Wilde Rose der Prärie

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Arizona, 1888. Hell lodern die Flammen auf dem Markplatz von San Antonio: Lorelei Fellows verbrennt ihr Brautkleid! Nach dem Betrug ihres Verlobten will sie nicht mehr heiraten, stattdessen stolz und frei ihr eigenes Land bewirtschaften. Doch das grenzt an die Weiden der McKettricks. Kein Tag vergeht ohne Herausforderungen: Ausbrechende Rinder, ausbleibender Regen - und vor allem Holt McKettrick! Erbittert streitet Lorelei mit dem dickköpfigen Rancher, bis sie mit ihm nach Texas reiten muss. Denn als er sie unter dem hellen Präriemond leidenschaftlich küsst, fragt sie sich voller Sehnsucht: Ist diese Liebe doch den Preis der Freiheit wert?


  • Erscheinungstag 10.02.2009
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953875
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller …

… wuchs im Bundesstaat Washington auf, wohin sie nach verschiedenen Aufenthalten in Europa auch wieder zurückkehrte. Bis heute ist der weite Westen der bevorzugte Schauplatz ihrer Romane. Neben dem Schreiben engagiert sich die beliebte Autorin für den Tierschutz und hat eine Stiftung zur Förderung von Frauenbildung gegründet.

1. Kapitel

Arizona, 12. August 1888

Holt McKettrick zog mit einem Finger an seinem Hemdkragen, um ihn ein wenig zu lockern. Doch seine Bemühung war vergebens. Auf der weitläufigen Rasenfläche neben dem Hauptgebäude der Triple M Ranch tummelten sich die Hochzeitsgäste. Über ihre elegante Kleidung spielten die fleckigen Schatten der jungen Eichen, die dort in die Höhe schossen. Zwei Geiger fiedelten eine schmachtende Version von „Lorena“.

Die drei Halbbrüder von Holt hatten ein Erdloch ausgehoben, in der ein ganzes Schwein schmorte. Der Rand der Grube war mit flachen Steinen aus dem Fluss befestigt. Holts Schwägerin hatte die Hochzeitstorte gebacken, die die Ausmaße einer kleinen Kutsche aufwies. Und ein langer Tisch, der eigentlich nur aus einigen Brettern auf einem halben Dutzend Fünfzig-Gallonen-Fässern bestand, bog sich unter dem Gewicht der feinen Speisen, die gut und gern für eine Woche gereicht hätten.

Der alte Mann und die übrigen McKettricks hatten weder Kosten noch Mühe gescheut, um dieses Fest zu etwas Unvergesslichem zu machen. Holt hätte sich gut vorstellen können, den Tag genauso zu genießen wie jeder seiner Gäste – wäre er nicht der Bräutigam gewesen.

Jemand klopfte ihm vergnügt auf den Rücken, sodass Holt beinahe den Obstpunsch aus seinem Becher verschüttet hätte – und dabei hatte sein Bruder Rafe ihn so großzügig mit Whiskey aus einer Flasche versorgt, die er unter seinem teuren Anzug verborgen bei sich trug.

„Ich schätze, das dahinten ist der Priester“, sagte Holts Vater Angus McKettrick. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf einen herannahenden Reiter, der sein Pferd quer durch den von der Sonne beschienenen kleinen Fluss jagte. „Wird auch Zeit, dass er sich blicken lässt. Ich dachte schon, wir müssten jemanden zur Mission schicken, damit er den verkrüppelten Padre abholt.“

Holt musste schlucken, während er die Augen zusammenkniff. Plötzlich machte sich ein Kribbeln in seinem Nacken bemerkbar, und etwas regte sich in ihm – eine angenehme Sehnsucht, wie er sie an manchem heißen Sommerabend verspürte, wenn die leichte Brise wie eine Stimme klang, die ihn zurück nach Texas locken wollte.

„Würde ich auch sagen“, murmelte er und fragte sich, wohin Rafe mit dieser Flasche verschwunden war. Trotzdem wandte er seinen Blick nicht von dem Reiter ab.

Der Neuankömmling, dessen Gesicht durch die blendende Nachmittagssonne nicht zu erkennen war, trieb sein Pferd das Flussufer hinauf, wobei das Wasser in kleinen glitzernden Fontänen aufspritzte.

„Margaret ist eine anständige Frau“, warf Angus ein. Er hatte die Angewohnheit, ohne jede Vorrede und ohne ersichtlichen Anlass irgendwelche Aussagen in die Welt zu setzen.

„Wer?“, fragte Holt, ohne hinzuhören. Zwischen seinen Schulterblättern juckte es, und seine Haut unter der gestärkten Baumwolle der Hemdbrust fühlte sich klatschnass an.

„Deine Braut!“ Angus klang aufgebracht. Aus dem Augenwinkel sah Holt, wie sein Vater am Knoten seiner Fliege zerrte, als hätte seine Frau Concepcion ihn nicht längst wie ein Korsett zusammengeschnürt.

Der Reiter erreichte den Rand des Hofs, saß mit der Eleganz eines erfahrenen Cowboys ab, wobei er die Zügel einfach herabhängen ließ, und kam geradewegs auf Holt zu.

„Das ist ja gar nicht der Prediger“, ließ Angus völlig unnötigerweise und mit sorgenvoller Stimme verlauten. Obwohl er so gut wie keine Schulbildung genossen hatte, war Holts alter Herr sehr belesen.

Für einen Moment sah Holt zum Haus, wo seine Zukünftige, Miss Margaret Tarquin, sich im Schlafzimmer im ersten Stock eingeschlossen hatte, um sich für die Hochzeit herauszuputzen. Dann kehrte sein Blick zu dem Mann zurück, der soeben auf der Ranch eingetroffen war. Das Geigenspiel nahm mit einem letzten durchdringenden Akkord ein jähes Ende, und die Gäste verfielen in Schweigen. Nicht einmal von den Kindern oder den Hunden kam noch ein Laut.

„Ich bin auf der Suche nach Holt Cavanagh“, ließ der junge Mann die Menge wissen. Seine Jeans war von der Flussdurchquerung nass geworden, und trotz der brütenden Hitze an diesem Augustnachmittag zitterte der Fremde unübersehbar. „Das müssen wohl Sie sein, nehme ich an.“

Holt nickte knapp und dachte überhaupt nicht daran, dem anderen Mann zu erklären, dass er den Namen Cavanagh abgelegt hatte und er sich inzwischen McKettrick nannte – seit es ihm und seinem alten Herrn gelungen war, Frieden zu schließen.

Angus blieb dicht bei ihm, die buschigen Brauen argwöhnisch zusammengezogen, während seine bis dahin unauffindbaren Brüder Rafe, Kade und Jeb geistergleich wie aus dem Nichts bei ihm auftauchten. In den drei Jahren, die er sie nun kannte, hatte es zwischen Holt und ihnen immer wieder Differenzen gegeben, und es gab sie sogar jetzt noch – aber sie waren blutsverwandt, und das war stärker als alles andere. Brachte der Reiter gute Neuigkeiten, dann würden sie mit ihm feiern. Bei schlechten würden sie alles tun, um ihm zu helfen. Und standen Probleme ins Haus, dann waren sie bereit, auf der Stelle für ihn in den Kampf zu ziehen und erst danach Fragen zu stellen.

Holts Zuneigung für sie lag ihm im Blut, auch wenn er sich das manchmal nur widerwillig eingestehen wollte.

Der Besucher hielt einen Zettel in der Hand. „Frank Corrales sagte mir, ich solle Ihnen das hier geben. Er hat Ihnen ein Telegramm geschickt, und als Sie nicht geantwortet haben, nahm er an, dass es Sie nicht erreicht hat. Daher wies er mich an loszureiten. Den Brief da habe ich von Texas bis hierher getragen.“

Sorge überflutete seinen ganzen Körper, als würde sich das Gift einer Schlange in ihm ausbreiten. Einen Augenblick lang zögerte er, dann entriss er seinem Gegenüber das feucht gewordene, zusammengefaltete Blatt aus braunem Papier und öffnete es mit einer knappen Handbewegung. Er spürte, dass sein Vater und seine Brüder sich ihm einen Schritt näherten.

Ein Blick genügte, um den Text zu überfliegen, dann dachte er kurz über die Konsequenzen nach und las die Zeilen noch ein zweites Mal. Diesmal langsamer, um Gewissheit zu bekommen, dass er sie richtig erfasst hatte.

John Cavanagh soll von seinem Land vertrieben werden.

Gabe soll am 1. Oktober als Pferdedieb und Mörder an den Galgen. Komm schnell.

Frank Corrales

Holt hatte die Nachricht noch nicht ganz verarbeitet, da holte ihn eine Frauenstimme aus seiner Erstarrung, und jemand legte eine schlanke Hand auf seinen Ärmel. „Holt? Stimmt etwas nicht?“

Er zuckte leicht zusammen und drehte den Kopf so weit, bis er seiner Zukünftigen ins Gesicht sehen konnte. Mit ihrem blonden Haar und den ausdrucksstarken blauen Augen war sie eine hübsche Frau, eine bestellte Braut, die man den weiten Weg von Boston bis zu ihm gebracht hatte. Jedes Mal, wenn er sie ansah, versetzten seine Schuldgefühle ihm einen Stich ins Herz. Margaret verdiente einen Mann, der sie liebte, aber nicht jemanden, der für seine kleine Tochter eine Mutter und für sich selbst eine Bettgespielin suchte, mehr von ihr jedoch nicht wollte.

„Ich muss zurück nach Texas.“ In seinem Kopf waren diese Worte seit Langem umhergegeistert, doch jetzt sprach er sie zum ersten Mal auch aus.

Angus räusperte sich, was wie ein Signal für die anderen wirkte, die sich auf einmal ebenfalls wieder rührten. Widerstrebend zogen sich Rafe, Kade und Jeb zurück, Angus drückte dem Reiter eine Goldmünze im Wert von fünf Dollar in die Hand, dann steuerte er auf den Tisch zu, auf dem die Speisen angerichtet waren.

Einer der Rancharbeiter nahm sich des erschöpften Pferdes an.

Margarets Lächeln wurde etwas schwächer, als sie Holt abwartend in die Augen sah.

„Vielleicht, wenn ich zurück bin …“, setzte er unbeholfen an. Dann jedoch versagte seine Stimme.

Mit einem leisen Seufzer schüttelte sie den Kopf. „Ich glaube, ich möchte nicht warten, Holt“, erklärte sie. „Falls es das ist, worum du mich bitten willst.“

Er strich mit den Fingern über ihre Wange und ließ die Hand wieder sinken. „Es tut mir leid“, sagte er mit rauer Stimme. Er sprach die Wahrheit, aber er bezweifelte, dass dies angesichts der Situation noch etwas ausmachen konnte. Auf Drängen seiner Brüder hatte er diese Frau aus dem Osten des Landes herkommen lassen, und nun stand sie hier in Brautkleid und Schleier, die halbe Nachbarschaft war anwesend – und es würde keine Hochzeit geben.

