Wild und Frei

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England, 1573: Als die hübsche Rowena, Tochter eines Wissenschaftlers, vom Plan ihres Vaters erfährt, ist sie entsetzt! Sir Christopher hat veranlasst, dass ein Indianer aus der Neuen Welt als Forschungsobjekt nach Cornwall gebracht wird. Rowenas Herz fließt vor Mitleid über, als sie Black Otter zum ersten Mal erblickt: Erschöpft und krank, dem Tode nah, doch ist sein Blick stolz und unbeugsam in eine Ferne gerichtet, in der er frei über sein Volk, die Lenni Lenape, herrschen konnte. Plötzlich brennt ein Gefühl in Rowena, das sie nicht zu benennen wagt, so schockierend ist es: Sie sehnt sich danach, von diesem Mann in die Arme genommen und geliebt zu werden...


  • Erscheinungstag 24.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766801
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Cornwall
10. Juni 1573

Mistress Rowena Thornhill drängte sich besorgt gegen das Turmfenster. Ihr Rock aus einfachem Wollstoff bauschte sich hinter ihr auf dem engen Treppenabsatz. Einen Augenblick lang sah sie angestrengt durch die in Blei gefassten Fensterscheiben hinaus auf die dahinter liegende Welt. Dann jedoch, ungeduldig wegen der eingeschränkten Sicht, entriegelte sie den Flügel des dunklen Holzrahmens und riss das Fenster weit auf, sodass der Seewind hereinströmen konnte.

Als sie sich über die steinerne Fensterbank hinauslehnte, prickelte die salzige Brise auf ihrem Gesicht, und einzelne Strähnen lösten sich aus ihrem streng zusammengebundenen kastanienbraunen Haar und flatterten im Wind. Jenseits des Hofes erstreckte sich, so weit das Auge reichte, das hügelige Moorland nach allen Seiten mit großen Flächen von blühendem Stechginster und Riedgras und endete im Süden zwischen den felsigen Klippen, wo Seevögel schrien und über den Brandungswellen kreisten.

Durch das Land zwischen den Klippen und dem weitläufigen alten Herrenhaus schlängelte sich eine schmale Straße, die im Laufe der Jahrhunderte von vorbeiziehenden Karren und Wagen fast bis zur Höhe der Radnaben ausgefahren war. Auf diese Straße richtete Rowena ihren besorgten Blick und reckte sich aus dem Fenster, um die Stelle sehen zu können, an der sie hinter dem östlichen Horizont verschwand.

Kein Pferd. Kein Reiter. Nichts. Und in weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen.

Ihr Vater reiste oft nach Falmouth. Als Wissenschaftler liebte er es, im Hafen umherzuschlendern und von den Seeleuten “Kuriositäten”, wie er sie nannte, zu kaufen – etwa einen Affen oder Papagei, vielleicht auch eine ungewöhnliche Muschel oder ein merkwürdiges Meerestier, das man aus der Tiefsee geholt und in Salzlake konserviert hatte. Ein jedes dieser Dinge brachte er dann nach Hause in sein Laboratorium, in dem er Tage und manchmal Wochen damit verbrachte, seine neue Beute zu sezieren und zu untersuchen sowie seine ledergebundenen Notizbücher mit zahlreichen Aufzeichnungen zu füllen.

In seiner Jugend hatten diese Schriften Sir Christopher Thornhills Ruf begründet, einer der führenden Gelehrten Englands zu sein. Aber jetzt wurde er alt, zu alt, um allein auf der langen, gefährlichen Straße zu reisen. Nächstes Mal, beschloss Rowena, würde sie darauf bestehen, dass er einen der Stallburschen mitnahm, oder ihn selbst begleiten, trotz seiner Bedenken, dass das von Menschen wimmelnde Hafenviertel kein Platz für eine Dame sei.

Sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen, während sie mit dem schweren Schlüsselbund spielte, der an einer Kordel von ihrer schlanken Taille herabhing.

Rowena ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie sie das Leben meistern würde, wenn ihr Vater nicht mehr da wäre. In den siebzehn Jahren seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie ihre Tage damit verbracht, den Haushalt zu führen, die Dienstboten zu leiten sowie ihrem Vater im Laboratorium zu helfen. Dieses baufällige alte Herrenhaus und das Werk ihres Vaters waren ihr ganzer Lebensinhalt gewesen. Aber jetzt war er fast siebzig, und an seinen herabhängenden Schultern und dem leichten Zittern seiner Hände konnte sie erste Anzeichen nahender Gebrechlichkeit erkennen. Was würde sie tun, wenn das Laboratorium leer und verwaist wäre?

Heirat?

Ein ironisches kleines Lächeln spielte um ihren zu großen Mund. Wer außer einem alten Trunkenbold würde sie haben wollen? Eine ältliche Jungfer von zweiunddreißig Jahren, schüchtern und groß wie ein Mann, mit einem langen, schmalen Gesicht, welches sie immer an ein Pferd erinnert hatte. Selbst mit den Lockmitteln Haus und Landbesitz waren die Chancen, einen akzeptablen Ehemann zu finden, kaum der Rede wert.

Sie würde natürlich die wissenschaftliche Arbeit ihres Vaters fortführen, aber wer würde ihre Forschungen ernst nehmen? Wer würde das Gekritzel von jemand lesen, der nur eine Frau war, einmal ganz zu schweigen davon, ihm Wert und Gewicht beizumessen?

Rowenas Blick wanderte zur See, wo Sturmvögel und Dreizehenmöwen über den Klippen ihre Kreise drehten. Hoch über ihnen segelte ein einzelner Albatros im Wind, seine ausgestreckten Flügel waren dabei so unbeweglich, als wären sie aus weißem Marmor gemeißelt. Was hatte wohl diesen seltenen Besucher hierhergeführt?

Während sie dem Flug dieses Vogels zusah, wurde Rowena von einer so starken Sehnsucht ergriffen, dass sich ihre Lippen zu einem stummen Seufzer öffneten. Die Wände des alten Hauses schienen sich um sie herum zu schließen, sie einzusperren wie die Tore eines Gefängnisses. Ihr war, als ob die schweren Falten ihrer Röcke und ihr starres Korsett sie nach unten zu ziehen versuchten wie das Gewicht eiserner Ketten. Nur ihr gesunder Menschenverstand hielt sie davon ab, dem Ruf ihres Herzens zu folgen – die Ketten von Haus, Kleidung und alle Bedenken abzuwerfen, ihre Freiheit zu nutzen und gleich dem Albatros Orte aufzusuchen, die sie während ihres zurückgezogenen Lebens niemals sehen würde, Orte, deren Namen wie Musik klangen – China, Sansibar, Konstantinopel, Amerika …

Mit aller Kraft riss Rowena sich von diesen Gedanken los und ließ den Blick vom Himmel zurück zu der Stelle gleiten, wo ihre schmalen, blassen Finger auf der Kalksteinfensterbank ruhten. Als sie wieder aufsah, war auf der fernen Straße ein dunkler Punkt zu erkennen, der sich auf das Haus zubewegte.

Allmählich wurde aus dem Punkt ein Wagen, ein klappriger Rollwagen mit einem Zugpferd und zwei Männern, die gekrümmt auf dem Sitz saßen, und einer langen, dunklen Gestalt, die auf der offenen Ladefläche lag. Unwillkürlich legte Rowena die Hand an ihre Kehle, als sie Blackamoor, den Wallach ihres Vaters, erkannte, der an einem Haltestrick neben dem Wagen tänzelte. Der Sattel des Wallachs war leer.

