Winter der Liebe - 5 märchenhafte Weihnachtsabende

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LIEBESMÄRCHEN AUS SCHNEE UND EIS von JANICE PRESTON
Dianas süße Küsse unterm Mistelzweig waren nur gespielt? Ist Aaron Opfer eines Heiratskomplotts geworden? Erzürnt verlässt er Lavenham Hall. Doch auf den Stufen kauert Diana, zitternd und tränenüberströmt. Kann der Zauber der Heiligen Nacht sie noch vereinen?

SÜẞE ZEIT DER WUNDER von CARLA KELLY
Ianthe hat es geahnt: Die glühenden Liebesbriefe ihres Verlobten hat in Wirklichkeit sein Freund Jeremiah Faulk verfasst. Nun ist sie Witwe, und kurz vor Weihnachten steht Jeremiah vor ihrer Tür …

ASCHENPUTTELS SCHÖNSTES WEIHNACHTSFEST von ANNIE BURROWS
Ein Schneesturm tobt über Blackthorne Hall, als ein Gentleman mit zwei kleinen Kindern um Hilfe bittet. Die einsame Alice nimmt ihn auf – erlebt sie nun ein Winterwunder der Liebe?

DAS WEIHNACHTSWUNDER VON CAHILL CROSSING von CAROL FINCH
„Sir, Sie sind mein Schutzengel!“ Rosalie ist entschlossen, Lucas ihre Dankbarkeit zu zeigen. Schließlich hat er sie vor dem sicheren Erfrierungstod im Schnee bewahrt. Aber wie bedankt man sich bei einem Engel mit breiten Schultern und einem gefährlich sinnlichen Lächeln?

UND PLÖTZLICH WERDEN WUNDER WAHR von CATHERINE GEORGE
„Lass uns das Fest gemeinsam verbringen!“ Gibt es doch einen Weihnachtsmann, der ihre geheimsten Wünsche erfüllt? Jahrelang hat Felicia ihre große Liebe Gideon nicht mehr gesehen – wegen eines Missverständnisses verließ er sie. Jetzt steht der reiche Unternehmer wieder vor ihr und sieht sie zärtlich an. Gerade so, als wollte er sie unter dem Mistelzweig küssen …


  • Erscheinungstag 14.12.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751528276
  • Seitenanzahl 407
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Liebesmärchen aus Schnee und Eis erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de
Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Christina Seeger
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2017 by Janice Preston
Originaltitel: „Awakening His Sleeping Beauty“
erschienen bei: Mills & Boon, London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON , Band 59
Übersetzung: Barbara Kesper

Umschlagsmotive: kostins, ProVectors, Chinnapong / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2021

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783751513395

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

A h, hier seid ihr.“

Linkisch schob Lord Lavenham sich ins Boudoir seiner Gattin und schloss hörbar die Tür hinter sich.

Lady Lavenham zuckte zusammen. „Also wirklich, Lavenham! Musst du so … lärmen?“ Mit der Miene einer leidenden Dulderin hob sie eine zartgliedrige Hand an die Stirn.

„Verzeih, meine Liebe. Ich wollte nicht … Ich meine, die Tür … Das war lauter, als ich dachte.“

Mit beiden Händen einen Brief vor sich hin haltend verharrte der Viscount unentschlossen bei der Tür, sichtlich in der Haltung eines Mannes, der sich, im Begriff, eine gefahrvolle Aufgabe anzugehen, den Rückzugsweg freihalten möchte.

Diana – seit dem Tod ihres Bruders vor acht Jahren das einzige Kind der Lavenhams – legte das Buch nieder, aus dem sie ihrer Mutter vorgelesen hatte, und faltete die Hände auf dem Schoß. Ihr Vater würde bestimmt gleich erklären, warum er einen seiner seltenen Ausflüge in das Reich seiner Gattin unternommen hatte. Als er weiterhin schwieg, wurde sie langsam ungeduldig, denn gleich würde Mutter eine ihrer pathetischen Tiraden vom Stapel lassen, und dann würden sie nie den Zweck seines Besuchs erfahren.

Mit einem Auge auf ihre zusehends gereizte Mutter äußerte Diana: „Ist das ein Brief, Papa?“

Der Viscount trat einen Schritt vor und zog die buschigen Brauen hoch. „Was? Oh! Das?“ Er schwenkte den Brief. „Oh, ja, gewiss.“

Dann atmete er tief ein, und in Diana begann sich Unbehagen zu regen. Was konnte so wichtig sein, dass Papa sich nicht nur in Mamas Boudoir vorwagte, sondern sogar von seiner Gewohnheit abwich, die Überbringung schlechter Nachrichten an seine Tochter zu delegieren?