„Wir machen weiter, wie geplant, und ich werde dich heiraten“, sagte er, obwohl all seine Instinkte ihn davon abzubringen versuchten. Aber er war der Sohn von Angus McKettrick, und in dessen Familie wurde ein gegebenes Versprechen gehalten. Dennoch kamen diese Worte nicht so über seine Lippen, als würde er es ernst meinen, und Margaret war keine dumme Frau. „Trotzdem werde ich nach Texas zurückkehren müssen.“

Eine Träne schimmerte auf ihrer Wange, dennoch hielt sie das Kinn trotzig erhoben und schüttelte erneut den Kopf. „Nein“, widersprach sie mit einer Mischung aus Trauer und Stolz. „Würdest du mich wirklich lieben, dann hätten wir die Zeremonie zu Ende gebracht. Du hättest mir einen Ring an den Finger gesteckt, damit jeder wüsste, ich bin verheiratet. Und vielleicht hättest du mich sogar gebeten, dich zu begleiten.“

„Es wird eine anstrengende Reise sein“, gab Holt zurück. Er kam sich vor wie eine lahmende Kuh, die immer nur im Kreis läuft und nach einem Ausweg sucht. Dennoch bemühte er sich weiter, Margaret einsichtig zu stimmen. „Und wenn ich dort angekommen bin, warten sehr schwierige Aufgaben auf mich.“

Sie brachte ein Lächeln zustande und sagte: „Viel Erfolg damit, Holt McKettrick.“ Dann wandte sie sich zu seiner großen Verärgerung an die versammelten Gäste.

Sofort war die ausgelassene Stimmung wie weggeweht, und gebanntes Schweigen machte sich breit.

„Es wird heute keine Hochzeit stattfinden“, verkündete sie mit klarer, lauter Stimme, während sie von allen mitfühlend angesehen wurde. Holt bemerkte voller Bewunderung, dass sie aufrecht dastand wie ein frisch gesetzter Zaunpfahl. „Aber es wird ein Fest geben“, fuhr sie fort. „Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mir etwas erheblich Bequemeres an. Und wenn ich wieder nach unten komme, dann erwarte ich von jedem von Ihnen gute Laune.“

Mit diesen Worten entfernte sich Margaret in Richtung Ranchhaus. Holts Schwägerinnen Emmeline, Mandy und Chloe warfen ihm giftige Blicke zu und eilten zu seiner Beinahe-Braut.

Nur Lizzie, Holts zwölf Jahre alte Tochter, besaß die Kühnheit, sich ihm zu nähern. Ihre Wangen glühten vor Wut und Entrüstung. „Papa!“, rief sie und blieb direkt vor ihm stehen. „Wie konntest du nur so was machen?“

Holt liebte seine Tochter sehr, auch wenn er von deren Existenz erst letztes Jahr erfahren hatte. Und von Margaret abgesehen, war Lizzie diejenige, der er im Moment am liebsten nicht in die Augen gesehen hätte. „Ich muss etwas in Texas erledigen“, erwiderte er. Das war eine Tatsache, an der es nichts schönzureden gab. „Etwas, das keinen Aufschub duldet.“

Lizzie versteifte sich, blinzelte ein paar Mal, sah ihn mit ihren großen braunen Augen an und biss sich auf die Unterlippe. „Du lässt mich allein?“

Er wollte eine Hand auf ihre Schulter legen, aber das Mädchen wich zurück. „Lizzie“, flüsterte er.

Sie machte auf der Stelle kehrt und flüchtete sich zu ihrem Großvater. Angus legte einen Arm um sie und bedachte Holt mit einem finsteren Blick. Der alte Mann wirkte dabei wie Zeus persönlich, der aus seinen Augen Blitze auf ihn abfeuerte.

„Verflucht“, murmelte Holt und ging in Richtung Scheune.

Seine Brüder folgten ihm mit verbissener Miene. Als Holt größere Schritte machte, klebten sie trotzdem förmlich an seinen Fersen. Sture Kerle, die alle aus dem gleichen groben Holz geschnitzt waren wie ihr Vater.

„Was zum Teufel ist hier eigentlich los?“, knurrte Rafe. Der älteste von Angus’ drei jüngeren Söhnen war ein Bulle von einem Mann, und er war stets der Erste, wenn es darum ging, eine Erklärung zu verlangen. Er, Kade und Jeb bildeten vor Holt einen Halbkreis, um ihm den Weg zur Scheune zu versperren. Dort war sein Pferd untergebracht, das noch nichts von der anstehenden strapaziösen Reise ahnte.

Holt hätte versuchen können, die drei aus dem Weg zu schieben, doch das hätte unweigerlich zu einem Handgemenge geführt. Davor hatte er zwar keine Angst, jedoch würde es nur unnötig Zeit kosten. Und sein Gefühl sagte ihm, dass er eben diese Zeit nicht hatte.

Er zog den zerknitterten Brief aus der Westentasche, in die er ihn nur Minuten zuvor gesteckt hatte, und drückte ihn Kade in die Hand, der direkt vor ihm stand. „Lies es selbst“, forderte er ihn auf.

Kade überflog die Zeilen, Jeb und Rafe schauten von der Seite auf das Papier.

„Ich werde dein Pferd satteln“, erklärte Kade und gab ihm die Nachricht zurück. Er war der mittlere Bruder, der nachdenkliche, der praktisch denkende. „Am besten nimmst du dir für unterwegs noch etwas vom Hochzeitsessen mit.“

„Sprich mit Lizzie, bevor du aufbrichst, Holt“, warf Rafe ein. „Sie macht nicht den Eindruck, als würde sie das Ganze so auf die leichte Schulter nehmen.“

„Ich könnte mitreiten“, schlug Jeb mit dem für ihn typischen Eifer vor. Als jüngster Bruder war er zugleich der ungestümste von ihnen und unbestritten der beste Reiter. Aus diesen und noch ein paar anderen Gründen wäre es durchaus praktisch, Jeb an seiner Seite zu wissen. Aber Tatsache war auch, dass Holt nicht auch noch auf ihn aufpassen wollte. Allerdings war er nicht so dumm, das Jeb auf die Nase zu binden.

Unter anderen Umständen hätte er mit einem Grinsen reagiert, doch er hatte soeben eine gute Frau öffentlich gedemütigt und erfahren müssen, dass zwei seiner besten Freunde in Schwierigkeiten waren. Jeb hatte eine Frau und die gemeinsame kleine Tochter. Ähnliches galt für Rafe und Kade, hatten ihre Frauen doch alle drei letztes Jahr zum Unabhängigkeitstag ihre Kinder zur Welt gebracht.

„Diesen Kampf muss ich allein kämpfen“, erwiderte Holt.

Rafe zog eine nachdenkliche Miene. „John Cavanagh. Das ist doch der Mann, der dich großgezogen hat, stimmt’s?“

„Ja, ihm gehört ein Stück Land in der Nähe von San Antonio“, bestätigte Holt. Rafes Worte konnte nicht einmal im Ansatz beschreiben, wie viel Cavanagh ihm bedeutete.

„Und dieser Gabe?“, hakte Jeb nach. „Wer ist das?“

„Wir waren beide bei den Rangern“, antwortete Holt. Gabe Navarro war ein wilder Kerl – zum Teil Komantsche, zum Teil Mexikaner und zum Teil Teufel –, aber weder ein Mörder noch ein Pferdedieb. Holt kannte ihn zu gut und schon zu lange, als dass er auch nur eine der Anschuldigungen hätte glauben können.

Kade begnügte sich mit dieser knappen Erklärung und ging zur Scheune, um Holts Pferd Traveler reisefertig zu machen. In der Zwischenzeit stellten Rafe und Jeb ihm aus dem Hochzeitsmahl den Reiseproviant zusammen. Holt sah sich nach Lizzie um und stellte fest, dass Angus sie noch immer in seinen Armen hielt und ihr Kopf auf der breiten Schulter des alten Mannes ruhte.

„Nun komm“, murmelte Angus, der seinen ältesten Sohn unfreundlich, aber resigniert musterte, während er näher kam. „Du musst jetzt mit deinem Papa reden, Lizziebeth. Es ist nicht gut, wenn sich eure Wege trennen, ohne das zu sagen, was gesagt werden muss.“

Schniefend hob Lizzie den Kopf und sah Holt an. Angus übergab ihm seine Tochter, und nachdem er Holt einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, zog er sich zurück.

„Kommst du wieder?“, wollte Lizzie wissen.

„Ja“, versicherte er ihr überzeugt. Er war mit Texas noch nicht fertig, zu viele Dinge hatte er ungelöst hinter sich gelassen. Doch tief in seinem Herzen wusste er, diese Region von Arizona und die Triple M waren sein Zuhause. Er gehörte in diese Gegend mit dem groben roten Staub, mit seinem unmöglichen Vater, seinen nicht zu bändigenden Brüdern und seiner lebhaften Tochter.

Mit dem Handrücken fuhr sie sich durchs Gesicht. „Versprichst du’s mir?“

„Ich gebe dir mein Wort.“

„Und wenn du nicht zurückkommen kannst? Wenn dich jemand erschießt?“

„Ich komme wieder, Lizzie.“

„Ich werd’s dir wohl glauben müssen.“

Lachend streckte er einen Arm aus, und nach kurzem Zögern drückte sich Lizzie gegen seine Brust. „Du wirst ein braves Mädchen sein“, sagte er und ließ sein Kinn auf ihrem dunklen Haar ruhen. Er wünschte, er müsste sie nicht hier zurücklassen. „Kümmere dich ein bisschen um Concepcion und deinen Großvater.“

Zitternd zog sie ihr geliebtes blaues Band aus ihrem Haar und steckte es in Holts Westentasche. „Damit du immer an mich denkst“, flüsterte sie und versetzte seinem Herzen damit einen Stich. Bevor er aber seiner Tochter versichern konnte, auch ohne dieses Band immer an sie zu denken, zumal es völlig unmöglich wäre, sie zu vergessen, redete sie bereits weiter: „Wirst du auch Mamas Grab besuchen? Sie ist in San Antonio beerdigt, auf dem Friedhof hinter Saint Ambrose’s.“

Er nickte nur stumm, da seine Kehle nach wie vor wie zugeschnürt war. Lizzies Mutter Olivia hatte viel mit den Dingen zu tun, die es für ihn in Texas zu erledigen gab. Von ihr musste er sich noch angemessen verabschieden, sie in seinem Kopf und seinem Herzen zur ewigen Ruhe betten. Auch wenn sie alle seine Worte längst nicht mehr hören konnte.

„Nimmst du ihr Blumen von mir mit? Die schönsten, die du finden kannst?“

Holt hatte unverändert einen Kloß im Hals, sodass er auch jetzt nur stumm nicken konnte.

Aufmerksam musterte Lizzie sein Gesicht, fast so, als suche sie nach einer von diesen Halbwahrheiten, die Erwachsene Kindern gern erzählen, oder sogar nach einer dreisten Lüge. Da sie in seiner Miene aber nur die Wahrheit sah, straffte sie die Schultern und schob das Kinn vor. „Na gut. Du reitest bestimmt besser los, solange es noch hell genug ist, damit du den Weg auch erkennst.“

Lächelnd legte er eine Hand unter ihr Kinn. „Iss nicht zu viel Kuchen“, ermahnte er sie.

Tränen blitzten in ihren Augen auf. „Lass du dich nicht erschießen“, konterte sie.

Damit hatten sie sich voneinander verabschiedet.

Lizzie war eigentlich mehr eine junge Frau als ein Mädchen auf einer der größten Ranches in Arizona. Sie konnte bereits wie ein kleiner Soldat auf einem Pony reiten, und von Kades Frau Mandy, einer Scharfschützin, hatte sie gelernt, mit der Pistole und dem Gewehr umzugehen. Lizzies Mutter war an einem Fieber gestorben, und sie hatte mitansehen müssen, wie ihre Tante kaltblütig erschossen wurde. Daher wusste sie auch, wie schnell ein Leben enden konnte, wie gefährlich es in der Welt zuging und dass ein Abschied jedes Mal auch ein Abschied für immer sein konnte.