Rowena nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinunter in die Große Halle rannte, die, wie der Rest des Hauses, ihren früheren Glanz eingebüßt hatte. In ihren Hausschuhen eilte sie über den mit Binsen bestreuten Boden, und wo sie entlanggelaufen war, hing der Duft von zertretenem Rosmarin in der Luft.

Als sie schließlich die Haustür erreichte, klopfte ihr Herz vor Angst und Schrecken. Was war nur in sie gefahren, ihren Vater heute Morgen allein ausgehen zu lassen? Sie hätte mitreiten sollen unter dem Vorwand, irgendwelche Besorgungen zu machen, oder sich eine Ausrede einfallen lassen sollen, um ihn zu Haus zu behalten. Ganz gleich, welches Unheil ihm nun widerfahren war, es war zumindest teilweise ihre Schuld.

Die Haustür öffnete sich direkt zum Moor hin. Rowena stürzte hinaus und sah, dass der Wagen noch ziemlich weit entfernt war. Zu aufgeregt, um zu warten, raffte sie ihre Röcke und rannte los, ohne sich darum zu kümmern, dass sie in den dünnen Lederhausschuhen überall Blasen an den Füßen bekommen würde. Der Seewind zerrte die Nadeln aus ihrem Haar, als sie zur Straße stürmte. Würde sie ihren Vater verletzt vorfinden? Krank? Oder sogar tot?

Am Ende einer langen Hecke hielt sie einen Moment inne, um zu verschnaufen. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem einschnürenden Korsett. Jetzt konnte sie die beiden Männer auf dem Sitz klar erkennen. Der eine war der Kutscher, ein ungepflegter Tagelöhner, den sie des Öfteren in der Stadt gesehen hatte. Der andere …

Rowena bekam weiche Knie vor Erleichterung, als sie die gebeugte Gestalt ihres Vaters und seinen flachen Wollhut erkannte. Ihm fehlte nichts. Sie war ganz umsonst halb verrückt vor Angst gewesen.

Aber warum hatte er sich die Mühe gemacht, einen Wagen zu mieten? Worum handelte es sich bei der geheimnisvollen Gestalt, die auf den Brettern hinter ihm lag, eingewickelt in Segeltuch, wie es schien? Hatte ihr Vater ein neues exotisches Exemplar gekauft? Vielleicht einen großen Fisch? Einen Delfin? Einen toten Seehund? Sie dachte an den langen marmornen Seziertisch im Laboratorium und die anstrengenden Tage und Nächte, die ihnen bevorstanden, wenn sie sich abmühten, ihre Entdeckungen zu untersuchen und zu katalogisieren, bevor die Verwesung das Arbeiten unmöglich machte.

“Rowena!” Der Vater winkte sie zu sich heran, aber sie lief bereits zur Straße, wobei ihre Röcke hinter ihr herschleiften, sodass sich grüne Kletten daran hefteten.

“Rowena. Gut!” Ihr Vater nickte nur kurz, wie es seine Art war. “Ich brauche etwas Hilfe bei diesem Exemplar. Reite du Blackamoor zurück zum Stall. Sag Thomas und Dickon, sie sollen sich auf dem Hof für meine Ankunft bereit halten. Sorg dafür, dass Ned den vergitterten Raum im Keller ausräumt und den Boden mit frischem Stroh bestreut. Beeil dich!”

“Den Keller?” Rowena starrte ihn verblüfft an. “Aber das ist doch nicht Euer Ernst? Das ist kaum mehr als ein Rattenloch. Kein Mensch geht dort hinunter, es ist so dunkel, feucht und schimmelig! Vater, ich verstehe wirklich nicht …”

“Das wirst du früh genug. Und nun beeil dich!” Sir Christopher ergriff die schlaff vor dem Kutscher herunterhängenden Zügel und brachte den schwerfälligen alter Klepper zum Stehen. Blackamoor, voller Ungeduld nach Stall und Futter, schnaubte und zerrte an dem Strick, der ihn an der Seite des Wagens festhielt.

“Ganz ruhig!” Rowena näherte sich behutsam dem unruhigen Wallach, griff nach dem Zaumzeug und fing an, mit ihrer freien Hand den Haltestrick zu lösen. Während sie den Knoten aufmachte, wurde ihr Blick unwiderstehlich von dem in Segeltuch eingewickelten Bündel angezogen, welches mit dicken Stricken auf der Ladefläche des Wagens festgebunden war. Aus der äußeren Form des Gegenstandes konnte sie kaum Rückschlüsse auf den Inhalt ziehen, außer dass er lang war – so lang wie ein großer Mann. Erstaunt öffnete sie die Lippen, als sie eine leichte Bewegung bemerkte und ihr klar wurde, dass das Lebewesen unter der schweren Verpackung atmete.

“Vater!” Sie wirbelte herum, um ihm ins Gesicht zu sehen, und ihr Herz klopfte wild. “Das Tier lebt! Ihr müsst mir sagen, was es ist!”

“Später, Rowena.” Er tat ihren Wunsch mit einem mürrischen Gesichtsausdruck ab. “Je weniger wir hier reden, desto besser. Zu Hause können wir in Ruhe sprechen. Nun reite los.”

Der Knoten löste sich und gab das Zaumzeug des Wallachs frei. Rowena schwang sich gekonnt rittlings in den Sattel, wobei sich die Röcke über ihren Schenkeln bauschten. Während sie kurz innehielt, um die Zügel aufzunehmen, fiel ihr Blick nochmals auf die fest geschnürte Ladung des Wagens.

Vom Rücken des Pferdes konnte sie erkennen, was vom Boden aus nicht sichtbar gewesen war. Die Ränder des Segeltuches waren am ihr zugewandten Ende des Bündels auseinander gezogen und gaben den Blick auf ein Gesicht frei.

Ein menschliches Gesicht.

Das Gesicht eines Mannes.

Rowenas Herz klopfte schneller, als sie sich tiefer hinabbeugte, ohne zu bemerken, wie der ungeduldige Blick ihres Vaters sie durchbohrte, ohne überhaupt irgendetwas wahrzunehmen, außer jenen fesselnden männlichen Gesichtszügen.

Die tief liegenden Augen unter den geraden, tiefschwarzen Brauen waren geschlossen. Sein Gesicht hatte ausgesprochen aristokratische Züge, war aber ausgemergelt und schien unter der gespannten bronzefarbenen Haut aus lauter Blutergüssen und hervortretenden Knochen zu bestehen. Eine schwarze Haarsträhne – alles, was sie sehen konnte – hing über die eine violett angelaufene Wange. Trotz all seiner offensichtlichen Stärke sah der Mann krank und halb verhungert aus. Er stank nach Erbrochenem und Salzwasser. Aber warum, in Gottes Namen, war er auf der Ladefläche des Wagens festgezurrt? Sicher bestand in seinem Zustand keine Gefahr, dass er fliehen würde.

