truck. Weg von der Straße. Jetzt kann man ihn von der Straße aus nicht mehr sehen. Also, wenn Sie aufstehen oder hinaussehen, wundern Sie sich nicht. Er steht gleich dort hinten. Ich würde Ihnen ja empfehlen abzuwarten. Warten Sie, bis es aufgehört hat zu regnen, und dann fahren Sie im Trockenen bei Tageslicht weiter. Aber für den Fall, dass Sie doch nervös werden, wissen Sie, die Bar kann nur von innen abgeschlossen werden, und hier sind Ihre Schlüssel. Es wäre kein großes Problem, wenn Sie … also, wenn Sie sich nicht entspannen können und weg müssen, wäre es kein Problem, wenn die Tür der Bar eine Zeit lang offen bleibt. Das hier ist wirklich ein ruhiger, sicherer Ort und wir vergessen eh manchmal abzuschließen. Heute Abend werde ich sie aber ganz bestimmt abschließen, wo Sie und das Kind hier sind. Hm … Paige … Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen oder so. Ich bin ein ganz zuverlässiger Mensch. Sonst würde Jack mich auch nicht mit der Bar allein lassen. Okay? Ruhen Sie sich einfach etwas aus.“

„Danke“, flüsterte sie so leise, dass kaum ein Ton zu hören war.

Er zog die Tür hinter sich zu und hörte noch, wie sie den Riegel vorschob, um sich zu schützen. Zum ersten Mal, seit er in diesen kleinen Ort gekommen war, fragte er sich, warum man diesen Riegel überhaupt angebracht hatte.

Einen Moment lang blieb er dort stehen. Er hatte keine fünf Sekunden gebraucht, um zu erkennen, dass jemand – mit neunundneunzig prozentiger Sicherheit ein Freund oder Ehemann – sie ins Gesicht geschlagen hatte, und dass sie sich mit dem Kind auf der Flucht vor ihm befand. Es war ja nicht so, als wüsste er nicht, dass solche Dinge vorkommen. So etwas passierte ständig. Was er jedoch einfach nicht verstehen konnte, war, welche Befriedigung ein Mann daraus zog, eine Frau zu schlagen. Für ihn ergab das überhaupt keinen Sinn. Wenn man eine hübsche junge Frau wie sie hatte, behandelte man sie doch anständig. Man sorgte dafür, dass sie bei einem blieb, und beschützte sie.

Er ging in die Bar und löschte das Licht, warf einen Blick in die Küche und ließ dort eine Lampe an, für den Fall, dass sie herunterkam. Dann ging er in sein Apartment hinter der Küche. Nach ein paar Minuten fiel ihm noch ein, dass es oben keine sauberen Handtücher mehr gab, denn er hatte das Badezimmer dort leergeräumt und all seine Sachen nach unten gebracht. Also ging er ins Bad, nahm sich einen Stapel sauberer weißer Handtücher und begab sich wieder nach oben.

Die Tür stand einen Spaltbreit offen, als wäre sie bereits in der Küche gewesen. Auf der Kommode neben der Tür sah er ein Glas Orangensaft stehen, und es gefiel ihm, dass sie sich selbst bedient hatte. Durch diese Öffnung von zwei bis drei Zentimetern sah er dann aber auch ihr Spiegelbild über der Kommode. Sie hatte sich mit dem Rücken zum Spiegel gedreht, das dicke Sweatshirt über Kopf und Schultern hochgezogen und versuchte, einen Blick auf ihren Rücken und die Oberarme zu werfen. Sie war übersät mit Prellungen. Er sah zahllose große Blutergüsse auf ihrem Rücken, dann einen auf Schultern und Oberarmen.

Preacher war wie hypnotisiert. Einen Moment lang klebte sein Blick an diesen blauen Flecken, und mit angehaltenem Atem flüsterte er: „Ach Herrgott!“

Schnell trat er dann aber von dem Türspalt weg und brachte sich außer Sichtweite. Er brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu fassen. Er war erschüttert, entsetzt und hatte nur einen Gedanken: Welches Tier ist zu so etwas fähig? Mit offenem Mund stand er dort und konnte es sich nicht vorstellen. Er selbst war ein Krieger, ein trainierter Kämpfer, und dabei ziemlich sicher, niemals einen Mann seiner eigenen Größe in einem fairen Kampf so stark verletzt zu haben.

Instinktiv war ihm klar, dass er nicht zeigen durfte, dass er das gesehen hatte. Sie hatte schon jetzt vor allem Angst, ihn selbst mit eingeschlossen. Aber trotzdem war es eine Tatsache, dass sie keine Frau war, die sich mal eine Ohrfeige eingefangen hatte. Sie war verprügelt worden. Und obwohl er das Mädchen nicht einmal kannte, hatte er nur noch einen Wunsch, nämlich den Hurensohn zu killen, der ihr das angetan hatte. Erst fünf oder sechs Monate Prügel und dann Tod diesem armseligen Scheißer!

Sie durfte nicht wissen, was er empfand; es würde sie zu Tode erschrecken. Also atmete er ein paarmal tief durch und beruhigte sich wieder. Dann klopfte er leise an die Tür.

„Hm?“, hörte er sie. Es klang aufgeschreckt.

„Nur ein paar Handtücher.“

„Einen Moment, okay?“

„Lassen Sie sich Zeit.“

Gleich darauf öffnete sie die Tür ein wenig weiter. Ihr Sweatshirt war wieder an seinem Platz.

„Ich hatte vergessen, dass ich alle Sachen aus dem Badezimmer rausgenommen hatte“, erklärte er. „Sie werden ein paar Handtücher brauchen. Jetzt lasse ich Sie in Ruhe. Ich werde Sie nicht wieder stören.“

„Vielen Dank, John.“

„Kein Problem, Paige. Schlafen Sie gut.“

Vorsichtig und so leise wie möglich schob Paige die Kommode vor die Tür. Sie hoffte wirklich sehr, dass John es nicht hören würde, aber soweit sie wusste, befand sich direkt unter diesem Zimmer die Küche. Und dann – wenn dieser Mann ihr oder Christopher etwas antun wollte, hätte er das schon längst tun können, einmal ganz abgesehen davon, dass eine verschlossene Tür und eine leere Schlafzimmerkommode ihn sicherlich nicht daran hindern würden einzudringen.

Sosehr sie sich jetzt gerne ein heißes Bad gegönnt hätte, sie fühlte sich viel zu schutzlos, um sich nackt auszuziehen. Nicht einmal zu einer Dusche konnte sie sich durchringen, denn vielleicht würde sie dann ja nicht hören, falls der Türknopf sich bewegte oder Christopher sie rief. Also wusch sie sich am Becken und zog sich saubere Sachen an. Anschließend ließ sie das Licht im Bad brennen und legte sich vorsichtig aufs Bett. Oben auf die Bettdecke, denn sie wusste, dass sie nicht schlafen könnte. Nach kurzer Zeit wurde sie dann aber doch etwas ruhiger. Sie starrte zur Decke hinauf, wo die Holzbalken ein perfektes V bildeten, und erinnerte sich daran, dass es jetzt das dritte Mal in ihrem Leben war, dass sie vom Bett aus zu einer solchen Decke aufschaute.

Zum ersten Mal war es das Haus gewesen, in dem sie aufgewachsen war. Damals waren es unbehandelte Holzlatten gewesen, zwischen denen rosafarbenes Isoliermaterial hervorquoll. Es war ein kleines Haus mit nur zwei Schlafzimmern, und es war bereits alt gewesen, als ihre Eltern dort eingezogen waren. Aber vor zwanzig Jahren war das Wohnviertel dort noch sauber und ruhig gewesen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte ihre Mutter sie auf dem Speicher untergebracht, wo sie den Platz mit Kisten voller eingelagertem Hausrat teilte, die man gegen eine Wand geschoben hatte. Aber es war ihr Raum, und dorthin zog sie sich zurück, wann immer sie konnte. Von ihrem Bett aus konnte sie hören, wie sich ihre Mutter und ihr Vater stritten, und nachdem ihr Vater gestorben war, hörte sie, wie sich ihr älterer Bruder Bud mit der Mutter stritt.