Dieser Abschied aber würde nicht für immer sein, schwor sich Holt, als er davonritt, und legte seine Hand auf die Tasche, in der Lizzies Haarband steckte.

2. Kapitel

San Antonio, Texas, 25. August

Das Hochzeitskleid glich einer riesigen wallenden Wolke aus Seide und Tüll, als Lorelei Fellows es zur Mitte des Platzes trug und es gleich neben dem Brunnen zu Boden sinken ließ.

Von der ringsum versammelten Menschenmenge, die in der schwülen, drückenden Nachmittagshitze schweigend das Geschehen verfolgte, nahm sie keine Notiz. Schwungvoll zog sie eine kleine metallene Schachtel unter dem Rockbund hervor, entnahm ein Streichholz und entzündete es an der Sohle ihres Schuhs.

Beißender Schwefelgestank verbreitete sich in der stickigen Luft, als die Flamme zum Leben erwachte. Einen Moment lang betrachtete Lorelei das Streichholz, dann ließ sie es auf das Kleid fallen.

Der Stoff ging augenblicklich in Flammen auf, und Lorelei war gerade noch rechtzeitig zurückgewichen, bevor das Feuer auf ihren Rock überspringen konnte.

Von den Umstehenden ging noch immer kein Laut aus, mit Ausnahme des Mannes hinter dem vergitterten Fenster im Gebäude am Rand des Platzes. Im Halbdunkel blitzten weiß seine Zähne auf, als er breit grinste. Die Hände hatte er zwischen den Gitterstäben hindurchgeschoben, um Beifall zu klatschen – einmal, zweimal, dann ein drittes Mal.

Brennende Fetzen Spitze stiegen aus dem Scheiterhaufen aus Loreleis Träumen auf und zerfielen in Schwaden von Funken, die gleich darauf erloschen. Sie hatte einen Kloß im Hals, und fast hätte sie die Hand vor den Mund gelegt.

Ich werde nicht weinen, schwor sie sich stumm.

Sie wollte soeben dem brennenden Kleid den Rücken kehren und zählte darauf, dass ihr Stolz sie lange genug durchhalten lassen würde, auch wenn die Knie unter ihr nachzugeben drohten. Da hörte sie auf einmal das Geräusch von Pferdehufen auf gepflastertem Untergrund.

Neben ihr schwang sich ein großer Mann aus dem Sattel seines Pferds. Er war durchgeschwitzt und nach einem langen Ritt von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt. Ohne von ihr Notiz zu nehmen, ging der Mann an ihr vorbei und trat mit seinen Stiefeln die Flammen aus. Lorelei konnte ihm dabei nur sprachlos zusehen, da sein plötzliches Einschreiten sie einfach zu sehr überraschte. Nachdem das Feuer erstickt war, besaß er auch noch die Dreistigkeit, ihren Arm zu fassen.

„Sind Sie verrückt?“, fuhr er sie an. Seine nussbraunen Augen loderten so heftig wie die Flammen, die er soeben ausgetreten hatte.

Die Frage störte sie auf eine Weise, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Blut stieg ihr in die Wangen, und sie versuchte, sich zu befreien. Doch der Griff des Fremden wurde nur noch fester. „Lassen Sie mich sofort los!“, hörte sie sich ausrufen.

Aber er hielt sie nur weiter fest und starrte sie an. Einen Moment lang verwandelte sich die Wut in ihrem Blick in Verwunderung, gleich darauf war dieser Ausdruck jedoch schon wieder verschwunden.

„Holt?“, rief auf einmal der Mann, der kurz zuvor noch applaudiert hatte. „Holt Cavanagh? Bist du das?“

Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Holts unrasiertem Gesicht ab. Er wandte sich um, hielt Loreleis Arm dabei aber unverändert fest. „Gabe?“, erwiderte er.

„Lass lieber die Tochter von Richter Fellows los“, riet ihm Gabe und blickte noch immer amüsiert drein. Für einen Mann, der in etwas mehr als einem Monat am Galgen baumeln sollte, war er ausgesprochen gut gelaunt – und vorlaut.

Als Holt sich ihr wieder zuwandte, versuchte er, eine ernste Miene aufzusetzen. „Die Tochter des Richters“, sagte er. „Sieh mal einer an, dann sind Sie ja eine richtig wichtige Persönlichkeit.“

„Lassen … Sie … mich … los!“, befahl Lorelei ihm.

Sekundenlang rührte er sich nicht, dann ließ er sie tatsächlich los, und das so plötzlich, dass sie sich auf den Rocksaum trat und fast hingefallen wäre.

„Sie müssen ein Gesetzloser sein“, fauchte sie und klopfte Asche von ihrem Kleid, während sie sich fragte, warum sie nicht einfach wegging. „Wenn Sie mit einem Pferdedieb und Mörder so gut bekannt sind.“

„Und Sie müssen eine Närrin sein“, gab Holt im gleichen Tonfall zurück, „wenn Sie mitten in der Stadt ein Feuer anzünden und dann daneben stehen bleiben wie die Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen.“

Gabe Navarro musste darüber laut lachen, woraufhin hier und da von den Schaulustigen ein zaghaftes Kichern zu hören war.

Schließlich fühlte Lorelei, dass ihre Beine wieder standfest genug waren, sodass sie sich abwenden und mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern davonstolzieren konnte. Sie schaute weder nach rechts noch nach links, und die Menge war klug genug, ihr aus dem Weg zu gehen. Allerdings war Lorelei auch klar, wie ihr alle nachstarrten, denn sie spürte die Blicke, die ihr Rückgrat auf ganzer Länge kribbeln ließen. Oh ja, und sie fühlte auch Holt Cavanaghs Blick.

Sie machte größere Schritte, und als sie um eine Hausecke gebogen war und den Platz hinter sich gelassen hatte, raffte sie ihren Rock, um zügiger gehen zu können. Dabei wünschte sie sich, sie könnte immer weiter und weiter laufen, bis sie dieses ganze verdammte Texas hinter sich gelassen hatte.

Als sie das Gartentor zum Haus ihrer Vaters erreichte, war sie sich sicher, dass dieser Holt Cavanagh – wer immer der Kerl auch sein mochte – längst alle schlüpfrigen Einzelheiten über ihren Skandal wusste.

Heute hätte der Tag ihrer Hochzeit sein sollen.

Die Torte war längst fertig, über Wochen hinweg waren Geschenke eingetroffen. Die Flitterwochen hatten sie geplant und die Bahnfahrkarten gekauft. Jede Kirchenglocke in San Antonio hätte läuten sollen, um das freudige Ereignis kundzutun.

All das wäre auch Wirklichkeit geworden – hätte die Braut nicht ihren Bräutigam dabei erwischt, wie der sich mit einem Dienstmädchen im Bett vergnügte.

„Was um alles in der Welt ist denn geschehen?“, wollte Holt von seinem alten Freund wissen, nachdem es ihm gelungen war, einen unwilligen Deputy Sheriff zu bestechen, und ihn ein Wachmann durch schmale Gänge zu Gabes Zelle geführt hatte. Die Zelle war kaum größer als die Box für ein Schwein, das zum Schlachten bestimmt war. Der Gefangene konnte sich in die Mitte stellen und mit nicht einmal ganz ausgestreckten Händen mühelos die Wände links und rechts berühren. Die Dielen hatten sich im Lauf der Zeit so gebogen, dass das wenige Mobiliar – ein Feldbett, eine rostige Kommode und ein einzelner Stuhl – krumm und schief in dem winzigen Raum stand. Der dort herrschende Gestank trieb Holt die Tränen in die Augen.

„Das würde ich selbst gern wissen.“ Gabe griff nach den Gitterstäben, als wolle er sie mit bloßen Händen auseinanderbiegen. Seine freundliche Miene, die er beim Anblick der Hochzeitskleidverbrennung zur Schau gestellt hatte, war verschwunden und durch einen düsteren Gesichtsausdruck ersetzt worden. Auf diese Weise eingesperrt zu sein, musste für fast jeden Mann eine Seelenqual sein, ganz besonders aber für Gabe, der sein Leben lang unter freiem Himmel verbracht hatte. Angeblich hatte Navarro sogar schon als kleiner Junge nicht mit einem Dach über dem Kopf schlafen wollen, wenn man seinen Geschichten Glauben schenken wollte. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

„Frank hat einen Reiter mit einer Nachricht zur Triple M geschickt.“

Gabe ließ die Gitterstäbe los und wäre am liebsten wie ein halbverhungerter Wolf in einem Zirkuswagen auf und ab gelaufen, doch dafür war nicht genug Platz. Er presste die Lippen aufeinander und kniff die Augen zusammen. „Hast du Frank gesehen?“

„Noch nicht. Ich bin eben erst angekommen.“

„Dann lebt er ja vielleicht doch noch.“ Gabe schüttelte den Kopf, als versuche er, sich von einer düsteren Vision zu befreien.

„Wie meinst du das?“, wunderte sich Holt. „Hast du gedacht, es könnte nicht der Fall sein?“

Abrupt ließ Gabe seine breiten Schultern sinken. „Wenn ich das wüsste“, antwortete er. „Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit dem Abend, als man mich hierher brachte. Vor vielleicht einem Monat wurden wir von einem Dutzend Männer überfallen, als wir in einer Schlucht unser Lager aufgeschlagen hatten. Mit Gewehrkolben und allem, was sie sonst zur Hand hatten, schlugen sie auf mich ein. Und kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich einen Schuss. Ich dachte, sie haben Frank abgeknallt.“

Holt fluchte, Wut erfasste ihn, und er ballte die Fäuste.„Weißt du, wer sie waren?“

Gabe lachte humorlos auf. „Nach der Art, wie sie sich angeschlichen haben, hätten es Komantschen sein müssen, zumindest aber Tejanos. Viel konnte ich nicht sehen, doch aus der Nähe hielt ich sie für Weiße. Meine Vermutung ist, dass sie für den Überfall angeheuert wurden. Oder es waren irgendwelche Gesetzlosen.“

„In wessen Auftrag sollten sie euch überfallen?“

Zumindest war das Grinsen auf seine Lippen zurückgekehrt. Die gewohnte Überheblichkeit, den vertrauten Trotz im Gesicht des Freundes wiederzuerkennen, gab Holt Hoffnung. „‚Wessen‘?“, erwiderte Gabe spöttisch. „Na, Holt, du musst in richtig vornehme Kreise geraten sein, wenn du auf einmal solche Sätze formulierst.“

„Beantworte einfach die Frage“, ging Holt über die Bemerkung hinweg. „Für wen ritten sie.“

Gabe atmete langsam aus. Sein langes pechschwarzes Haar war zerzaust, und vermutlich wimmelte es auf seinem Kopf von Läusen. Die Wildlederhose und das Leinenhemd waren von Dreck und stechend riechendem Schweiß steif geworden. Der einst so muskulöse, gut aussehende Mann war hager geworden, und er hatte dunkle Augenringe.