„Lavenham …“, Mutters Tonfall war nun deutlich nörgelnd, „… also wirklich, das ist äußerst lästig. Ich habe Kopfweh. Komm bitte endlich zur Sache.“

„Der ist von Cousine Sally.“ Erneut schwenkte er den Brief. „Sie kündigt ihren Besuch an … für länger.“

„Cousine Sally? Du hast mir nicht mitgeteilt, dass du ihr eine Einladung zukommen ließest.“

Diana sank das Herz. Das würde Mutter auf Wochen hinaus mit Stoff zum Jammern versehen. Und es wird mir zufallen, mir das anzuhören, abzuwiegeln und sie zu besänftigen, dachte Diana, während Vater sich mit seinen Büchern in seiner Bibliothek vergraben und die Existenz seines Weibervolks für Tage und Wochen vergessen wird.

„Ja … nun …“

Auf den Wangen ihres Vaters bildeten sich hektische rote Flecken, und Diana wurde immer unruhiger.

Worauf will er hinaus?

„Aber … eigentlich habe ich nicht … Nein!“ Seine Miene erhellte sich. „Nein! Siehst du, ich habe sie alle gar nicht eingeladen. Es war Cousine Sallys Vorschlag.“

„Sie alle ? Nein …“, kam es ganz schwach von ihrer Mutter, „… nicht die ganze Familie?“

Cousine Sally war verwitwet und Mutter von sieben Kindern, von dem fünfundzwanzigjährigen Aaron bis hin zu dem elf Jahre alten Joseph.

„Nun … ja. Sie treffen übermorgen ein und werden über Weihnachten bleiben …“, Papa öffnete die Tür ein wenig, „… bis zum Dreikönigstag.“ Hastig durch den Türspalt schlüpfen und die Tür hinter sich schließen war eins.

Aaron Fleming musterte Lavenham Hall mit kritischem Blick, während er seine Karriole die Auffahrt entlang lenkte, die den Park rund um das schöne alte Fachwerkgebäude durchschnitt.

„Ich verstehe einfach nicht, warum du Lavenham nicht bis nach Weihnachten vertröstet hast, Mama.“

Aus dem Augenwinkel spähte er zu seiner Mutter, die er auf ihr Verlangen in seine leichte Kutsche aufgenommen hatte, sobald sie durch das schmiedeeiserne Tor auf das Gebiet des Landsitzes eingebogen waren. Hinter ihnen her rumpelte die sperrige Chaise mit seinen drei Brüdern und drei Schwestern samt dem restlichen Gepäck.

Seine Mutter, gegen die Winterkälte in diverse Pelze gehüllt – nur ihre Augen, ihr Mund und ihre von der Kälte rosa Nasenspitze lugten daraus hervor –, antwortete: „Aber, mein Lieber, das sagte ich dir doch schon, bevor wir daheim aufbrachen.“

Ja, sie hatte es ihm gesagt, doch er war immer noch irritiert, und nach zwei Reisetagen war dies nun die erste Gelegenheit, Mama auszufragen, ohne dass seine Geschwister mithören konnten.

Er war in Shepcott Place, dem Heim seiner Familie in Somersetshire, voller Vorfreude darauf eingetroffen, das Weihnachtsfest wie immer inmitten seiner Lieben zu verbringen, nur um mit diesem Besuch auf Lavenham Hall vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Da waren die Dienstboten und ein Großteil des Gepäcks schon auf den Weg nach Norden Richtung Herefordshire geschickt worden, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich den Plänen seiner Mutter anzuschließen.

„Ich konnte Cousin Arthurs Einladung nicht ablehnen. Er bestand auf diesem weihnachtlichen Besuch. Aaron … seit zwei Jahren bitte ich dich, Lavenham aufzusuchen, aber du hast nie auf mich gehört.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Arthur wird auch nicht jünger, und eines Tages wird das alles hier dir gehören. Wenn du stärker an deine Pflicht gedacht hättest und weniger an deine Vergnügungen, wäre nun, da seine Gesundheit nachlässt, diese überstürzte Eile nicht nötig. Die schuldest du allein dir und deiner Halsstarrigkeit.“

Aaron verbiss sich eine scharfe Entgegnung. Pflicht! In der Kavallerie war er zur Genüge in die Pflicht genommen worden, und er hatte die letzten beiden Jahre damit verbracht, die entsetzlichen Bilder und Geräusche des Krieges aus seinem Kopf zu verbannen. Aber was nützte es zu klagen – sie waren nun einmal hier, und Mama konnte ja nichts dafür, dass Lavenham auf diesem weihnachtlichen Besuch beharrte. Er musste das Beste daraus machen, einerlei, wie sehr er sich über die Änderung ihres üblichen Festverlaufs ärgerte. Er hatte nicht einmal Bekannte hier im Süden Herefordshires – außer Gordon Caxton, ein ehemaliger Offizierskamerad, dessen Besitz an Lavenham grenzte. Und auf diesen einstigen Freund Zeit zu verschwenden, beabsichtigte Aaron keinesfalls, nachdem der kürzlich versucht hatte, ihn hinterrücks in eine Heirat mit dessen habgieriger Schwester Caroline zu drängen.

