Wiedersehen mit dem italienischen Herzensbrecher

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Der italienische Chirurg Alessandro Lucioni hat ihr vor fünf Jahren das Herz gebrochen! Seitdem macht die hübsche Lehrerin Jem um Männer einen großen Bogen. Bis sie eine neue Schülerin bekommt – und deren Onkel gegenübersteht. Alessandro! Noch immer ist er unwiderstehlich. Und offenbar entschlossen, sie sinnlich zurückzugewinnen. Aber das kommt für Jem nicht infrage. Denn sie braucht etwas, das dieser Herzensbrecher ihr nicht geben kann, wie sie damals unter tausend Tränen erfahren musste. Echte Liebe …


  • Erscheinungstag 08.02.2022
  • Bandnummer 032022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751509497
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Genau wie früher in der Schule.

Obwohl ich Lehrerin bin, werde ich jedes Mal nervös, wenn ich zur Schulleitung gerufen werde. Tausend Ameisen scheinen in meinem Magen zu krabbeln. Meine Knie zittern. Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Genau wie in meiner Kindheit, als ich so oft wegen meiner schlechten Noten zum Direktor geschickt wurde. Ironie des Schicksals, dass ich jetzt ausgerechnet an der angesehenen Mädchenschule Emily Sudgrove in Bath unterrichte.

Wenn die Schulleiterin einen Lehrer sprechen will, steckt fast immer ein Problem mit den Eltern dahinter. Vielleicht eine Beschwerde oder Kritik daran, wie man ihre kleinen Schätzchen behandelt. Helikoptereltern können bekanntlich sehr anstrengend sein. Die Eltern an dieser Schule würde ich eher als Kampfpiloten bezeichnen.

Als ich nun vor der Tür stand, holte ich noch einmal tief Luft. Dann klopfte ich und trat ein.

„Kommen Sie herein, Jem“, begrüßte mich die Schulleiterin Miss Fletcher. „Ich möchte Ihnen Dr. Alessandro Lucioni vorstellen.“ Sie nickte zu dem Mann, der vor ihrem Schreibtisch stand. „Dr. Lucioni hat gerade sein Kind bei uns angemeldet.“

Der Raum schien sich um mich zu drehen, und ich spürte einen Stich in der Brust. Mit leerem Gesichtsausdruck starrte ich ihn an. Wenigstens hoffte ich, dass mein Gesichtsausdruck leer wirkte und nichts von dem Orkan verriet, der in meinem Inneren tobte.

Alessandro war Vater? Er war verheiratet? Verliebt? Die Worte purzelten durch meinen Kopf, und es kam mir vor, als drückte ein unsichtbares Bleigewicht auf meine Brust.

Alessandro nickte kurz und reichte mir die Hand. „Miss Clark.“

Ich starrte auf seine Hand. Die Hand, die jeden Zentimeter meines Körpers kannte. Die mich zu meinem ersten Höhepunkt gebracht hatte. Die Finger, die mich damals Dinge fühlen ließen, die ich nie zuvor und nie wieder danach gespürt hatte. Tief versteckte Erinnerungen drängten an die Oberfläche, Gefühle, die ich so lange verdrängt hatte. Hitze schoss durch meinen Körper.

Langsam hob ich meinen Blick zu seinen Augen. Er wollte also so tun, als kannten wir uns nicht. Von mir aus. Das Spiel konnten zwei spielen.

„Willkommen in Emily Sudgrove“, sagte ich und schüttelte seine Hand. Als ich seine kühlen Finger auf meiner Haut spürte, stiegen Bilder der Vergangenheit in mir auf.

Damals hatte er eine sinnliche Macht über mich besessen. Ein Wort, eine Berührung von ihm hatten gereicht, damit ich die Welt um mich herum vergaß. Damals stimmt nicht ganz. Das gebe ich zu. Er besaß immer noch dieselbe Macht über mich. Jeder Nerv in meinen Fingern kribbelte wie nach einem Elektroschock.

„Danke.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln, doch seine Augen blieben kühl.

Seine Augen! Dieses satte schimmernde Braun. Dunkler als Schokolade. Starke Augen. Augen, die mit einem Blick das Blut schneller durch meine Adern fließen lassen konnten.

