Wiedersehen in Wales

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Plötzlich, nach all den Jahren, begreift die schöne Laura, wo wirklich ihr Zuhause ist: Im wildromantischen Wales, wo ihr Elternhaus steht und wo sie damals so heftig in Oliver Kemp verliebt war! Beim ersten Wiedersehen weiß Laura, dass es nicht leicht sein wird, Wales noch einmal ohne ihn zu verlassen und ohne ihn nach New York zu gehen …


  • Erscheinungstag 03.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754860
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Als Oliver die Stufen zur Haustür hinaufeilte, hörte er das Telefon läuten. Durch das fächerförmige Dachfenster sah er Licht. Demnach war Thomas, sein Butler, zu Hause, und hatte sich aus irgendwelchen Gründen entschlossen, das Läuten zu ignorieren.

Wahrscheinlich ist es meine Mutter, wer könnte es sonst sein? überlegte Oliver. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie Thomas schon den ganzen Tag genervt hatte mit ihren Anrufen. Er wäre längst zu Hause, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Und jetzt wartete sie sicher ungeduldig darauf, zu erfahren, was er unterwegs erlebt hatte.

Oder vielleicht auch nicht.

Oliver schnitt ein Gesicht, während er die Haustür aufschloss. Seine Mutter interessierte sich nur selten für Dinge, die sie nicht direkt betrafen. Wenn sie so dringend mit ihm reden wollte, handelte es sich eher um etwas sehr Persönliches.

Wohltuende Wärme schlug ihm aus der Eingangshalle entgegen. Nachdem er die letzten drei Wochen in Malaysia im Dschungel verbracht hatte, wo es sehr heiß gewesen war, wäre er am liebsten gar nicht in das kühle London zurückgekehrt.

„Mr. Oliver!“ Thomas Grayson tauchte am anderen Ende des langen Flurs auf. Und genau in dem Moment hörte auch das Telefon auf zu läuten.

Oliver hatte dem alten Mann die steife Anrede nicht abgewöhnen können. Er stellte die Tasche mit seiner Kameraausrüstung, den Rucksack und die Reisetasche ab und machte die Haustür hinter sich zu. Dann lehnte er sich sekundenlang dagegen. Nicht oft dachte er darüber nach, wie glücklich er sich schätzen konnte, so ein schönes und elegantes vierstöckiges Haus, das im gregorianischen Stil erbaut war, zu besitzen. Aber wenn er länger weggewesen war, genoss er es, wieder in seinen eigenen vier Wänden zu sein.

„Ich habe Sie gestern schon erwartet, Mr. Oliver“, sagte Thomas leicht vorwurfsvoll.

„Der Flug von Singapur war verspätet, und außerdem tobten Stürme über Europa. Haben Sie etwa hier davon nichts gemerkt?“, antwortete Oliver leicht spöttisch. „Ach Thomas, ich bin froh, Sie zu sehen.“

„Oh, entschuldigen Sie, Mr. Oliver. Das war wohl nicht die richtige Begrüßung. Natürlich ist es gut, dass Sie wieder da sind. Aber ich befürchte, es gibt einen Notfall.“

„Was für einen?“

Oliver war nicht in der Stimmung, sich anhören zu müssen, in welcher Krise sich seine Mutter jetzt schon wieder befand. Sie hatte immer finanzielle Probleme, obwohl Griffith ihr mehr als genug Geld zur Verfügung stellte.