Er schob den Gedanken an die Caxtons beiseite, da seine Mutter mit ihren Vorwürfen fortfuhr.

„Nun sei ein einziges Mal nicht so selbstsüchtig, Aaron. Schließlich kannst du deine Geschwister jederzeit sehen, wenn du willst – deine Brüder sind nicht nur zu Weihnachten von der Schule daheim. Du bringst doch freiwillig so viel Zeit in London zu oder im Sommer auf den Landsitzen deiner Freunde! Wenn du öfter zu Hause wärst, würde dir diese Abweichung vom Üblichen nicht so widerstreben.“

Aaron unterdrückte die vagen Gewissensbisse, die an ihm nagten. Vielleicht hätte er in den letzten zwei Jahren wirklich mehr Zeit auf Shepcott Place verbringen sollen, doch nach der strengen Disziplin in der Kavallerie und den Schrecken des Krieges lockte es ihn, eine Zeitlang planlos und in Muße zu leben. Nach dem Sieg über Napoleon bei Waterloo vor zweieinhalb Jahren hatte er sein Offizierspatent verkauft und sich kopfüber in das Leben eines sorglosen Junggesellen gestürzt. Seitdem genoss er die Freuden Londons und der feinen Gesellschaft. Auf Shepcott Place war seine ständige Anwesenheit nicht erforderlich, da seit dem Tod seines Vaters vor zehn Jahren der Besitz hervorragend von seinem Gutsverwalter in Schuss gehalten wurde. Sein Vater – der Urgroßenkel des zweiten Viscount Lavenham – hatte eine erfolgreiche Karriere als Bankier gemacht und so seine Familie in angenehmen finanziellen Verhältnissen zurückgelassen.

Da Aaron viele Monate des Jahres nicht auf Shepcott Place weilte, war Weihnachten für ihn die Zeit, die er mit seiner Familie zubrachte, und die war unantastbar – oder sollte es sein.

„Ich verlasse mich darauf, dass du das Beste aus diesem Besuch machst. Wenn es Arthur beruhigt, seinen Erben ein paar Wochen hier zu haben, um sich zu versichern, dass du mit dem Besitz und den Menschen vertraut sein wirst, dann ist es doch gewiss kein so großes Opfer, Weihnachten mit ihm und seiner Familie zu feiern.“

Aaron verbiss sich seine sarkastischen Gedanken über den zerstreuten, auf das antike Griechenland versessenen Arthur, über Venetia, dessen anspruchsvolle Gattin, und über Diana, ihre kleine braune Maus von Tochter.

Sie hatten das Ende der Auffahrt erreicht, die vor dem Haus einen schwungvollen Bogen beschrieb, und er manövrierte die Karriole vor die Freitreppe, die zum Portal führte, wo er die Pferde zügelte. Dahinter kam der große Reisewagen zum Stehen.

Die Türflügel standen schon offen, und nun trat eine Gestalt ins Freie. Aaron erschrak beim Anblick des Viscounts. Er war beträchtlich gealtert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Immer noch hochgewachsen, wenn er sich auch gebeugt hielt, und noch schmächtiger als in seiner Erinnerung, mit grauem, zotteligem Haarkranz um den kahlen Oberkopf. Grüßend hob er eine Hand, blieb jedoch bei der Tür stehen, während Lakaien die Stufen hinabeilten, um das Gepäck abzuladen.

Aaron beobachtete, wie Harry und Joseph, seine beiden jüngsten Brüder von dem Kutschbock krabbelten, auf dem sie während der letzten Etappe neben dem Kutscher hatten sitzen dürfen. Der sechzehnjährige George stieg aus dem Wagen, gefolgt von Harrys Zwillingsschwester Isabel – die immer noch schmollte, weil ihre Mutter ihr verboten hatte, sich den Jungen auf dem Bock anzuschließen –, und den beiden ältesten Mädchen, Eliza und Frances.

Höflich half Aaron seiner Mutter aus der Karriole und geleitete sie zu Lord Lavenham, der immer noch bei der offenen Tür wartete. Hinter ihm stand halb verdeckt eine gertenschlanke Gestalt, die Aaron jedoch erst bemerkte, als sie dem Viscount gegenübertraten. Er warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Wer ist das?

Seine Mutter erwiderte den Blick mit geheimnisvollem Heben einer Braue.