Nach allem, was sie in den letzten Jahren über häusliche Übergriffe gelernt hatte, war eigentlich zu erwarten gewesen, dass sie bei einem Schläger landen würde, auch wenn ihr Vater sie oder ihre Mutter niemals geschlagen hatte und das Schlimmste, das sie von ihrem Bruder je erhalten hatte, ein Stoß oder ein Schlag in den Arm gewesen war. Aber Mann, was konnten die Männer in ihrer Familie brüllen! So laut, so wütend, dass sie sich nur wunderte, wieso die Fenster nicht zersprungen waren. Die schlimmsten Ausdrücke kamen zum Einsatz, um zu fordern, herabzusetzen, zu beleidigen, beschuldigen, grollen und zu strafen. Es war eigentlich nur ein gradueller Unterschied: Misshandlung ist Misshandlung.

Das nächste Mal sah sie dann wieder zu einer solchen Decke hoch, als sie von zu Hause ausgezogen war. Nach der Highschool hatte sie eine Kosmetikschule besucht, während sie noch bei ihrer Mutter wohnte, der sie Miete zahlte, bis sie einundzwanzig war. Zusammen mit zwei Freundinnen, Kosmetikerinnen wie sie, mieteten sie dann die Hälfte eines alten Hauses. Paige war glücklich, wieder den Speicher als Schlafzimmer nehmen zu können, auch wenn er nicht einmal so groß war wie ihr Kinderzimmer und sie sich größtenteils bücken musste, um nicht mit dem Kopf an die schrägen Wände zu stoßen.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, denn die zwei Jahre mit Pat und Jeannie waren in ihrer Erinnerung die glücklichsten ihres Lebens gewesen. Manchmal vermisste sie die beiden so sehr, dass es schon wehtat. Drei Friseurinnen, die nach Miete, Lebensmitteln und Kleidung meist pleite waren, und ihr war es vorgekommen wie im Paradies. Wenn sie es sich nicht leisten konnten auszugehen, kauften sie sich eben Popcorn und billigen Wein und feierten damit eine Party zu Hause, wo sie über die Frauen herzogen, deren Haare sie geschnitten und gesträhnt hatten, über ihre Freunde und Sex, und dabei lachten sie, bis sie nicht mehr gerade sitzen konnten.

Dann trat Wes in ihr Leben. Ein erfolgreicher Geschäftsmann, sechs Jahre älter als sie. Die Vorstellung, dass er damals erst so alt war wie sie heute, nämlich neunundzwanzig, war schockierend, denn er war ihr so erwachsen und weltmännisch vorgekommen. Sie hatte ihm erst zwei Monate lang die Haare gestylt, bevor er sie einlud und in ein vornehmes Restaurant ausführte, in dem die Bedienung besser gekleidet war als sie selbst. Er fuhr einen nagelneuen Grand Prix mit weichen Ledersitzen und dunkel getönten Scheiben. Und er fuhr zu schnell, was sie mit dreiundzwanzig nicht gefährlich fand. Es war aufregend. Und selbst wenn er andere Fahrer anbrüllte und ihnen den Stinkefinger zeigte, kam es ihr vor, als sei es sein gutes Recht. Sie fand ihn beeindruckend, und nach ihren Maßstäben war er reich.

Er besaß bereits ein Haus, und das musste er nicht einmal mit Hausgenossen teilen. Mit dem Handel von Aktien und Rohstoffen hatte er Karriere gemacht, ein anstrengender Job, der Scharfsinn und ein hohes Maß an Energie erforderte. Jeden Abend wollte er mit ihr ausgehen, kaufte ihr Sachen oder zog seine Brieftasche hervor und sagte: „Ich weiß ja nicht, was du dir wirklich wünschst, welche Kleinigkeit dich zu Tränen rühren könnte, weil sie einfach so perfekt ist. Deshalb möchte ich, dass du dir selbst etwas kaufst, denn ich will auf der Welt nichts weiter, als dass du glücklich bist.“ Er zog zwei Scheine heraus und gab ihr zweihundert Dollar, ein wahres Vermögen für sie.

Pat und Jeannie mochten ihn nicht, was allerdings kaum ein Wunder war, denn ihnen gegenüber war er weniger nett. Er behandelte sie wie Tapeten, wie Möbel. Wenn möglich, beantwortete er ihre Fragen mit einem Wort. Tatsächlich konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern, was sie über ihn gesagt hatten, als sie versuchten, sie vor ihm zu warnen.

Dann begann der Wahnsinn ihres Lebens und geriet so außer Kontrolle, wie es bis zu diesem Tag unmöglich erschienen war: Obwohl er sie schon vor ihrer Ehe geschlagen hatte, heiratete sie ihn trotzdem. Sie saßen in seinem schicken Auto. Er hatte geparkt und sie stritten darüber, wo sie wohnen sollte. Seiner Ansicht nach war sie besser bei ihrer Mutter aufgehoben als in dieser alten Haushälfte in einer fragwürdigen Nachbarschaft, zusammen mit zwei Lesben. Es wurde ganz schön gemein, und auch sie hatte ihm ihren Teil an hässlichen Dingen an den Kopf geworfen. Er sagte etwas wie: „Ich möchte dich bei deiner Mutter sehen, nicht in einem kleinen Puff im Getto.“

Für wen hältst du dich eigentlich, verdammt noch mal, dass du glaubst, das Haus, in dem ich lebe, einen Puff nennen zu können?

Wie kannst du so mit mir reden?

Du nennst meine besten Freundinnen Lesben und Huren, und dann kritisierst du die Art, wie ich rede?

Ich denke doch nur an deine Sicherheit. Du hast gesagt, dass du mich eines Tages heiraten willst, und ich hätte gern, dass du noch da bist, wenn es so weit ist.

Du kannst mich mal, denn ich wohne gerne dort, und du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun soll! Und ich werde niemanden heiraten, der es fertigbringt, so von meinen besten Freundinnen zu reden!

In dem Stil ging es weiter. Immer weiter. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie ihm Schimpfworte an den Kopf warf, so etwas wie „Scheißkerl“ oder „Arschloch“. Er nannte sie „Schlampe“, eine „komplizierte Schlampe“. In jedem Fall hatten sie beide dazu beigetragen, da war sie sicher.

Dann schlug er sie, mit offener Hand. Gleich darauf bekam er einen Nervenzusammenbruch, fiel in sich zusammen, heulte wie ein Baby und sagte, dass er nicht verstand, was mit ihm geschehen war, aber vielleicht läge es ja daran, dass er noch nie zuvor jemanden so geliebt hätte. Es wäre ein Fehler, er wisse, dass es ein Fehler war, auf diese Weise überzureagieren. Er sei verrückt, er schäme sich. Aber … er wolle sie jede Nacht in den Armen halten, ihr ganzes Leben lang für sie sorgen, sie niemals verlieren. Er entschuldigte sich für das, was er über ihre Mitbewohnerinnen gesagt hatte. Vielleicht sei er ja auch nur eifersüchtig, weil sie sich ihnen gegenüber so loyal zeigte. Ein Leben ohne sie könnte er sich gar nicht mehr vorstellen; noch nie hätte er jemanden so geschätzt wie sie. Er liebe sie so sehr, es mache ihn verrückt, sagte er. Sie sei die erste Person, für die er so empfand. Ohne sie wäre er nichts!