„Ihre Mutter versucht schon seit zwei Tagen verzweifelt, Sie zu erreichen“, erklärte Thomas. Geht es vielleicht um Laura? schoss es Oliver durch den Kopf. Seine Stiefschwester, die schon seit beinah sieben Jahren in New York lebte, war seiner Mutter ein Dorn im Auge. „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Stiefvater vor zwei Tagen gestorben ist“, fügte er behutsam hinzu. „Mrs. Williams war schon sehr ärgerlich. Sie hat mir unterstellt, ich hätte es Ihnen nicht ausgerichtet. Sie wollte mir nicht glauben, dass ich nicht wusste, wo Sie waren.“

Jetzt war Oliver klar, warum der alte Mann nicht mehr ans Telefon gegangen war. Seine Mutter hatte ihn offenbar beleidigt. „Sie hätte am Flughafen anrufen können, dann hätte sie erfahren, dass die Flüge verspätet waren“, antwortete er. Nachdem er achtundvierzig Stunden unterwegs gewesen war, hatte er sich darauf gefreut, heiß zu duschen und sich auszuschlafen. Stattdessen musste er sich erst um seine Mutter kümmern.

„Okay, ich rufe sie an.“ Er hatte nicht mehr viel Hoffnung, sich ausruhen zu können, und nahm die Tasche mit der Kameraausrüstung in die Hand. Dann ging er vor Thomas die Treppe hinauf. „Würden Sie mir bitte saubere Sachen einpacken, falls ich nach Penmadoc fahren muss?“

„Sie wollen doch nicht etwa heute Abend noch starten!“ Thomas war entsetzt.

„Vielleicht habe ich keine andere Wahl“, antwortete Oliver und betrat den erleuchteten Raum links neben der Treppe. Im ersten Stock des Hauses befanden sich sein Arbeits-, ein Ess- und ein behagliches Wohnzimmer, im zweiten Stock sein Schlaf- und zwei Gästezimmer. Er durchquerte den Wohnraum und schenkte sich an der Getränkebar einen Whisky ein. „Ja, ich weiß“, sagte er, als Thomas, der auf der Türschwelle stehen geblieben war, missbilligend den Kopf schüttelte. „Aber ich brauche unbedingt eine Stärkung. Ehe ich wegfahre, esse ich ein Sandwich und trinke einen Kaffee. Versprochen.“

Thomas gefiel es nicht, dass Oliver vor der Fahrt Alkohol trank, doch in den acht Jahren, die er schon bei ihm angestellt war, hatte er gelernt, im richtigen Moment zu schweigen. Er drehte sich um und ging hinauf in den zweiten Stock.

Oliver musste lange warten, ehe seine Mutter ans Telefon ging. Er überlegte schon, ob sie ihn vielleicht absichtlich warten ließ, um ihn dafür zu bestrafen, dass er nicht für sie da gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte. Zu solchen Reaktionen war sie durchaus fähig.

Er konnte sich gut vorstellen, wie das Läuten in der zugigen alten Eingangshalle mit den Deckenbalken aus Holz und dem gebohnerten Fußboden widerhallte. Laura hatte immer behauptet, in dem Haus spuke es, und als Teenager hatte er es ihr geglaubt.

Laura …

„Penmadoc Hall“, ertönte es plötzlich am anderen Ende der Leitung mitten in Olivers Gedanken hinein.

„Oh … hallo. Oliver Kemp hier. Ist meine Mutter da?“

„Hallo, Oliver“, begrüßte Eleanor Tenby ihn überraschend freundlich. „Deine Mutter wird sich freuen, dass du anrufst. Ich hole sie.“

Es war eher die Ausnahme, dass Lauras Tante Nell ihn und seine Mutter freundlich behandelte. Stella hätte sie schon längst hinausgeworfen. Doch Griffith war, was Eleanor betraf, hart geblieben, obwohl er seiner Frau sonst die meisten Wünsche erfüllte. Eleanor war die Schwester seiner verstorbenen Frau, und Penmadoc war ihr Elternhaus.

Außerdem war es für Stella nützlich, so eine perfekte Haushälterin wie Nell zu haben. Oliver schnitt ein Gesicht, er wusste, wie sehr seine Mutter die Hausarbeit verabscheute. Maggie, Lauras Mutter, war vor ihrem Tod jahrelang krank gewesen, deshalb hatte Eleanor sich um alles gekümmert. Als Griffith dann Stella geheiratet hatte, war Eleanor im Haus geblieben.

