Wiedersehen mit dem ruchlosen Duke

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Vor vier Jahren hat er ihr das Herz gebrochen! Fassungslos steht Ellen auf dem Ball dem breitschultrigen Max Colnebrooke gegenüber. Wie hat sie ihn damals während einer gefährlichen Reise durch Ägypten geliebt, sogar geheiratet. Nur um zu erkennen, dass seine Gefühle eine Lüge waren! Doch jetzt erpresst Max, inzwischen der Duke of Rossenhall, sie ruchlos: Entweder sie erfüllt ihre Ehepflichten, oder er ruiniert sie mit einer Scheidung. Denn Ellen ist immer noch die Gattin dieses arroganten Adligen. Und sie hat etwas, das er will: seinen Sohn und Erben …


  • Erscheinungstag 26.06.2018
  • Bandnummer 0586
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733704
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ganz Harrogate war von erwartungsvoller Aufregung erfüllt, denn es hatte sich herumgesprochen, dass am Abend ein höchst illustrer Gast den Ball im „Granby“ mit seiner Anwesenheit beehren würde. Es gab zwar noch keine offizielle Bestätigung der Gerüchte, doch der Besucher, dessen Ankunft man entgegenfieberte, war ein guter Freund von einem Bewohner der kleinen Ortschaft, sodass die allgemeinen Hoffnungen auf den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht durchaus berechtigt waren. Die ohnehin schon freudige Stimmung im Ort wurde durch die Rückkehr der „goldenen Witwe“ aus London noch weiter angefacht. Viele fragten sich, warum eine so attraktive, junge Witwe wie Mrs. Ellen Furnell sich nicht ganz in der Hauptstadt niederließ, wo sie ohne Zweifel in kürzester Zeit zu einer der gefragtesten Gastgeberinnen der guten Gesellschaft aufsteigen würde. Ihre zahlreichen Verehrer, darunter auch der alte General Dingwell, waren jedoch nur allzu erfreut darüber, dass sie den kleinen Flecken offenbar bevorzugte, und wurden nicht müde zu beteuern, dass dieser Umstand zwar ein schmerzlicher Verlust für London, für High Harrogate jedoch ein großer Gewinn war.

Eben jene Dame saß gerade an ihrem Schreibtisch in ihrem Haus in der Paradise Row und sah die Briefstapel durch, die sich während ihrer Abwesenheit angehäuft hatten. Ellen war erst am Tag zuvor von ihrem jährlichen Aufenthalt in der Hauptstadt zurückgekehrt. Genau genommen hatte sie ein Haus in Kensington im Umland von London angemietet, wo sie mit Besuchern nicht zu rechnen hatte und selbst auch keine Einladungen erhielt, sodass sie die Wochen äußerst ruhig und beschaulich verlebt hatte. Trotzdem hatte sie, wenn ihr danach zumute gewesen war, von dort aus problemlos in die Stadt fahren können, um ein Museum zu besichtigen oder ein Theaterstück anzusehen. Auch ein Abstecher zu einem ihrer liebsten Modehäuser, in denen sie schon seit Jahren eine gern gesehene Kundin war, war von dort aus ein Leichtes gewesen.

Sie schob die Rechnungen und die Briefe von ihrer Bank zur Seite – sie würde sie am nächsten Tag durchsehen – und legte nach kurzem Zögern den Brief von Lady Phyllida Arrandale auf denselben Stapel. Sie war ihrer Stiefmutter zwar aufrichtig ergeben, doch die Schilderungen in ihren Briefen verströmten für gewöhnlich eine Atmosphäre von heimeliger Zufriedenheit, und Ellen verspürte an diesem Morgen wenig Lust, derartige Dinge zu lesen, da sie ihr nur zu sehr ihre eigene innere Unzufriedenheit vor Augen halten würden, die in den letzten Monaten sogar noch stärker geworden war. Schnell verdrängte Ellen diese Gedanken, für Selbstmitleid gab es keinen Platz in ihrem Leben. Sie hatte es sich so ausgesucht und ihre Entscheidung nicht eine Sekunde lang bereut, seit sie damals vor vier Jahren in Portsmouth von Bord gegangen war. Sie war sehr glücklich hier in Harrogate. Ja, das war sie wirklich.

Ellen begann, die verbleibenden Papiere und Visitenkarten durchzusehen. Darunter war eine Einladung zu einem Sommerfest bei Bekannten in Leicestershire, ein Brief von Reverend Robert Mitton, der sich höflich erkundigte, ob sie dem bald anstehenden Konzert beiwohnen würde – was ihrerseits natürlich eine großzügige Spende für die Reparatur des Kirchendachs beinhalten würde – sowie zahlreiche Einladungen zum Tee, zum Frühstück und zu verschiedenen Bällen und Soirees. Ellen beschloss, nicht zu dem Sommerfest nach Leicestershire zu fahren, doch an den restlichen Veranstaltungen würde sie mit Freude teilnehmen, genau wie an dem Ball im „Granby“ heute Abend. Schließlich war das ihr Hauptzeitvertreib hier in Harrogate: Vorträgen und Debatten beiwohnen, sich für wohltätige Zwecke engagieren und zu Abendveranstaltungen zu gehen. Als vermögende, eigenständige Frau war sie überall willkommen und ihre zahlreichen Bewunderer waren sich darüber einig, dass sie ein echtes Juwel war, der hellste Stern am Himmel der guten Gesellschaft von Harrogate. Ellen entlockte es meist bloß ein abwehrendes Lachen, wenn sie wieder einmal wegen ihres blitzschnellen Verstands, ihrer goldglänzenden Lockenpracht oder ihrer leuchtend blauen Augen mit Komplimenten überhäuft wurde, doch es wäre falsche Bescheidenheit gewesen, ihre Schönheit abzustreiten. Sie musste nur in den Spiegel blicken, um zu wissen, dass ihre Verehrer die Wahrheit sagten.

„Und dafür solltest du dankbar sein“, murmelte sie leise vor sich hin, während sie die Einladungskarten ordentlich übereinanderstapelte. „Dein hübsches Gesicht hat dir schon oft im Leben geholfen.“

Bis auf das eine Mal.

Ihr Herz krampfte sich wie aus dem Nichts schmerzvoll zusammen, und sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie dachte darüber nach, ob es vielleicht besser wäre, heute Abend zu Hause zu bleiben und sich damit zu entschuldigen, dass sie zu erschöpft von der Reise war.

Doch wer würde mir glauben? Seit sie vor vier Jahren nach Harrogate gekommen war, hatte sie hart für ihr hohes Ansehen im Ort gearbeitet. Sie war zu einem wichtigen Teil der Gesellschaft geworden und hatte sich gleichzeitig einen tadellosen Ruf bewahrt.

Jeder hier weiß, dass Mrs. Ellen Furnell unermüdlich ist, dachte sie. Weil du Angst hast, auch nur einen Moment innezuhalten, damit dich die Vergangenheit nicht einholt.

Schnell stand Ellen auf und ging nach oben zum Kinderzimmer. Das war der Ort, an dem ihr ganzes Herz hing, und nicht an irgendeiner fernen, schemenhaften Erinnerung. Mit vorsichtigen Schritten trat sie ein. Eine weißhaarige Frau und ein kleiner Junge saßen auf dem Boden und bauten zusammen einen Turm aus Holzklötzen. Als der Junge freudig aufsprang und voller Begeisterung auf Ellen zulief, fiel die ganze Konstruktion krachend in sich zusammen.

„Mama!“

„Jamie!“ Ellen ging in die Hocke und streckte die Arme aus.

Mit einem Freudenschrei warf der Junge sich ihr entgegen und ließ sich von ihr umarmen. Das Kindermädchen stand kopfschüttelnd auf.