Sie glaubte ihm. Aber hinterher benutzte sie in seiner Gegenwart nie wieder vulgäre Ausdrücke.

Pat und Jeannie hatte sie nichts davon erzählt, denn auch wenn sie keine Ahnung hatte, was da eigentlich geschah, wusste sie immerhin doch so viel, dass sie weiteres Missfallen von ihrer Seite nicht riskieren wollte. Es dauerte ja auch nur ein paar Tage, bis sie über die Ohrfeige hinweg war. Er hatte nicht besonders hart zugeschlagen. Höchstens einen Monat brauchte sie, um fast zu vergessen, dass es überhaupt geschehen war, und konnte ihm wieder vertrauen. Sie fand ihn attraktiv, aufregend, sexy. Er war cool, selbstsicher und klug. Passive Männer konnten nicht so erfolgreich sein wie er. Zu passiven Männern fühlte sie sich nicht hingezogen.

Dann sagte er: „Paige, ich will nicht länger warten. Ich möchte, dass wir heiraten, sobald du so weit bist. Eine schöne Hochzeit, egal, was es kostet. Was immer du willst, ich kann es mir leisten. Bitte doch Pat und Jeannie, unsere Trauzeugen zu sein. Und deinen Job kannst du kündigen. Du wirst nicht mehr arbeiten müssen.“

Die Beine taten ihr weh; sie hatte schon entzündete Fußballen gehabt. Sechs Tage in der Woche Haare zu frisieren war kein leichter Job, auch wenn sie es gerne tat. Schon oft hatte sie gedacht, wie viel lieber sie es täte, wenn es nur sechs Stunden am Tag wären, an vier Tagen in der Woche, aber das erschien ihr wie ein unerfüllbarer Traum. Bereits jetzt schaffte sie es kaum, über die Runden zu kommen, und ihre Mutter hatte einen zweiten Job angenommen, nachdem ihr Vater gestorben war. In ihrer Mutter erkannte sie ihre eigene Zukunft – allein, schwach und von der Arbeit zu Tode erschöpft. Sie stellte sich vor, wie ihre mürrischen Mitbewohnerinnen auf ihrer Hochzeit hübschen Satin tragen würden, lächelten und sie dabei um ihr glückliches Schicksal und das bequeme Leben, das vor ihr lag, beneideten. Und schon hatte sie Ja gesagt.

In den Flitterwochen schlug er sie erneut.

Während der folgenden sechs Jahre hatte sie alles versucht. Beratung, Polizei, Flucht. Immer wurde er gleich wieder entlassen, wenn sie sich überhaupt einmal die Mühe machten, ihn festzunehmen. Und wenn sie sich versteckte, fand er sie, und dann wurde alles nur noch schlimmer. Selbst die Schwangerschaft und Christophers Geburt hatten den Misshandlungen kein Ende gesetzt. Zufällig entdeckte sie dann, dass noch ein anderer Faktor an der Situation beteiligt sein könnte. Eine gewisse Chemie, die ihm die Energie verlieh, so lange arbeiten zu können und sich so dabei zu verausgaben, sie zu kontrollieren. Diese Anfälle von Euphorie, seine unberechenbaren Stimmungen – ein weißes Pulver in einem kleinen Fläschchen. Kokain? Und dann nahm er auch noch etwas, das ihm von seinem persönlichen Trainer verabreicht wurde, obwohl er schwor, dass es keine Steroide wären. Viele Börsianer nahmen Amphetamine, um den Anforderungen ihres Jobs standhalten zu können. Kokainkonsumenten waren gewöhnlich gertenschlank, aber Wes war stolz auf seinen Körper, seine Statur, und er arbeitete hart daran, seine Muskeln aufzubauen. Sie erkannte, dass eine Diät aus Koks und Steroiden ihn überaus reizbar machen konnte. Und auch wenn sie nicht wusste, wie sehr und wie lange schon, eins wusste sie: Er war verrückt.

Dies war ihre letzte Chance. Über ein Asyl hatte sie eine Frau kennengelernt, die sagte, sie könne ihr dabei helfen zu entkommen, ihre Identität zu wechseln und zu fliehen. Es gab eine Untergrundorganisation, die misshandelten Frauen und Kindern in ausweglosen Situationen half. Wenn sie und Christopher es nur schafften, bis zur ersten Kontaktadresse zu gelangen, würde man sie von Ort zu Ort weiterleiten, wobei sie auf diesem Weg mit neuen Personalpapieren, Namen, Geschichten und einem neuen Leben ausgestattet würden. Das Gute daran war, oft funktionierte es. Wenn die Frauen den Anweisungen folgten und die Kinder jung genug waren, war es beinahe wasserdicht. Das Schlechte daran war, es war illegal, und es war für immer. Ein Leben wie dieses, überdeckt mit blauen Flecken und in ständiger Angst, eines Tages umgebracht zu werden? – Oder das Leben einer anderen Person, einer Frau, die nicht verprügelt wird?

Sie begann Geld von ihrem Haushaltsgeld abzuzweigen und packte eine Tasche, die sie bei einer Kontaktperson von einem Asyl versteckte. Es gelang ihr, fast fünfhundert Dollar zu sparen, und sie war fest entschlossen, sich selbst und Christopher in Sicherheit zu bringen, bevor es zu einem weiteren schlimmen Übergriff kam. Nach der letzten Episode wusste sie, dass es beinahe zu spät war.

Und hier lag sie also nun und sah zu ihrer dritten V-förmigen Decke auf. Sie wusste, dass sie nicht schlafen würde. In sechs Jahren hatte sie kaum geschlafen. Über die Autofahrt machte sie sich keine Sorgen, denn mit so viel Adrenalin im Blut würde sie es schon schaffen.

Dann aber wurde sie vom Sonnenlicht geweckt, und von einem regelmäßigen Schlagen. Jemand war dabei, Holz zu hacken. Vorsichtig setzte sie sich auf und roch Kaffee. Sie hatte also doch geschlafen, und ebenso Christopher.

Die Kommode stand noch immer vor der Tür.

2. KAPITEL

Preacher hatte kaum ein Auge zugetan, denn die halbe Nacht hatte er am Computer verbracht. Diese kleine Maschine schien wie für ihn geschaffen, denn er informierte sich immer gerne über alles Mögliche. Er hatte auch schon versucht, Jack dazu zu bringen, die Inventarliste und die Rezepte in den Computer einzugeben, aber Jack besaß ein Klemmbrett, und das war wie die Verlängerung seines Arms. Mit Preachers Technik wollte er nichts zu tun haben. Leider hatten sie keinen Kabelanschluss, deshalb dauerte es immer lange, aber Preacher war geduldig und letztendlich funktionierte es ja.

Den Rest der Nacht hatte er dann versucht einzuschlafen, was ihm aber völlig misslungen war. Mehrmals war er aus dem Bett gestiegen und hatte aus dem hinteren Fenster geschaut, um herauszufinden, ob der kleine Honda noch dort stand. Schließlich war er dann um fünf Uhr endgültig aufgestanden, als es draußen noch stockfinster gewesen war. Er ging in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Gang und machte ein neues Feuer. Von oben war nichts zu hören.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber es war bedeckt und kühl. Am liebsten wäre er nach draußen gegangen, um Holz zu hacken und seine Aggressionen abzubauen, aber er wusste ja, dass Jack das gerne tat, also ließ er es sein. Um halb sieben kam Jack in die Bar und strahlte. Seit seiner Hochzeit war er der glücklichste Mann in Virgin River, und wie es aussah, konnte er gar nicht mehr damit aufhören zu grinsen.