„Oliver?“, rief Stella ins Telefon. Sie hörte sich unglücklich und geradezu hysterisch an. Oliver war überrascht und nahm sich vor, vielleicht brauchte seine Mutter wirklich Trost.

„Hallo, Mom“, begrüßte er sie und fügte sanft hinzu: „Das mit Griffith tut mir so leid. Du bist sicher zutiefst erschüttert.“

„Ja, ja, das bin ich“, antwortete Stella angespannt. „Wo, zum Teufel, warst du, Oliver? Schon tagelang versuche ich, dich zu erreichen.“

„Ich weiß, Thomas hat es mir erzählt.“

„Thomas!“, wiederholte sie verächtlich. „Dieser kleine Kriecher hatte den Nerv, mir weismachen zu wollen, er wisse nicht, wo du seist. Als würdest du jemals weggehen, ohne deine Adresse zu hinterlassen.“

Oliver atmete tief durch. „Er hat dich nicht belogen, Mom. Der Flieger hatte gestern Morgen schon in Singapur Verspätung. Danach gab es in Bahrain einen längeren Aufenthalt wegen eines Schadens am Triebwerk. Und die Stürme über Europa …“

„Du hättest wenigstens anrufen können.“

„Warum?“ Olivers Mitgefühl verschwand. „Es gibt doch Wetterberichte.“

„Soll das eine Anspielung sein?“ Stellas Stimme klang auf einmal unsicher.

Offenbar geht ihr Griffiths Tod doch näher, als ich gedacht habe, überlegte Oliver. Immer wieder hatte Stella sich bei ihm darüber beklagt, wie problematisch es sei, mit einem älteren Mann verheiratet zu sein. Angeblich konnte Griffith nicht verstehen, warum sie mit ihrem Geld nicht auskam.

„Ach, vergiss es. Wenn ich gewusst hätte, dass Griffith …“

„Ja.“ Seine Mutter hatte sich wieder unter Kontrolle, wie es schien. „Ja, du hast recht. Bei deiner Abreise war mit ihm alles Ordnung. Wer hätte da schon geahnt, dass er in drei Wochen tot sein würde? Du kommst du doch heute noch, oder?“

„Natürlich.“ Es lässt sich wohl nicht vermeiden, fügte er insgeheim hinzu. „Ich esse noch eine Kleinigkeit, dann mache ich mich auf den Weg.“

„Gut.“ Stella hörte sich erleichtert an. „Ich bleibe so lange auf.“

„Wie ist es denn passiert, das mit Griffith?“, fragte Oliver, ehe sie auflegen konnte.

„Er hatte einen Herzinfarkt“, erklärte Stella kurz angebunden. „Fahr vorsichtig.“ Dann war die Leitung tot.

Nachdenklich legte Oliver das Telefon weg. Seltsam, Griffith hat doch nie Probleme mit seinem Herzen gehabt, sagte er sich. Aber was wusste er schon von Griffith? Obwohl seine Mutter zwanzig Jahre mit ihm verheiratet gewesen war, waren Oliver und sein Stiefvater sich eher fremd geblieben. Erst in den letzten Jahren waren sie sich näher gekommen.

Oliver rechnete damit, dass Laura zur Beerdigung ihres Vaters kommen würde. Nach der Scheidung von Conor Neill war sie nicht nach Penmadoc zurückgekehrt, wie man vielleicht hätte erwarten können. Aber warum hätte sie ihren guten Job in New York aufgeben sollen?

Stella war erleichtert gewesen über Lauras Entschluss. Es hätte ihr nicht gefallen, wenn ihre Stieftochter sich mit ihrem Vater gegen sie, Stella, verschworen hätte. Oliver wusste, dass seine Mutter immer eifersüchtig gewesen war auf das gute Verhältnis, das Laura mit ihrem Vater gehabt hatte. Und Laura hatte Stella nie verziehen, dass sie relativ kurz nach Maggies Tod deren Platz eingenommen hatte.