„Ganz sicher weiß ich’s nicht“, sagte er schließlich. „Aber wenn ich eine Wette wagen sollte, dann würde ich mein Geld auf die Templeton-Leute setzen. Die sind auch die Typen, die John Cavanagh und einigen anderen Ranchern das Leben zur Hölle machen.“

„Templeton?“ Mit diesem Namen konnte Holt nichts anfangen, obwohl er rund um San Antonio selbst als Cowboy gearbeitet hatte und glaubte, in der Gegend jeden zu kennen.

„Isaac Templeton“, erklärte Gabe und griff wieder nach den Gitterstäben, um vergeblich an ihnen zu zerren. „Vor ein paar Jahren hat er T.S. Parker die Ranch abgekauft.“ Navarro hielt inne und musterte Holts Gesicht. „Ich weiß, was du jetzt denkst“, fügte er dann hinzu. „Du willst hinreiten und viele Fragen stellen. Tu es nicht, Holt. Das ist eine Schlangengrube da draußen.“

„Und wie war das mit ‚ein Aufstand, ein Ranger‘?“, wollte Holt wissen.

Gabe sah ihn von oben bis unten an. „Du bist kein Ranger mehr“, entgegnete er leise. „Du bist jetzt oben im Norden und lebst da wie ein reicher Mann. Das sehe ich an deiner Kleidung und an dem Pferd, auf dem du in die Stadt geritten bist.“ Vergeblich versuchte Navarro, ein Lächeln aufzusetzen. „Und wenn Frank tot ist oder sich irgendwo versteckt hat und seine Schusswunde pflegt, dann bist du meine einzige Hoffnung, hier rauszukommen, bevor mir Richter Fellows die Schlinge um den Hals legt. Ich habe nichts davon, wenn du dich in der Zwischenzeit über den Haufen schießen lässt.“

Diese Worte versetzten Holt einen leichten Stich, dennoch konnte durchaus etwas Wahres in ihnen stecken. Er arbeitete hart auf der Triple M, aber seit ein paar Jahren aß er nun schon drei Mahlzeiten am Tag und schlief in einem Federbett. In seiner Zeit als Ranger und später als eigenständiger Viehzüchter hatte das noch anders ausgesehen.

„Vielleicht bist du ja sanftmütig geworden, Navarro“, sagte er, „aber ich bin noch immer wilder als ein Bär, der sich die Pfoten verbrannt hat. Wenn du meinen alten Herrn erlebt hättest, dann wüsstest du, aus welchem unnachgiebigen Holz ich geschnitzt bin.“

Gabe schien diese Erwiderung zu gefallen, und Holt kam es so vor, als habe er soeben eine Art Test bestanden. „Deinen alten Herrn würde ich gern kennenlernen“, meinte Navarro. „Das würde nämlich bedeuten, dass ich von diesem Dreckloch hier weit entfernt wäre.“

Holt griff zwischen den Stäben hindurch und legte eine Hand auf Gabes Schulter. „Und wenn ich dieses Gebäude mit Dynamit in die Luft jagen muss, ich hole dich hier raus. Und ich werde Frank finden.“

„Ich glaub’s dir“, erwiderte Gabe. „Aber beeil dich, okay? So langsam komme ich mir hier vor wie in einem Sarg.“ Ein hoffnungsloser Ausdruck trat in seine Augen. „Ich kann nur einen kleinen Fleck vom Himmel sehen, und ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, festen Boden unter den Füßen zu haben.“

Holt spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Für einen Moment drückte er die Schulter seines Freundes etwas fester. „Denk immer dran, was der Capt’n gesagt hat: Dieser Kampf wird auf dem Schlachtfeld zwischen deinen Ohren gewonnen oder verloren.“

Ein Lachen kam über Gabes Lippen, auch wenn es einen düsteren Unterton hatte. „Meinst du, er treibt sich noch irgendwo da draußen rum – der alte Capt’n Jack?“

„Ganz sicher“, antwortete Holt, ohne zu zögern. „Er ist viel zu verbohrt, als dass er dem Tod einen Gefallen tun und sterben würde. Ganz wie mein alter Herr.“

Am anderen Ende des verwinkelten Korridors knarrte eine Tür.

„Die Zeit ist um“, rief der Deputy.

Holt nahm keine Notiz von ihm. „Kann ich dir etwas bringen?“

„Oh ja. Ein Stück Fleisch, das so groß ist wie Kansas. Ich bekomme hier jeden Tag nur Bohnen.“

„Das riecht man“, gab Holt zurück.

„Kommen Sie?“, drängte der Deputy. „Ich will keinen Ärger kriegen, nur weil Sie zu lange bleiben.“

„Ich werde dafür sorgen, dass du das beste Essen der ganzen Stadt bekommst“, versprach Holt ihm.

„Und ich werde hier sein, wenn es gebracht wird“, meinte Gabe, wurde aber wieder ernst. In seinen stolzen dunklen Augen zeichnete sich ein flehender Ausdruck ab. „Danke, dass du gekommen bist, Holt.“

Holt musste schlucken und nickte nur. Gabe streckte die Arme durch das Gitter, und sie reichten sich auf indianische Art die Hände.

Es war nicht nötig, noch ein weiteres Wort zu reden.

3. Kapitel

„Lorelei“, ermahnte Richter Fellows seine Tochter und beugte sich in seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch nach vorn. „Jetzt sei vernünftig. Ich habe für diese Hochzeit ein Vermögen ausgegeben. Jedes Hotelzimmer in der Stadt ist belegt, und die Speisen können auch nicht zurückgeschickt werden. Außerdem ist Creighton ein guter Mann. Man kann es ihm nicht verübeln, wenn er aus seinen letzten Stunden in Freiheit das Beste macht.“

Vor Wut lief Loreleis Gesicht rot an. Es war typisch für ihren Vater, dass er sich auf Creighton Bannings’ Seite schlug, und genauso typisch war es für ihn, sich darüber zu beklagen, wie viel Geld er ausgegeben hatte, um die Hochzeit seiner Tochter zum größten Spektakel in ganz Texas zu machen. „Ich werde diesen abscheulichen Schuft nicht heiraten“, erklärte sie tonlos. „Weder heute noch morgen und auch nicht an irgendeinem anderen Tag. Nicht mal, wenn alle Engel vom Himmel herabkämen, um mich auf Knien anzuflehen, ich möge ihm vergeben!“

Der Richter seufzte ermattet, aber seine Augen waren hellwach und taxierten seine Tochter. Creighton Bannings war Anwalt, und er war ein vermögender Mann. Er unterhielt gute Kontakte in Austin und auch in Washington. Kurz gesagt, er war der sprichwörtliche gute Fang, und den wollte ihr Vater so schnell nicht wieder von der Angel lassen.

„Muss ich dich erst daran erinnern, meine Liebe, dass du nächsten Monat dreißig wirst? Du bist eine hübsche und kluge Frau, allerdings bist du jetzt schon viele Jahre auf dem Heiratsmarkt, und mit deiner Einstellung …“

Lorelei, die gegen die massive Holztür des Arbeitszimmers gelehnt stand, versteifte sich unwillkürlich. Beim Blick auf ihr Spiegelbild im verglasten großen Waffenschrank hinter dem Schreibtisch machte sie in Gedanken eine Bestandsaufnahme ihrer Erscheinung: dunkles, hochgestecktes Haar, langer Hals, blaue Augen und hohe Wangenknochen, von schlanker, aber weiblicher Statur. Ja, man konnte sie sicherlich als schön bezeichnen, doch dieses Wissen gab ihr keine Befriedigung. Schließlich war das alles nicht genug gewesen, um ihren Verlobten von einem Seitensprung abzuhalten.

„Was stimmt nicht mit meiner Einstellung?“, wollte sie wissen, nachdem sie sich gezwungen hatte, nicht länger die Lippen zusammenzupressen.

Der Richter hob seine buschigen weißen Augenbrauen und strich sich mit der Hand über seinen kahler werdenden Schädel. „Bitte, Lorelei“, sagte er mit einem Anflug von Verärgerung. „Glaubst du denn, ich hätte nicht davon erfahren, dass du vor allen Einwohnern von San Antonio dein Hochzeitskleid verbrannt hast? Das mich im Übrigen eine Menge gekostet hat, da es von diesem extravaganten Geschäft in Dallas geschickt wurde. Verhält sich so eine vernünftige, reizende und sanftmütige Frau?“

„So“, konterte sie spitz, „verhält sich eine Frau, die soeben herausgefunden hat, dass ihr zukünftiger Ehemann am Tag der Hochzeit mit einem Dienstmädchen im Bett liegt!“

„Ich bin mir sicher, Creighton könnte alles zu deiner Zufriedenheit erklären, wenn du ihm nur die Gelegenheit dazu geben würdest.“

Lorelei verdrehte die Augen. „Welche Entschuldigung soll es dafür wohl geben? Ich habe ihn mit einer anderen Frau im Bett erwischt!“

Der Richter unternahm mit Engelsgeduld einen erneuten Anlauf. „Ein Mann von Creightons Welterfahrenheit …“

„Zum Teufel mit seiner Welterfahrenheit!“, platzte sie heraus. „Was ist mit Loyalität, Vater? Und was ist mit Anstand? Wie kannst du von mir erwarten, mich an einen Mann zu binden, der so dreist ist, mich am Tag meiner Eheschließung oder überhaupt an einem beliebigen anderen Tag zu betrügen?“

Langsam sank er in seinem Sessel nach hinten, legte die fleischigen Finger aneinander und ließ das Kinn auf ihnen ruhen. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie bei ihm hundertmal gesehen – und zwar im Gerichtssaal, wo es bedeutete, dass ein Todesurteil gesprochen werden sollte. „Weißt du, was ich glaube, Lorelei? Du willst eine alter Jungfer sein! Wie viele Männer hast du in den letzten zehn Jahren abgewiesen, die alle um deine Gunst geworben hatten?“

Plötzlich drohten ihr Tränen in die Augen zu schießen, doch die wollte sie nicht vergießen. Nicht vor ihrem Vater. Sie stählte sich für das, was kommen würde, und verkniff sich eine Antwort. Die erwartete er sowieso nicht, weshalb er auch ohne nennenswerte Pause weiterredete. „Michael Chandler ist seit fast zehn Jahren unter der Erde. Es wird Zeit, endlich damit aufzuhören, auf seine Rückkehr zu warten.“

Eine Träne entwischte ihr doch, lief über Loreleis glühende Wange und fiel auf ihr Mieder. „Du hast Michael gehasst“, flüsterte sie. „Du warst erleichtert über seinen Tod.“

„Er war schwach“, sagte er mit leiser, unnachgiebiger Stimme. „Spätestens nach einem Jahr hättest du genug von ihm gehabt und wärst in Tränen aufgelöst zu mir gekommen, damit ich dich aus dieser Ehe heraushole.“

„Wann bin ich jemals ‚in Tränen aufgelöst‘ zu dir gekommen?“

Sie sah, wie sein Kiefermuskel zuckte. „Creighton ist deine Chance auf ein eigenes Heim, auf eine Familie. Ich weiß, du willst diese Dinge. Aber wenn du weitermachst mit diesen … diesen Wutausbrüchen, dann wirst du für den Rest deines Lebens allein bleiben.“

„Lieber allein und mit unversehrter Selbstachtung“, konterte sie, während sich ihr Magen verkrampfte, „als in einer Ehe mit einem Mann, der mich nicht genug liebt, um mir treu zu sein.“

„Liebe? Jetzt hör bloß auf, Lorelei“, schnaubte er verächtlich. „Du bist doch kein dummes Mädchen. Liebe ist was für Märchen und Theaterstücke. Die Ehe ist ein Bündnis, bei dem Gefühlsduselei keinen Platz hat. Reiß dich gefälligst zusammen. Nimm eins von deinen Ballkleidern, und dann findet diese Hochzeit statt.“

Lorelei schüttelte den Kopf, bekam aber kein Wort heraus.