Wie unter Zwang spürte Rowena ein seltsames Verlangen und beugte sich aus dem Sattel, um ihre rechte Hand nach dem zerschundenen, bewegungslosen Gesicht des Fremden auszustrecken. Ohne auf die mit aller Schärfe ausgesprochene Warnung ihres Vaters zu achten, fuhr sie mit der Fingerspitze vorsichtig an der eingefallenen Wange entlang. Die kühle Haut war so glatt wie feinstes Leder, der markante Kiefer hatte nicht eine Spur von Bartstoppeln. Es war fast, als ob …

Rowena stockte der Atem, und sie riss ihre Hand zurück, als die Lider des Mannes sich plötzlich öffneten. Die Augen, die sie wütend anfunkelten, waren so schwarz wie polierte Pechkohle – der Farbton so intensiv, dass sie keinen Unterschied zwischen Iris und Pupille erkennen konnte.

Aber es war nicht die verblüffende Farbe dieser Augen, die sie erstarren ließ, als ob man sie in Stein verwandelt hätte. Es war der glühende Hass, den sie tief drinnen hatte aufflackern sehen – ein Hass so pur und stark, dass er aus den Tiefen der Hölle selbst zu kommen schien.

Sie riss ihren Blick los. “Vater …”

“Nicht jetzt, Rowena”, fuhr Sir Christopher sie an. “Später, wenn die Bestie sicher eingesperrt ist, werde ich dir alles erzählen. Geh jetzt, wir dürfen keine Zeit verlieren!”

Schockiert warf Rowena ihrem Vater einen entsetzten Blick zu. Dann jedoch, wohl wissend, dass sie hier nichts weiter tun konnte, wendete sie das Pferd und galoppierte zum Haus zurück.

Black Otter zwang sich dazu, nicht zu kämpfen, als die beiden stämmigen weißen Männer nach ihm griffen und anfingen, ihn von der Ladefläche des Karrens herunterzuziehen. Im Laufe der schrecklichen Seereise hatte er sich die verzweifelte Strategie gefangener Tiere zu eigen gemacht. Sei wachsam und lerne! Warte auf die beste Gelegenheit! Dann greif an und töte!

Am Anfang der Reise war er nahe daran gewesen, einen der Männer auf dem Schiff zu töten. Der brutale junge Kerl hatte ihn gepeinigt und mit einem glühenden Stock nach ihm gestoßen. Aber in einem Moment der Unachtsamkeit war der Bursche zu nahe an ihn herangekommen, und Black Otter, getrieben von Schmerz und Kummer, war über ihn hergefallen. Er hatte die Eisenketten, mit denen seine Handschellen verbunden waren, um den Hals des Matrosen geworfen und ihn gequetscht und gewürgt, mit einer widernatürlichen Freude daran, wie der Mann voller Qual um sich schlug und schwerfällig nach Luft schnappte.

Dann war von oben ein Ruf ertönt, und die Kumpane des Mannes waren durch die Ladeluke heruntergestürmt, um wie ein Rudel Hunde über ihn herzufallen. Sie hatten ihn so brutal zusammengeschlagen, dass er für mehr Tage, als er Finger an beiden Hände hatte, immer wieder das Bewusstsein verlor.

Diese Prügel hatten Black Otter eine Lektion eingebläut, die er nicht vergessen würde. Niemals wieder würde er seine Entführer angreifen, ohne vorher das Risiko genau abzuwägen. Wenn dabei kaum etwas zu gewinnen wäre, würde er seine Wut zurückhalten und sie einsperren wie ein wildes Tier. Aber sollte sich die Gelegenheit ergeben, auszubrechen und in Freiheit zu gelangen, würde er jeden Weißen töten, der sich ihm in den Weg stellte.

Einschließlich der Frau.

Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, als er sich mühsam aufrichtete, während der Boden sich zu drehen schien. Goldbraune, traurig blickende Augen in einem schmalen, blassen Gesicht. Black Otter erinnerte sich daran, wie ihre Fingerspitze seine Wangen berührt hatte, bis ihr der Atem stockte, als er die Augen aufschlug. Hatte er ihr Angst eingejagt? Gut, er hatte sie erschrecken wollen. Er wollte ihnen allen Angst machen.

Nachdem zwei kräftige Männer, die auf die Befehle des Alten zu hören schienen, ihm die Segeltuchumhüllung abgenommen hatten, kämpfte Black Otter gegen das Gewicht seiner Ketten an, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und sie zornig und herausfordernd anstarrte – die Frau, den alten Mann und die Dienstboten, die aus dem riesigen Wigwam herausgekommen waren. Die beiden Männer packten seine Arme, halb um ihn zu stützen, halb um ihn zu bändigen. Wäre er richtig bei Kräften gewesen, hätte er ihre Knochen mit seinen bloßen Händen brechen können. Aber so, angekettet, ausgehungert und krank, hatte er kaum Kraft, Widerstand zu leisten.

Die Frau wandte sich an den alten Mann und sprach. Vielleicht werden sie mich nun töten, dachte Black Otter. Falls das so wäre, würde er nicht unterwürfig sein Schicksal hinnehmen. Bei seinen eigenen Leuten, den Lenape, die an den Ufern des großen Meeresflusses lebten, war er ein mächtiger Sakima, ein Häuptling, und darüber hinaus ein unbesiegbarer Krieger. Selbst hier, in diesem fremden Land, würde er den Tod eines Kriegers sterben. Und er würde nicht allein sterben.

Trotz ihrer guten Erziehung konnte Rowena nicht anders, als den Fremden anzustarren. Schmutzig, grün und blau geschlagen und unsicher auf den Beinen, stand er dennoch würdevoll wie ein gefangener Löwe zwischen den beiden Stallburschen. Er war größer als fast alle Männer, die sie kannte. Sein pechschwarzes Haar fiel als verfilzte Mähne über seine kräftigen Schultern. Sein Gesicht war faszinierend – aber Rowena wurde schnell klar, dass sie nicht lange in seine raubvogelartigen Züge sehen konnte, ohne sich unbehaglich zu fühlen. Der Hass in diesen teuflischen Augen loderte ihr mit solcher Heftigkeit entgegen, dass sie gezwungen war, den Blick zu senken.

Unter einer Schicht aus Striemen, Schnittwunden und Prellungen, erinnerte sein Körper sie an – ja – die Zeichnung einer griechischen Statue, die sie in der Bibliothek ihres Vaters gesehen hatte. Rowenas Blick folgte dem Spiel der Muskeln unter der geschundenen mahagonifarbenen Haut, deren Namen ihr gerade jetzt unsinnigerweise wieder einfielen: die musculi deltoidei, die musculi pectorales, der flache, harte musculus rectus abdominis, der sich in Wellen bis unter das schmutzige Stück Leder erstreckte, das seine Lenden bedeckte.

Außer dem Lendenschurz trug er nichts bis auf ein Paar halb vermoderte Lederslipper mit weichen Sohlen, eine Art Schuhwerk, das sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Als der Wagen zurück zur Straße rumpelte, trat Rowena dichter an ihren Vater heran. “Wer ist das?”, fragte sie leise.

“Du brauchst gar nicht zu flüstern”, fuhr er sie etwas ungeduldig an. “Der primitive Kerl versteht kein Englisch.”

“Vater, wer ist er?” wiederholte Rowena ihre Frage, diesmal mit mehr Nachdruck.

“Ein Indianer. Aus Amerika. Ich habe ihn heute in Falmouth gekauft.”

Gekauft habt Ihr ihn? Als Sklaven?”

Sir Christopher blickte sie misstrauisch an. “Ganz bestimmt nicht! Sieh dir den Burschen doch an – viel zu sehr ein Wilder, um einen anständigen Diener abzugeben.”