Preacher stand mit einem Becher Kaffee hinter der Bar und begrüßte seinen besten Freund mit einer knappen Kinnbewegung. „Hey“, sagte Jack. „Das hat ja ganz nett geregnet.“

„Jack, hör zu. Ich habe da etwas getan …“

Jack zog sich seine Jacke aus und hängte sie über den Haken an der Tür. „Etwa schon wieder in die Suppe gepisst, Preacher?“

„Ich habe da oben eine Frau …“

In Jacks Gesicht stand der pure Schock. Preacher hatte doch mit Frauen einfach gar nichts zu tun. Er lief ihnen nicht nach, er flirtete nicht. Nichts dergleichen. Natürlich hatte Jack keine Ahnung, wie Preacher so leben konnte, aber so war Preacher nun mal. Wenn die Jungs, das heißt, die Marines, mit denen sie zusammen gedient hatten, sich alle aufmachten, um eine Frau für die Nacht zu finden, hatte Preacher sich immer zurückgehalten. Zum Scherz hatten sie ihn schon Großer Eunuch genannt. „Ach ja?“, fragte er.

Preacher zog einen Becher hervor und füllte ihn für Jack. „Sie ist gestern Abend hier aufgetaucht, während des Gewitters. Sie hat ein Kind dabei – so klein.“ Mit seinen riesigen Händen zeigte er, wie groß es war. „Der Kleine könnte sich was gefangen haben. Sie sagt, er hat Fieber. Ich habe sie in meinem alten Zimmer untergebracht, weil es hier in der Gegend ja keine Unterkunft gibt …“

„Also“, sagte Jack und nahm sich seinen Kaffee. „Das war nett von dir, denk ich mal. Hat sie jetzt das Silber mitgehen lassen oder so?“

Preacher verzog das Gesicht. Silber besaßen sie überhaupt nicht; das Einzige, das sich zu stehlen gelohnt hätte, war das Bargeld, aber das war gut verschlossen. Oder Alkohol. Aber für eine Frau mit Kind wäre das wohl ein viel zu großer Aufwand, und ihm selbst war nichts dergleichen überhaupt in den Sinn gekommen. „Wahrscheinlich steckt sie in Schwierigkeiten“, begann er. „Sie hat … Wie es aussieht, hatte sie wohl irgendwelchen Ärger. Gut möglich, dass sie auf Flucht ist oder so.“

Und wieder war Jack völlig perplex. „Häh?“

Preacher sah Jack fest in die Augen. „Ich glaube, sie könnte etwas Hilfe gebrauchen“, sagte er, obwohl er doch in Wirklichkeit wusste, dass sie Hilfe brauchte. „Sie hat eine Prellung im Gesicht.“

„Oh Junge“, stöhnte Jack.

„Kommt Mel heute in die Praxis?“

„Selbstverständlich.“

„Sie muss sich das Kind einmal ansehen. Sicherstellen, dass es nicht krank ist. Und die Frau – Paige – also, sie sagt, dass sie nichts hat, aber vielleicht … Vielleicht kann Mel ja … ich weiß nicht … sich davon überzeugen.“

„Klar“, sagte Jack und nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Und was dann?“

Preacher zuckte die Schultern. „Ich denke, sie wird von hier wegwollen. Sie ist sehr scheu. Scheint Angst zu haben. Ich will, dass Mel sie wenigstens sieht.“

„Wahrscheinlich eine gute Idee.“

„Ja, das werden wir machen. Wir werden sie bitten, Mel einmal nachsehen zu lassen. Aber ich kann sie nicht dazu überreden, weißt du. Ich glaube, du solltest das tun. Sprich mit ihr, schlag es ihr vor …“

„Nee, Preach, damit wirst du schon fertig. Es ist deine Angelegenheit. Ich habe sie doch noch nicht einmal gesehen oder was. Du sprichst einfach mit ihr. Ruhig und sanft. Versuche, ihr keine Angst einzujagen.“

„Sie hat aber jetzt schon Angst, deshalb denke ich auch, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Und das Kind hat mich noch gar nicht gesehen. Es hat geschlafen. Wahrscheinlich wird es schreiend davonlaufen.“

Um halb acht stellte Preacher zwei Schalen Cornflakes, Toast, Kaffee, Orangensaft und Milch auf ein Tablett, stieg die Treppe hoch und klopfte leise an die Tür. Sie ging sofort auf. Paige hatte bereits geduscht und war angezogen. Sie trug dieselben Jeans und ein langärmliges Chambrayshirt. Unter dem geöffneten Kragen schaute ein kleiner schwarz-blauer Fleck hervor und Preacher merkte, wie der Zorn gleich wieder in ihm hochkam, aber er gab sich Mühe, ihn aus seinem Gesicht zu bannen. Stattdessen konzentrierte er sich auf ihre Augen, die ein tiefes Smaragdgrün aufwiesen, und ihr feuchtes Haar, das ihr in welligen Strähnen auf die Schultern fiel. „Guten Morgen“, sagte er und versuchte, seine Stimme ruhig und leise klingen zu lassen, so wie Jack es tun würde.

„Hey“, antwortete sie. „Sie sind aber früh auf.“

„Ich bin schon ewig auf den Beinen.“

„Mom?“, erklang eine Stimme hinter ihr, und an ihr vorbei sah er den kleinen Jungen Christopher mit gekreuzten Beinen mitten auf dem Bett sitzen.

Sie hielt Preacher die Tür auf, er trat ein und stellte das Tablett auf die Kommode neben der Tür. Dort blieb er dann stehen und nickte dem Kind zu. Dabei versuchte er, seine Gesichtszüge weich erscheinen zu lassen, aber er wusste nicht so recht, wie er das anstellen sollte. „Hey, kleiner Kumpel. Möchtest du was frühstücken?“

Das Kind zuckte die Schultern, bekam aber ganz runde Augen, die sich an Preacher hefteten.

„Mit Männern kommt er nicht so gut klar“, flüsterte Paige leise. „Er ist schüchtern.“

„Ach ja?“, fragte Preacher. „Bin ich auch. Keine Sorge. Ich werde mich zurückhalten.“

Er sah das Kind an und versuchte es mit einem Lächeln. Dann zeigte der Kleine mit dem Finger auf Preachers Kopf und sagte: „Mussu rasieren.“

Preacher musste lachen. „Richtig. Willst du mal fühlen?“ Langsam trat er auf das Bett zu und beugte sich dann vorsichtig nach unten, um dem Kind seine Glatze hinzuhalten. Er merkte, wie eine kleine Hand ihm über den Schädel rieb, und das brachte ihn wieder zum Lachen. Dann hob er den Kopf und sagte: „Cool, was?“ Und das Kind nickte.