„Sie sollten ihn nicht noch dazu ermutigen, so überschwänglich zu sein, Madam. Er ist auch so schon ein Wildfang.“

Ellen hob den Jungen hoch und ging mit ihm durchs Zimmer. „Unsinn, Matty, er ist doch erst drei, noch fast ein Baby, stimmt’s, mein Liebling?“

„Ja, und wenn es nach mir ginge, dann hätte er auch noch keine Kniehosen an.“

„Und Sie hätten ihm wahrscheinlich auch die Haare noch länger wachsen lassen“, erwiderte Ellen lachend und strich dem Jungen über die kurzen, blonden Locken, die sogar noch heller leuchteten als ihre eigenen. „Nun, was habt Ihr hier gemacht, Jamie? Habt Ihr ein Haus gebaut? Darf Mama euch dabei helfen?“

Beim Spielen mit ihrem Sohn wurde Ellens Stimmung schlagartig wieder besser, und sie blieb so lange im Kinderzimmer, bis es Zeit war, sich für den Ball umzukleiden. Sie hatte keinerlei Bedenken, Jamie allein zu lassen. Matlock war einst ihr eigenes Kindermädchen und später ihre Zofe gewesen, und die ältere Frau liebte den Jungen fast genau so sehr wie sie selbst.

Nachdem sie allein zu Abend gegessen hatte, ging Ellen noch einmal nach oben ins Kinderzimmer. Der kleine James lag bereits warm zugedeckt in seinem Bett und schlief tief und fest. Ellen beugte sich zu ihm hinab und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die goldenen Locken.

„Er sieht wie ein Engel aus“, flüsterte sie und blickte ihren Sohn voller Liebe an. „Ich könnte ewig hier stehen bleiben und ihn ansehen.“

„Davon hätten weder Sie noch er etwas, Madam“, sagte Matlock, während sie einige Spielzeuge vom Boden zurück ins Regal räumte. „Gehen Sie und amüsieren Sie sich, Madam. Master James ist bei Hannah und mir bestens aufgehoben.“

Ellen seufzte. „Ach, Matty, glauben Sie wirklich, dass mir diese Partys Spaß machen?“

„Nun ja, Madam, auch wenn Sie es abstreiten, aber Sie wissen selbst, wie wichtig es für Sie ist, unter Menschen zu gehen und vernünftige Gespräche zu führen. Das können Sie von einem Dreijährigen nicht bekommen.“

Ellen lachte. „Vernünftige Gespräche? Glauben Sie mir, Matty, das ist leider eher die Ausnahme. Doch Sie haben recht, es bringt niemandem etwas, wenn ich zum Einsiedler werde.“

Lächelnd winkte sie dem alten Kindermädchen zum Abschied zu und ging schließlich die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus, wo ihre Kutsche schon bereitstand.

„Euer Gnaden? Duke?“

Max zuckte erschrocken zusammen und wandte sich sogleich der Gastgeberin zu, um sie um Verzeihung zu bitten. Er war jetzt seit über einem Jahr der Duke of Rossenhall, doch er hatte sich noch immer nicht an den Titel gewöhnt. Die Gastgeberin wollte seine Entschuldigung gar nicht hören und beteuerte, seine Unaufmerksamkeit habe sie nicht im Geringsten beleidigt. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass von einem Duke nicht erwartet wurde, höflich zu sein.

„Ich sagte lediglich, dass wir bald aufbrechen und zum Granby fahren müssen, Euer Gnaden.“

„Müssen wir das wirklich, Georgiana?“ Max verzog das Gesicht, zwang sich jedoch sofort zu einem freundlichen Lächeln. „Ich hätte nichts dagegen, mit Ihnen und Fred einen ruhigen Abend zu verbringen.“

„Das ist ganz unmöglich“, entgegnete Fred Arncliffe unverblümt. „Georgie hat versprochen, dass wir dich mitnehmen.“

Max warf ihm einen schmerzverzerrten Blick zu. „Und ich dachte, du wärst mein Freund. So langsam bereue ich meine Entscheidung, dich besucht zu haben.“

„Du weißt, dass Georgie und ich alles für dich tun würden, alter Freund, aber es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass du hier bist. Verdammt, Max, du wohnst sogar im Granby!“

„Die Zeit war so knapp, ich hatte keine andere Wahl“, gab Max zurück. „Wenn meine Geschäfte in Yorck nicht so überraschend schnell abgeschlossen gewesen wären, dann wäre ich überhaupt nicht gekommen.“ Sie alle wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Georgiana hatte ihm geschrieben und ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Freds Gesundheitszustand sich in äußerst besorgniserregendem Maße verschlechtert hatte, und Max hatte ohnehin vorgehabt, seinen Besuch in Yorck abzukürzen, damit er seinen alten Freund besuchen konnte. „Ich wäre nicht einmal in die Nähe von Harrogate gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass ihr mich auf derart absurde Weise vorführen wollt.“

Fred lächelte belustigt. „Was hat man denn davon, mit einem Duke befreundet zu sein, wenn man nicht wenigstens ein wenig damit angeben kann?“

„Jeder im Ort weiß inzwischen, dass Sie hier sind, um Frederick zu besuchen. Sie erwarten daher, dass Sie mit uns zum Ball gehen“, fügte Georgie hinzu. „Denken Sie daran, welche Ehre Sie dem Hotel damit erweisen.“

„Ja, ich denke an nichts anderes“, brummte Max missmutig.

Frederick lachte laut auf. „Ich weiß, dass du wenig für Tanz und Vergnügen übrighast, mein Freund, aber es würde äußerst merkwürdig aussehen, wenn du dich oben in deiner Suite einschließt, während Georgie und ich im gleichen Gebäude auf einem Ball sind.“ Als er den Ausdruck auf Max Gesicht sah, wurde er plötzlich ernst. „Findest du wirklich, dass ich meine letzten Monate damit verbringen sollte, mich vor der Welt zu verstecken, bloß weil ich bald sterbe?“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Max, ohne zu zögern. „Entschuldige bitte, Fred. Ich bin schrecklich selbstsüchtig. Aber als ich Georgies Brief las, dachte ich allerdings, dass du bereits mit einem Fuß im Grab stehst.“

„Und das ist auch der Fall“, gab sein Freund mit brutaler Ehrlichkeit zurück. „Ich kann mich zwar nicht mehr selbst auf der Tanzfläche austoben, aber mir macht es Freude, dazusitzen und den anderen zuzuschauen … und zu sehen, wie Georgie sich amüsiert.“

Max blickte seinen Freund schweigend an. Frederick Arncliffe war nur noch ein Schatten des kräftigen, unerschrockenen Soldaten, der er einmal gewesen war. Doch, obwohl ihm die Ärzte nur noch wenige Monate zu leben gegeben hatten, waren seine Lebenslust und seine Heiterkeit noch genauso stark wie immer, und Max wusste, dass es seinen Freund rasend machen würde, wenn er ihn bemitleidete.