„Ich habe Ihnen saubere Sachen hingelegt, Mr. Oliver“, verkündete Thomas in dem Moment. „Sie wollen sicher noch duschen, oder? In der Zeit mache ich Ihnen etwas zu essen und einen Kaffee.“

„Nur ein Sandwich bitte“, antwortete Oliver müde. „Ich habe im Flugzeug gegessen und bin nicht hungrig.“ Er machte eine Pause, ehe er dankbar hinzufügte: „Aber einen Kaffee trinke ich gern. Ist der Wagen vollgetankt?“

„Ja. Sie nehmen doch den Jeep, oder?“, fragte Thomas.

Oliver nickte. Bei dem Wetter war der Wagen mit Allradantrieb sicherer, denn die Strecke war teilweise nicht ungefährlich.

Als er geduscht und sich wieder angezogen hatte, war es dunkel. Er freute sich bestimmt nicht auf die lange Fahrt nach Wales. Auf dem Küchentisch standen Kaffee, eine Suppe und ein Sandwich für ihn bereit.

„Nur zum Aufwärmen“, sagte der alte Mann wie um Entschuldigung bittend.

Thomas’ Apartment lag im Erdgeschoss, wo auch Oliver seine Dunkelkammer hatte. Im Garten, der von einer Mauer umgeben war, servierte Thomas an schönen Sommerabenden gern das Dinner. An diesem Abend verlieh das Licht, das aus der Küche auf die geflieste Terrasse fiel, der Szene etwas Geheimnisvolles.

Während Oliver die Suppe aß, läutete erneut das Telefon. Dieses Mal zögerte Thomas nicht, den Anruf entgegenzunehmen.

„Miss Harlowe will Sie sprechen“, verkündete er dann und bedeckte den Hörer mit der Hand. „Wollen Sie mit ihr reden?“

„Ja.“ Ich bin es Natalie schuldig, dass ich ihr erkläre, weshalb ich schon wieder wegmuss, überlegte er und ließ sich von Thomas das Telefon geben. „Hallo, Liebes. Hast du mich vermisst?“, begrüßte er sie.

„Interessiert dich das überhaupt?“ Natalie war offenbar gereizt. „Ich habe heute Nachmittag mit deinem Anruf gerechnet. Dann habe ich über die Flughafeninformation erfahren, dass dein Flug Verspätung hatte, aber …“

„Ich bin erst vor einer halben Stunde zurückgekommen“, unterbrach Oliver sie. „Natürlich hätte ich dich noch angerufen, doch ich musste mich zunächst um andere Dinge kümmern.“

„Um was denn?“

„Meine Mutter braucht mich.“ Oliver biss ins Sandwich und fügte kauend hinzu: „Sie hatte seit zwei Tagen versucht, mich zu erreichen.“

„Isst du etwa?“, fragte Natalie empört.

Oliver schluckte den Bissen hinunter. „Ja“, antwortete er resigniert, „weil ich gleich nach Penmadoc fahren muss.“

„Nach Penmadoc?“, wiederholte Natalie entsetzt. „Das meinst du doch nicht ernst, oder?“

„Doch, leider. Mein Stiefvater hatte vor zwei Tagen einen Herzinfarkt.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte Natalie mitfühlend. „Wie geht es ihm? Ist es schlimm?“

„Er ist gestorben. Deshalb möchte meine Mutter, dass ich heute noch zu ihr komme. Ich bin ihr einziger Verwandter, und sie erwartet natürlich jetzt meine Hilfe.“

Stimmt das auch? schoss es ihm durch den Kopf. Er war sich nicht sicher, was seine Mutter wirklich von ihm wollte. Es war ein seltsames Gespräch gewesen, und er konnte kaum glauben, dass ihr Griffiths Tod nahe ging.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte Natalie.