Preacher ging wieder zu Paige. „Melinda, die Frau meines Kumpels, sie wird heute Morgen in Docs Praxis kommen, und ich möchte Sie gern dort rüberbringen. Sie soll sich den Kleinen mal ansehen und sicherstellen, dass ihm nichts fehlt. Und wenn er ein Medikament braucht oder was, wird sie es Ihnen geben können.“

„Sie hatten gesagt, sie ist Krankenschwester?“

„Ja, aber eine spezielle Krankenschwester. Eine Hebamme. Sie bringt Kinder zur Welt und so.“

„Oh“, sagte Paige und zeigte sich jetzt etwas mehr interessiert. „Das ist vermutlich eine gute Idee. Aber ich habe nicht viel Geld …“

Er lachte. „Um so etwas machen wir uns hier nicht viele Gedanken, wenn jemand eine kleine Hilfe braucht. Das geht schon in Ordnung.“

„Wenn Sie sicher sind …“

„Alles bestens. Kommen Sie runter, wenn Sie fertig sind. Mel wird gegen acht drüben sein, aber lassen Sie sich nur Zeit. Hier in der Gegend werden nicht allzu viele Leute krank, und normalerweise ist dort nicht viel los.“

„Okay, und dann fahren wir weiter …“

„Hm, wenn nötig, können Sie auch ein paar Tage hierbleiben. Ich meine, es geht ihm nicht so gut. Oder auch, falls Sie vom Fahren müde sind.“

„Ich sollte mich wohl lieber gleich wieder auf den Weg machen.“

„Wo geht es denn hin?“, fragte er. „Das hatten Sie noch gar nicht erwähnt.“

„Nur noch ein Stückchen weiter. Ich habe eine Freundin … Wir wollen eine Freundin besuchen.“

„Ah“, sagte er, dachte aber, dass sie ja wohl durchgefahren wäre, wenn es nur ein kleines Stück weiter wäre. „Also denken Sie darüber nach. Das Angebot steht.“

Während Christopher mit gekreuzten Beinen auf dem Bett saß und seine Cornflakes aß, hielt Paige ihr Gesicht vor den Spiegel und tupfte Make-up auf die blau verfärbte Wange, um sie so gut wie möglich abzudecken. Zumindest war es inzwischen etwas heller geworden. Gegen den Sprung in der Lippe, auf dem sich jetzt eine Kruste bildete, konnte sie allerdings nichts machen. Manchmal berührte Christopher die Wunde und sagte: „Mommy Aua.“

Ihre Gedanken wanderten zurück zu diesem letzten Übergriff. Was sie immer noch fertigmachte, war, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie es eigentlich dazu gekommen war. Irgendwie ging es um Christophers Spielzeug, das im ganzen Wohnzimmer verstreut herumlag, und dann war auch sein Anzug noch nicht aus der Reinigung zurück. Wes hatte nicht gefallen, was sie zum Abendessen gekocht hatte. Oder hatte es daran gelegen, was sie zu diesen Spielsachen gesagt hatte? – „Mein Gott, Wes, er hat Spielzeug und er spielt damit. Ich brauche nur eine Minute …“ – Hatte er sie in diesem Moment geschlagen? Nein, aber gleich darauf, als sie mit angehaltenem Atem noch murmelte: „Reg dich nicht auf, werd’ nicht böse, lass es mich einfach wegräumen …“

Wie konnte es sein, dass sie nicht gewusst hatte, dass er so reagieren würde? Weil sie nie wusste, wie er reagieren würde. Es waren Monate gewesen, in denen es keine Gewalt zwischen ihnen gegeben hatte. Aber als er an diesem Tag vom Büro nach Hause kam, hatte sie es seinen Augen bereits angesehen. Dort hätte sie es erkennen können – Augen, die sagten, ich werde dich schlagen und schlagen und noch einmal schlagen, und keiner von uns wird genau wissen, warum. Und wie immer, wenn sie sich von diesem gefährlichen Glühen in Bann ziehen ließ, war es bereits zu spät.

Weil er sie getreten hatte, war es zu Schmierblutungen gekommen, sodass Gefahr bestand, das Baby zu verlieren. Das Baby, von dem sie ihm kurz vorher erzählt hatte. Also zwang sie sich aus dem Bett und ging zur Kindertagesstätte, um Christopher abzuholen. Debbie, das Mädchen an der Rezeption, schnappte nach Luft, als sie ihr Gesicht sah. Dann stotterte sie: „M…Mr. Lassiter hat uns gesagt, wir sollen ihn anrufen, falls Sie Christopher abholen wollten.“

„Sehen Sie mich doch an, Debbie. Vielleicht könnten Sie es ja einfach mal vergessen, ihn anzurufen. Bloß dieses eine Mal. Und vielleicht auch für eine ganze Weile.“

„Ich weiß nicht …“

Sie wird er ja nicht verprügeln“, sagte sie mutig.

„Mrs. Lassiter, vielleicht sollten Sie lieber die Polizei anrufen oder so etwas.“

Paige hatte nur hohl gelacht. Richtig. „Sie denken anscheinend, das hätte ich noch nicht getan.“

Wenigstens war es ihr gelungen, die Stadt zu verlassen. Mit ihrem einen Koffer, knapp fünfhundert Dollar und einer Adresse in Spokane.

Und dann war sie hier wieder einmal unter einem V-förmigen Dach aufgewacht. Immer noch in Todesangst, aber anscheinend zumindest für den Moment sicher.

Während Christopher aß, sah sie sich ein wenig um. Das Zimmer war nicht wirklich groß, hatte aber genügend Platz für Preachers Flachbank und seine Gewichte. Ein paar Hantelscheiben, die am Boden lagen, sah sie sich genauer an. Alle wogen siebenundzwanzig Kilo. Auf die Langhantel hatte er hundertachtzig Kilo gepackt, und Wes hatte schon unendlich mit seinen hundertdreizehn geprahlt.

An der Wand stand ein mittelgroßer Bücherschrank, vollgestopft mit Büchern. Weitere lagen oben auf oder waren daneben gestapelt. Die Hände hielt sie dabei hinter dem Rücken, die Macht der Gewohnheit, denn Wes mochte es nicht, wenn sie seine Sachen anfasste, mit Ausnahme seiner schmutzigen Wäsche. Seltsame Titel waren das: Die Biografie Napoleons, Militärflugzeuge im Zweiten Weltkrieg, Hitlers Besatzung der … ihr schauderte. Die meisten Bücher waren ziemlich alt und abgewetzt. Ein paar davon waren auch neu. Nicht einen Romantitel konnte sie entdecken. Es waren alles Sachbücher, und zwar zu militärischen oder politischen Themen. Vielleicht hatten sie ja einmal seinem Vater oder Onkel gehört, denn er sah eigentlich nicht gerade aus wie jemand, der viel las. Mit Sicherheit aber sah er aus wie jemand, der Gewichte hob.

Als Chris mit seinem Frühstück fertig war, zog sie erst ihm die Jacke an, dann sich selbst, nahm die Patchworktasche und hängte sie sich über die Schulter. Den Koffer ließ sie fertig gepackt auf dem Bett stehen und trug das Frühstückstablett die Treppe hinunter. John stand in der Küche. Er trug eine Schürze und war damit beschäftigt, Sausage Patties in einer Omelett-Pfanne zu wenden, die über einer hohen Flamme dampfte. „Stellen Sie es einfach auf die Arbeitsplatte und warten Sie einen Moment“, sagte er. „Ich werde Sie gleich rüberbringen.“

„Ich kann ja schon mal abwaschen“, meinte sie schüchtern.

„Nee, bin schon fertig.“ Paige sah zu, wie er die Patties mit seinem großen Pfannenwender platt drückte, Käse auf dem Omelett verteilte und es dann geschickt zusammenklappte und wendete. Aus dem Toaster sprangen zwei Scheiben Toast, die mit Butter bestrichen wurden. Dann kam das Ganze auf einen großen ovalen Teller. Er nahm die Schürze ab und hängte sie an einen Haken. Über seinen Jeans trug er ein schwarzes T-Shirt, das bei seinem gewaltigen Brustumfang so sehr spannte, dass es zu platzen schien. Die Bizepse dieses Mannes waren groß wie Melonen, und wenn er ein weißes T-Shirt tragen würde, sähe er aus wie Meister Propper.

Er nahm eine Jeansjacke vom Haken und schlüpfte hinein. Dann griff er nach dem Teller und sagte: „Kommen Sie mit.“ Er ging ihr in die Bar voraus und stellte den Teller einem Mann hin, der am Tresen saß. Dem goss er dann schnell noch einmal Kaffee nach und erklärte ihm: „Bin in ein paar Minuten zurück. Hier ist die Kanne. Jack ist hinten im Hof, falls du etwas brauchst.“

Paige warf einen Blick aus dem hinteren Fenster und sah einen Mann in Jeans und kariertem Flanellhemd, der eine Axt über den Kopf schwang und wieder fallen ließ, um ein Stück Holz zu spalten. Das war es also, was sie aufgeweckt hatte. Sie bemerkte, dass er muskulöse Schultern und einen breiten Rücken hatte, zwar nicht ganz so ausgeprägt wie bei John, aber doch immer noch sehr beeindruckend.