„Ihr wollt mich also von Raum zu Raum führen“, sagte er, als sie nach draußen zur Kutsche gingen. „Wie irgendeine wundersame Kreatur auf dem Jahrmarkt.“

„Ganz genau so.“ Fred lachte vergnügt und nahm seinen Arm. „Alle werden sich überschwänglich vor dir verbeugen und dich mit Komplimenten überhäufen, als ob du der Prinz höchstpersönlich wärst.“

Max sah ihn verdrossen an. „Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.“

Hatte er das wirklich? Als der Zweitgeborene hatte er nicht damit gerechnet, dass er eines Tages den Titel erben würde. Sein Vater hatte ihm ein Offizierspatent gekauft und Max deutlich zu verstehen gegeben, dass seine Anwesenheit in Rossenhall überflüssig war. Selbst als der alte Duke tot war, ließ sein Bruder ihn wissen, dass er zu Hause nicht gebraucht wurde. Das hatte ihn zwar getroffen, doch Hugo hatte erst kurz zuvor geheiratet, und Max konnte sich vorstellen, dass er und seine Gattin ihre Zweisamkeit ungestört genießen wollten. Alle hatten fest damit gerechnet, dass es schon bald nach der Hochzeit einen Erben geben würde, doch auch nach fünf Jahren hatte es noch immer keine Kinder in dem großen Haus gegeben. Hugos plötzlicher Tod vor einem Jahr war ein entsetzlicher Schreck für alle gewesen. Sechs Monate lang hatte Max sich geweigert zu akzeptieren, dass nun er selbst der Duke of Rossenhall war, und war weiter seiner militärischen Routine gefolgt. Er war überzeugt davon, dass die Geschäfte, die das Anwesen und die zugehörigen Ländereien betrafen, auch sehr gut ohne ihn weiterlaufen würden. Atherwell, der Verwalter, hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt, sodass er ihn und seine Schwägerin, die Witwe seines Bruders, mit der Führung von Rossenhall betraut hatte. Der neue Duke of Rossenhall hegte keinen anderen Wunsch, als sich vor der restlichen Welt zu verbergen.

Doch, zu Max großem Missfallen, hatte die restliche Welt andere Pläne. Er hatte gedacht, sich vor den zahllosen überambitionierten Eltern, die ihm bei jeder Gelegenheit ihre heiratsfähigen Töchter anpriesen, verstecken zu können, indem er in der Armee blieb, doch er hatte schnell erkannt, dass dies ein Irrtum gewesen war. Wo auch immer er hinging, drängte man sich ihm auf, denn er galt als Englands begehrtester Junggeselle. Sogar sein bester Freund hatte keine Skrupel, ihn verkuppeln zu wollen. Fred hatte Max eines Tages geschrieben und zwischen den Zeilen angedeutet, dass seine jüngere Schwester eine exzellente Duchess abgeben würde. Clare Arncliffe war jedoch erst sechzehn Jahre alt und damit mehr als zehn Jahre jünger als Max, daher hatte Max die Briefe seines Freundes einfach ignoriert. Die Antwortschreiben seines Freundes zeigten zu Max Bestürzung jedoch allzu deutlich, dass Fred sein Schweigen offenbar als Zustimmung gedeutet hatte.

Max hatte fest vor, seinem Freund irgendwann zu erklären, dass diese Verbindung für ihn vollkommen außer Frage stand. Er hatte es jedoch nie übers Herz gebracht, es ihm auf schriftlichem Wege mitzuteilen. Eine derartige Angelegenheit erforderte ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Und jetzt, da er durch Georgies Brief davon erfahren hatte, dass seinem Freund nur noch wenige Monate zu leben blieben, hatte er sich noch weniger dazu bewegen können, das Missverständnis endlich aufzuklären. Er war nach High Harrogate gekommen, um die letzte Zeit mit seinem Freund zu genießen. Und wenn dies beinhaltete, ihn zu diesem unsinnigen Ball heute Abend zu begleiten, dann war es eben so.

Nachdem Max das Unvermeidliche akzeptiert hatte, stieg er mit seinen Freunden in die Kutsche, die sie zum Granby bringen würde. Die Auffahrt zum Hotel war bereits voller Pferdegespanne, als sie dort eintrafen, und Fred brummte leise: „Also wirklich, Georgie, du musst Gott und der Welt davon erzählt haben, dass der Duke of Rossenhall heute Abend hier ist.“

„Unsinn“, gab sie fröhlich zurück. „Ich habe lediglich Lady Bilbrough davon erzählt.“

„Das bedeutet, dass ganz Harrogate innerhalb einer Stunde Bescheid wusste“, erwiderte ihr Gatte grinsend. „Nun gut, gehen wir hinein. Keine Sorge, Max, du kannst sagen, dass du heute nicht vorhast zu tanzen, und neben mir sitzen bleiben.“

„Nein, dass kann er nicht“, sagte Georgie, bevor sie aus der Kutsche kletterte. „Max ist der beste Tänzer, den ich kenne, und ich habe ihn schon fest eingeplant als meinen Partner, zumindest für den ersten Tanz.“

Obwohl sich das Granby mehr als zweihundert Meilen von London entfernt befand, hatte Max das Gefühl, dass sich dieser Ball nicht im Geringsten von den Bällen in der Stadt unterschied: viel zu viele Menschen, die sich in einen viel zu heißen Saal drängten und viel zu laut redeten. Da er nicht gerne unhöflich war, lächelte er jeden einzelnen der Gäste, die ihm vorgestellt wurden, freundlich an, dann wechselte er ein paar Worte mit einigen redseligen älteren Damen, hielt sich die schmierigen Schmeichler weitestgehend vom Leibe und tanzte mit einer Reihe von verlegen kichernden Debütantinnen. Natürlich hatte er bei den ersten beiden Tänzen Georgie den Vorzug gegeben. Er hatte schon unzählige Abende wie den heutigen verlebt, und als die Musik für einen Moment verstummte, damit die Tänzer ein wenig verschnaufen konnten, machte er sich auf die Suche nach Georgie und Fred. Dabei fragte er sich ungeduldig, wann sie wohl endlich von hier verschwinden könnten, ohne dass es allzu unhöflich wirkte.

Doch in dem Moment hörte er es, von der anderen Seite des Saals. Ein heiteres, vergnügtes Lachen, so hell wie eine Glocke. Er kannte diesen Klang nur allzu gut, und er blieb erschrocken stehen, da ihm plötzlich ein eiskaltes Messer durchs Herz fuhr.

Als Ellen im Granby eintraf, war sie überrascht über die vielen Kutschen, die in der Einfahrt standen, und sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen in den Ballsaal strömen würden. Lady Bilbrough kam auch sogleich zu ihr gelaufen, um sie zu begrüßen, als ihr Name am Eingang ausgerufen wurde.

„Meine liebe Mrs. Furnell, ich bin ja so erfreut, dass Sie heute Abend kommen konnten. Und Sie haben sogar ein neues Kleid! Lassen Sie es mich bewundern … ach, herrlich, diese rote Seide. Und dieses weiße Unterkleid aus Satin, ganz reizend. Es steht Ihnen außerordentlich gut, wenn ich das sagen darf. Wahrscheinlich wieder eine der neuesten Kreationen aus London, richtig? Wie ist es Ihnen denn dort ergangen? Ich hoffe, dass Sie sich gut amüsiert haben.“

„Es war sehr heiß in der Stadt, Madam. Ich bin froh, dass ich zurück bin“, antwortete Ellen und gab die Tür frei, da hinter ihr noch mehr Gäste darauf warteten, den Saal zu betreten. Sie sah sich um. „Harrogate ist heute Abend recht zahlreich vertreten.“

„In der Tat“, stimmte die ältere Dame zu, blickte dabei aber ununterbrochen suchend umher, als wartete sie auf jemand bestimmten. „Die Wirte des ‚Crown and Dragon‘ sind wahrscheinlich ganz grün vor Neid, dass ihrem Ball nicht die gleiche Ehre zuteil wurde.“

„Ehre? Was meinen Sie, Madam?“ Ellen lachte verwundert auf. Die Dame meinte sicherlich nicht ihre Rückkehr aus London.

Lady Bilbrough legte ihr verschwörerisch eine Hand auf den Arm und sagte mit vor Aufregung zitternder Stimme: „Oh, Mrs. Furnell, Sie haben die Neuigkeit also noch nicht gehört.“

In dem Moment kam General Dingwell auf die beiden Damen zu, sodass sie unterbrochen wurden.