Ganz spontan wollte Oliver Ja sagen. Doch dann erinnerte er sich an Laura. „Nein, lieber nicht“, erwiderte er deshalb. „Beerdigungen sind Familienangelegenheiten, wie du weißt.“

„Wird deine Stiefschwester auch kommen?“ Natalie war offenbar beunruhigt.

Seitdem Oliver einmal erwähnt hatte, Laura sei nicht nur schön, sondern auch intelligent, war Natalie misstrauisch, was Laura anging, obwohl sie sie nicht persönlich kannte.

„Vielleicht. Aber selbst wenn sie da ist, wird sie sich nicht freuen, mich zu sehen.“

„Und das soll ich dir glauben? Ich habe nicht vergessen, was du mir über sie erzählt hast, Oliver. Sie hat sich dir ja als Teenager an den Hals geworfen.“

Er fluchte insgeheim. Er musste betrunken gewesen sein, sonst hätte er nie mit ihr darüber geredet.

„Du hast es doch hoffentlich nicht geglaubt, oder?“, versuchte er, den Schaden zu begrenzen. „Das habe ich nur im Spaß gesagt. Laura und ich haben uns seit acht Jahren nicht mehr gesehen.“

Sekundenlang schwieg Natalie. „Ist sie etwa nicht zu dir ins Zimmer geschlichen und hat sich zu dir ins Bett gelegt?“, fragte sie dann skeptisch.

„Nein!“ Du liebe Zeit, was habe ich da angerichtet? schoss es ihm durch den Kopf.

„Und deine Mutter hat euch nicht dabei überrascht?“

„Reicht es nicht, wenn ich einmal Nein sage?“ Auf so ein Verhör konnte er verzichten. „Hör zu, Natalie, es macht mir einfach Spaß, dich zu necken.“

„Du gemeiner Kerl!“ Jetzt fing Natalie an zu fluchen. „Es klang so überzeugend, dass ich es geglaubt habe.“

Das Thema behagte ihm nicht. „Lass uns Schluss machen für heute, ich habe noch eine lange Fahrt vor mir“, erklärte er deshalb.

„Was ist mit der Party morgen Abend? Kannst du nicht zurückkommen? Es gibt doch bestimmt dort nicht viel zu tun für dich.“

Glücklicherweise lässt sie sich leicht ablenken, dachte er. „Mag sein, aber meine Mutter braucht mich jetzt. Es tut mir leid, Natalie, du wirst ohne mich hingehen müssen.“

„Das kenne ich schon“, beschwerte sie sich. „Okay. Versprichst du mir, dass du mich anrufst und mich über alles informierst?“

„Ja, versprochen.“ Oliver war erleichtert, dass er so glimpflich davonkam. Doch nachdem das Gespräch beendet war, konnte er die Erinnerungen nicht mehr verdrängen, die Natalies Bemerkungen wachgerufen hatten. Du liebe Zeit, es ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, an Laura und jene unvergessliche Sommernacht zu denken, mahnte er sich ungeduldig. Nach dieser Nacht hatte sich viel verändert. Um mit sich ins Reine zu kommen, war er ein Jahr lang mit dem Rucksack durch Europa gereist, statt sein Studium zu beginnen.

„Wissen Sie, dass es schon nach sechs ist, Mr. Oliver?“, fragte Thomas plötzlich. „Es ist sicher nicht ungefährlich, heute Abend noch nach Wales zu fahren. Die Sicht ist schlecht bei dem Wetter. Ihre Mutter hätte vielleicht Verständnis, wenn …?“

„Vergessen Sie es“, unterbrach Oliver ihn. „Für meine Mutter ist es ein Notfall.“

Thomas zuckte die Schultern. „Wenn Sie meinen.“

„Keine Angst, Thomas. Ich werde nicht zu schnell fahren und notfalls in einem Motel übernachten.“

„Hoffentlich. Ich meine es ja nur gut.“

„Das weiß ich doch.“ Oliver warf ihm einen freundlichen Blick zu. „Ich rufe Sie morgen an.“

„Passen Sie gut auf sich auf“, forderte Thomas ihn beinah liebevoll auf.