Wes war nicht einmal ansatzweise so schwer wie diese beiden Männer. Zwar war er etwas über eins achtzig groß und gut gebaut, was aber seine Muskeln anging, da war er im Vergleich zu ihnen gar nichts, und das trotz seiner chemischen Helfer. Würde John einer Frau gegenüber die Faust erheben, wie Wes es getan hatte, sie wäre hinterher nicht mehr in der Lage, es jemandem zu erzählen. Bei dem Gedanken musste sie sich unwillkürlich schütteln.

„Mommy, sieh mal!“, rief Chris und wies auf den präparierten Hirschkopf über der Tür.

„Ja, ich sehe ihn. Wow.“ Das Lokal sah wirklich aus wie eine Jagdstube.

John steckte den Kopf zur Hintertür raus und rief: „Jack! Ich geh kurz rüber zu Doc. Bin gleich wieder da.“

Dann drehte er sich um und nickte ihr zu. Als sie nach draußen gingen, hielt er hinter sich die Tür für sie auf. „Wie geht es ihm denn heute Morgen?“, fragte er.

„Er hat sein Frühstück aufgegessen. Das ist gut.“

„Ein gutes Zeichen“, bestätigte John. „Und das Fieber?“, flüsterte er.

„Ich habe kein Thermometer dabei, deshalb weiß ich es nicht genau. Er fühlt sich aber etwas warm an.“

„Dann ist es ja nur gut, wenn Mel einmal die Temperatur misst.“ Während er neben ihr herging, war er sorgsam darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen. Sie hielt ihren Sohn an der Hand, aber Preacher stopfte seine Hände in die Tasche. Als er dem Jungen einen Blick zuwarf, sah er, wie der ihn um seine Mutter herum anschielte. Vorsichtig beäugten sie sich gegenseitig. „Es wird schon alles in Ordnung gehen“, sagte er zu ihr. „Mel ist die Beste, Sie werden sehen.“

Paige sah zu ihm hoch und lächelte so süß, dass er innerlich zerfloss. Ihre Augen wirkten so traurig, so verängstigt. Sie konnte nicht anders, das verstand er. Und wenn da nicht diese Angst wäre, er würde tatsächlich nach ihrer Hand greifen, um ihr Mut zu machen. Aber sie hatte nicht nur Angst vor demjenigen, der ihr das angetan hatte, sie hatte Angst vor allem, ihn selbst mit eingeschlossen. Also sagte er nur: „Sie müssen nicht nervös sein. Mel ist sehr nett.“

„Ich bin nicht nervös.“

„Wenn ich Sie vorgestellt habe, gehe ich gleich wieder zurück in die Bar. Es sei denn, Sie wollen, dass ich bleibe? Falls Sie mich aus irgendeinem Grund brauchen?“

„Ich werde schon klarkommen. Danke.“

Melinda saß mit ihrem Frühstückskaffee auf den Stufen der Eingangstreppe zu Docs Praxis und hörte zu, wie Jack mit seiner Axt laut krachend Holz spaltete. Er hatte sie angerufen, nachdem er in der Bar angekommen war. „Schwing die Hufe, Schatz. Preacher hat eine Patientin für dich.“

„Ach, tatsächlich?“, hatte sie ihn gefragt.

„Gestern Abend, während des Gewitters, ist eine Frau in der Bar aufgetaucht, und er hat sie dort übernachten lassen. Er sagt, sie hätte ein Kind, das etwas fiebrig ist. Und er sagt auch, dass er glaubt, sie hätte Probleme …“

„Oh, was denn für Probleme?“

„Keine Ahnung. Ich habe sie noch nicht gesehen. Er hat sie oben in seinem ehemaligen Zimmer untergebracht.“

„Also gut, ich bin gleich da.“ Einer Eingebung folgend, hatte sie ihre Digitalkamera in die Tasche gepackt, und während sie nun die Vorderseite der Bar im Auge hielt, sah sie etwas, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Preacher hielt einer Frau mit Kind die Tür auf und begleitete sie über die Straße. Er schien in leisem Tonfall mit ihr zu sprechen, wobei er sich zu ihr hinunterbeugte und ein besorgtes Gesicht machte. Das war erstaunlich, denn Preacher war ein Mann, der wenig sprach. Mel glaubte sich erinnern zu können, dass sie damals bereits einen Monat im Ort gewesen war, bevor er einmal zehn Worte am Stück mit ihr geredet hatte. Eine Fremde einfach so aufzunehmen, entsprach zwar einerseits völlig seinem Charakter, war andererseits aber auch noch nie vorgekommen.

Als sie sich näherten, stand Mel auf. Die Frau schien irgendwo in ihren Zwanzigern zu sein und hatte einen dunklen Fleck auf der Wange, den sie mit Make-up zu überdecken versuchte. Den Riss in der Lippe allerdings hatte sie nicht verbergen können. Das also war das Problem, das Preacher erkannt hatte, und sie erschrak. Aber sie lächelte und sagte: „Hi. Mel Sheridan.“

Die Frau zögerte. „Paige“, sagte sie schließlich und sah sich dann nervös über die Schulter um.

„Es ist in Ordnung, Paige“, beruhigte sie Preacher. „Mit Mel können Sie sich sicher fühlen. Bei ihr ist immer alles topsecret. Darin ist sie schon richtig lächerlich.“

Mel lachte, als würde es sie amüsieren. „Nein, das ist überhaupt nicht lächerlich. Dies ist eine Arztpraxis hier, eine Klinik. Wir achten auf Vertraulichkeit, das ist alles. Ganz einfach Standard.“ Sie hielt Paige die Hand hin. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Paige.“

Paige griff nach ihrer Hand und sah über die Schulter zu Preacher. „Vielen Dank, John.“

„John?“, fragte Mel schmunzelnd. „Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass dich jemand John nennt.“ Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Klingt irgendwie nett. John.“ Dann sagte sie: „Kommen Sie mit, Paige.“ Und ging voraus.

Im Haus trafen sie auf Doc, der hinter dem Empfangstresen am Computer saß. Er sah nur kurz auf, nickte zur Begrüßung und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. „Das ist Doc Mullins“, erklärte Mel. „Hier entlang.“ Sie öffnete die Tür zu einem Untersuchungszimmer und ließ Paige vor ihr eintreten. Dann schloss sie die Tür und sagte: „Ich bin Krankenschwester und Hebamme, Paige. Ich kann mir Ihren Sohn ansehen, wenn Sie möchten. Also, mir wurde gesagt, Sie fürchten, er könnte Fieber haben.“

„Irgendwie fühlt er sich ziemlich warm an und besonders viel Energie hat er auch nicht …“

„Dann wollen wir doch einmal sehen“, sagte Mel munter und nahm die Sache in die Hand. Sie beugte sich zu dem kleinen Jungen hinunter und fragte ihn, ob er schon einmal beim Doktor gewesen war. Anschließend hob sie ihn auf den Untersuchungstisch, zeigte ihm das digitale Thermometer und fragte ihn, ob er wüsste, was man damit macht. Er wies auf sein Ohr, und Mel lachte erfreut. „Du bist ja ein richtiger Experte“, lobte sie ihn und nahm das Stethoskop in die Hand. „Was dagegen, wenn ich mal dein Herz abhöre?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will ja versuchen, dich nicht zu kitzeln, aber das fällt mir ganz schön schwer, denn Kitzeln macht irgendwie Spaß. Ich höre das Lachen so gern.“ Nach diesem Hinweis lachte er, aber nur ganz leise. Mel erlaubte ihm auch, erst selbst sein eigenes Herz zu hören und dann ihres. Während er damit fortfuhr, seine Brust, sein Bein und seine Hand abzuhorchen, tastete sie seine Lymphknoten ab. Sie untersuchte seine Ohren und seinen Hals, und als sie so weit gekommen war, hatte er schon angefangen, sich richtig wohl bei ihr zu fühlen.