„Meine liebe Mrs. Furnell, ich bin hocherfreut, dass Sie wieder hier sind. Ich habe bereits nach Ihnen gesucht, denn Sie haben mir beim letzten Mal versprochen, den ersten Tanz für mich zu reservieren. Die Musiker stehen schon wieder bereit, Madam, also sollten wir schnell auf die Tanzfläche gehen. Sie wissen, wie ungern ich mit anderen Damen tanze, Madam, denn keine ist so leichtfüßig wie Sie.“

Ellen schenkte Lady Bilbrough noch schnell ein entschuldigendes Lächeln, da sie sogleich von dem ältlichen Kavalier in die Menge gezogen wurde. Es war immer das Gleiche: Wann immer sie auf einem Ball war, standen die Herren Schlange, um mit ihr zu tanzen, und heute waren es mehr denn je. Sobald ein Tanz vorbei war, ergriff schon der nächste ihre Hand. Obwohl es ihr durchaus Vergnügen bereitete, war sie froh, als die Musiker für einen Moment pausierten. Endlich konnte sie wieder zu Atem kommen und nach ihren Freunden Ausschau halten. Doch sogleich wurde sie von einer ausgelassen plaudernden Gruppe in Beschlag genommen, die sie überschwänglich über ihren Aufenthalt in der Hauptstadt ausfragte. Sie gab bereitwillig Antwort, bemerkte jedoch schnell, dass sie ihr gar nicht richtig zuhörten. Die Männer zupften unwohl an ihren Halsbinden und reckten sich interessiert, während die Damen mit einem Mal vor Aufregung erröteten. Ihr Interesse galt offensichtlich jemandem, der sich hinter ihnen befand.

Als Ellen sich ebenfalls umwandte, um zu sehen, wem diese übertriebene Aufmerksamkeit galt, blickte sie direkt in die Augen des Mannes, den sie so verzweifelt versucht hatte zu vergessen.

Der ganze Saal begann, sich um sie herum zu drehen. Wie aus großer Entfernung drang die Stimme von Lady Bilbrough zu ihr vor, die sie einander vorstellte. Er war nun tatsächlich der Duke of Rossenhall. Es war also nicht alles eine Lüge gewesen, was er ihr erzählt hatte. Nur ihre Heirat. Nur, dass er sie geliebt hatte. Aber warum war er hier? War er gekommen, um sie zu suchen? Man machte sie miteinander bekannt, als wären sie zwei Fremde. Doch natürlich ging hier jeder davon aus, das war ihr selbst in ihrer Verwirrung klar.

Ellen sank in einen tiefen Knicks, wie es das Protokoll erforderte, und sie fragte sich, ob sie genug Kraft hatte, um auch wieder aufzustehen, denn ihre Knie fühlten sich plötzlich weich wie Butter an.

„Euer Gnaden.“

Nur mit viel Willenskraft schaffte sie es zu sprechen, ohne dass ihre Stimme zitterte, und sie erhob sich, anmutig wie immer, aus ihrer Verbeugung. Als sie schließlich ihren Blick dem Duke zuwandte, war sie einen Moment lang wie geblendet, denn das Kerzenlicht brach sich auf seinem hell leuchtenden Haar, sodass es wie flüssiges Gold aussah … beinahe wie ein Heiligenschein. Dabei hatte sie selbst auf schmerzliche Weise erfahren, dass er alles andere als ein Heiliger war. Schnell zwang sie sich dazu zu lächeln. Seine Augen leuchteten wie die einer Raubkatze, doch sie waren eiskalt und bohrten sich tief in sie hinein, bis auf den Grund ihrer Seele. Schmerzhaft wurde sie sich bewusst, dass ihr noch immer jeder Zug seines schönen Gesichts vertraut war, das nun vollkommen gefühllos, wie versteinert war, ganz anders als früher. Sein Blick verriet ihr, dass ihm dieses Zusammentreffen genauso unangenehm war wie ihr, und sie wusste, dass es ihn ebenso unvorbereitet getroffen hatte wie sie. Also war er nicht ihretwegen hier. Ellens Hände krampften sich um ihren Fächer, und sie fühlte, dass einer der dünnen Holzstäbe unter ihrem Griff zerbrach.

„Mrs. Furnell.“ Niemandem außer ihr fiel auf, dass seine Stimme eiskalt und bedrohlich klang. Doch niemand hier kannte den Duke so gut wie sie. „Wenn Sie gerade keine andere Verpflichtung haben, wären Sie vielleicht so freundlich, mir beim nächsten Tanz die Ehre zu erweisen, Madam?“

Nein, das würde sie nicht aushalten. Mit gespieltem Bedauern antwortete sie daher: „Leider habe ich den nächsten Tanz schon für Mr. Leeming reserviert, Euer Gnaden.“

Ellen wandte sich lächelnd zu dem angesprochenen Herrn um, doch der räusperte sich verlegen, machte augenblicklich eine Verbeugung und beteuerte, dass er mit Freuden auf das Vergnügen verzichte, mit Mrs. Furnell zu tanzen. Dann stammelte er noch verzweifelt eine Entschuldigung, die an Ellen gerichtet waren, bis der Duke sich schließlich dankend in seine Richtung verneigte.

„Normalerweise würde ich nie einem anderen Mann die Partnerin abspenstig machen“, sagte der Duke höflich lächelnd. „Doch in diesem Fall war die Versuchung einfach zu groß, um ihr zu widerstehen. Das verstehen Sie doch, oder, Mr. Leeming? Ich stehe in Ihrer Schuld.“ Als hätten sie ein Stichwort erhalten, begannen die Musiker, die ersten Takte eines heiteren Volkstanzes zu spielen, und der Duke hielt Ellen einen Arm hin. „Madam?“

Die Zeit schien stillzustehen. Ellen hatte das Gefühl, sich nicht von der Stelle bewegen zu können. Sie war sich der neugierigen Blicke in ihre Richtung nur allzu bewusst. Lady Bilbrough nickte ihr ermutigend zu, doch sie achtete kaum darauf. Alles, was sie wahrnahm, war der breitschultrige, hochgewachsene Mann mit den strahlend blonden Haaren, der stolz aufgerichtet vor ihr stand, stark wie ein Fels … und gefährlich wie der Teufel.

Ellen senkte den Blick und betrachtete den dunklen Ärmel seines Jacketts. Lieber hätte sie ihre Hand in das Maul eines Krokodils gesteckt, doch sie saß in der Falle. Wenn sie ihn zurückwies, würde es Gerede und jede Menge wilder Vermutungen geben, das konnte sie sich nicht erlauben. Ganz langsam und mit äußerster Vorsicht legte sie ihre Hand auf seinen ausgestreckten Arm. Unter dem feinen Stoff konnte sie fühlen, dass er ebenfalls angespannt war, seine Muskeln waren hart wie Eisen. Während sie auf die Tanzfläche schritten, konnte sie nur allzu deutlich spüren, wie der Zorn in ihm brodelte. Wie eine wütende Welle, die sie zu Boden reißen wollte. Doch sie hob stolz das Kinn. Es gab für sie keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, schließlich war sie diejenige, die betrogen worden war. Sie stellten sich gegenüber voneinander auf und blickten sich in die Augen, jedoch wie zwei Kämpfende und nicht zwei Tanzpartner.

„Es ist lange her“, sagte er schließlich. „Vier Jahre.“

Sie lächelte ihn reserviert an. In den letzten Jahren hatte sie viel Übung darin bekommen, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Das kam ihr jetzt zugute.