„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“ Der Richter schüttelte seinerseits traurig den Kopf. „Wenn du diese Dummheiten nicht einstellst, werde ich dich wegschicken müssen, möglicherweise sogar in eine Irrenanstalt.“ Nachdenklich musterte er seine Tochter. „Ich fürchte, du bist nicht ganz gesund.“

Ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. Zwar hatte sie diese spezielle Drohung noch nie zu hören bekommen, dennoch wusste sie, es waren keine leeren Worte. Ihr Vater besaß die Macht und die Mittel, sie in eine solche Anstalt sperren zu lassen. Dafür musste er nur einige Dokumente unterschreiben. Er hatte Jim Masons Frau an einen dieser Orte geschickt, weil sie lästig geworden war, und er tat es mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der einem Freund einen Gefallen erweist. Und sie war nicht der einzige Fall gewesen.

„Wie ich sehe, bist du jetzt geneigt, mir zuzuhören“, sagte er mit einem zufriedenen Leuchten in seinen Augen. Dann fügte er etwas sanfter an: „Geh zu Creighton und versöhne dich mit ihm. Ich erwarte dich wie geplant um sechs Uhr in der Kirche, damit die Hochzeit stattfinden kann.“

Sie stieß sich von der Tür ab und drückte einmal mehr den Rücken durch. „Dann kannst du dich auf eine Enttäuschung gefasst machen“, gab sie ruhig zurück, griff nach dem Knauf und öffnete die schwere Tür.

„Wenn du diese Schwelle überschreitest“, warnte er, „wird es kein Zurück mehr geben. Vergiss das nicht.“

Lorelei zögerte einen winzigen Moment lang, dann stürmte sie nach draußen. Sie war in Gedanken bereits so sehr damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen und sich einen Fluchtplan zu überlegen, bevor ihr Vater sie in irgendein Irrenhaus stecken konnte, dass sie nicht den Mann draußen vor der Tür bemerkte und mit ihm zusammenstieß.

„Lorelei!“, kam die wütende Stimme ihres Vaters aus dem Arbeitszimmer.

„Sieht so aus, als hätte ich keinen guten Moment erwischt“, sagte Holt Cavanagh.

Holt bewahrte die Wildkatze vor einem Sturz, indem er ihre schmalen Schultern zu fassen bekam. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie sich umgezogen, doch ihr schwarzes Haar verströmte noch immer einen Hauch von Brandgeruch.

„Holt McKettrick“, stellte er sich vor, als sie ihn mit ihren kornblumenblauen Augen ansah, in denen vergeblich zurückgehaltene Tränen schimmerten. Ihre Wimpern waren voll und noch dunkler als ihr Haar, und die Lippen …

Nein, denk bloß nicht über ihre Lippen nach.

„Ich dachte, Sie heißen Cavanagh“, wandte sie ein.

„Das waren nicht meine, sondern Gabes Worte. Ich habe mich früher so genannt.“

Sie hob eine wohlgeformte Braue. „Haarspalterei“, gab sie unwirsch zurück, dann fuhr sie in forderndem Ton fort: „Was wollen Sie von mir?“

Ihm fiel auf, dass sie nicht versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. Gleichzeitig wurde ihm ganz am Rand bewusst, wie wenig Interesse er wiederum verspürte, sie loszulassen. Wie eigenartig, ging ihm durch den Kopf.

„Eigentlich“, antwortete er und ließ nur widerstrebend die Arme sinken, „bin ich hier, weil ich zu Ihrem Vater möchte.“

„Dann möge Gott Ihnen beistehen“, bemerkte sie, drängte sich an ihm vorbei und eilte die breite, geschwungene Treppe hinauf.

Das ist ja eine beachtliche Hacienda, dachte Holt beiläufig.

„Ich glaube, Ihre Bekanntschaft habe ich bislang nicht gemacht, Mr. McKettrick“, hörte er rechts von sich einen Mann sagen. „Sind Sie ein Freund meiner Tochter? Falls ja, können Sie sie vielleicht zur Vernunft bringen.“

Richter Fellows stand im Durchgang zu einem Zimmer, bei dem es sich vermutlich um sein Büro handelte. Er war um die sechzig, hatte verschlagene Augen, trug einen Backenbart und einen gut sitzenden Anzug. Irgendwo oben wurde eine Tür zugeknallt, was Fellows zusammenzucken ließ.

Holt machte sich nicht die Mühe, ihm die Hand zu reichen. „Ich habe Ihre Tochter heute zum ersten Mal gesehen“, erklärte er geradeheraus. „Ich bin wegen Gabe Navarro hier.“

„Dem Indianer.“ Fellows kniff die Lippen zusammen.

„Dem Texas Ranger“, korrigierte ihn Holt, der sich nicht anmerken ließ, wie er sich innerlich versteifte.

Der andere Mann zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, Mr. Navarros einstiger Ruhm – worauf der sich auch immer begründen mag – wurde bedeutungslos, als er diesen Siedler und dessen Frau ermordete. Er hat sie mit einem Bowiemesser abgeschlachtet und dann noch ihre Pferde mitgenommen.“

„Er hat niemanden ermordet“, beteuerte Holt. „Und er ist auch kein Pferdedieb.“

„Ihre eigene Meinung ist Ihr gutes Recht, Mr. McKettrick“, erklärte Fellows mit gespieltem Bedauern. „Aber wie ich bereits sagte, hat Ihr Freund über sein Schicksal selbst entschieden. Das Messer, mit dem die armen Seelen in Stücke geschnitten wurden, gehört ihm, und die Pferde wurden vor dem Schuppen gefunden, den er als sein Zuhause bezeichnet.“

Holt machte sich nicht die Mühe, dem Mann zu widersprechen. Er war von seiner Meinung überzeugt, und dagegen konnte Holt nichts ausrichten. Allem Anschein nach war Richter Fellows genauso unvernünftig und aufbrausend wie seine Tochter. „Wer hat ihn denn bei dem Verfahren verteidigt?“

„Creighton Bannings“, antwortete der Richter und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Veranda, die durch die Bleiglasfenster seines Büros zu sehen war. „Da kommt er gerade.“

Holt drehte sich um und stutzte. Bannings? Woher kannte er diesen Namen? Die Antwort befand sich irgendwo in seinem Kopf, jedoch kam er nicht darauf.

Es wurde kurz und der Form halber angeklopft, dann trat Bannings ein, während er gleichzeitig an seiner Fliege zupfte. Der Mann war so groß wie Holt, aber dünner, seine unübersehbar teure Kleidung war gründlich zerknittert. Das Gesicht, das zart geschnitten und schon eine Spur zu hübsch war, kam ihm so vertraut vor wie der Name, trotzdem konnte er den Mann nicht einordnen.

„Holt McKettrick“, stellte er sich vor.

„Ich kannte Sie als Holt Cavanagh“, erwiderte Bannings und streckte ihm die Hand entgegen, die Holt nach kurzem Zögern schüttelte.

„Ich nehme an, ich sollte mich auch an Sie erinnern“, bemerkte er schließlich. „Aber ich bedauere, es will mir nicht gelingen.“

Bannings lächelte und ließ seine zwar weißen, aber schiefen Zähne sehen. „Wir sind mal bei einer Tanzveranstaltung wegen eines Mädchens in Streit geraten. Ich glaube, wir müssen damals sechzehn oder siebzehn gewesen sein. John Cavanagh musste Sie am Kragen packen, um mich von Ihnen zu befreien.“

In dem Moment kehrte die Erinnerung so kristallklar zurück, als wäre es erst gestern gewesen. Ihm fiel wieder ein, welchen Hass er an jenem Abend verspürte, als er Mary Sue Kenton hinter dem Wagen ihres Vaters in Tränen aufgelöst vorfand, weil Bannings ihr himmelblaues Festkleid zerrissen hatte. Bannings, der aus Austin gekommen war, um seine Cousins auf dem Land zu besuchen.

Holt verspürte eine urtümliche Befriedigung, als er an den Fausthieb dachte, von dem Bannings’ arrogantes Gesicht getroffen worden war – fünf Minuten nachdem Holt die verstörte Mary Sue in die Obhut der Frau des Ranchers übergeben hatte. Aus einem unerklärlichen Grund warf er in diesem Moment einen Blick zur Treppe, wo er Lorelei zuletzt gesehen hatte.

„Wie ich höre, waren Sie Gabe Navarros Verteidiger“,wandte er sich an Bannings, nachdem er seine Gedanken wieder auf das Wesentliche gerichtet hatte.

Bannings verzog resigniert das Gesicht. „Leider war ich dabei nicht sehr erfolgreich“, räumte er ein.

„Sie sind ein Freund der Familie?“, fragte Holt, der seinen Blick zwischen den beiden Männern hin und her wandern ließ.

„Ich bin im Begriff, Lorelei zu heiraten. Sie ist die Tochter des Richters.“

Holt rechnete ihm an, dass er so ehrlich war. „Angesichts der Tatsache, dass sie heute Nachmittag ihr Hochzeitskleid öffentlich verbrannt hat“, entgegnete er, „sollte man wohl von einer Änderung dieser Pläne ausgehen dürfen.“

Bannings machte einen gequälten Eindruck, doch der wachsame Blick wich nicht aus seinen Augen. „Lorelei ist sehr temperamentvoll“, räumte er ein. „Aber sie wird sich schon noch eines Besseren besinnen.“

In Anbetracht von brennender Seide und Spitze hatte Holt zwar seine Zweifel an Bannings’ Zuversicht, aber er war auch nicht hergekommen, um über eine Angelegenheit zu reden, die ihn nicht betraf.„Gabe Navarro ist ein alter Freund. Wir waren beide Texas Ranger. Er ist unschuldig, und im Moment behandelt man ihn schlechter als einen Hund. Mich wundert, warum Sie nicht in Berufung gegangen sind.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich das nicht gemacht habe?“

„Ich habe mir im Gerichtsgebäude die Unterlagen zum Verfahren angesehen“, erklärte Holt. „Zusammen mit den Notizen des Gerichtsdieners. Mir scheint, Sie haben sich nicht allzu sehr für ihn eingesetzt.“

Als Bannings daraufhin dem Richter einen fragenden Blick zuwarf, fand Holt seinen Verdacht bestätigt.

„Ich habe mein Bestes getan“, widersprach Bannings.

„Dann muss ich sagen, Ihr Bestes ist ziemlich kläglich.“

Bannings wurde rot im Gesicht. Nach Holts Einschätzung hätte der Anwalt wohl gern einen K.-o.-Treffer gelandet, doch sein Gedächtnis war offenbar wesentlich besser als seine Arbeitsmoral. Er konnte sich noch bestens an Mary Sue und die anschließende Auseinandersetzung erinnern, um von der Idee Abstand zu nehmen, handgreiflich zu werden. Das zeigte, dass Bannings nicht nur übervorsichtig, sondern auch ein Weichling war.