„Wie es aussieht, könnte er einen kleinen Virus haben. Scheint aber nicht allzu ernst zu sein. Seine Temperatur ist nur leicht erhöht. Haben Sie ihm etwas verabreicht?“

„Tylenol für Kinder, gestern Abend.“

„Ah, dann ist sein Zustand ganz gut. Sein Hals ist etwas gerötet. Machen Sie mit Tylenol weiter und immer viel Flüssigkeit. Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen. Wenn es allerdings schlimmer wird, sollten Sie natürlich …“

„Dann kann also nichts passieren, wenn ich einfach weiterfahre?“

Mel zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, Paige. Wollen Sie nicht einmal von sich reden? Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, wenn ich kann.“

Sofort schlug Paige die Augen nieder, und mehr war nicht nötig. Mel wusste, worauf das hinauslief. Jahrelang hatte sie in der Krankenhausnotaufnahme einer Großstadt zugebracht und mehr als genug Opfer von häuslicher Gewalt zu Gesicht bekommen. Der blaue Fleck auf der Wange der jungen Frau, der Riss in der Lippe, ihr Wunsch, weiterfahren zu wollen … weg …

Paige hob die Augen. „Ich bin ein bisschen schwanger. Und ich habe Schmierblutungen.“

„Und einige Prellungen?“

Mit abgewandtem Blick nickte Paige.

„Okay. Möchten Sie, dass ich mir das einmal ansehe?“

Paige sah zu Boden. „Bitte“, sagte sie leise. „Aber was ist mit Chris?“

„Oh, kein Problem. Da habe ich eine Lösung.“ Mel beugte sich in der Taille vor und sah in Christophers hübsche braune Augen. „Mein Freund, hast du Lust, etwas auszumalen? Ich habe nämlich massenhaft Malbücher und Farbstifte.“ Schüchtern nickte er. „Gut. Dann komm mal mit.“ Sie half dem kleinen Kerl vom Untersuchungstisch herunter und zog mit der anderen Hand einen Umhang aus dem Schrank, den sie Paige reichte. „Warum ziehen Sie sich nicht schon einmal den Umhang über? Ich lasse Ihnen ein paar Minuten Zeit. Und versuchen Sie, keine Angst zu haben. Ich werde es langsam machen und ganz behutsam sein.“

„Hm … Wollen Sie ihn denn allein lassen?“, fragte Paige.

„Mehr oder weniger.“ Mel lachte. „Ich werde ihn bei Doc lassen.“

„In Gegenwart von … Männern ist er aber … scheinbar scheu.“

„Das geht schon klar. Doc kann mit Kindern gut umgehen, vor allem mit den scheuen. Er wird einfach nur aufpassen, dass dieses Kerlchen nicht anfängt zu operieren oder wegläuft. Im Übrigen wird er nur malen, am Küchentisch.“

„Wenn Sie sicher sind …“

„Wir machen das immer so, Paige. Alles ist in Ordnung. Versuchen Sie sich zu entspannen.“

Mel brachte Christopher in die Küche, und nachdem sie ihn mit Malbüchern und Farbstiften versorgt hatte, goss sie sich Kaffee nach. Koffeinfreien. Zurzeit genoss sie ihren Kaffee nicht mehr ganz so sehr wie früher. Dann ging sie ins Büro und zog ein neues Patientenformular heraus. In der Situation allerdings, mit der sie rechnete, würde sie die Patientin lieber erst einmal untersuchen, bevor sie sie mit Formalitäten verschreckte. Mit dem Klemmbrett in der Hand bat sie dann Doc, das Kind im Auge zu behalten, während sie die gynäkologische Untersuchung durchführte.

Da sie selbst seit ein paar Monaten schwanger war, wurde Mel schon bei dem Gedanken daran übel, dass jemand eine schwangere Frau verprügelte. Sie hörte nie auf, sich darüber zu wundern, wie ein Mann einfach so weiterleben konnte, nachdem er etwas Derartiges getan hatte. Mit dem Formular auf dem Klemmbrett, die kleine Digitalkamera in der Hemdtasche, das Stethoskop um den Hals, den Kaffee in der Hand klopfte sie an die Tür und hörte, wie Paige leise sagte: „Kommen Sie herein.“

Klemmbrett und Kaffeetasse stellte sie auf dem Tresen ab und sagte: „Gut, dann wollen wir zuerst einmal Ihren Blutdruck messen.“ Sie nahm die Manschette des Blutdruckmessgeräts in die Hand und wollte sie Paige um den Arm legen, als sie erstarrte. Ein riesiges Hämatom bedeckte den größten Teil des Oberarms.

Mel legte die Manschette aus der Hand und schob behutsam den Umhang auf dem Rücken ein wenig zur Seite. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht laut nach Luft zu schnappen. Dann zog sie Paige den Umhang von den Schultern über die Arme nach unten und legte so die Prellungen auf Rücken, Armen und Brust frei. Vorsichtig zog sie den Umhang unter dem Po hervor, womit sie auch noch ihre Hüften enthüllte. Noch mehr Prellungen. Sie sah dem Mädchen ins Gesicht. Auf ihren Wangen schimmerten Tränen. „Paige“, flüsterte Mel. „Mein Gott …“

Paige bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Es war die Scham, dass sie das geschehen lassen konnte.

„Sind Sie vergewaltigt worden?“, fragte Mel vorsichtig.

Mit fließenden Tränen schüttelte Paige den Kopf. „Nein.“

„Wer hat Ihnen das angetan?“, fragte Mel weiter, aber Paige schüttelte nur mit geschlossenen Augen den Kopf. „Es ist in Ordnung. Im Augenblick sind Sie in Sicherheit.“

„Mein Mann“, antwortete sie flüsternd.

„Und Sie flüchten vor ihm?“

Paige nickte.

„Hier, ich helfe Ihnen beim Hinlegen. Langsam. Vorsichtig … Ist es gut so für Sie?“ Paige nickte und legte sich zurück, ohne Augenkontakt aufzunehmen.

Behutsam verschob Mel den Umhang. Der Brustkorb, die Brüste, Arme und Beine – alles war mit Prellungen bedeckt. Vorsichtig tastete Mel ihr den Unterleib ab, wobei Paige immer wieder zusammenzuckte. „Tut es hier weh? Hier?“ Sowie Paige nickte oder den Kopf schüttelte, machte Mel weiter. „Hier? Hier?“ Sanft drehte Mel sie von einer Seite auf die andere. Ihr Gesäß war blau, ebenso Lenden und Hüften. „Haben Sie Blut im Urin?“, fragte sie, und Paige zuckte die Schultern. Sie wusste es nicht. „Paige, wenn Sie Blutungen haben, kann man nur mit einem Katheder eine saubere Urinprobe von Ihnen bekommen. Wollen Sie das? Einfach nur, um sicher zu sein?“

„Oh Gott … muss das sein?“

„Schon gut. Dann wollen wir erst einmal alle anderen Untersuchungen machen, die wir machen können. Hatten sie schon eine Ultraschalluntersuchung während dieser Schwangerschaft?“

„Bisher bin ich nicht einmal beim Arzt gewesen.“

Ein weiteres Symptom, dachte Mel. Geschlagene Frauen sorgten nicht für sich und nicht für ihre Schwangerschaften. Aus Angst.