„Wirklich? Ist es schon so lange her? Ich hatte es bereits vergessen.“

Das war eine schamlose Lüge. Sie hatte jeden einzelnen Tag, der seit ihrer Trennung verstrichen war, gezählt. Doch sie ließ sich nicht dazu herab, der Vergangenheit hinterherzuweinen, außer nachts in ihren Träumen. Doch das stand außerhalb ihrer Macht. Langsam wiegten sie sich vor und zurück, drehten sich umeinander, wechselten die Partner und kamen schließlich wieder aufeinander zu. Wütend zischte er ihr etwas zu, sodass sie für einen Moment aus dem Takt geriet.

„Ich dachte, Sie wären in Frankreich.“

Nur einen Augenblick später fing sie sich wieder und zischte bei der nächsten Drehung zurück: „Das hatte ich auch vor.“

„Aber stattdessen sind Sie hierhergekommen.“

„An irgendeinem Ort muss ich schließlich leben.“

„Aber ohne mich.“

Sie lächelte unaufhörlich weiter, obwohl sie das Gefühl hatte, als würde sich ihr eine scharfe Klinge durchs Herz bohren. „Ja, ohne Sie.“

Dann trennten sie sich wieder. Ellen beherrschte den Tanz so gut, dass ihre Füße die Schritte wie von selbst ausführten. Nur ihrem Stolz und ihr Willenskraft war es zu verdanken, dass sie ihr strahlendes Lächeln beibehielt. In Gedanken war sie jedoch in der Wüste von Ägypten und dachte an die glühend heißen Tage, die sie dort verlebt hatte und die wie im Rausch vergangen waren. Sie nahm die stickige Luft des Ballsaals nun nicht mehr wahr, sondern gab sich ganz der Erinnerung an die trockene Hitze und an den sandigen Saharawind hin, der so plötzlich, ohne jede Vorwarnung, lospeitschen konnte. Die Gespräche der Ballgäste wurden in ihrer Vorstellung zu den wilden Rufen der Mamluken, die auf ihren Pferden herangeprescht gekommen waren, um ihren Kamelzug zu umkreisen, und dabei angriffslustig ihre Säbel durch die Luft geschwenkt hatten.

Ellen meinte hören zu können, wie Mrs. Ackroyd empört geschnauft hatte. Die kleine Engländerin war einst ihre Lehrerin gewesen, inzwischen war sie zu einer engen Freundin und einer Art Mentorin für sie geworden. Sie hatte einen unbezwingbaren Geist, der sich selbst von einem kriegerischen Wüstenstamm nicht einschüchtern ließ. Vielleicht lag es auch daran, dass sie hoch oben auf dem Rücken eines Kamels thronte und ihr das riesige Tier ein Gefühl von Überlegenheit verlieh.

„Um Himmels willen, sagen Sie ihnen, dass ich eine gute Freundin von Bernardino Drovetti, dem französischen Generalkonsul, bin“, rief Mrs. Ackroyd ihrem vor Angst schlotternden Reiseführer zu. „Sagen Sie ihnen, dass er und der ägyptische Gouverneur uns Sicherheit gewährleistet haben.“ Sie zog ein Schriftstück hervor und wedelte es in Richtung der Reiter in der Luft. „Sehen Sie, wir haben die Erlaubnis, die antiken Stätten von Gizeh zu besuchen. Unterzeichnet von Muhammad Ali höchstpersönlich!“

Als die Reiter den Namen des aktuellen ägyptischen Herrschers hörten, stießen sie einige unverständliche Worte aus, knurrten aufgebracht los und sahen sie mit noch bedrohlicheren Blicken an als zuvor. Einer der Reiter, er war größer und breiter gebaut als die anderen, kam auf sie zugeritten und brachte sein Pferd direkt vor ihnen zum Halten. Er war genauso gekleidet wie die anderen: weiße, flatternde Hosen, ein weites, weißes Hemd, darüber eine blaue Weste und auf dem Kopf einen Turban mit einem Stück Stoff, das sein Gesicht vom Sand und vom Wind schützte. Doch Ellen sah sogleich, dass seine Haut viel heller war als die seiner Begleiter, und seine smaragdgrünen Augen übten einen unerklärlichen Sog auf sie aus.

„Wenn Sie erlauben, vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?“ Seine Stimme war tief und seine Ausdrucksweise entsprach der eines gebildeten Aristokraten. Sie erinnerte sich daran, dass sie damals nicht im Geringsten überrascht war. „Zweifellos haben Sie viel Geld für diesen Passierschein bezahlt, doch ich fürchte, Ihr Vertrauen in den Schutz des Paschas hat hier wenig Bedeutung. Außerhalb Kairos hat er nämlich nur wenig Einfluss.“ Er hatte die leuchtend grünen Augen zusammengekniffen, so als würde er sie anlächeln. „Lassen Sie mich sehen, ob ich etwas für Sie tun kann.“

Die Erinnerung an das belustigte Funkeln in seinen Augen hatte Ellen von da an bis in ihre Träumen verfolgt. Doch nun, als sie sich bei der nächsten Drehung wieder gegenüberstanden, konnte sie kein Lachen in seinen Augen entdecken. Sie sah darin nichts als eiskalte Wut, sodass ihr das Blut in den Adern gefror. Wenn sie doch nur vorher gewusst hätte, dass er hier sein würde. Warum hatte sie sich nicht erkundigt, wer heute Abend alles kommen würde. Sie war allerdings davon ausgegangen, dass sie hier in Harrogate sicher vor ihm war, denn der Duke hatte weder Besitz noch Familie hier oben im Norden. Normalerweise konnte sie sich auf ihren scharfen Verstand verlassen, doch jetzt war sie so durcheinander, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Lächelnd tanzte sie weiter und versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Endlich verstummte die Musik. Sie ignorierte geflissentlich den ausgestreckten Arm des Dukes und ging erhobenen Hauptes von der Tanzfläche.

Mit kühler Stimme sagte sie: „Fühlen Sie sich bitte nicht verpflichtet, mich zu begleiten, Euer Gnaden. Wenn Sie glauben, dass ich mich durch Ihre Aufmerksamkeit geschmeichelt fühle, dann liegen Sie falsch.“

„Ich möchte mit Ihnen sprechen.“

„Wir haben uns nichts zu sagen.“

Er legte ihr eine Hand auf den Arm, sodass sie gezwungen war, innezuhalten und ihn anzusehen. In seinem Gesicht stand deutlich geschrieben, wie zornig er war, doch ehe er etwas sagen konnte, schaltete sich General Dingwell ein.

„Nun, Euer Gnaden, jetzt hatten Sie Ihren Tanz und müssen Ihre schöne Partnerin leider gehen lassen.“ Der alte Soldat lachte herzhaft. „Oh ja, Sie mögen mir noch so viele wütende Blicke zuwerfen, junger Mann, aber auch Sie werden eines Tages feststellen, dass man sich in meinem Altern nicht mehr so leicht von Rang und Titel einschüchtern lässt. Außerdem weiß ich, dass Sie ebenfalls der Armee angehören und dass Sie ein Major sind. Also bin ich Ihnen übergeordnet.“

Einen Moment lang befürchtete Ellen, dass der Duke General Dingwell eiskalt ignorieren und sie mit sich ziehen würde. Doch schließlich lockerte er den eisernen Griff um ihren Arm und ließ sie los. Er sah sie einen Moment lang schweigend an, und sie konnte die lodernde Wut in seinen Augen deutlich erkennen, doch seine Stimme klang höflich und gefasst, als er schließlich das Wort ergriff.

„Ihrer Strategie habe ich nichts entgegenzusetzen, General“, gab er zurück. „Ich überlasse Ihnen meinen Gewinn. Jedenfalls für den Moment.“

Dann verbeugte er sich und ging davon, doch der Blick, mit dem er sie dabei bedachte, ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr bloß eine Gnadenfrist eingeräumt hatte, ehe er erneut zuschlug.