„Navarro bekam sein Verfahren und wurde für schuldig befunden“, warf Fellows ein. „Hier wird ihn niemand vermissen.“

Es kostete Holt viel Mühe, sein Temperament im Zaum zu halten. Wenn er es sich mit diesem Richter verscherzte, würde am Ende Gabe der Leidtragende sein. Nach dem Besuch im Stadthaus hatte er ein Telegramm an den Gouverneur geschickt, aber es ließ sich nicht einschätzen, wann er darauf eine Antwort erhalten würde.

„Ich werde nicht noch mehr von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen“,sagte er zum Richter, der mit einem Kopfnicken reagierte. Holt nahm seinen Hut von der Garderobe, wo das Dienstmädchen ihn bei seiner Ankunft deponiert hatte. Es würde noch einige Stunden hell sein, sodass er vor Einsetzen der Dunkelheit die Cavanagh-Ranch erreichen konnte, wenn er zügig ritt. Am Morgen würde er nach San Antonio zurückkehren, nach Gabe sehen und sich auf die Suche nach einem Anwalt mit Rückgrat machen.

In diese Gedanken vertieft, erschrak er leicht, als er bemerkte, dass Bannings ihm auf die Veranda folgte.

„Lassen Sie diese Sache auf sich beruhen“, riet ihm der Anwalt im ängstlichen Flüsterton, wobei er die geschlossene Tür im Auge behielt. Er musste bemerkt haben, wie der Richter ihn durch das große Fenster seines Arbeitszimmers beobachtete, da er plötzlich bleich wurde. „Sie ahnen nicht, mit wem Sie es zu tun haben.“

„Sie auch nicht“, gab Holt zurück und ging weiter.

4. Kapitel

Gabe glaubte zu träumen. Der Gefängniswärter Roy stand auf der anderen Seite der Zellentür und hielt ein mit einem karierten Küchentuch abgedecktes Tablett in den Händen, von dem ein verführerischer Duft ausging, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Er setzte sich auf, zwinkerte kurz und hob die Beine aus dem Bett.

Missmutig stellte der Wärter das Tablett ab und griff nach dem Schlüsselbund. Nicht zum ersten Mal spielte Gabe mit dem Gedanken, den Mann zu überwältigen, was ein Leichtes sein würde. Nicht so einfach würde es dagegen sein, auch die Wachen am Zugang zu den Zellen zu überwinden. Wahrscheinlich war, dass sie ihn sofort erschossen, wenn er den Versuch wagte.

„Dieser Freund von Ihnen muss aber ein stattliches Bankkonto haben“, murmelte Roy, drückte vorsichtig die Tür auf und schob das Tablett in die Zelle. „Das ist ein richtig vornehmes Abendessen aus dem Hotel gegenüber.“

Roy warf die Zellentür wieder zu und schloss ab, während sich Gabe dem Essen widmete. „Ich werd verrückt“, flüsterte er und hockte sich hin, um das Küchentuch umzuschlagen. Das war Rindfleisch, und sogar ein Rippenstück! Dazu gab es einen ganzen Berg Kartoffelpüree, das in Bratensoße schwamm, und grüne Bohnen, die mit Speck und Zwiebeln gekocht worden waren.

Gabe spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf schwand.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt einen Freund hast“, meinte Roy, der sich noch nicht entfernt hatte.

Mit dem Tablett auf dem Schoß setzte sich Gabe quer auf das Feldbett. Seine Hand zitterte, als er nach der Gabel griff. „Was gibt’s denn heute bei dir zu Abend, Roy?“, fragte er.

„Was es bei mir zu Abend gibt, geht dich gar nichts an“, konterte Roy, schien jedoch nach wie vor nichts Besseres zu tun zu haben, als vor der Zelle zu stehen. Vielleicht wollte er wenigstens den Geruch dieses Essens genießen.

Mit der Gabel löste Gabe ein Stück Fleisch ab, das zart wie Butter war. Fast wurde er ohnmächtig, als er den ersten Bissen auf der Zunge spürte.

„Wer ist der Kerl eigentlich?“, hakte Roy nach.

„Geht dich nichts an“, antwortete er mit vollem Mund.

„Für jemanden, der bald aufgeknüpft wird, bist du ziemlich vorlaut.“

Gabe hatte genug damit zu tun, den zweiten Happen von seinem Rippchen zu genießen, sodass er auf die Bemerkung nicht eingehen konnte. Sein Magen verlangte knurrend nach mehr.

„Hoffentlich glaubst du jetzt nicht, dass er dich hier rausholt. Das kann keiner außer dem Gouverneur.“

Das Püree schmeckte so gut wie das Fleisch, und die Soße … die Soße war einfach göttlich. „Mach dich lieber auf einigen richtigen Ärger gefasst“, entgegnete Gabe kauend. „Holt Cavanagh hat die Wucht eines voll beladenen Güterzugs, wenn er sich erstmal was in den Kopf gesetzt hat. An deiner Stelle würde ich mich ihm nicht in den Weg stellen.“

Roy wurde blass, was Gabe fast so sehr freute wie das Essen vor ihm auf dem Tablett. „Cavanagh? Heißt so nicht auch der Rancher, der sich mit dem Templeton-Haufen streitet?“

Gabe lächelte, auch wenn der Name Templeton bei ihm alte Wunden aufriss. „Genau so heißt er.“

„Die können aber nicht verwandt sein“, erklärte Roy.

„Wirklich nicht?“, entgegnete Gabe, während er ein paar Bohnen und ein großes Stück Speck aufspießte.

John Cavanaghs altes Herz blieb fast stehen, als er aufsah und am Feldrand den Reiter entdeckte, der so wie sein Pferd von den letzten Sonnenstrahlen des Tages erfasst wurde. Er rieb sich über sein stoppeliges Kinn, stützte sich auf dem langen Stiel der Sense ab und blinzelte ins Licht.

Tillie, die neben ihm arbeitete, ließ ihre Sense ins Gras fallen und flüsterte: „Das ist Holt.“ Dann lief sie los, wobei sie über den Saum ihres Kattunrocks stolperte, hinfiel und gleich wieder aufstand, um weiterzulaufen.

Nein, das konnte nicht Holt sein, überlegte John. Der war in Arizona, wo er auf der Ranch seiner Familie mithalf und seine Tochter großzog.

Der Reiter stieg aus dem Sattel und breitete die Arme aus, während Tillie auf ihn zulief. Mit einem Freudenschrei fiel sie ihm um den Hals.

Gott im Himmel, es war tatsächlich Holt.

Nun ließ auch John seine Sense fallen, obwohl er nicht der Typ Mann war, der achtlos mit seinen Werkzeugen umging, und beeilte sich, trotz seines Rheumas so schnell wie möglich zu den beiden zu gelangen.

Holt wirbelte Tillie im Kreis herum und gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. Sie lachte und weinte gleichzeitig, während sie sich so an seinem Genick festklammerte, als müsse sie ansonsten ertrinken.

„Holt!“, rief John, als er den Feldrand erreicht hatte, aber er hatte Mühe, nur dieses eine Wort über die Lippen zu bekommen.

Auf dem Gesicht des Neuankömmlings zeichnete sich ein vertrautes Grinsen ab. „Ja, Sir, ich bin es wirklich.“

John machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und wollte seinen Augen noch immer nicht trauen. Tränen ließen ihn alles nur verschwommen sehen, und seine Kehle war so zugeschnürt, dass kein Grashalm hindurchgepasst hätte, nicht einmal dann, wenn er ihn mit einem guten Whiskey hätte herunterspülen können.

Mit einer Hand strich Holt über Tillies Rücken, die sich noch immer an ihm festklammerte. „Wie ich sehe, ist meine kleine Schwester groß geworden.“

Hoffnung regte sich bei John Cavanagh, wie er sie seit Langem nicht mehr verspürt hatte. „Wirst du bleiben?“, fragte er und wischte sich mit dem Arm über den Mund.

„Bis ihr genug von mir habt“, entgegnete Holt amüsiert.

„Jetzt umarm ihn endlich, Pa“, rief Tillie außer sich vor Freude. „Sonst glaubst du nicht, dass er wirklich da ist.“

John machte einen weiteren, etwas wackligen Schritt, dann legte er die Arme um den Mann, den er nach wie vor als seinen Sohn ansah. Beide verharrten sekundenlang in der Umarmung, bis John merkte, wie ihm Tränen über sein altes schwarzes Gesicht liefen.

„Komm mit nach drinnen“, brachte er heraus, als er sich von Holt löste. „Da du hier bist, wird Tillie sofort kochen wollen.“

Holt sah sich um und bemerkte die windschiefe Scheune, die stellenweise umgedrückten Zäune, das magere Vieh und die ebenso mageren Pferde.

Wäre John nicht so verdammt glücklich gewesen, seinen Jungen wiederzusehen, dann hätte er sich vermutlich geschämt. Aber es war später noch Zeit genug, all die Fragen zu beantworten, die dem Jungen ins Gesicht geschrieben standen. Dann konnte er ihm immer noch berichten, wie Templeton und die Banker alles versuchten, um ihn zu vertreiben.

Im Moment gab es jedoch wichtigere Dinge, über die sie sich unterhalten mussten.

„Hast du mir ein Bild von deinem kleinen Mädchen mitgebracht?“, fragte John, der zwischen Holt und Tillie dahinhumpelte, als sie zu dritt zum Haus gingen.

Holt zog seine Brieftasche aus der Jacke und hielt ihm eine Daguerreotypie hin, die John sofort an sich nahm. Er blieb stehen und sah sie sich genauer an, wobei sich seine Kehle abermals zuzuschnüren begann. „Sie ist Olivia wie aus dem Gesicht geschnitten.“

„Lass mich auch mal gucken“, bettelte Tillie. „Lass mich auch mal.“

Widerwillig gab John ihr das Bild.

Tillie stieß einen kleinen Freudenschrei aus und nahm den Anblick in sich auf. „Du hättest sie mitbringen sollen“, beklagte sie sich. „Warum hast du das nicht gemacht?“

Besänftigend legte Holt eine Hand auf ihre Schulter. Tillie war inzwischen achtundzwanzig, aber sie war noch immer so naiv wie ein kleines Kind, was mit den Komplikationen zusammenhing, die während ihrer Geburt aufgetreten waren.

„Dafür ist die Strecke zu weit“, erklärte er ruhig. „Außerdem geht sie dort zur Schule.“ Er sah zu seinem Pferd, das sich das texanische Gras schmecken ließ. Wenigstens hatten sie noch das Gras. „Aber ich habe dir trotzdem was mitgebracht. Es ist in der linken Satteltasche.“

Sofort raffte Tillie ihren Rock und lief zu dem Wallach. Zumindest für den Moment hatte sie vergessen, dass sie ihm etwas zu essen machen wollte.

„Ich erhielt einen Brief von Frank Corrales“, sagte Holt, während Tillie die Satteltasche öffnete und darin zu wühlen begann. „Er schrieb, jemand wolle dich von deinem Land vertreiben. Sieht ganz so aus, als wusste er, wovon er da redete.“

Tillie zog eine Puppe heraus, die lange schwarze Locken und das gleiche kaffeebraune Gesicht hatte wie sie selbst.

„Wo zum Teufel hast du denn eine farbige Puppe aufgetrieben?“, wollte John wissen.