Prüfend ließ er den Blick über mein Gesicht schweifen. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass meine Augenbrauen mal wieder gezupft werden mussten. Warum hatte ich mir nicht die Zeit genommen, zur Kosmetikerin zu gehen? Und warum nur hatte ich heute Morgen nicht das Glätteisen für mein Haar benutzt?

Meine blonden Korkenzieherlocken treiben mich in den Wahnsinn. Mein Leben lang musste ich mir Blondinenwitze anhören. Wenn ich die Locken bändige, wirke ich sofort vertrauenerweckender und professioneller. Jedenfalls rede ich mir das gerne ein.

Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mein Gehirn schien sich im Schockzustand zu befinden, und ich wollte nur eins – weglaufen vor Alessandro. Genau wie ich es in den letzten fünf Jahren getan hatte.

Ab und zu hatte ich ihn in Zeitschriften gesehen. Vor einigen Jahren hatte er im London Theater während der Vorstellung das Leben eines Schauspielers gerettet. Damals stand sein Name in allen Zeitschriften und machte ihn über Nacht berühmt.

Alessandro war Herzchirurg. Ein verdammt guter, das musste ich ihm lassen. Auch wenn er mein Herz gebrochen hatte.

Vor einigen Wochen war ich ihm in Knightsbridge über den Weg gelaufen, aber zum Glück hatte er mich nicht gesehen. Ich saß gerade mit meiner Schwester Bertie im Restaurant, als er mit einer wunderschönen Blondine hereingekommen war. Die Frau an seiner Seite gehörte zum Typ wunderschönes Supermodel mit ewig langen Beinen, perfekter Haut, perfekt gezupften Augenbrauen und seidig glattem Haar. Seit unserer Trennung sah man ihn ständig mit wunderschönen Frauen an seinem Arm.

Ich schüttelte den Kopf. Meine Beziehung mit Alessandro war das Letzte, worüber ich jetzt nachdenken wollte. Genau genommen konnte man es nicht einmal Beziehung nennen. Für ihn war ich nur ein Trostpreis gewesen. Nicht die erste Wahl, sondern Plan B.

„Dr. Lucionis Nichte wird deine Klasse besuchen.“ Miss Fletchers Stimme holte mich aus meinen Gedanken.

Nichte? Erleichterung durchflutete meinen Körper.

Dann runzelte ich die Stirn. Alessandro hatte eine Schwester? Eine Nichte? Verwandte? Dabei hatte er mir erzählt, er sei ein Waisenkind. Umso mehr hatte es mich damals beeindruckt, wie viel er in seinem Leben erreicht hatte. Nur ganz wenige Menschen brachten es so weit ohne die kleinste Unterstützung von Freunden oder Familie.

Er hatte mir erzählt, dass seine Eltern gestorben waren, als er ein Teenager war. Also hatte er drei Jobs und sich selbst die Ausbildung und das Medizinstudium finanziert. Ohne Familienvermögen. Ohne finanzielle Unterstützung. Wie viele Lügen hat er mir noch aufgetischt?

Ich schaute ihn fragend an. „Sie haben eine Schwester?“

Plötzlich kamen mir seine Augen noch dunkler vor.

„Ja“, sagte er. „Ihr geht es im Moment nicht gut, und ich kümmere mich um Claudia, bis sie sich erholt hat.“

Diese Stimme … samtweich wie eine sinnliche Liebkosung. Obwohl er seit Jahren in London lebte, erkannte ich noch immer diesen unverkennbaren sizilianischen Akzent.

Mit dieser Stimme hatte er mir das Blaue vom Himmel versprochen. Ich hatte ihm jedes Wort geglaubt. Hatte jedes leere Versprechen ernst genommen. Wie ich mich für meine eigene Dummheit schämte! So sehr, dass ich nicht mehr daran denken wollte.

Jahrelang hatte ich meine Hippie-Eltern damit aufgezogen, dass sie auf jeden neuen Trend hereinfielen. Aber dann war mir genau dasselbe passiert. Wie ein kleiner Hundewelpe war ich Alessandro hinterhergelaufen. Hatte ihn förmlich angebetet. Für ihn hätte ich alles aufgegeben. Ich wäre über heiße Kohlen gelaufen, um an seiner Seite zu stehen.