“Aber warum habt Ihr das dann getan? Aus christlichem Mitleid?”

Sir Christopher schüttelte den Kopf, dann sah er sie fest an. “Nein, Rowena”, sagte er, “ich habe ihn als Kuriosität gekauft.”

“Als Kuriosität?”

“Ja, meine Liebe, als ein seltenes Exemplar. Zu Studienzwecken.”

2. KAPITEL

Um Himmels willen, habt Ihr Euren Verstand verloren?” Rowena wirbelte herum, um ihrem Vater entgegenzutreten, denn ihr Entsetzen war stärker als der Respekt, den sie ihm sonst entgegenbrachte. “In der Tat ein seltenes Exemplar! Vater, Ihr könnt wohl kaum ein menschliches Wesen in Eure Sammlung aufnehmen und katalogisieren wie einen Vogel oder Fisch!”

“Und was macht dich so sicher, dass die Kreatur ein menschliches Wesen ist?” forderte Sir Christopher seine Tochter heraus. “Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle, dass seine Sprache – wenn man es überhaupt so nennen kann – nichts als blödsinniges Gestammel ist und dass er an Bord der Surrey Lass einen Seemann angegriffen und fast getötet hat. Alles in allem scheint der Wilde also bei Weitem mehr Tier als Mensch zu sein. Wie auch immer, es ist meine feste Absicht, ihn genau zu untersuchen und es herauszufinden.”

Rowena blickte schnell von ihrem Vater zu dem großen, dunklen amerikanischen Wilden, der selbst jetzt so aussah, als ob er nur darauf wartete, sie anzugreifen und zu vernichten. Im Laufe der Jahre hatte sie unzählige Affen ebenso ertragen müssen wie Fische, Reptilien, tropische Vögel und sogar einen alten dressierten Bären, die ihr Vater alle in seinem Laboratorium eingesperrt hatte, bis sie in dem kalten englischen Klima krank wurden und starben – um dann unverzüglich auf dem Seziertisch zu landen. Auch wenn sie dies mit Trauer erfüllte, so hatte sie doch gelernt, sich damit abzufinden, dass das Schicksal dieser Kreaturen zur Arbeit ihres Vaters gehörte. Aber ein Mensch – selbst dieser rohe, ungebildete Heide, der jetzt vor ihnen stand? Nein, sie würde das nicht zulassen! Diesmal war Sir Christopher zu weit gegangen!

“Vater!” Rowena packte seinen Arm so fest, dass der alte Mann zusammenzuckte. “Ich flehe Euch an, im Namen der Menschlichkeit, tut das nicht!”

“Und was sollte ich deiner Meinung nach stattdessen tun?” Sir Christopher stieß sie beiseite und warf ihr über seine dicken Brillengläser hinweg einen finsteren Blick zu. “Soll ich ihn gehen lassen? Soll ich den armen Teufel in der Gegend herumstreunen lassen wie einen tollwütigen Hund, damit er schließlich erschossen oder aufgeknüpft wird?”

Rowena atmete langsam aus, denn sie wusste nicht, wie sie seinen Argumenten widersprechen sollte. “Schon gut, dann gebt mir den Schlüssel zu seinen Handschellen. Wenn der Mann schon hier leben soll, können wir wenigstens dafür sorgen, dass er sauber gewaschen ist und anständige Kleidung trägt.” Sie drehte sich von ihrem Vater weg und machte zwei Schritte in Richtung des trotzigen Gefangenen.

Er bewegte sich nicht, aber die mörderische Wut in seinen schwarzen Augen ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Rowena zögerte. Dann griff sie sich an die Kehle, als sie für einen flüchtigen Moment etwas anderes unter dieser Wut erkennen konnte – einen Kummer, so tief und so verzweifelt, dass es ihr einen Stich ins Herz gab.

“Nicht näher”, warnte ihr Vater aus dem Hintergrund. “Die Kreatur ist gefährlich. Wenn er freikommt, ist gar nicht auszudenken, wozu er fähig ist, ganz besonders, was er einer Frau antun könnte. Du musst einen Sicherheitsabstand einhalten, Rowena, und zwar immer.”

Rowena betrachtete den Gefangenen eingehend aus ein paar Schritt Entfernung. Gefährlich war er sicherlich. Er war wie ein verwundetes Tier, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst. Aber was wäre, wenn sie als eine Geste des Mitgefühls die Hand nach ihm ausstrecken und ihn sanft berühren würde?

Sie hob die Hand ein wenig, aber selbst diese leichte Bewegung ließ den Hass in den Augen des Mannes erneut aufflackern. Rowena hatte das Gefühl, als wäre sie zu nahe an ein Feuer geraten und von Kopf bis Fuß von seinem plötzlichen Auflodern versengt worden.

Bevor sie sich wieder besinnen konnte, gab ihr Vater in barschem Ton den beiden Dienern ihre Anweisungen. “Schafft ihn in den Keller, und sperrt ihn in dem vergitterten Raum ein. Stellt ihm etwas Wasser hin und einen Exkrementenkübel – wollen wir hoffen, dass der arme Teufel nach zwei Monaten auf See etwas damit anzufangen weiß.”

“Wie könnt Ihr ihn nur dort im Dunkeln einsperren?” Rowena hatte die Sprache wieder gefunden und war entschlossen, ihre Meinung zu sagen. “Seht Euch die arme Kreatur doch an! Er braucht etwas zu essen, warme Kleidung und ein Mindestmaß an Freundlichkeit in dieser fremden Umgebung!”

“Das wird er alles früh genug bekommen!”, erwiderte Sir Christopher. “Aber zunächst müssen wir wie bei jedem wilden Tier seinen Stolz brechen. Erst nachdem er gelernt hat, sich seinen Herren unterzuordnen, wird er fügsam genug für die Untersuchungen sein.”

“Vater, es gibt Ratten dort unten und weiß der Himmel was sonst noch …”

“Sei still, Rowena! Mein Entschluss steht fest! Wir können beim Abendessen darüber sprechen.” Sir Christopher wandte sich von seiner Tochter ab und ließ seinen Ärger an den Dienern aus. “Was gibt es da zu glotzen? Schafft ihn nach unten – und lasst ihn ja nicht aus den Augen. Man hat mir gesagt, dass diese Kreatur äußerst hinterhältig ist!”

Die beiden stämmigen Männer packten den Gefangenen fester an den Armen und fingen an, ihn zur Hintertür des Hauses zu schleifen. Bis zu diesem Augenblick hatte der Mann kein Geräusch von sich gegeben, aber als sie sich nun zu dritt der offenen Veranda näherten, warf er urplötzlich seinen Kopf zurück und stieß einen markerschütternden Schrei aus – einen Laut, so wild und primitiv, dass die feinen Härchen auf Rowenas Nacken sich aufrichteten und ein Dohlenschwarm aufgeschreckt wurde, der sich auf dem Rand des Daches niedergelassen hatte. Das war kein Schrei aus Angst oder Schmerz – so viel wusste Rowena sofort. Nein, ihre innere Stimme sagte ihr, das war der Schlachtruf eines Kriegers, ein Ausbruch purer, trotziger Wut.