Ellens betagter Verehrer führte sie am Arm auf die Tanzfläche zurück. Während der fröhlichen Gavotte kamen mehrere Herren auf sie zu und baten sie um den nächsten Tanz, doch sie antwortete allen, dass sie sich den restlichen Abend über hinsetzen wolle. Obwohl sie Max nicht sehen konnte, wusste sie, dass er irgendwo dort im Gedränge war und sie beobachtete. Sie konnte seine Anwesenheit im Saal förmlich spüren, so als lauerte eine Gefahr. Sie spielte mit dem Gedanken zu gehen, doch sie befürchtete, dass er ihr bis nach Hause folgen würde. Und das war das Letzte, was sie wollte.

In dem Moment wurde verkündet, dass im Speisesaal ein Imbiss für die Gäste bereitstand, und Ellen mischte sich unter die Gäste, die nun in das angrenzende Zimmer strömten. Dort fühlte sie sich sicher. Zu ihrer großen Erleichterung sah sie, dass neben Georgie Arncliffe ein Platz frei war, und steuerte zielgerichtet darauf zu.

Die Arncliffes waren vor zwei Jahren nach Harrogate gezogen, da Fredericks Arzt ihm zu einem regelmäßigen Besuch der hiesigen Heilquellen geraten hatte, und Ellen und Georgie hatten schnell Freundschaft geschlossen, da sie beide Kinder im gleichen Alter hatten. Sie hatten beide ein lebendiges, offenes Wesen, und so waren sie über die Zeit zu engen Vertrauten geworden. Das freundliche Lächeln, das Georgie ihr nun schenkte, war wie Balsam für Ellens aufgewühlte Seele.

„Ich wusste nicht, dass du schon wieder hier bist, Ellen. Willkommen zurück, meine Liebe.“

„Vielen Dank.“ Ellen drückte die Hand ihrer Freundin dankbar und sank neben ihr auf den Stuhl. „Ich bin so froh, dich und Frederick heute Abend hier zu sehen.“

„Als ob du hier niemanden kennen würdest“, erwiderte Georgie lachend. „Und ich hatte gehofft, dass ich dich beeindrucken kann, indem ich dir Fredericks Freund vorstelle, doch leider hat mir Lady Bilbrough einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

Georgie drehte sich um und lächelte dem Herrn zu, der gerade auf dem unbesetzten Stuhl gegenüber von ihr Platz nahm. Ihr Schreck hätte nicht größer sein können, denn es handelte es sich um den Duke of Rossenhall. Er funkelte sie über den Tisch hinweg wütend an. Sein Blick erinnerte sie an ein wildes Tier.

„Hier treffen wir uns also wieder, Mrs. Furnell“, sagte er

Frederick Arncliffe sah interessiert auf. „Ihr beide kennt euch?“

Ellen hielt den Blick unverwandt auf Max gerichtet und fragte sich, ob er ihnen wohl die wahre Geschichte erzählt hatte. Dass sie sich vor vier Jahren in Ägypten kennengelernt hatten, als er und seine Männer, eine wilde Truppe aus englischen Deserteuren und Mamluken-Kriegern, mitten in der Wüste auf zwei Engländerinnen und ihre heillos überforderte Begleitung getroffen waren, und ihnen ihren Schutz angeboten hatten. Doch es war Georgie, die nun lachend das Wort ergriff.

„Natürlich, mein Liebster“, sagte sie. „Seine Gnaden hat Lady Bilbrough darum gebeten, Ellen vorgestellt zu werden.“

„Welcher Mann würde sich das nicht wünschen?“, murmelte Max und lächelte, doch er starrte Ellen weiterhin eiskalt an.

„Mrs. Furnell ist ein echtes Juwel, ein Diamant, im Kreise unserer Gesellschaft“, warf Mr. Rudby ein, der neben ihren saß.

„Das hat man mir bereits erzählt“, erwiderte Max. „Die goldene Witwe.“

Sofort schoss Ellen die Röte in die Wangen. Er hatte es gesagt, als wäre es eine Beleidigung, doch niemand außer ihr schien das so wahrzunehmen. Georgie stieß zwar missbilligend die Luft aus, doch Frederick lachte belustigt auf und schüttelte den Kopf.

„Zum Glück ist die liebe Mrs. Furnell deswegen nicht verärgert, mein Freund. Sie weiß nämlich, dass es als Kompliment für ihre strahlende Schönheit gemeint ist.“

„Ja. Ich habe den ganzen Abend nur an Sie denken können“, stimmte der Duke mit ruhiger Stimme zu.

„Tatsächlich?“ Ellen zog erstaunt die Augenbrauen hoch und drehte sich zu Fred um. „Ich fürchte, Ihr Freund ist ein wahrer Herzensbrecher, Mr. Arncliffe.“

Jetzt mischte General Dingwell sich ins Gespräch ein. „Natürlich ist er das! So ein gut aussehender, junger Kerl, noch dazu mit einem stattlichen Vermögen und einem Adelstitel. Kein Wunder, dass ihm die Damenwelt zu Füßen liegt.“

„Aber es gab Zeiten, da hatte ich noch keinen Titel und kein Vermögen. Vor ein paar Jahren war ich schlicht und einfach Major Colnebrooke und habe eine Infanterieeinheit kommandiert.“ Max lehnte sich zurück und seine langen, schlanken Finger umspielten sein Weinglas. „Damals sind die Frauen eher vor mir weggelaufen.“

Sofort erhob sich lautes Stimmengewirr, die Männer lachten ungläubig auf, während die Damen kokette Bemerkungen über die Sprunghaftigkeit ihrer Geschlechtsgenossinnen machten. Einzig der Duke und Ellen verzogen keine Miene. Während sie versuchte, sich auf ihr Essen zu konzentrieren, konnte sie spüren, wie sein durchdringender Blick auf ihr ruhte. Jeder Bissen, den sie nahm, schmeckte wie kalte Asche, doch ihr Stolz zwang sie dazu, so zu tun, als ob nichts wäre. Wie konnte er es wagen, ihr derartige Vorwürfe zu machen? Hatte er tatsächlich erwartet, dass sie sich anders verhalten würde, nachdem seine Lügen aufgeflogen waren?

Und deine eigene Lüge?

Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie hatte bloß getan, was nötig gewesen war, um weiterzuleben.

Das Geräusch der Instrumente, die für den nächsten Auftritt gestimmt wurden, wehte zu ihnen herüber, was bedeutete, dass gleich wieder getanzt würde, und augenblicklich begann sich die Gruppe im Speisesaal aufzulösen. Auch der Duke schob energisch seinen Stuhl zurück.

„Darf ich Sie zurück in den Ballsaal geleiten, Mrs. Furnell?“

„Haben Sie vielen Dank, Euer Gnaden, aber das ist nicht nötig.“

„Warum, Madam? Haben Sie etwa Angst vor mir?“

Langsam und würdevoll stand sie auf und entgegnete lachend: „Natürlich nicht, Euer Gnaden.“

Als sie ihm jedoch in die Augen blickte, wusste sie, dass sie allen Grund dazu hatte.

2. KAPITEL

Ellen stand auf und wartete, bis der Duke um den Tisch herumgegangen und schließlich an ihrem Platz angekommen war. Sein Schritt war anmutig und erhaben, er bewegte sich so geschmeidig wie eine Raubkatze. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr wegen seiner wilden, blonden Mähne das Bild eines Löwen in den Sinn gekommen. Nun trug er das Haar viel kürzer, es sah auch etwas dunkler aus als vor vier Jahren. Doch das lag wohl daran, dass es damals von der ägyptischen Sonne ausgebleicht gewesen war. Ein paar weißblonde Strähnen, die nun im Kerzenschein aufleuchteten, waren jedoch geblieben.