Aber nichts zwischen uns war echt gewesen. Alles nur eine Rauchwolke. In Wirklichkeit hatte er mich nie geliebt. Ihm ging es nur um Rache. Darum, es der Frau heimzuzahlen, die ihn für einen reicheren Mann verlassen hatte.

„Claudia wird als Internatsschülerin zu uns kommen“, sagte Miss Fletcher.

Ich schaute Alessandro fragend an.

Seine Miene blieb regungslos. „Meine Arbeitstage im Krankenhaus sind lang und manchmal unberechenbar.“

Meine Schulklasse besteht aus sechs- und siebenjährigen Kindern. Das Alter nennen wir die Schlüsselphase. Manchmal kann selbst in diesem Alter eine Internatsunterbringung die beste Entscheidung sein. Manchmal. Zum Beispiel, wenn Eltern die Bedürfnisse eines Kindes nicht erfüllen oder ihrem Kind zu Hause keinen geregelten Alltag bieten können. In solchen Fällen ist ein Internat oft eine gute Wahl. Vielleicht sogar die beste.

Aber ich mache mir auch Sorgen um die Kinder, die sehr früh von zu Hause weggeschickt werden. Für besonders empfindliche und sensible Kinder kann ein Internat ein grausamer Ort sein. Auch wenn ich nie auf ein Internat gegangen bin, musste ich meine eigenen Erfahrungen mit Mobbing machen.

Vielleicht wäre meine Kindheit auf einem Internat weniger chaotisch verlaufen. Als meine Schwester und ich sechs und sieben Jahre alt waren, nahmen unsere Eltern uns einfach aus der Schule und zogen mit uns in eine Kommune in den Yorkshire Moors. Dort lebten wir zusammen mit anderen Hippies, und statt im Schulunterricht sollten wir durch Spielen lernen. Nach zwei Jahren spürten uns die Behörden auf und schritten ein.

Bei meiner Schwester Bertie hatte das spielerische Lernen offenbar deutlich besser geklappt als bei mir. Als wir wieder in eine normale Schule kamen, war sie ihren Mitschülern um ein Jahr voraus, während ich dem Lehrplan hinterherhinkte. Sehr weit hinterher. Ich habe Jahre gebraucht, um das aufzuholen.

Selbst jetzt fühlt sich mein Magen manchmal schwer wie ein Stein an, wenn ich die Antwort auf eine Frage nicht weiß. Immer noch bekomme ich dann das Gefühl, nicht gut genug zu sein, nicht klug genug. Wahrscheinlich hatte ich mich auch deshalb entschieden, an diesem hoch angesehenen Mädcheninternat zu unterrichten. Damit wollte ich mir beweisen, dass ich das Zeug habe, an einer der besten Schulen des Landes zu arbeiten.

Aber eins habe ich hier auf dieser Schule gelernt. Egal, wie arm oder reich die Eltern sind, Kinder sind überall gleich. Manchen fällt das Lernen leicht, andere – wie ich – können eher im sozialen Bereich punkten. Mit den Jahren habe ich die Kunst perfektioniert, mich in einer Gruppe anzupassen. Darin bin ich sozusagen Klassenbeste. Auch wenn ich mich manchmal dafür verbiegen muss.

Miss Fletchers Räuspern holte mich aus meinen Erinnerungen, und ich sah, dass Alessandro mich mit undurchdringlichem Blick musterte.

Warum hatte er ausgerechnet meine Schule gewählt? Schließlich gab es Dutzende Internate im Land. Warum die Emily-Sudgrove-Schule? Er wohnte im schicken Londoner Vorort Belgravia. Dort gab es wunderbare Internate, viel näher bei seinem Zuhause.

„Dr. Lucioni würde sich gern das Schulgelände anschauen“, sagte Miss Fletcher. „Könnten Sie ihm eine kleine Führung geben, Jem?“

„Natürlich“, antwortete ich betont fröhlich.