Erschrocken wichen die beiden Diener für einen Moment zurück, und plötzlich war der dunkle Fremde frei. Er machte einen Satz nach vorne über den Hof und zog seine schweren Ketten hinter sich her, als ob es ein paar Enden Schnur wären. Wäre er richtig gesund gewesen, hätte die Flucht vielleicht gelingen können, aber so ermüdete er rasch. Auf halber Strecke zwischen Haus und Stall holten Thomas und Dickon ihn ein. Ein schneller Tritt von Thomas’ Stiefel beförderte ihn kopfüber in den Dreck. Danach war es für die beiden Männer ein Leichtes, seine Arme zu packen und ihn mit einem Ruck wieder auf die Füße zu stellen.

Triefend vor Schlamm und Dung, sah der Wilde seinen Peinigern ins Gesicht. Dann, zum allgemeinen Erstaunen, brach aus ihm plötzlich ein Schwall der unflätigsten Flüche heraus, die jedem englischen Seemann bekannt waren.

… Verdammter Hurensohn … schmutziger, mörderischer, rothäutiger Bastard …” Die Beschimpfungen, die er ausspuckte, vergifteten die Luft um ihn herum. Er hatte sie auf der Überfahrt von Amerika gelernt, das wurde Rowena mit Entsetzen klar. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren das die einzigen englischen Ausdrücke, die er kannte.

Ein bitteres Lächeln umspielte Sir Christophers Mundwinkel. “Gut, gut”, sagte er und nickte zufrieden. “Zumindest wissen wir jetzt, dass die Kreatur fähig ist, die menschliche Sprache zu lernen. Bringt ihn in den Keller.”

Rowena erwartete fast, dass der Wilde erneut heftig um sich schlagen würde, aber er hatte sich fürs Erste völlig verausgabt und leistete keinen Widerstand mehr, als Dickon und Thomas ihn packten und ins Haus zerrten.

Black Otter hatte das Gefühl, von dem großen Wigwam völlig verschlungen zu werden, so wie eine Fliege von einem Frosch.

Er warf verstohlene Blicke auf die weiß getünchten Wände und die Decken, die höher waren, als ein Mann nach oben reichen konnte, sah riesige, prunkvolle Bilder, die vollständig aus Fäden bestanden, und erkannte Tische und Stühle, die so massiv aussahen wie die Stämme großer Bäume. Zunächst war es sein Plan, sich den Weg im Innern einzuprägen, damit er ihn kannte, wenn sich eine Gelegenheit zur Flucht böte. Aber das hatte er schnell aufgegeben. Dieser Ort war ein Gewirr aus Fluren und Kammern, so verwirrend wie das Innere eines Termitenbaus. Wenn ihm solch ein Wigwam gehörte, musste der alte Mann, der ihn vom Schiff geholt hatte, sicherlich der Häuptling des gesamten weißen Stammes sein.

Einer der Räume, durch den er gekommen war, schien ausschließlich zum Kochen benutzt zu werden. Die Feuerstelle war wie eine Höhle in die Wand eingebaut, und über dem prasselnden Feuer hing der Kadaver eines großen Tieres an einem Bratspieß aus Metall. Auf langen Tischen lagen braune Brotlaibe. Black Otter hatte noch niemals so viel Nahrung auf einmal gesehen. Als er diese köstlichen Düfte einatmete, verkrampfte sich sein Magen vor Hunger, aber niemand bot ihm etwas zu essen oder einen Schluck Wasser an. Man schleppte ihn von einem riesigen Raum zum nächsten und schließlich einen langen, engen Gang hinunter, der in einem dunklen Loch endete.

Hier stieß ein dritter Mann, von dicklicher Gestalt und blasser Gesichtsfarbe, zu ihnen. Er trug eine Fackel aus zusammengedrehtem und in Pech getauchtem Riedgras. Der stinkende Rauch brannte Black Otter in Augen und Nase, als man ihn zwang, nach unten zu gehen, in den schwarzen Raum, der sich vor ihm öffnete. Mit seinen Mokassins stolperte er auf den rauen Steinstufen.

Angst umklammerte sein Herz, als die feuchtkalte Luft, die nach Schimmel roch, seine Lungen füllte. Es war kalt und klamm hier unter der Erde. Und ohne die Fackel würde es dunkler sein als im Bauch des großen Schiffes. Selbst wenn sie ihn nicht sofort töteten, würde er an diesem Ort langsam sterben. Er würde dahinsiechen wie ein eingesperrtes Tier, aus Mangel an Licht und Sonne, Wärme und Freiheit. Und niemals würde er erfahren, was aus seinen geliebten Kindern geworden war …

Das Licht der Fackel flackerte über verschimmelte Steinwände, vermodernde Kisten und Fässer, die aussahen, als ob sie seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hätten. Black Otter hörte das schwache Geräusch tropfenden Wassers und das Geraschel von Ratten.

Einer der Männer sagte etwas, als der Schein der Fackel auf einem Rahmen aus rostigen Eisenstäben zur Ruhe kam. Eine Tür öffnete sich quietschend auf rostigen Scharnieren und gab den Blick frei auf einen winzigen höhlenartigen Raum, der aussah, als hätte man ihn aus dem Erdreich herausgehauen. Als ihm klar wurde, dass man ihn gleich in dieses schreckliche Loch hineinstoßen würde, wollte Black Otter sich wehren – aber das war reine Kraftverschwendung. Mit einer Schnelligkeit, die man bei seiner Größe nicht erwartet hätte, schlug der große weiße Mann mit seiner kräftigen Faust zu. Black Otter sah den Schlag kommen, aber er war unfähig, auszuweichen oder zurückzuschlagen. Der Schmerz durchzuckte ihn blitzartig, als die riesigen Fingerknöchel gegen seinen Wangenknochen prallten. Dann zerbarst das Fackellicht zu umherwirbelnden Sternen, und er wurde nach vorn in die Dunkelheit geschleudert.

Rowena stocherte in ihrem Essen herum, denn sie war zu beunruhigt, um etwas zu sich nehmen zu können. “Ich verstehe das alles nicht!”, rief sie, während sie ihren Teller zur Seite stieß. “Ihr sagt, Ihr habt einhundertfünfzig Pfund für den Mann bezahlt! Vater, das ist ein kleines Vermögen und weit mehr, als wir uns leisten können. Was, um Himmels willen, ist bloß in Euch gefahren, so etwas zu tun?”

Sir Christopher erhob seinen Deckelkrug und trank einen Schluck Ale, um Brot und Fleisch herunterzuspülen. “Meine liebe Rowena”, antwortete er missmutig, “ich gebe zu, dass einhundertfünfzig Pfund eine beträchtliche Summe ist, aber du musst das als eine Kapitalanlage betrachten.”

“Eine Kapitalanlage?” Rowena starrte ihn an.

“Eine Kapitalanlage für die Zukunft. Meine und deine eigene.” Er beugte sich vor über den langen, kahlen Tisch, an dem sie beide saßen. Das flackernde Licht einer einzigen, fast abgebrannten Kerze zwischen ihnen betonte mit harten Übergängen von Licht und Schatten die Linien seines Gesichtes. Er sah alt und müde aus.

“Hör mir zu, Kind.” Seine Ernsthaftigkeit brachte sie fast zum Weinen. “Wir beide wissen, dass mein Ruf als Gelehrter im Laufe der Jahre verblasst ist. Ich werde nicht mehr von der Königen zurate gezogen oder nach Oxford eingeladen, um dort Vorlesungen zu halten. Aber mit den neuen Entdeckungen, die ich zu machen hoffe, wird sich das alles ändern.”