„Hab ich unterwegs gekauft.“ Zufrieden sah er mit an, wie Tillie die Puppe gegen ihre flache Brust drückte und im Kreis zu tanzen begann. Im nächsten Moment machte er wieder eine ernste Miene. „Wer ist hinter dem Land her, John? Ich kenne Gabes Version, aber ich möchte es gern von dir hören.“

John rieb sich das Kinn. Wenn Holt sich erst einmal etwas vorgenommen hatte, dann würde er nicht wieder loslassen. „Ein Mann namens Templeton. Sein Land grenzt an unseres, und er will das Gras für sein edles englisches Vieh.“ Tränen stiegen ihm in die Augen, als er Tillie betrachtete. Wohin sollten sie gehen, wenn sie die Ranch verließen?

Vier von Johns Kindern waren hier beerdigt, ebenso seine herzensgute Ehefrau Ella. Dieser Boden hatte genauso viel Blut und Schweiß erlebt wie Regen, und dazu mehr als nur ein paar Tränen.

„Der Banker ist sein Freund“, redete John weiter, als ihm seine Stimme nicht länger den Dienst verweigerte. „Er hat meine Kredite gekündigt, und sie haben auch versucht, meine Wasserversorgung zu unterbrechen. Sie haben sogar ein paar meiner Tiere gestohlen, aber beweisen kann ich es nicht.“

Holt legte eine Hand auf Johns Rücken. Er sprach kein Wort, doch das war auch nicht nötig. John wusste sehr gut, was sein Junge beabsichtigte.

„Du kannst dich nicht mit ihnen anlegen, Holt“, warnte John ihn, da er wusste, wie dessen Verstand arbeitete. „Für diese Ranch reiten mindestens drei Dutzend Männer, und die sind alle so wild wie ein Haufen Komantschen auf dem Kriegspfad.“

Tillie kam zurück, strahlte glücklich und hielt die Puppe an sich gedrückt.

„Mag sein“, gab Holt zu. „Aber ich würde sagen, ich bin mindestens doppelt so störrisch.“

5. Kapitel

Am nächsten Morgen wartete Lorelei, bis ihr Vater das Haus verlassen hatte. Erst dann schloss sie die Schlafzimmertür auf und ging zur Hintertreppe. Angelina, langjährige Köchin und Haushälterin der Familie, wandte sich vom heißen Herd ab, um ihr ein ermutigendes, wenn auch bemühtes Lächeln zu schenken.

„Ich wollte Ihnen jeden Moment das Frühstück auf einem Tablett bringen“, sagte sie in einem sanft ermahnenden Tonfall. „Wissen Sie, dass es nach zehn Uhr ist?“

Der bloße Gedanke an etwas zu essen ließ sie erschaudern, und die Uhrzeit war ihr nur zu deutlich bewusst. Seit Sonnenaufgang hatte sie den Blick kaum einmal von der Uhr auf ihrem Frisiertisch genommen. „Wo ist Maria?“, fragte sie und schämte sich, dass sie die Worte fast geflüstert hatte.

Angelina schürzte ihre vollen Lippen. „Puta“, murmelte sie. „Sie ist weg – auf Nimmerwiedersehen.“ Für den Fall, dass sie den Himmel erzürnt hatte, weil sie das Dienstmädchen als eine Hure bezeichnet hatte, bekreuzigte sie sich schnell und geübt.

Lorelei stand hinter einem Stuhl am Küchentisch und bemerkte erst jetzt, wie fest sie die Lehne umklammert hielt, denn ihre Knöchel traten weiß hervor. „Hat Vater sie weggeschickt?“

„Männer taugen nichts, wenn es darum geht, las putas wegzuschicken“, meinte Angelina, die dabei das Gesicht verzog und eine wegwerfende Geste machte. „Ich habe ihr gesagt, sie soll verschwinden, sonst belege ich sie mit einem Hühnerfluch, damit ihr Federn wachsen, die von Läusen befallen sind.“

Trotz der unterschwelligen Anspannung und ihrer seltsamen und völlig widersinnigen Enttäuschung darüber, dass es nicht ihr Vater gewesen war, der Creightons kleine Liebschaft zum Teufel gejagt hatte, musste Lorelei lachen. „Nein, das ist nicht wahr.“

„Doch, es ist wahr“, bestätigte Angelina zufrieden und bedeutete Lorelei, sich auf ihren gewohnten Platz am Tisch niederzulassen. Als sie saß, schenkte die ältere Frau ihr heißen Tee ein. „Trinken Sie. Das Frühstück ist fast fertig. Pfannkuchen, an den Rändern schön braun, so wie Sie es am liebsten mögen.“

Lorelei hob die Teetasse mit beiden Händen hoch, da sie fürchtete, ansonsten etwas zu verschütten. „Ich will nichts essen“, erklärte sie nach einem kräftigenden Schluck.

„Mir ist egal, was Sie wollen und was Sie nicht wollen“, erwiderte Angelina knapp und kehrte zurück an den Herd. „Ihr Papa ist sehr wütend. Sie werden all Ihre Kräfte benötigen, um sich ihm zu widmen.“ Sie hielt in ihrer flinken Arbeit inne und musterte Lorelei, als sei die ein Puzzle, bei dem ein Stück fehlte. „Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie Ihr Hochzeitskleid verbrannt und ganz San Antonio dabei zuschauen lassen?“

„Sie kennen die Antwort, Angelina.“

„Ich habe nicht gefragt, warum Sie Mr. Bannings nicht geheiratet haben“, stellte Angelina klar. „Er ist Abschaum, aber kein Mann. Ich will wissen, warum Sie das Kleid vor der ganzen Stadt verbrannt haben. Jetzt werden sich alle Frauen das Maul zerreißen, und die Männer werden einen großen Bogen um Sie machen.“

Lorelei trank noch einen Schluck und seufzte. „Die Männer sind gut beraten, wenn sie einen Bogen um mich machen“, meinte sie mit einem Anflug von Humor. „Und die Frauen würden sich so oder so das Maul zerreißen.“

„Es war dumm von Ihnen, so etwas zu tun“, beharrte Angelina und stellte ihr einen Teller mit Pfannkuchen und Rührei auf den Tisch. „Die Leute werden sagen, dass Sie loco im Kopf sind.“

Bei diesem Wort rang Lorelei die Hände. Sie musste an die Bemerkung ihres Vaters denken: Ich fürchte, du bist nicht ganz gesund. Würde er tatsächlich so weit gehen, sie in eine Anstalt einweisen zu lassen? Bestimmt nicht, denn sie hatte sich ihm in der Vergangenheit schon oft widersetzt, und noch nie war sie von ihm weggeschickt worden. Andererseits hatte er diese Drohung auch nie zuvor ausgesprochen, und es gab keinen Zweifel daran, dass er rechtlich die Macht besaß, um das zu tun. Als Frau hatte sie in etwa so viele Rechte wie der alte Hund, der hinter dem Republic Hotel lebte und auf Küchenabfälle wartete.

„Glauben Sie das, Angelina? Dass ich verrückt bin?“ Gebannt hielt sie den Atem an.

Angelina stieß einen spanischen Fluch aus. „Natürlich nicht“, fuhr sie fort, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Aber ich kenne Sie, Conchita. Die anderen kennen Sie nicht, und die werden noch jahrelang darüber reden.“

Lorelei griff nach ihrer Gabel und begann, das schnell abkühlende Rührei in kleine, wenig appetitliche Haufen zu zerlegen. „Ich war nur so … so wütend.“

„Si“, stimmte Angelina ihr zu und legte eine Hand auf Loreleis Schulter. „Ihr Temperament wird Sie noch in große Schwierigkeiten bringen, wenn Sie nicht lernen, sich zu beherrschen.“ Sie stieß einen von Herzen kommenden Seufzer aus. „Aber jetzt ist es passiert, rückgängig machen lässt es sich nicht. Wir werden mit den Konsequenzen leben müssen.“

„Vater ist außer sich“, erklärte Lorelei bedrückt. „Er hat mir gedroht, mich in ein Irrenhaus zu bringen, und ich bin mir ziemlich sicher, das war nicht als Witz gemeint.“

Daraufhin zwinkerte Angelina, und im gleichen Moment veränderte sich ihre ganze Haltung. „Madre de Dios“, murmelte sie und bekreuzigte sich erneut, was sie zur Sicherheit gleich noch zweimal wiederholte. „Das ist ernster, als ich gedacht hatte.“

Loreleis Mund war wie ausgedörrt. Den größten Teil der Nacht hatte sie mit wilden Spekulationen verbracht, doch sie war davon ausgegangen, dass Angelina ihr diese Ängste nehmen würde, anstatt sie auch noch zu schüren. „Was soll ich nur machen?“, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zur Haushälterin.

„Für den Augenblick sollten Sie sich von Ihrem Vater fernhalten“, riet Angelina ihr, dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein“, meinte sie schließlich. „Ich glaube, so etwas würde er nicht machen. Der Skandal wäre einfach viel zu groß. Nach gestern wird er versuchen, alles zu vermeiden, was ein ähnliches Aufsehen erregen könnte.“

Hufgetrappel und das Knarren und Poltern einer Kutsche auf der mit gemahlenen Muschelschalen bedeckten Auffahrt ließen sie beide verstummen. „Vaya!“, rief sie. „Gehen Sie schnell. Es ist der Richter, und Mr. Bannings ist bei ihm!“

Fast hätte Lorelei in der Eile ihren Stuhl umgeworfen, doch dann gewann ihr Stolz die Oberhand, wie es so oft der Fall war. „Nein“, gab sie zurück. „Ich werde nicht davonlaufen wie ein Kaninchen, das man mitten im Möhrenbeet überrascht hat.“

„Lorelei“, flüsterte Angelina und warf ihr einen flehenden Blick zu.

Doch Lorelei blieb unverrückbar stehen. „Nein“, wiederholte sie, wenn auch ihr Herz so heftig schlug, dass es ihre Rippen zu zerschmettern drohte. Ihr war übel.

Man hörte, wie die Türen der Kutsche geschlossen wurden, wie ihr Vater und Creighton sich in ernstem Tonfall unterhielten. Doch eine weitere Stimme übertönte die beiden, eine Stimme, die in Loreleis Kopf ein Echo auslöste.

Das war die Stimme von Holt McKettrick.

Sind Sie verrückt?, hörte sie ihn im Geist wieder fragen.

Holt genoss den überraschten Gesichtsausdruck des Bankers, als der ihn zusammen mit John Cavanagh vor sich stehen sah.

Der Mann zögerte einen Moment zu lange, ehe er seinen Drehstuhl nach hinten schob und aufstand, um seinem Besuch die Hand zu reichen. Auf dem verschnörkelten Namensschild auf dem Schreibtisch stand G.F. Sexton. Der Mann war vermutlich kaum älter als Jeb, aber bei ihm entwickelten sich schon ein Doppelkinn und ein deutlicher Bauchansatz. So ist das Leben als Banker, dachte Holt. Viel zu sorgenfrei.

„Mr. Cavanagh!“, rief Sexton und konzentrierte sich auf John. „Schön, Sie zu sehen.“

John musterte einen Moment lang die blasse, sommersprossige Hand des Mannes, dann schüttelte er sie. „Angesichts der Umstände“, sagte er, „ist es auch schön, Sie zu sehen.“ Sextons Blick wanderte mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen zu Holt.

Der gab ihm weder die Hand, noch lieferte er eine Erklärung. Stattdessen sagte er: „Wir sind hier wegen der Kredite, die Sie gekündigt haben.“

Sextons Hals lief rot an, sofern man dieses dürre, fahle Etwas überhaupt als Hals bezeichnen konnte. Dann breitete sich die Röte entlang des Unterkiefers aus. „Sie müssen verstehen … Geschäft ist Geschäft …“

„Ich verstehe sehr gut“, fiel Holt ihm ins Wort.