Keine Angst zeigen. Das ist mein Motto. Ausgesprochen nützlich für eine Lehrerin. Man wundert sich, wie furchteinflößend schon manche Sechsjährige sein konnten. Wenn auch kein bisschen vergleichbar mit diesem eins neunzig großen, sizilianischen und unverschämt gut aussehenden Mann.

„Folgen Sie mir.“ Ich nickte ihm zu und drehte mich zur Tür.

Während ich das Büro verließ, spürte ich ihn dicht hinter mir. So nah, dass er gegen mich laufen würde, wenn ich plötzlich stehen blieb. Einen Moment lang kam mir der Gedanke verlockend vor. Schon seit langer Zeit hatte mich kein Mann mehr berührt, nicht einmal zufällig. Es musste Jahre her sein.

Ja, jetzt erinnerte ich mich. Vor einigen Jahren hatte ich mich zu einem Blind Date verabredet. Bei der Erinnerung erschauderte ich. Eine totale Katastrophe. Kein Wunder, dass ich nicht gerne daran zurückdachte. Mein Date stand offenbar unter dem Einfluss verbotener Substanzen und war beim Abendessen ständig aufgestanden, um nachzulegen. Erst nachdem er zum dritten Mal aufgestanden und auf der Toilette verschwunden war, begriff ich, was vor sich ging. Also bestellte ich einfach den teuersten Wein auf der Speisekarte, trank ein halbes Glas und ließ ihn dann mit der Rechnung alleine. Denn ich lasse nicht mehr zu, dass ein Mann mich schlecht behandelt.

Auch dann nicht, wenn er so umwerfend gut aussah wie Alessandro Lucioni. Groß, dunkelhaarig und atemberaubend attraktiv klingt nach einem Klischee – aber genau das war er.

Mit den hohen Wangenknochen und seinen dichten dunklen Augenbrauen wirkte er ein wenig einschüchternd, vor allem, wenn er die Stirn runzelte. Sein dichtes dunkles Haar trug er weder zu kurz noch zu lang. Wie ein Model aus einem Werbespot für Aftershave.

Heute lag sein Haar leicht zerzaust, als hätte er es mit der Hand aus seiner Stirn gestrichen. Wenn ich nur endlich aufhören könnte, über seine Finger nachzudenken. Schon wieder stieg die altbekannte Hitze in meinem Inneren auf.

„Das hier ist … ähm … die Bibliothek.“ Ich öffnete eine Tür zu meiner Linken. Alessandro wartete, bis ich vor ihm eintrat. Er besaß ausgezeichnete Manieren. Noch etwas, das ich ihm zugestehen musste. Bei ihm kam die Frau immer an erster Stelle. Meine Güte, warum dachte ich in seiner Gegenwart immer nur an das eine!

Ich schob den Gedanken beiseite, hob das Kinn und deutete auf die deckenhohen Bücherregale um uns herum. „Hier an der Emily-Sudgrove-Akademie sind wir stolz darauf, unseren Mädchen ein großes Angebot an Lesematerial anzubieten. Die Bücher sind altersgerecht und geben ihnen die Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern.“ Du meine Güte, ich klang, als würde ich eine Informationsbroschüre vorlesen.

„Jem.“

Ich werde jeden Tag beim Namen genannt. Es gab nicht den geringsten Grund dafür, dass meine Knie plötzlich zitterten. Oder dafür, wie hart das Herz in meiner Brust pochte. Aber irgendetwas an der Art, wie Alessandro meinen Namen aussprach, ließ jede Zelle in meinem Körper vibrieren. Ich atmete tief ein, setzte meine professionellste Lehrerinnenmiene auf und drehte mich zu ihm um.

„Miss Clark“, korrigierte ich ihn spitz. „Hier an der Emily-Sudgrove-Schule legen wir viel Wert auf förmliche Anrede, um unseren Mädchen beizubringen …“

„Warum bist du neulich in London vor mir weggelaufen?“

Schockiert starrte ich ihn an. Also hatte er mich doch mit meiner Schwester im Restaurant bemerkt. Bei dem Gedanken, dass er gesehen hatte, wie ich das Restaurant fluchtartig durch die Küche verlassen hatte, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

Aber ich konnte den Anblick von ihm und seinen ständigen Geliebten einfach nicht ertragen. Weder in den Zeitschriften noch im echten Leben. Offenbar wechselte er die Frauen wie ein Taxifahrer seine Fahrgäste. Vielleicht sollte er eine Drehtür in seinem Schlafzimmer einbauen und Wartenummern verteilen, damit sich niemand vordrängelte.