„Ja, das tue ich.“ Oliver klopfte dem alten Mann auf die Schulter, ehe er zur Tür ging. Etwas wehmütig dachte er darüber nach, wie anders er sich seine Rückkehr von der Reise vorgestellt hatte.

2. KAPITEL

Laura fröstelte. Obwohl der alte Ofen in der Küche auf Penmadoc noch an war, war es ziemlich kühl. Die Kälte drang vom Fußboden durch die Sohlen ihrer bequemen Schuhe, und Laura fragte sich, warum Stella den Steinboden nicht durch moderne Fliesen ersetzt hatte. Aber die Küche war immer noch Nells Domäne, und Stella vermied es, sich mit ihr auseinander zu setzen. Außerdem hielt Stella sich sowieso nur selten in der Küche auf. Haushalt und Kochen waren nichts für sie.

Es hat sich viel verändert, doch glücklicherweise nicht alles, überlegte Laura. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihr Vater tot war. Als sie ihn zum letzten Mal vor sechs Monaten in London getroffen hatte, war er ihr völlig gesund vorgekommen, obwohl er seltsam munter und außergewöhnlich gesprächig gewesen war. Vielleicht hatte er damit etwas überspielen wollen. Stella hatte ihr versichert, er hätte nie über Schmerzen geklagt und keine Beschwerden gehabt. Doch es war immerhin möglich, dass er es ihr verheimlicht hatte.

Hätte ich doch geahnt, dass etwas nicht in Ordnung war, dachte Laura. Leider besaß sie keine hellseherischen Fähigkeiten wie ihre Großmutter. Wenn es stimmte, was ihre Stiefmutter behauptete, war ihr Vater um drei Uhr vom Reiten zurückgekommen und geradewegs in sein Arbeitszimmer gegangen. Dort hatte Stella ihn zwei Stunden später gefunden, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch und dem Glas Whisky noch in der Hand.

Laura atmete tief aus. Hoffentlich hatte ihr Vater nicht gelitten. Für ihn ist es vielleicht besser, dass er so plötzlich gestorben ist und nicht lange hat leiden müssen, aber für Nell und mich ist es schlimm, überlegte sie.

Wieder fröstelte sie, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie zog den Morgenmantel enger um sich und stellte sich näher an den Ofen, in dem die Kohlen noch glühten und der eine behagliche Wärme verbreitete. Sie seufzte und sah sich um. Sie hatte ein Glas heiße Milch trinken wollen, weil sie nicht schlafen konnte. Irgendwie litt sie noch unter der Zeitverschiebung, denn in New York wurde es gerade erst Abend, während hier Mitternacht schon vorbei war.

Als sie die Milch in den Topf schüttete, hörte Laura ein eigenartiges Geräusch. Ihre Nerven waren momentan sowieso zum Zerreißen gespannt, und sie war sich sehr bewusst, dass sie ganz allein im Erdgeschoss war. Bei diesem Wetter und zu dieser Jahreszeit herrschte eine schwer zu definierende Atmosphäre auf Penmadoc.

Die Milch fing an zu kochen, und genau in dem Moment versuchte jemand, die Hintertür von außen zu öffnen, obwohl sie von innen verriegelt war. Laura kannte das Geräusch von früher. Sie hielt den Atem an und merkte erst, dass die Milch überkochte, als es zischte und nach angebrannter Milch roch.

„Du liebe Zeit“, sagte sie leise und zog rasch den Topf vom Herd. Wer mochte das sein um diese Zeit? Sie lauschte angespannt und glaubte, eine männliche Stimme fluchen zu hören.