Während Mel sie untersuchte, lutschte Paige an ihrer wunden Unterlippe und starrte mit glasigen Augen zur Decke. „Okay. Ich werde Ihnen jetzt helfen, sich wieder aufzusetzen. Immer mit der Ruhe.“ Mel horchte Paige das Herz ab, sah sich ihre Augen an und untersuchte ihren Kopf auf Beulen und Platzwunden. „Nun, es scheint nichts gebrochen zu sein, Paige. Zumindest habe ich so weit nichts entdeckt. Ich hätte gerne ein Röntgenbild von Ihren Rippen, nur zur Sicherheit, denn da sind Sie doch sehr schmerzempfindlich. Aber bei Ihrer Schwangerschaft und allem … Also ehrlich gesagt, wenn ich zu entscheiden hätte, ich würde Sie ins Krankenhaus überweisen.“

„Nein. Keine Krankenhäuser. Ich darf nirgendwo registriert werden …“

„Verstehe, aber sehen Sie, es sieht sehr beängstigend aus. Wie stark ist die Blutung?“

„Nicht allzu schlimm. Ich will mal sagen, weniger als eine Menstruation.“

„Also gut, dann legen Sie sich wieder zurück und rutschen ein wenig nach vorne. Ich werde so vorsichtig sein wie möglich.“

Als sie in der richtigen Position lag, streifte Mel sich Handschuhe über und zog ihren Stuhl heran. Sie berührte erst die Innenseite ihrer Schenkel, bevor sie die äußeren Genitalien anfasste. „Bei dieser gynäkologischen Untersuchung werde ich kein Spekulum verwenden, Paige. Ich will bloß einmal die Größe der Gebärmutter abschätzen. Wenn Ihnen etwas unangenehm ist, sagen Sie es mir bitte.“ Sie führte zwei Finger ein und drückte mit der anderen Hand vorsichtig auf ihren Unterbauch. „Wissen Sie, wie weit Sie sind?“

„Etwas mehr als acht Wochen.“

„Okay. Wenn wir hier fertig sind, werde ich Sie einen Schwangerschaftstest machen lassen. Wenn der Fötus vor einem Tag oder so noch viabel, also lebendig war, dann müsste er positiv ausfallen. Das wird uns allerdings wenig über die letzten vierundzwanzig Stunden sagen, fürchte ich. Hier habe ich kein Ultraschallgerät, aber ein paar Ortschaften weiter gibt es eins, das wir benutzen können, wenn nötig. Aber … immer eins nach dem anderen. Die Gebärmutter ist völlig normal für eine Schwangerschaft in der achten Woche.“ Mel schnaubte verächtlich. „Und das, nachdem Sie so viel durchgemacht haben, Paige.“ Sie streifte die Handschuhe ab und hielt ihr die Hand hin. „Können Sie sich setzen, bitte?“

Paige richtete sich auf, und Mel setzte sich wieder auf ihren Stuhl, von wo aus sie ihr von unten in die Augen sah. „Wie alt sind Sie?“

„Neunundzwanzig.“

„Ich weiß, wie schwierig es ist, in einer solchen Situation Hilfe zu finden, aber ich frage mich doch, ob Sie schon versucht haben, die Polizei zu rufen.“

„Das habe ich“, antwortete sie sehr leise. „Ich habe alles getan. Polizei, einstweilige Verfügungen, Frauenhäuser, Auszug, psychosoziale Therapie …“ Sie lachte. „Psychosoziale Therapie“, wiederholte sie. „In fünf Minuten hatte er es geschafft, dass die Therapeutin sich in ihn verknallt hat.“ Sie atmete tief durch. „Danach ist es dann nicht mehr allzu gut gelaufen.“

„Das kann ich sehr gut verstehen.“

„Irgendwann dieser Tage wird er mich umbringen. Und zwar ziemlich bald.“

„Hat er damit gedroht, Sie umzubringen?“

„Oh, ja.“ Sie senkte den Blick und wiederholte leise: „Oh, ja.“

„Wie haben Sie nach Virgin River gefunden?“, fragte Mel.

„Ich glaube … ich hatte mich verfahren. Ich hatte den Highway verlassen, weil ich eine Übernachtungsmöglichkeit suchte und etwas essen wollte. Und dann habe ich mich verfahren. Gerade wollte ich schon wieder umdrehen, als ich den Ort sah und dann die Bar.“

Mel holte Luft. Es war Zeit, sich an ein paar Fakten zu erinnern. Den Opfern von häuslicher Gewalt fiel es nicht nur schwer, die Vorwürfe nachzuweisen, wenn die Polizei nicht direkt zum Tatort gerufen wurde, in der Hälfte aller Fälle war es dann auch noch das Opfer, das aus Angst um sein Leben die Kaution für den Täter stellte. Und das war keinesfalls eine leere Drohung. Die Täter töteten ihre Opfer tatsächlich. Das kam immer wieder vor. „Paige, ich habe in der Notaufnahme in Los Angeles gearbeitet, bevor ich hierhergekommen bin, und leider habe ich einige Erfahrung mit Problemen wie Ihren. Wir müssen Ihnen irgendwie helfen.“

„Ich wollte fliehen“, erklärte Paige schluchzend, verzweifelt darum bemüht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Dann habe ich mich verfahren, Chris fühlte sich nicht gut und mir tat alles so weh, dass ich kaum noch eine Minute länger hätte fahren können …“

„Wohin wollten Sie denn?“, fragte Mel.

Paige ließ den Kopf hängen, schüttelte ihn dann und sagte: „Zu einer Freundin, von der er nichts weiß.“

„Bleiben Sie doch ein paar Tage hier. Dann können wir Ihren Gesundheitszustand abklären, bevor Sie …“

Nun aber schoss ihr Blick in Mels Augen. „Ich kann nicht! Ich muss mich jetzt sehr beeilen! Ich bin schon nicht mehr im Zeitplan! Ich muss …“ Abrupt unterbrach sie sich, riss sich offensichtlich zusammen und versuchte dann, gefasst weiterzusprechen. „Ich muss dort ankommen, bevor er mich als vermisst melden kann. Bevor mein Wagen …“

„Nein, das ist schon in Ordnung“, sagte Mel ruhig. „Es ist in Ordnung, Paige. Lassen Sie Ihren Wagen nur hinter der Bar stehen, außer Sichtweite. Und wenn es so weit ist, dass Sie wirklich wegmüssen, dann nehmen Sie sich doch ein Brotmesser aus der Küche. Damit können Sie die Schrauben an der Halterung der Nummernschilder lösen. Tauschen Sie einfach die Autokennzeichen mit irgendjemandem aus. Und wenn Sie nicht zu schnell oder auffällig fahren oder in einen Unfall verwickelt werden, dann hat die Verkehrspolizei auf dem Highway keinerlei Grund, Ihr Kennzeichen zu überprüfen.“ Sie zuckte die Schultern. „Und bevor hier jemandem überhaupt auffällt, dass seine Nummernschilder vertauscht wurden, werden Wochen vergehen. Monate. Ich selbst achte nie darauf.“

Während Mel sprach, starrte Paige ihr in die Augen, und vor Erstaunen stand ihr Mund ein wenig offen. „Haben Sie da gerade vorgeschlagen, die Autokennzeichen von irgendjemandem einfach zu ste…?“

Autor

Robyn Carr
<p>Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer gefeierten <em>Virgin River</em>-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der <em>New York Times</em>. Auch ihre herzerwärmende <em>Thunder Point</em>-Reihe, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leserinnen und Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit...
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