„Ich fürchte, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Ich schaute ihm nicht in die Augen. „Du musst mich verwechselt haben.“

Er verzog einen Mundwinkel zu einem wissenden Lächeln. Die kleine Bewegung reichte aus, um meinen Herzschlag zu beschleunigen.

„Ich könnte dich niemals verwechseln, cara.“

Diesmal versuchte ich nicht, gleichgültig zu wirken. Ich runzelte die Stirn. Funkelte ihn wütend an. Stellte meine Stacheln auf. „Nenn mich nicht so. Für dich bin ich Miss Clark.“

Er verzog den Mundwinkel noch weiter, als amüsierte er sich köstlich über meine distanzierte Art. „Wie lange unterrichtest du schon hier?“

„Seit fünf Jahren.“

Er hob die Augenbrauen. „Also seit Paris?“

Paris. Die Stadt der Liebe. Als ob. Wohl eher die Stadt der bitteren Enttäuschung. Ich verabscheue Paris. Sobald ich ein Baguette sehe, spüre ich das Bedürfnis, es jemandem über den Kopf zu hauen oder mich zu übergeben. Oder beides.

Ich hob das Kinn. „Ich war bereit für eine Veränderung.“

Einen Moment lang wirkte sein Blick abwesend, als würde er an unsere gemeinsame Zeit zurückdenken. Genau diesen Blick bekam ich wahrscheinlich auch, wenn ich an unseren abenteuerlichen Monat in Paris dachte.

Aber dann blinzelte er, und der Moment war vorbei. „Ich habe mich für diese Schule entschieden, weil sie nah bei meinem Haus liegt“, sagte er.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Du wohnst hier in der Nähe?“

„Ich habe ein Anwesen auf dem Land gekauft, direkt bei Bath.“

„Und warum schickst du deine Nichte dann als Internatsschülerin zu uns?“

„Das Gebäude wird gerade renoviert.“ Er schüttelte den Kopf. „Eine Baustelle ist kein sicherer Ort für ein Kind.“

„Was hast du vor, wenn das Haus fertig ist?“, fragte ich. „Wird Claudia bei dir leben? Oder pendelst du nur zwischen London und Bath?“

Ohne zu antworten, zog er ein Buch aus dem Regal und drehte es in der Hand. Ich schaute auf den Buchtitel. Ein Kinderbuch aus der Beatrix-Potter-Reihe.

Meine Mutter liebt Beatrix Potter. Daher stammen auch Berties und mein Name, auch wenn Bertie es gar nicht mag, wenn man sie Beatrix nennt. Hatte er das Buch mit Absicht ausgesucht? Wollte er mich an die Verbindung erinnern, die wir damals miteinander geteilt hatten? Ich hatte ihm nicht alles aus meiner Kindheit erzählt, aber das meiste. Gut, vielleicht nicht das meiste, aber einiges. Und manche Dinge konnte ich nicht einmal Bertie anvertrauen, egal wie nahe wir uns standen.

Denn über manches spricht man besser nicht. Am besten denkt man nicht einmal darüber nach. Ich bin gut im Verdrängen. Verdrängung ist sozusagen mein zweiter Vorname … also, nicht wirklich. Aber es würde gut passen.

Bertie und ich haben keinen zweiten Vornamen, weil unsere Eltern nichts davon halten. Die beiden haben selbst fünf oder sechs Vornamen, können sich aber die richtige Reihenfolge nie merken. Meine Eltern stammen aus Adelsfamilien. Das macht es wahrscheinlich einfacher, ein Hippie-Leben zu führen. Immerhin zahlt jemand anders den Unterhalt. Aber davon fange ich jetzt lieber nicht an …

Jetzt stellte Alessandro das Buch zurück an seinen Platz. Schon seine Nähe im selben Raum reichte, damit mir schwindelig wurde. Diese Stimme. Diese Augen. Diese Hände.