Laura atmete tief ein und aus, ehe sie die Küche durchquerte. In dem kleinen Flur zwischen Küche und Eingang standen Schuhe und Stiefel herum, und an den Wandhaken hingen Jacken und Mäntel. Vorsichtig blickte Laura zur Tür. Es stand wirklich jemand davor.

„Wer ist da?“, rief sie betont forsch und ärgerte sich, dass sie so ängstlich war. Glücklicherweise ließ die Tür sich nicht so leicht von außen öffnen.

„Wer, zum Teufel, sollte es wohl sein? Hast du den Jeep nicht gehört?“

„Den Jeep?“ Laura runzelte die Stirn. Sie hatte nicht gewusst, dass Stella jemanden erwartet. „Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind.“

„Wie bitte?“ Man hörte dem Mann an, wie verblüfft er war. „Mach schon auf, Mom. Ich finde es nicht lustig, hier draußen herumzustehen.“

O nein, das durfte nicht wahr sein! Nicht ausgerechnet an diesem Abend! Laura verkrampfte sich der Magen. Sie hatte doch nur den alten Morgenmantel an, den sie im Schrank gefunden hatte. Ihr Vater hatte ihn ihr vor vielen Jahren geschenkt, und er war warm und bequem. Aber besonders elegant war er nicht. Außerdem hätte sie sich die Haare bürsten müssen.

„Oliver?“, fragte sie zaghaft.

„Laura?“, rief er erstaunt aus, als er begriff, dass es nicht seine Mutter sein konnte. „Du liebe Zeit, bist du es wirklich, Laura? Warum bist du noch auf? Hast du auf mich gewartet?“

Sie schob die Riegel zurück und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Dann zog sie die Tür auf. „Ganz bestimmt nicht“, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. „Hast du keinen Schlüssel?“

„Verrat es niemandem, aber man hat noch keinen Schlüssel erfunden, mit dem man Riegel öffnen kann“, antwortete er. Wollte er mit der ironischen Bemerkung nur seine Überraschung überspielen? „Was ist das denn für ein penetranter Geruch hier?“, fragte er.

„Ich habe die Milch überkochen lassen.“ Laura schloss die Tür hinter ihm und ging in die Küche. Ihr war klar, dass sie in dem Aufzug und mit den vom Weinen geröteten Augen nicht gerade attraktiv wirkte. Sie hätte sich gewünscht, auf ihren Stiefbruder beim ersten Wiedersehen nach so vielen Jahren einen besseren Eindruck zu machen. „Hat deine Mutter gewusst, dass du heute Nacht kommen wolltest?“

„Zumindest habe ich gedacht, sie wisse es.“ Er folgte ihr in die Küche. Dann stellte er den Rucksack auf den Boden und die Reisetasche auf einen Stuhl. „Die Sache mit deinem Vater tut mir leid. Es war für dich bestimmt ein Schock.“

„Ja, das war es.“ Laura zuckte nur die Schultern und wischte den Herd ab. Sie hatte sich vorgenommen, beim Wiedersehen mit Oliver so zu tun, als hätte es die Ereignisse der Vergangenheit nie gegeben. Sie wollte nicht daran erinnert werden, wie dumm und naiv sie als Teenager gewesen war.

„Für mich auch“, fuhr er sanft fort. „Dein Vater und ich waren sicher nicht die besten Freunde, doch in den letzten Jahren haben wir uns gegenseitig respektiert.“

Laura versteifte sich und musste sich geradezu zwingen, einen Blick in seine Richtung zu werfen. Er hat breitere Schultern bekommen und sieht reifer und männlicher aus, dachte sie. „In den letzten Jahren?“, wiederholte sie. „Ich wusste nicht, dass du regelmäßig hier warst.“

„War ich auch nicht.“ Er atmete tief ein. „Aber wir haben wir uns manchmal getroffen, hier und in London.“

Weshalb ärgere ich mich plötzlich? überlegte sie. Es war nicht die Schuld ihres Vaters, dass sie nie mehr nach Penmadoc gekommen war. Doch nach dem Scheitern ihrer Ehe mit Conor hätte Stella ihr sicher immer wieder vorgehalten, versagt zu haben.