Wie sie strahlten …

Mrs. Ackroyd hatte sie spaßhaft das „goldene Liebespaar“ genannt, doch leider hatte Ellen nur zu schnell feststellen müssen, dass sie mit Max keinen kostbaren Goldschatz gefunden hatte, sondern lediglich einen Haufen Blech. Sie war ihrer Leichtgläubigkeit zum Opfer gefallen und seinem Charme widerstandslos erlegen. Vor lauter Liebe war sie vollkommen blind gewesen, sodass sie den Rat ihrer Freundin, mit der Hochzeit zu warten, in den Wind geschlagen hatte. Vollkommen überstürzt hatten sie noch vor Ort geheiratet und bereits wenige Wochen darauf hatte sich alles als ein schreckliches Lügengespinst entpuppt.

Und nun stand genau der Mann vor ihr, der ihr damals auf so schmerzvolle Weise das Herz gebrochen und ihr ganzes Leben zerstört hatte, und sah sie herausfordernd an.

„Nun, Madam, wollen wir?“

Lächelnd ergriff sie seinen Arm. Sie hatte sich geschworen, dass niemals jemand etwas davon erfahren durfte, wie naiv sie gewesen war und wie sehr sie darunter gelitten hatte, allen voran Max Colnebrooke.

Max begleitete Ellen mit langsamen, bedachten Schritten zurück in den Ballsaal. Der Schreck, der ihn durchfahren hatte, als er sie nach all den Jahren so plötzlich wiedergesehen hatte, ließ langsam ein wenig nach. Als er vor vier Jahren nach England zurückgekommen war, hatte er überall nach ihr gesucht, denn er hatte insgeheim noch immer die Hoffnung gehegt, dass sie wieder zu ihm zurückkehren würde, obwohl alles dafür gesprochen hatte, dass sie ihn für den französischen Konsul verlassen hatte. Seine Suche war jedoch erfolglos geblieben. Sie war unter dem Schutz ihres neuen Liebhabers aus Ägypten ausgereist ohne ein Wort der Erklärung, ohne Abschied.

Inzwischen hatte er sich wieder gefangen und seine anfängliche Wut unter Kontrolle gebracht, und so musste es auch bleiben. Er wollte ihr auf keinen Fall die Genugtuung geben und sie wissen lassen, dass er an ihrem Verrat beinahe zu Grunde gegangen war. Doch er hatte noch ein paar Fragen an sie, auf die er Antworten brauchte.

„Wir müssen reden“, sagte er.

„Nein, wir müssen tanzen“, gab sie zurück, setzte ein strahlendes Lächeln auf, das allerdings nicht ihm, sondern den anderen Tänzern galt, und hob eine Hand, um einige Bekannte auf der Tanzfläche zu grüßen.

Er hätte sie einfach packen und in eine Ecke ziehen können, in der sie ungestört gewesen wären. Aber wie hätte das ausgesehen? Die Leute würden sagen, dass er der „goldenen Witwe“ verfallen war, und er hatte wenig Lust, zu ihrem Ruf, dass sie allen Männern den Kopf verdrehte, beizutragen. Max brachte sich in Position für den Tanz. Es war eine fröhliche „Anglaise“, die sicher eine Weile dauern würde, und er biss ärgerlich die Zähne zusammen, da ihm nichts übrig blieb, als mitzumachen und sich nichts anmerken zu lassen. Er würde noch warten müssen, ehe er mit ihr sprechen konnte.

Der Mann neben ihm, ein gewisser Mr. Rudby, wie Max sich zu erinnern glaubte, schaute überrascht zu Ellen herüber.

„Also wirklich! Ich dachte, Sie würden heute nicht mehr tanzen, Madam.“ Er grinste Max verschwörerisch zu. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sie doch noch überzeugen konnten, Euer Gnaden, denn dann kann ich mich für den nächsten Tanz anmelden. Und dieses Mal dulde ich keine Ausflüchte, Madam!“

Max sah, dass Ellen das forsche Vorgehen des Herrn missfiel. Sie konnte ihn jedoch nicht abweisen, ohne unhöflich zu sein, und Max konnte sie nun nicht erneut auffordern. In Gedanken verfluchte er das strenge Protokoll, das auf solchen Veranstaltungen herrschte, denn nun war er gezwungen, auch andere Damen zum Tanz zu bitten, wenn er wilde Spekulationen vermeiden wollte. Dabei gab es nur eine einzige Frau im ganzen Saal, mit der er tanzen wollte.

Es hatte immer nur eine Frau für ihn gegeben, und das ärgerte ihn mehr als alles andere.

Ungewollt stieg die Erinnerung in ihm auf, wie er Ellen in der Wüste getroffen hatte. Damals hatte sie sich nicht von irgendwelchen Konventionen vorschreiben lassen, was sie tat. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie wie ein Mann gekleidet gewesen, mit einem Seidenhemd, darüber eine purpurrote Weste und lange, weite Hosen, die sie in ihre Reitstiefel gesteckt hatte. Eine sehr praktische Ausrüstung, um auf einem Kamel zu reiten, hatte er damals gedacht. Ihre goldene Lockenpracht war von der dunkelroten „Kufiya“ verdeckt worden, der typischen Kopfbedeckung der Männer in der Region, sodass sie problemlos als Mann hätte durchgehen können. Doch Max hatte keine Sekunde an ihrem Geschlecht gezweifelt, auch wenn er zunächst nichts weiter von ihr hatte sehen können als ihre lachenden Augen, die so blau leuchteten wie zwei Saphire.

Sie war auf dem Weg nach Gizeh gewesen, und er hatte sie dorthin begleitet, obwohl es riskant gewesen war, da er in der Nähe von Kairo Gefahr lief, von den Soldaten, die Gouverneur Muhammed Ali die Treue geschworen hatten, entdeckt zu werden. Als sie die Pyramiden erreichten, war es schon mitten in der Nacht, doch da es eine Vollmondnacht war, gab es genügend Licht. Die Nachtluft war angenehm warm und eine sanfte Brise wehte über sie hinweg, eine willkommene Abwechslung zur glühenden Hitze des Tages. Ellen lachte und wunderte sich darüber, wie zerfallen die Pyramiden aussahen, wenn man so dicht vor ihnen stand, und Max fragte sie, ob sie mit ihm hinaufklettern wolle. Sie zögerte keine Sekunde. Er erinnerte sich noch dunkel daran, wie sie die großen Steinblöcke erklommen hatte und wie sie schweigend auf der Spitze gesessen und um Atem gerungen hatten. Dann hatten sie sich geküsst.

Ellen lächelte unaufhörlich und tanzte immer weiter. Als die Musik aufhörte, ergriff sie Mr. Rudbys Hand, um auch an der nächsten Formation teilzunehmen. Nie war ihr weniger nach tanzen zumute gewesen als in diesem Moment, doch das Protokoll zwang sie dazu weiterzumachen. Außerdem war die einzige Alternative ein Gespräch unter vier Augen mit Max, und das wollte sie unter allen Umständen vermeiden. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie der Duke nun der vorherigen Partnerin von Mrs. Rudby das Geleit gab, und sie war gegen ihren Willen erleichtert, dass er Mitleid mit der armen Miss Glossop hatte und sie nicht allein stehen ließ. Durch die Aufmerksamkeit des Dukes wurde Mr. Rudbys unhöfliches Verhalten, Miss Glossop so schnell gegen die goldene Witwe ausgetauscht zu haben, zumindest ein wenig abgemildert.