Ich hatte das Gefühl, in seinem Anblick zu ertrinken. Ich versuchte nicht die breiten Schultern mit dem muskulösen Rücken anzustarren, der in schmale Hüften und ewig lange Beine überging. Jeden Zentimeter dieses Körpers hatte ich erkundet. Hatte gelernt, Vergnügen zu schenken und zu empfangen, statt vor Angst zu erstarren. Eine Angst, von der ich ihm nie erzählt hatte. Jedenfalls nicht den wahren Grund dafür. Ich hatte ihm erzählt, dass mein erstes Mal unangenehm gewesen war. Aber wie furchtbar es wirklich war, hatte ich ihm nie gesagt. Denn ich weigere mich, mich selbst als Opfer zu sehen. Ich nenne mich auch nicht Überlebende. Ich bin eine Kämpferin. Ich bin stark und zäh, und ich lasse mich von niemandem schlecht behandeln.

Alessandro drehte sich zu mir, und mein Blick verfing sich in seinen Augen.

„Du siehst gut aus, Jem.“

Noch etwas, das ich gar nicht leiden kann. Komplimente. Ich habe mich nie für schön gehalten. Obwohl ich blonde Haare und blaue Augen habe, schlank bin und mit einer vollen Oberweite gesegnet – ein typisches Blondinenklischee –, gefällt mir einiges an meinem Aussehen nicht. Die Nase, die ich von meinem Vater geerbt habe. Die Wangenknochen von meiner Mutter. Das Haar von meiner Großmutter mütterlicherseits und das Kinn von meinem Großvater väterlicherseits. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wer mir diese Augen vererbt hat, hoffe ich für denjenigen, dass er besser gucken konnte als ich! Wirklich, es kommt mir vor, als hätte jemand alle schlechten Merkmale meiner Familie in einen Topf geworfen, um mich daraus zu erschaffen.

In unserer Familie ist Bertie die Schönheit – nicht dass sie selbst das so sehen würde. Wenn man sie fragt, bin ich die hübsche Schwester. Aber das liegt einfach daran, dass sie so ein gutes Herz hat. Mit ihrem glänzend braunen Haar, den braunen Augen und ihrem süßen Lächeln mit den zwei kleinen Grübchen, kann ihr niemand widerstehen.

Wenn ich lächle, sieht es dagegen aus, als schneide ich eine Grimasse. Manchmal muss ich mich selbst heute noch daran erinnern, dass ich beim Lächeln meine Zähne zeigen darf. Denn in meiner Kindheit standen meine Zähne so weit auseinander wie die Latten an einem Lattenzaun.

Damals befanden sich meine Eltern gerade in einer Phase, in der sie Ärzte und die Schulmedizin komplett ablehnten. Leider auch Zahnärzte. Sie waren fest davon überzeugt, dass meine Zähne von alleine den richtigen Platz finden würden. Weit gefehlt! Stattdessen musste ich noch als junge Erwachsene Tag und Nacht eine Zahnspange tragen. Dreieinhalb Jahre lang! Kein Wunder, dass ich absolut kein Liebesleben vorweisen konnte, als ich Alessandro kennenlernte.

Anstatt mich für sein Kompliment zu bedanken, zuckte ich mit den Schultern. „Ich zeige dir die Schlafsäle. Komm bitte mit.“

Ich führte ihn zum Ausgang der Bücherei, doch gerade als ich die Tür öffnen wollte, legte er eine Hand auf meinen Arm. Selbst durch den Stoff meines Seidenhemdes und meines Baumwollpullovers spürte ich die Hitze, die von seinen Fingern ausging. Ich schaute auf seine Hand, wie jemand eine Kakerlake auf einem Stück Kuchen anschauen würde. Dann sah ich ihm in die dunklen Augen.

„Ich bitte dich.“ Meine Ton klang kühl und streng. Bertie nennt es meine Lehrerinstimme.