„Das hat er mir nicht erzählt“, erwiderte sie leise und beschäftigte sich wieder mit dem Herdputzen. Sie hörte jedoch, wie Oliver die Küche durchquerte und den Kühlschrank öffnete.

„Warum auch?“, fragte Oliver. „Wahrscheinlich hat er gedacht, es interessiere dich nicht.“ Er seufzte. „Gibt es hier vielleicht etwas zu essen?“

Sekundenlang betrachtete Laura seine breiten Schultern. „Hast du heute Abend das Dinner ausgelassen?“

„Dinner?“ Er machte den Kühlschrank wieder zu und stieß ungeduldig die Luft aus. „Was für ein Dinner? Ich bin am späten Nachmittag aus Singapur zurückgekommen und habe sogleich meine Mutter angerufen, weil sie offenbar schon stundenlang versucht hatte, mich zu erreichen. Ehe ich mich auf den Weg machte, habe ich nur rasch geduscht.“

„Du warst in Singapur?“ Laura war verblüfft. „Dann hast du wirklich nichts gegessen?“

„Nur eine Suppe und ein Sandwich, sonst nichts.“ Er schaute noch einmal in den Kühlschrank. „Seltsam, ich kann nichts Essbares entdecken.“

Laura zögerte kurz. „Tante Nell hat wahrscheinlich alles in die Tiefkühltruhe gestopft. Einmal in der Woche kauft sie im Supermarkt in Rhosmawr ein.“

„Stimmt.“ Oliver warf ihr von der Seite einen Blick zu. „Ich sehe schon, ich muss mich wieder mit einem Sandwich begnügen.“ Plötzlich verzog er leicht belustigt die Lippen. „Ist der neu?“, fragte er und betrachtete ihren Morgenmantel.

„Kommt er dir nicht bekannt vor?“ Sie hob den Kopf und bemerkte, dass Olivers Wangen sich leicht röteten. Laura errötete auch, aber vor Ärger. Warum hatte sie ihm ihre Gedanken verraten und ihm die Chance gegeben, sie seine Verachtung spüren zu lassen?

Doch statt eine ironische Bemerkung zu machen, schloss Oliver den Kühlschrank wieder und lehnte sich dagegen. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. „Okay, lass uns noch einmal von vorn anfangen“, schlug er ruhig vor, und in seinen grünen Augen leuchtete es rätselhaft auf. „Ich weiß, dass alles nicht leicht für dich ist …“

„Du bist ziemlich eingebildet!“

„Ich meine, dass du deinen Vater verloren hast“, entgegnete er hart. „Du liebe Zeit, kannst du denn immer nur an dich selbst denken? Ich weiß, dass du mich nicht magst, Laura, aber man könnte doch erwarten, dass du in dieser Situation ausnahmsweise auch mal an andere denkst.“

Laura erbebte. „Es ist spät …“

„Ja, aber vielleicht noch nicht zu spät“, unterbrach er sie ungeduldig. „Lass uns einen Kompromiss schließen, wenigstens deiner Tante Nell zuliebe. Einverstanden?“

Sie legte das Abwaschtuch hin und zog den Gürtel ihres Morgenmantels enger. „In Ordnung“, erwiderte sie schließlich.

Autor

Anne Mather
<p>Ich habe schon immer gern geschrieben, was nicht heißt, dass ich unbedingt Schriftstellerin werden wollte. Jahrelang tat ich es nur zu meinem Vergnügen, bis mein Mann vorschlug, ich solle doch meine Storys mal zu einem Verlag schicken – und das war’s. Mittlerweile habe ich über 140 Romances verfasst und wundere...
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