Sexton zog an seinem Hemdkragen, feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sein Blick wanderte unablässig zwischen Holt und John hin und her, ohne allzu lange auf einem von beiden zu ruhen. „Ich fürchte, dieser Schritt ist eine durchaus rechtmäßige Maßnahme, wenn es das ist, worüber Sie reden wollen“, meinte der Banker und schaute auf den Kalender an der Wand neben seinem Stuhl. „In zwei Wochen wird die Ranch verkauft, um die ausstehenden Schulden zu tilgen.“

Von einem lässigen Lächeln begleitet fragte Holt leise: „Ach, tatsächlich?“

Der Banker wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. „Mr. Cavanagh schuldet uns …“

„Zehntausend Dollar“, unterbrach Holt ihn und legte ein Telegramm seiner Bank in Indian Rock auf den Schreibtisch. „Eine Zahlungsanweisung wird von dort telegrafiert. Sie sollte Ihnen morgen früh vorliegen.“

Das Gesicht des Mannes wurde noch röter. Mit zittrigen Fingern zog er seine Brille aus der Brusttasche, setzte sie auf und las das Telegramm. „Mein Gott“, hauchte er, während er kreidebleich wurde und sich auf seinen Bürostuhl sinken ließ.

„Eine weitere Zahlungsanweisung wird zur First Cattleman’s oben in Austin geschickt“, fügte John an. „Sie müssen wissen, dass mein Sohn die Ranch mit allem Drum und Dran gekauft hat. Ich hätte das Geld bei Ihnen deponieren können, aber Sie wissen ja: Geschäft ist Geschäft. Und ich muss sagen, ich hatte einige Bedenken, ob es hier wirklich sicher aufgehoben sein würde.“

Der Banker hinkte dem Geschehen deutlich hinterher, da seine krächzende Frage lautete: „Ihr Sohn?“

Holt musste sich ein Lachen verkneifen.

„Pflegesohn“, präzisierte John, der sich genug vergnügt hatte. „Holt hat den Namen seines leiblichen Vaters angenommen – McKettrick –, aber einen Großteil seines Lebens war er ein Cavanagh.“ Mit seinen von jahrelanger Arbeit gezeichneten Händen umfasste er die Kante von Sextons Schreibtisch und beugte sich vor. „Richten Sie Mr. Templeton aus, dass er mit Holt nicht so umspringen kann wie mit einem alten schwarzen Mann und einem nicht ganz so aufgeweckten Mädchen.“

„Mr. Templeton?“, wiederholte Sexton. „Was hat er damit zu tun?“

„Eine ganze Menge, würde ich sagen“, erwiderte John ruhig. „Haben Sie schon mal überlegt, Ihr Geld als Viehtreiber zu verdienen, Mr. Sexton? Mr. McKettrick sucht noch Leute. Insgesamt um die dreißig an der Zahl. Eine Saison im Sattel würde Ihnen vielleicht etwas mehr Farbe im Gesicht bescheren.“

„Ich habe Probleme mit den Knien“, gab der Banker mürrisch zurück.

„Und mit Ihrem Gewissen vermutlich auch“, konterte John. „Vorausgesetzt, Sie haben überhaupt eines.“ Er wandte sich an Holt, in seinen Augen blitzte der vertraute Kampfgeist wieder auf.„Wir sollten jetzt besser gehen. Tillie wird im Kolonialwarenladen fertig sein. Außerdem müssen wir uns noch um Gabe kümmern, bevor wir zur Ranch zurückkehren. Wir müssen dafür sorgen, dass er auch die Mahlzeiten bekommt, die wir ihm aus der Küche des Republic Hotel schicken lassen.“

Sexton versuchte, sich irgendwie in den Griff zu bekommen, doch mit seinen Gedanken hinkte er noch immer hinterher. „Austin ist weit weg. Vielleicht sollten Sie sich das mit Ihrem Konto noch einmal überlegen, Mr. Cavanagh.“

„Vielleicht“, sagte er leichthin. „Vielleicht auch nicht.“

Holt begann zu lachen.

„Und Sie, Mr. McKettrick?“, fragte Sexton hastig und stand wieder auf, aber selbst dann war er nicht größer als ein kleiner Packesel, was ihn jedoch nicht davon abhielt, alle Register zu ziehen, um zu retten, was noch zu retten war. „Sie benötigen doch sicher die Dienste einer Bank.“

Gerade wollte Holt sich zum Gehen wenden, als Sextons Worte ihn innehalten ließen. John war bereits an der Tür.

„Sie haben mehr Schneid, als ich Ihnen zugetraut hätte, Mr. Sexton“, erwiderte Holt. „Auf Wiedersehen, und vergessen Sie nicht, Isaac Templeton von mir zu grüßen.“

Auf dem hölzernen Fußweg schloss er zu John auf.

„Verdammt“, meinte der zufrieden. „Das hat richtig gutgetan.“

Holt lachte und schlug ihm auf den Rücken. „Lass uns Tillie abholen und Gabe einen Besuch abstatten. Was glaubst du, wie lange es dauert, bis Templeton aufkreuzt?“

Absichtlich umständlich zog John seine Uhr aus der Tasche. Während des Kriegs hatte er für die Nordstaaten gekämpft, und diese Uhr – ein Geschenk seines Captains – war sein einziges Erinnerungsstück an seine Tage als Buffalo Soldier – abgesehen natürlich vom Splitter einer Kanonenkugel, der sich tief in seine rechte Hüfte gebohrt hatte. „Ich nehme an, dass er bis Sonnenuntergang informiert worden ist.“

„Denkst du, er wird einen Überfall auf die Herde anordnen?“

Cavanagh schüttelte den Kopf. „Erst mal wird er sich ein Bild von dir machen wollen“, antwortete er. „Mr. Templeton kennt gern alle Fakten, bevor er seinen Zug macht.“

Sie traten ins kühle Dämmerlicht im Kolonialwarenladen, wo ihnen das typische Aroma von frischem Sägemehl, Sattelleder, Zwiebeln und Staub entgegenschlug.

Holt sah sich nach Tillie um und entdeckte sie allein an einer Theke, auf der sich ein ganzer Berg an Einkäufen stapelte. Der Verkäufer und ein Cowboy hielten ein oder zwei Meter neben ihr angeregt ein Schwätzchen, doch sie hätte ebenso gut unsichtbar sein können, da man ihr keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Mit großen Augen sah sie Holt und ihren Vater hereinkommen.

„Was kann ich für Sie tun … Gentlemen?“, fragte der Verkäufer.

„Als Erstes können Sie die Lady dort bedienen“, sagte Holt und deutete auf Tillie.

„Ich sehe nirgends eine Lady“, gab der windige kleine Verkäufer zurück.

Während er sein Gegenüber breit anlächelte, griff Holt über die Theke, bekam das Hemd des Mannes zu fassen und hob ihn hoch, bis seine Füße keinen Kontakt mehr zum Fußboden hatten. „Dann stimmt mit Ihren Augen was nicht, mein Freund“, erklärte Holt gedehnt, während sich John zwischen ihn und den Cowboy stellte. „Sie sollten sich eine von diesen schönen Brillen aus Ihrem Schaufenster zulegen.“

„Mac“, röchelte der Mann. „Willst du denn gar nichts unternehmen?“

„Nein, Sir“, meinte Mac gut gelaunt, woraufhin Holt lange genug zur Seite schaute, um sich ein Bild von dem Cowboy zu machen. „Ich würde sagen, du hast dir das selbst eingebrockt.“ Er drehte sich um und lehnte sich gegen die Theke. „Sind Sie Holt McKettrick?“, fragte er. „Ich habe gehört, Sie suchen Leute für Ihre Ranch.“

Langsam ließ Holt den Verkäufer nach unten sinken, bis der mit den Schuhspitzen wieder den Boden berührte. „Könnte sein.“

Als er den Mann hinter der Theke endlich losließ, lief der sofort zu Tillie und lächelte sie eifrig an.„Guten Morgen, Ma’am“, begrüßte er sie. „Wie kann ich Ihnen heute behilflich sein?“

6. Kapitel

„Mac Kahill“, sagte der Cowboy, als Holt und John Tillies Einkäufe auf dem Wagen verstauten. „Sie erinnern sich nicht an mich, oder?“

„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte Holt, der einen Sack mit fünfzig Pfund Pintobohnen hochhob.

„Wir sind ein paar Mal zusammen geritten“, erklärte Kahill. „Ich gehörte zu Capt’n Jack Waltons Truppe.“

Holt hielt inne und musterte Kahill skeptisch. „Sie waren ein Ranger?“

Kahill grinste breit. „Nein, ich war nur ein Helfer und kümmerte mich um die Pferde. Damals war ich gerade erst vierzehn.“

„Waren Sie der blonde Junge mit Sommersprossen, der immer über seine eigenen Füße stolperte und sich die Nase an seinem Hemdsärmel abwischte?“

„Ihre Erinnerung täuscht Sie nicht“, meinte Kahill lachend, dann wandte er sich an John und Tillie, wobei er an seine Hutkrempe tippte. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie Sie da drinnen behandelt wurden. Ein solches Verhalten kann ich nicht gutheißen.“

„Es stört mich ein wenig“, gestand Holt ohne Umschweife, „dass Sie nicht eingeschritten sind.“

„Das musste ich doch nicht“, widersprach er gut gelaunt. „Sie hatten das ja bereits gemacht.“

„Ich finde, wir sollten ihn anheuern“, meinte John und rieb sich das Kinn.

Als Junge hatte der Mann bei ein paar Ausflügen ins Indianerterritorium die Pferde gehütet. Na und? Das war lange her, und heute hatte er sich, wenn auch indirekt, an dem Fehlverhalten gegenüber Tillie beteiligt. Anschließend war es ein Leichtes, zu behaupten, dass er kurz davor gestanden hatte, den Verkäufer zur Rechenschaft zu ziehen.„Warum sollten wir das?“, fragte Holt.

„Weil wir dringend Leute brauchen“, antwortete John.

Kahill grinste weiterhin. „Ich muss ehrlich sagen, ich wurde schon mit mehr Begeisterung empfangen“, gestand er. „Ich kann gut mit einem Schießeisen umgehen, ich habe mehr als genug Longhorns gehütet, und ich brauche einen Job.“

„Dreißig pro Monat, Bett in der Baracke und Verpflegung“, zählte Holt grimmig auf. „Pferd und Ausrüstung stellen Sie selbst.“

„Einverstanden.“ Kahill hielt ihm die Hand hin.

Nach kurzem Zögern schlug Holt ein.

Gabe sah – anders als am Tag zuvor – wieder mehr so aus, wie Holt ihn gekannt hatte. Ihm fehlten noch immer Seife, saubere Kleidung und eine Woche geregelte, ordentliche Mahlzeiten, aber er war auf dem besten Weg dorthin.

„Das war ein verdammt gutes Essen, das du mir gestern Abend rübergeschickt hast“, sagte er. „Danke.“ Sein Blick wanderte von Holt zu John. Tillie wartete vorn im Büro des Marshals, da diese Ecke des Gefängnisses kein Platz für eine Frau war. „Wie geht’s, Mr. Cavanagh? Für einen alten Soldaten sehen Sie noch gut aus.“

Durch die Gitterstäbe hindurch reichten sie sich die Hände.

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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