Doch er löste seine Hand nicht. Im Gegenteil, er schien meinen Arm ein wenig fester zu halten. Einen Moment lang verlor ich mich in den Tiefen seiner Augen. Als sei sein Blick magnetisch und hielte mich gefangen.

Du meine Güte. Langsam klinge ich wie meine eigene Mutter mit ihrem Hang zur Esoterik und zum Übersinnlichen. Mit seiner Aura hätte sie bestimmt ihren Spaß. Selbst ich konnte die Energie spüren, die er verströmte. So dunkel und unnahbar seine Augen auch wirkten, mir kam es vor, als schaute er mich durch eine geschlossene Tür an.

Hatte ich genau den Eindruck nicht schon immer gehabt? Nur hatte ich vor fünf Jahren die Dunkelheit in seinen Augen einfach übersehen. Aus Erfahrung wusste ich, dass es Dinge gab, über die man nicht gerne sprach. Deshalb hatte ich nie versucht, mehr aus ihm herauszubekommen. Damals dachte ich, seine Vergangenheit als Waisenkind sei Grund genug für ihn, nicht über seine Kindheit zu sprechen. Wie unglaublich dumm von mir, all seine Lügen zu glauben. Warum hatte er mich belogen? Aus was für einer Familie stammte er? Ganz bestimmt konnten seine Verwandten nicht halb so verrückt sein wie meine.

Alessandro legte den Daumen auf meinen Puls. Verdammt. Jetzt konnte ich meinen viel zu schnellen Herzschlag nicht mehr vor ihm verstecken. Ganz gleich wie entschlossen ich ihm die kalte Schulter zeigen wollte, er fand immer einen Weg, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Deshalb war ich ihm all die Jahre lang so sorgfältig aus dem Weg gegangen. Ich vermied alle Orte, an denen man ihn regelmäßig traf. Auf keinen Fall wollte ich ihm über den Weg laufen und so tun, als wären wir alte Freunde. Mit ihm höflichen Small Talk führen, vielleicht über das Wetter oder Politik. Als hätte er mein Herz nicht in tausend Stücke zerschlagen und mit der Ledersole seiner handgemachten italienischen Schuhe zertreten. Dazu besitze ich zu viel Stolz. Keine zweiten Chancen, lautet eins meiner Lebensmottos. Ein Fehltritt, und es war vorbei. Niemand bekommt die Gelegenheit, Jem Clark mehr als einmal wehzutun.

Ich erschauerte, als sein Daumen langsam über mein Handgelenk strich, aber ich ließ mir nichts anmerken, auch wenn jeder Nerv in meinem Körper nach mehr schrie. Alessandros Berührung war hypnotisch. Sanft und doch stark. Selbstbewusst. Selbstsicher. Als kenne er meinen Körper wie ein Maestro sein Lieblingsinstrument. Das war gar kein schlechter Vergleich. Jeder Muskel in meinem Körper fühlte sich zum Zerreißen gespannt an, wie eine Geige, die zu hoch gestimmt war.

Wie konnte er nach all der Zeit immer noch dieselbe Wirkung auf mich haben? Ich verabscheute ihn dafür, wie er mich benutzt hatte. Ich verabscheute seine leeren Worte, süß wie Honig.

Wie er gesagt hatte, er wollte den Rest seines Lebens mit mir verbringen. Dabei wollte er nichts als eine deutliche Botschaft an seine Ex-Freundin senden und ihr zeigen, dass er über sie hinweg war. Warum war ich darauf hereingefallen? Genau wie damals, als junges Mädchen. Auch an jenem entsetzlichen Tag, von dem ich nicht mehr sprechen will, war ich naiv auf die Lügen eines Mannes hereingefallen.

Aber jetzt bin ich älter und klüger. Heute kann mich keiner mehr um den Finger wickeln. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich seit Jahren auf keinem Date mehr war. Mir ist es egal, ob ich einem Mann gefalle. Ich brauche keine Märchengeschichte wie meine Schwester. Ich suche nicht nach einem Ehemann, mit dem ich mein Leben in einem Vorort verbringen, zweieinhalb Kinder bekommen und eine Hypothek aufnehmen kann.