Ellen war erschöpft. Ihr ganzes Gesicht schmerzte von der Anstrengung, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, und sie war überzeugt, dass ihre Tanzschuhe inzwischen Löcher hatten. Seit dem Dinner hatte sie keinen einzigen Tanz ausgelassen, um den Moment, da sie allein auf Max treffen würde, hinauszuzögern. Irgendwann würde es jedoch so weit sein, das wusste sie, und zwar noch heute Abend. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Noch während sie sich lachend drehte und im Takt wiegte, überlegte sie bereits, wie lange es wohl dauern würde, mit ihrem gesamtem Haushalt von Harrogate wegzuziehen.

Als das letzte Lied des Abends endete, sah Ellen sich suchend um und richtete sich stolz auf, um sich auf die bevorstehende Konfrontation vorzubereiten. Zu ihrer Überraschung konnte sie den Duke jedoch nirgends finden. Sie hatte damit gerechnet, dass er am Rand stehen und sie nicht aus den Augen lassen würde, um sofort zuzuschlagen, sobald sie frei war. Als Lady Bilbrough ihr schließlich erzählte, dass der Duke bereits gegangen war, verstand sie die Welt nicht mehr.

„Er hat im Gegensatz zu uns den Vorteil, dass er hier im Granby wohnt und nicht erst auf seine Kutsche warten muss“, sagte die Dame und lächelte vergnügt.

Im ersten Moment war Ellen erleichtert, doch dann wurde sie wütend. Er hatte ihr den Abend ruiniert, und nun konnte sie ihrer Wut nicht einmal Luft machen und ihm gehörig die Meinung sagen, so wie er es verdient hatte. Nun gut, dachte sie, als sie losging, um ihren Mantel zu holen. Umso besser, wenn er das Interesse an ihr verloren hatte. Sie hatte wenig Lust, all die schmerzhaften Erinnerungen noch einmal zu durchleben.

Doch es war zu spät. Als sie sich hinsetzte, um ihre zerschundenen Schuhe gegen ein frisches Paar auszutauschen, stürmten die Bilder ihrer letzten gemeinsamen Nacht bereits auf sie ein. Sie war wieder in der prachtvoll bemalten Kabine ihrer „Dahabieh“, eines der typischen Boote, wie sie auf dem Nil verwendet wurden. Es schaukelte leise vor sich hin, während sie vor Anker lagen. Die leichte Baumwolldecke kühlte ihre nackte Haut, und sie genoss es, erschöpft von ihrem ausgiebigen Liebesspiel, sich in Max’ Arme zu schmiegen.

„Es kommt Ärger auf uns zu, mein Liebling“, erklärte er ihr zwischen ein paar zärtlichen Küssen. „Ich kann dir nichts weiter darüber sagen, aber du musst mir glauben. Es ist zu gefährlich für dich, noch länger in Ägypten zu bleiben. Du musst das Land so schnell wie möglich verlassen. Ich würde dich selbst nach Alexandria bringen, wenn ich könnte, doch das geht leider nicht. Ich werde morgen jemanden finden, der dich begleitet. Ihr müsst zum Britischen Residenten, Major Missett. Er wird die Überfahrt nach England für euch organisieren. Bleib anschließend in Portsmouth und warte dort auf mich.“ Er strich ihr sanft mit den Lippen über den Hals, dann erklang sein samtiges Flüstern ganz dicht an ihrem Ohr. „Vergib mir, mein Schatz, aber es ist sicherer, wenn du unter dem Namen Miss Tatham reist. Wenn die feindlichen Soldaten herausfinden, dass du meine Frau bist, schwebst du in großer Gefahr.“

Eine Träne fiel auf Ellens Schuhspitze und sie blinzelte schnell die restlichen Tränen weg. All diese liebevollen, süßlichen Worte! Nichts als Lügen! Dennoch war ihr damals alles vollkommen plausibel erschienen. Danach hatte er sie erneut so leidenschaftlich geliebt, dass sie an gar nichts mehr gedacht hatte.

Sie war eine verliebte dumme Gans gewesen! Wütend warf sie sich den Umhang um die Schultern und begab sich nach unten. In der Eingangshalle traf sie auf die Arncliffes und ging zu ihnen, um sich zu verabschieden. Dabei fiel ihr auf, dass Frederick dunkle Ringe unter den Augen hatte.

„Sie sind sicher sehr müde, Mr. Arncliffe“, sagte sie sogleich und ihre eigenen Sorgen waren vergessen. „Meine Kutsche steht vor der Tür, ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie möchten.“

Doch Mr. Arncliffe hob abwehrend die Hand.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, meine Liebe, doch der Duke hat uns sein Gespann zur Verfügung gestellt. Es ist gleich hier. Wir werden sofort nach Ihnen aufbrechen, denke ich.“

Er verstummte und wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, woraufhin Georgie ihn ängstlich drängte, sich hinzusetzen. Als er widersprechen wollte, nahm Ellen seinen Arm und drückte ihn sanft nach unten auf die Sitzbank.

„Ruhen Sie sich aus, Sir“, sagte sie. „Sie brauchen auch nicht zu befürchten, dass Sie mich damit verärgern. Im Gegenteil. Wir sind schon so lange befreundet, dass ich eher beleidigt wäre, wenn Sie sich nicht hinsetzen würden. Es war ein langer Abend.“

„Unsinn. Ich hätte ihn um nichts in der Welt verpassen wollen. Es macht mir Freude zuzuschauen, wie alle sich amüsieren. Und wie Sie mit meinem alten Freund Rossenhall getanzt haben, das war der Höhepunkt des Abends für mich, Madam. Sie haben sehr gut zusammen ausgesehen. Doch ich warne Sie: Verlieren Sie besser nicht Ihr Herz an den Duke, denn er und meine Schwester sind so gut wie verlobt, nicht wahr, Georgie?“

Ellen fasste sich an die Kehle. Verlobt? War Max etwa in eine andere Frau verliebt?

„Das hättest du jedenfalls gern, mein Liebster.“ Georgiana verdrehte lachend die Augen.

Ellen versuchte zu lächeln und fragte sich, wie viel mehr sie heute Abend noch ertragen konnte. Dann schloss Georgie sie zum Abschied in die Arme, und sie wurde von ihrem zarten Parfüm eingehüllt. Ellen versprach, die beiden bald zu besuchen, und trat nach draußen. Der Portier des Hotels sprang sofort auf und geleitete sie zu ihrer Kutsche, und als das Gefährt sich schließlich in Bewegung setzte, sank sie mit einem erschöpften Seufzer in das Sitzpolster.

„Endlich sind wir allein, Mrs. Furnell.“

Ellen fuhr erschrocken zusammen und versuchte, in der tiefen Dunkelheit der Kusche etwas zu erkennen. Doch es bestand kein Zweifel daran, zu wem die tiefe Stimme gehörte. Als ihre Augen sich schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, wie er in einen dunklen Umhang gehüllt dasaß. Nicht mehr als ein schwarzer Schatten.

„Wie sind Sie hier hereingekommen?“, rief sie wütend.

„Es war ganz einfach, nachdem ich herausgefunden hatte, welche Kutsche Ihnen gehört.“

Max setzte sich auf und streifte den Umhang ab.

„Haben Sie etwa erwartet, dass ich Ihnen um den Hals fallen würde?“, fragte Ellen in scharfem Ton. „Ich bin überrascht, dass Sie es überhaupt wagen, in meine Nähe zu kommen.“

Autor

Sarah Mallory
<p>Schon immer hat die in Bristol geborene Sarah Mallory gern Geschichten erzählt. Es begann damit, dass sie ihre Schulkameradinnen in den Pausen mit abenteuerlichen Storys unterhielt. Mit 16 ging sie von der Schule ab und arbeitete bei den unterschiedlichsten Firmen. Sara heiratete mit 19, und nach der Geburt ihrer Tochter...
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