“Ihr sprecht in Rätseln! Welche neuen Entdeckungen?”, fragte Rowena betroffen. War der große Sir Christopher nicht mehr ganz bei klarem Verstand?

“Denk doch mal nach, Rowena!” Die Kerzenflamme spiegelte sich in seinen Brillengläsern und verwandelte seine blassen Augen in glänzende Lichter. “Spanien hat bereits in Westindien sicher Fuß gefasst. Solange noch Zeit dazu ist, muss England sich auch seinen Anteil an dieser vielversprechenden Neuen Welt sichern. Das riesige Gebiet im Nordwesten, reich an Pelzen, Land und Schätzen, wartet nur darauf, dass wir es in Besitz nehmen. Es gibt nur ein Hindernis – die Wilden, die dort leben!”

Rowena starrte ihren Vater an, und ihre Aufregung lag im Widerstreit mit ihrer Bestürzung. Die spanischen Konquistadoren hatten schon seit Langem die zivilisierteren Stämme des tropischen Amerika unterworfen: die Azteken, Mayas und weiter südlich die Inkas. Aber die nördlichen Bewohner der Wälder waren wilde Bestien, den Gerüchten zufolge mehr Tiere als Menschen. Ihre Wildheit hatte die weißen Invasoren lange von ihren Küsten ferngehalten.

Und nun war einer von ihnen tatsächlich hier in England, eingesperrt im Keller ihres Hauses.

“Denk doch nur, Rowena!” Sir Christophers Stimme krächzte, so sehr überwältigten ihn seine Gefühle. “Überleg nur, was wir alles lernen werden, wenn wir uns mit der Kreatur verständigen können – falls es uns gelingt, ihn zu bändigen, sprechen zu lehren und ihn vielleicht sogar dazu zu bringen, uns als Führer und Mittelsmann zur Verständigung zu dienen.”

“Er wird zu gar nichts zu gebrauchen sein, wenn er wegen der Kälte und Feuchtigkeit im Keller stirbt”, fuhr Rowena ihn an. “Einhundertfünfzig Pfund, das ist einfach nicht zu fassen! Ihr hättet genauso gut …”

Ihr Redeschwall endete, weil ihr die Luft wegblieb. Sie starrte ihren Vater an, wie vom Donner gerührt. “Um Himmels willen, Ihr habt den armen Elenden nicht zufällig in Falmouth gefunden, oder? Ihr habt alles genau geplant!”

“Lass mich ausreden, Rowena.” Sir Christopher konnte genauso hartnäckig sein wie seine Tochter. “Ich hatte gute Gründe für das, was ich getan habe.”

“Wie lange habt Ihr gebraucht, um alles zu planen?” verlangte sie zu wissen und zitterte, als sie aufstand. “Sechs Monate? Ein Jahr? Was musstet Ihr tun, um ihn zu bekommen?”

“Ich habe in den Wirtshäusern am Hafen Aushänge angebracht”, antwortete er. “Darauf stand, dass ich einhundertfünfzig Pfund für einen gesunden Wilden aus Nordamerika bezahlen würde. Gestern brachte mir ein Bote die Nachricht, dass ein gerade angekommener Kapitän ein solches Exemplar …”

“Ein Kapitän, ach wirklich! Ihr meint wohl einen Freibeuter. Um nichts besser als ein Pirat!”

“Wirklich, ich habe nicht daran gedacht, zu fragen.” Sir Christopher war jetzt ganz auf Abwehr eingestellt. Wie er die Schultern straffte und das Kinn hob, zeigte eindeutig, dass er seinen Standpunkt bezogen hatte und nicht davon abweichen würde.

“Und kein einziges Wort zu Eurer eigenen Tochter!” Rowena schäumte vor Wut. “Warum habt Ihr es also versäumt, mich bei Euren Plänen ins Vertrauen zu ziehen?”

Sir Christopher spießte ein Stückchen Fleisch mit der Spitze seines Messers auf und fuchtelte damit energisch in der Luft herum, während er sprach. “Weil du dich genauso aufgeführt hättest, wie du es jetzt tust. Und es wäre dir nicht gelungen, mich von meinem Vorsatz abzubringen, Rowena. Nicht im Geringsten. Die Entdeckungen, die ich hinsichtlich dieser Kreatur und ihrer Welt machen werde, werden dafür sorgen, dass Ihre Majestät mir wieder gewogen ist, und auch dir, Rowena. Vielleicht wird man dir sogar eine Stellung bei Hofe anbieten …”

“Ich habe nicht vor, in die Dienste der Königin zu treten, Vater. Mein Leben ist hier in diesem Haus bei Euch.”

Sir Christopher sank auf seinem Stuhl in sich zusammen, und ein Ausdruck tiefer Traurigkeit glitt über seine eben noch so energischen Gesichtszüge. “Und was für ein Leben habe ich dir denn bei mir geboten, Kind? Wenn ich sterbe, bist du hier ganz allein. Kein Ehemann, keine Kinder …”

“Lasst den Wilden gehen”, verlangte Rowena behutsam. “Bringt ihn zurück nach Falmouth und auf ein Schiff in die Neue Welt. Ich selbst werde mit Juwelen aus der Mitgift meiner Mutter die Überfahrt bezahlen.”

Rowenas Vater schüttelte den Kopf. “Du weißt so gut wie ich, dass er die Reise niemals überleben würde. Höchstwahrscheinlich würde der Kapitän dein Geld nehmen und deinen Wilden beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten über Bord werfen.”

“Meinen Wilden?” Ein bitteres Lächeln verzog Rowenas Mundwinkel. “Ach so, demnach ist er jetzt also mein Wilder?”

“Warum nicht, da du dich seiner Sache angenommen zu haben scheinst!” Sir Christopher sah das Häppchen Fleisch auf seiner Messerspitze finster an, führte es dann zum Mund und begann, es mühsam mit seinen wenigen Zähnen zu zerkauen.

“Also gut, solange ich einen Anspruch auf ihn habe, will ich, dass er aus dem Keller herauskommt”, erwiderte Rowena. “Es gibt reichlich leere Zimmer in diesem Haus. Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihn in einen warmen, trockenen Raum zu sperren und ihm genügend Essen und Bettzeug zu geben.”

Sir Christopher spülte die Fleischreste mit einem Schluck Ale herunter. “Was? Damit er aus dem Fenster springt oder die erste arme Seele angreift, die hereinkommt, um ihm etwas zu essen zu bringen? Nein, Rowena, solange die Kreatur eine Gefahr für sich und andere ist, wird sie hinter Gittern bleiben. Und was dich anbelangt, du darfst ihm nicht zu nahe kommen, und auch keine andere Frau in diesem Haus. Überlass es Thomas und Dickon, sich um ihn zu kümmern.” Er rückte vom Tisch ab, sein Stuhl schrammte dabei über den Steinfußboden. “Und überlass es mir, ihn zu zähmen. Das ist mein Ernst.”

“Zähmen?” Rowena hörte auf, die Teller abzuräumen, etwas, das sie oft übernahm, wenn das Abendessen länger dauerte und die Diener sich schon zurückgezogen hatten. “Ihr sprecht von ihm, als ob er ein wildes Tier wäre!”