Außerdem habe ich mehr als genug Kinder hier in der Schule, um die ich mich kümmern muss. Mutterfreuden und Mutterpflichten, aber mit etwas Abstand. Das schaffte ich. Darin war ich sogar verdammt gut.

Einen nach dem anderen löste ich Alessandros Finger von meinem Arm. „Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden, Dr. Lucioni.“

Dr. Lucioni? Wem versuchte ich etwas vorzumachen? Keine noch so förmliche Anrede konnte die Erinnerung an unsere Affäre auslöschen. Unsere Vergangenheit hing zwischen uns wie eine dunkle Wolke.

Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder auf. Erinnerungen an unsere gemeinsamen Nächte in Paris. Wie er mich im Arm hielt, als wollte er mich nie wieder gehen lassen. Wie sein Mund … Auf keinen Fall durfte ich an seinen Mund denken! Daran, wie er mir mit seinen Lippen sinnliche Freude bereitet hatte, wie noch kein Mann zuvor.

„Du glaubst, du kannst einfach auslöschen, was zwischen uns war?“

Ich rieb über mein Handgelenk, als hätte mich eine Wespe gestochen. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn du nicht noch einmal über unsere … Verbindung sprichst, während wir uns auf dem Schulgelände befinden.“ Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme furchtbar affektiert. Fast hätte ich laut gelacht.

Er schwieg einen Moment. „Ich habe meiner Nichte erzählt, dass du eine alte Freundin von mir bist“, sagte er dann. „Ich dachte, vielleicht fühlt sie sich dann auf der neuen Schule nicht ganz so einsam.“

Mir fehlten die Worte. „Wie bitte?“, brachte ich schließlich heraus.

„Hast du ein Problem damit, einem kleinen Kind etwas mehr emotionale Sicherheit zu bieten?“

„Ich habe ein Problem damit, wenn du eine Verbindung zwischen uns erfindest, die es nicht gibt.“

„Früher gab es sie.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das sehe ich anders. Wie kannst du mir gegenüberstehen und behaupten, zwischen uns hätte je eine Verbindung bestanden? Du hast nicht einmal erwähnt, dass dich gerade erst deine Verlobte verlassen hatte! Ganz abgesehen von den Lügen über deine Familie. Du hast mich vom ersten Tag an belogen, Alessandro!“

Jetzt hatte ich ihn doch beim Vornamen genannt! Dabei war mir das viel zu persönlich. Zu vertraulich.

„Jetzt erfahre ich plötzlich, dass du eine Schwester hast. So funktioniert keine Beziehung. Als Paar teilt man Dinge miteinander. Die wichtigen Dinge“, sagte ich.

Ein leises Schuldgefühl stieg in mir auf. Immerhin hatte auch ich ihm etwas aus meiner Vergangenheit nicht anvertraut. Aber ich weigerte mich einfach, wichtig zu nehmen, was an jenem Tag passiert war. Ich hasste es, daran zu denken. Danach würden nur wieder die Albträume einsetzen.

„Ich hätte dir irgendwann davon erzählt“, sagte er.

Ich verdrehte die Augen. „Wann denn? An unserem fünfzigsten Hochzeitstag?“ Noch ein Wort, das ich nicht leiden kann. Hochzeit. „Aber eine Hochzeit stand nie auf dem Plan, stimmt’s? Nicht einmal eine Verlobung. Unsere heiße Affäre war nur eine Show. Nachdem du dein Ziel erreicht und dich an deiner Ex-Verlobten gerächt hättest, wärst du ganz schnell zur nächsten Eroberung übergegangen. Du ärgerst dich nur, weil ich dich vorher durchschaut habe.“ Ich schaute ihn kämpferisch an.

„Ich bin nicht hier, um mit dir über die Vergangenheit zu reden“, sagte er. „Ich möchte über die Zukunft meiner Nichte sprechen.“

Autor

Melanie Milburne
<p>Eigentlich hätte Melanie Milburne ja für ein High-School-Examen lernen müssen, doch dann fiel ihr ihr erster Liebesroman in die Hände. Damals – sie war siebzehn – stand für sie fest: Sie würde weiterhin romantische Romane lesen – und einen Mann heiraten, der ebenso attraktiv war wie die Helden der Romances....
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