“Genau das ist er auch.” Sir Christopher erhob sich erschöpft. “Ich war nicht immer der tattrige Greis, den du jetzt vor dir siehst, meine Liebe. Gib mir nur etwas Zeit. Glaub mir, ich weiß, wie man ein Tier zähmt – und einen Mann.”

Black Otter hielt die Eisenstangen umklammert und versuchte angestrengt, in der undurchdringlichen Finsternis, die ihn umgab, irgendetwas zu erkennen. Er bemühte sich umsonst. Genauso gut hätte er blind sein können.

Wie lange würden sie ihn hier festhalten? Die Zeit verlor jede Bedeutung, wenn das Sonnenlicht verschwunden war. Im Bauch des großen Schiffes hatte er zumindest gelegentlich einen Lichtschimmer von oben gesehen. Er hatte die Bewegungen und die Rufe der Männer auf Deck über sich gehört, und mit der Zeit war es ihm gelungen, Tag und Nacht auf Grund der Geräusche zu unterscheiden.

Hier jedoch gab es nichts außer Dunkelheit und eisiger Kälte, die bis ins Mark drang. Nichts außer dem Getrippel der Ratten und dem entfernten Tröpfeln von Wasser. Außer seiner flammenden Wut war da nichts, was ihn davon abhielt, wahnsinnig zu werden.

Er dachte an die beiden kräftigen Männer, die ihn durch den großen Wigwam und die dunkle Treppe heruntergeschleift hatten. Dann erschienen vor seinem inneren Auge der blasse, dicke Mann mit der Fackel und der Alte, der Häuptling aller Weißen. Er erinnerte sich an die Frau, groß wie ein Mann, aber von einer beunruhigenden Anmut. Der Rock ihres merkwürdigen Gewandes hatte sich um ihre Beine gebauscht wie der umgedrehte Kelch einer riesigen dunklen Blüte. Auf einen nach dem anderen richtete er seinen Zorn, ließ ihn hell auflodern in der kalten Finsternis. Selbst sie. Selbst die Frau. Er hasste sie alle.

Aber Black Otter ermahnte sich, dass Zorn allein ihn nicht hier herausbringen würde. Dafür waren ein kühler Kopf und die Schlauheit eines Fuchses vonnöten.

Er hatte seine kleine Gefängniszelle von oben bis unten untersucht und mit den Fingern das Stroh, die Wände und die Verankerungen der verriegelten Tür abgetastet. Die Einfassung war aus massivem Stein ohne die kleinste Nische, die er zu einer Öffnung hätte weiten können. Auch die Gitterstäbe waren zu stabil und standen zu eng zusammen, sodass sich nicht einmal ein Kind hindurchquetschen konnte. Seine einzige Chance zur Flucht lag darin, den Augenblick auszunutzen, wenn seine Entführer die Tür öffneten. Dafür musste er ständig wachsam sein.

Die eisernen Handschellen scheuerten die verkrusteten Schorfschichten an seinen Hand- und Fußgelenken auf, und frisches Blut sickerte daraus hervor, als er in die hinterste Ecke kroch und sich dort an der Wand hinkauerte. Den Wasserkrug hatte er schon vorher gefunden und einen vorsichtigen Schluck genommen. Das Wasser war frisch und kühl, und nach dem fauligen Zeug, das er auf dem Schiff bekommen hatte, musste er all seine Willenskraft aufbieten, um nicht den ganzen Krug in einem Zug zu leeren. Selbst jetzt verlangte seine ausgedörrte Kehle nach mehr. Aber er konnte dem Durst nicht nachgeben. Woher sollte er denn wissen, wie lange das Wasser reichen musste?

Er atmete erschöpft aus und lehnte sich zurück gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, sich auszuruhen. Um sich von den Schmerzen seines geschundenen Körpers abzulenken, dachte er an Lenapehoken, seine Heimat, mit ihren tiefen Wäldern und klaren Flüssen, und er dachte an seine Kinder. Er stellte sich vor, wie Swift Arrow auf einem moosbewachsenen Waldpfad auf ihn zugelaufen kam, sein kleines braunes Gesicht strahlend und unbekümmert. Er sah Singing Bird vor sich, wie sie am Feuer kniete, den Blick gesenkt, ihre jungen Gesichtszüge – noch nicht voll ausgeprägt, aber die zukünftige Schönheit schon erkennbar – sanft in dem goldenen Licht. Er würde zu ihnen zurückkehren, gelobte er. Koste es, was es wolle, wenn sie noch am Leben wären, würde er sie finden. Er wollte sie in seine Arme schließen, und sie drei wären wieder eine Familie.

Koste es, was es wolle …

Rowena lag auf dem Bett, das Haar in einem wilden Durcheinander ausgebreitet auf dem Kissen. Es war Mitternacht, und über ihr schien der Mond durch die bleiverglasten Fensterscheiben. Sie hatte sich schon seit Stunden herumgewälzt, von der einen auf die andere Seite, und versucht, sich zum Schlafen zu zwingen. Aber es hatte nichts genützt. Ihr Körper war müde, aber ihr aufgewühlter Geist wollte ihr keinen Frieden gönnen.

Enttäuscht setzte sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und strich sich die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht. In ihrer Kammer, die sie immer wegen der dunstigen Nachtluft geschlossen hielt, war es warm und stickig. Rowena zögerte, stand dann aber auf und ging zum Fenster. Zum Teufel mit dem Dunst. Sie brauchte frische Luft!

Sie riss das Fenster auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ den Seewind über Gesicht und Körper streichen. Unter ihrem Hemd trug sie nichts, und sie spürte die Kühle durch das weiche, zarte Leinen so deutlich wie ein Streicheln. Die Mondsichel leuchtete wie ein Sarazenenschwert vor dem Hintergrund des dunklen Himmels. Da waren das Rauschen und Raunen der Wellen, die sich an den Felsen am Fuß des Kliffs brachen.

Rowenas Gedanken kehrten wieder zu dem Wilden, ihrem Wilden zurück, der ohne Licht, Luft und Wärme eingesperrt war. Sie erinnerte sich an seine Augen, die Qual, die sie flüchtig unter der Glut des Hasses gesehen hatte.

Welche Pein musste er dort unten allein in der Dunkelheit ertragen? Litt er Hunger? War er womöglich verletzt, lag vielleicht sogar im Sterben? Würde sie es schaffen, der Vernunft zu gehorchen und ihr Herz vor seinen Nöten zu verschließen?

Oder war es bereits zu spät?

Zitternd schloss sie das Fenster und schob den Riegel vor. Sie beobachtete sich dabei, wie sie, fast ohne es zu wollen, zu ihrem Kleiderschrank ging und den leichten wollenen Morgenmantel von dem Haken an der Tür nahm. Eine durchdringende Stimme in ihrem Hinterkopf ermahnte sie, sich nicht auf ein solch wahnsinniges Vorhaben einzulassen, womit sie nur den Zorn ihres Vaters heraufbeschwören und ihre eigene Sicherheit gefährden würde. Rowena achtete nicht darauf. Wie konnte sie sich denn in ihrem weichen warmen Bett ausruhen, wenn unter demselben Dach ein Mitmensch leiden musste?

Entschlossen nahm sie einen mit Wolle ausgestopften Quilt vom Fußende ihres Bettes. Dann huschte sie quer durch den Raum und öffnete die Tür zur Diele. Sir Christopher würde sie ausschimpfen, so viel war sicher. Aber mit solchen Widrigkeiten würde sie sich morgen beschäftigen.

Im Haus war alles dunkel, doch Rowena kannte jeden Astknoten des kühlen Holzfußbodens, jede Stufe auf der langen Treppe, die in einem Bogen hinunter zur Großen Halle führte. Die Binsen raschelten unter ihren Fußsohlen, als sie um den Tisch herumging und in die Küche eilte. Die oberen Stockwerke des Hauses kannte sie in- und auswendig, aber nicht den Keller, dessen Dunkelheit so undurchdringlich war wie der feuchte schwarze Schacht eines Bergwerkes. Sie würde Licht brauchen, um sich zurechtzufinden.

Vorsichtig tastete sie in dem Durcheinander herum und fand eine Kerze, die sie an den Kohlen des Herdfeuers anzündete. Das Licht leuchtete unheimlich in der höhlenartigen Küche, flackerte über rußgeschwärzte eiserne Töpfe, Regale, Schränke und lange Tische. In der Speisekammer fand Rowena einen Brotlaib und klemmte ihn sich zusammen mit dem Quilt unter den Arm. Sosehr sie ihren Vater auch liebte, konnte sie dennoch seinen Plan nicht stillschweigend dulden, den Wilden durch Hunger gefügig zu machen. Nicht, nachdem sie einen flüchtigen Blick in diese stolzen schwarzen Augen erhascht hatte.

Als sie auf der unebenen Steintreppe nach unten ging, huschte eine Maus über ihre bloßen Füße. Rowena stöhnte unwillkürlich. Hätte sie doch nur daran gedacht, ihre Hausschuhe zu tragen …

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie in ihr Zimmer zurückginge, um ihre Schuhe zu holen, würde sie sicher der Mut verlassen. Sie würde sich einschließen, die Vorhänge an ihrem Bett zuziehen und sich den Rest der Nacht unter der Bettdecke verstecken, zitternd wie der Feigling, der sie in Wirklichkeit war.

Solange sie sich erinnern konnte, hatte Rowena eine unaussprechliche Angst vor dem Keller gehabt. Vielleicht hatte irgendetwas an diesem Ort ihr einen Schrecken eingejagt, als sie zu jung gewesen war, um sich daran zu erinnern, oder eines der Dienstmädchen hatte ihr Schauermärchen erzählt, um sie davon abzuhalten, die dunkle Treppe hinunterzuklettern. Was auch immer der Grund sein mochte, sie bekam eine Gänsehaut, als sie den langen Korridor hinunterging. Sie hielt die Hand schützend vor die Kerzenflamme, denn sie hatte Angst, dass ein plötzlicher Luftzug sie auslöschen könnte.

Ihre Angst kreiste vor allen Dingen um den verriegelten Kerker. Zeit ihres Lebens war er nur als Lagerraum genutzt worden. Aber es war wohlbekannt, dass er jenem Thornhill, der den Landsitz vor langer Zeit errichtet hatte, für ganz andere Zwecke gedient hatte. Menschen waren in diesem Raum gestorben.

Rowena dachte daran, dass frühere Generationen der Thornhills einen Hang zur Grausamkeit gehabt hatten. Aber Sir Christopher nicht. Zumindest nicht bis jetzt. Oder zeigte sich dieser dunkle Charakterzug nun schließlich doch bei ihrem eigenen sanften Vater?

Die feuchte Kellerluft schlug ihr fast wie ein Pesthauch entgegen, mit ihrem Geruch nach Schimmel und Verwesung. Sie dachte an den Wilden, der dort allein zusammengekauert in der Dunkelheit saß. Ängstigte er sich? War er zornig? Würde er verstehen, dass sie in freundlicher Absicht kam?

Rowena versuchte sich vorzustellen, wie man ihn gefangen genommen, angekettet und aus seiner Heimat verschleppt hatte. Ein solcher Mann hatte sicher wie der Teufel gekämpft. Warum hatte die Schiffsmannschaft nicht jemanden gefangen, der sanftmütiger war? Eine Frau oder sogar ein Kind?

Die Antwort lag auf der Hand. Die Freibeuter wollten, dass ihr Gefangener England lebend erreichte. Sie hatten einen starken Mann – einen Krieger – gewählt, weil er die besten Aussichten hatte, die fürchterliche Reise zu überstehen.

Dunkelheit umfing sie, als sie am Fuß der Treppe angekommen war. Die Kerze war kaum mehr als ein verlöschender Lichtpunkt. Schritt für Schritt bewegte sie sich vorwärts und achtete auf die winzige Flamme. In ihrem trüben Schein konnte sie ein Durcheinander von aufgestapelten Kisten und Fässern erkennen und dahinter die Umrisse der Gitterstäbe.

Rowena blieb stehen, hielt den Atem an und horchte. Sie konnte das schwache Tropfen des Wassers der unterirdischen Quelle hören und ein leise raschelndes Geräusch, das von einer Ratte stammen mochte. Aber selbst in der Stille war kein Laut aus dem vergitterten Verlies zu vernehmen.

Sie schlich sich langsam näher heran, die Kerze vor sich haltend. Dann konnte sie die Gitterstäbe deutlich sehen. Der Blick auf den Raum dahinter war frei bis zur gegenüberliegenden Wand.

Es war niemand darin.

Sie vergaß alle Vorsicht und eilte vorwärts. War der Wilde entkommen? War er auf dem Weg zu seinem dunklen Gefängnis gestorben? Oder hatte ihr Vater ganz einfach beschlossen, ihn anderswo unterzubringen?

Rowena stand vor den Stäben, lehnte sich dicht dagegen und hob die Kerze höher, um etwas in den hinteren Ecken des kleinen Raumes erkennen zu können. Erst da fiel ihr das im Schatten aufgeschichtete Stroh auf – ein länglicher, unebener Haufen von der Größe und Form eines menschlichen Körpers.

Voller Erleichterung hielt sie die Kerze tiefer. Frierend und erschöpft hatte der Wilde das einzig Vernünftige getan. Er hatte sich in dem Stroh wie ein wildes Tier vergraben und war eingeschlafen.

Rowena atmete tief durch. Das würde ihr Rettungsvorhaben erleichtern. Sie brauchte lediglich das Brot und den Quilt durch die Gitterstäbe zu schieben und zu gehen. Beim Aufwachen würde der Wilde ihre Gaben entdecken, und falls er so klug war, wie er zu sein schien, würde er begreifen, dass es selbst unter den Engländern auch mitfühlende Menschen gab.

Sie ging in die Hocke und stellte den Leuchter auf den Steinboden, um die Hände frei zu haben. Gerade wollte sie das Brot zwischen den Stäben hindurchschieben, als ein Rascheln im Schatten sie an die Ratten erinnerte. Unbewacht würde der Brotlaib nur die schrecklichen Nager anlocken, und sie würden in Scharen in das Verlies kommen. Das Brot wäre gefressen, noch ehe der Gefangene aufwachen und sie wegscheuchen könnte.

Autor

Elizabeth Lane
Immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und guten Stories, hat Elizabeth Lane schon die ganze Welt bereist: Sie war in Mexiko, Guatemala, Panama, China, Nepal und auch in Deutschland, aber am wohlsten fühlt sie sich im heimatlichen Utah, im Westen der USA. Zurzeit lebt sie mit ihrer 18jährigen Katze...
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