„Mein lieber Arthur!“ Mama umarmte Lavenham und küsste ihn auf die Wange. „Wie schön, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen. Briefe können doch nie die Freude eines persönlichen Treffens ersetzen.“

Lavenham erwiderte ihre Umarmung. „Ich bin entzückt, dich auf Lavenham Hall zu begrüßen, Sally. Du bist wohlauf, hoffe ich? Und die Reise war nicht übermäßig anstrengend? Und nun, lass mich sehen … an Aaron erinnere ich mich natürlich.“ Er schüttelte ihm die Hand. „Bist ein feiner junger Mann, in der Tat. Du musst jetzt … äh … fünfundzwanzig sein? Zeit, ans Sesshaftwerden zu denken, mein Junge. Ich hörte, deine Schwester wird bald heiraten.“ Lavenham schmunzelte.

Aaron biss die Zähne zusammen. Schlimm genug, dass Mama ihm ständig in den Ohren lag, sich zu binden, auch ohne dass Lavenham in den Chor einstimmte.

Ich heirate, wenn ich so weit bin, und nicht eher.

Er war erst fünfundzwanzig – er hatte noch viel Zeit, über eigenen Nachwuchs nachzudenken. Und wenn er beschloss, dem Pfarrer in die Falle zu gehen, dann würde es seine Entscheidung sein und nur seine. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, war das permanentes Herumbohren oder, noch schlimmer – nach seiner Erfahrung mit Caxton und dessen Schwester – manipuliert zu werden. Zum Glück hatte er deren Plan rechtzeitig genug durchschaut, um den Versuch, ihn einzufangen, zu vereiteln. Doch er bereute immer noch, sie nicht zur Rede gestellt zu haben. Stattdessen mied er sie einfach, so gut es ging, und lehnte höflich weitere Einladungen ab.

„Ja, sie wird heiraten“, bestätigte seine Mutter. „Cousin Arthur, dies ist Eliza.“ Seine älteste Schwester, gerade neunzehn Jahre alt, knickste.

„Eliza … ein hübscher Name für eine hübsche junge Dame.“

Lavenhams aufgesetzte Jovialität ging Aaron auf die Nerven, da sie so gar nicht zu dem eher gelehrtenhaften Typus passte.

„Du wirst mir die anderen Kinder vorstellen müssen, Sally, ich kann mich leider nicht mehr an ihre Namen erinnern.“

Mama winkte den Jüngeren vorzutreten. Währenddessen ließ Aaron den Blick zu der jungen Frau wandern, die hoch aufgerichtet stumm hinter dem Viscount stand. Sie konnte nur dessen Tochter Diana sein. Die kleine braune Maus. Nun, mit Recht mochte man sie immer noch als braun beschreiben: Augen und Haar hatten diese Farbe, doch selbst mit der größten Fantasie hätte man sie jetzt noch als verhuschtes Mäuschen oder als klein bezeichnen können. Eher schon erinnerte sie an eine Katze mit ihren leicht schräg stehenden Augen und ihrer seltsam wachsamen Haltung – so als wäre sie ständig auf dem Sprung.

Er unterdrückte das Schuldgefühl, das in ihm aufwallte, weil er und nicht sie letztendlich ihr Heim erben würde. So war der Lauf der Welt nun einmal. Titel und Besitz gingen an die männliche Linie. Außerdem … Unauffällig musterte er sie von Kopf bis Fuß, und sein Puls beschleunigte sich heftig: Sie war wirklich höchst beeindruckend; es gab keinen Grund für Schuldgefühle. Eine attraktive Frau wie sie würde wenig Mühe haben, einen Gemahl zu finden, bei dem sie gut versorgt war.

Mama war noch dabei, seine Geschwister vorzustellen. „Dies ist Frances und dies Isabel, Harrys Zwillingsschwester …“ Sie wies auf den strammen Knaben. „Und die beiden anderen Jungen sind George und Joseph.“

„Und dies ist meine Tochter Diana.“ Lavenham wandte sich halb um, nahm Diana beim Arm und zog sie nach vorn.

Sie lächelte nicht einmal, als Mama sie herzlich auf die Wange küsste. Aaron verbeugte sich, wie es sich gehörte, und Diana erwiderte den Gruß mit einem feierlichen Neigen des Kopfes.

Es würde ihr wohl kaum schaden, ein wenig freundlicher zu sein, oder? Ihre Abneigung gegen seine Familie, die in ihr kostbares Heim einfiel, konnte kaum deutlicher sein, und Aaron hoffte, seine Schwestern insbesondere würden sich dadurch nicht gekränkt fühlen. Eliza wie auch Frances hatten sich sehr darauf gefreut, die entfernte Cousine endlich kennenzulernen. Wie enttäuscht mussten sie sein, eine so steifleinene Miss vorzufinden.

Sein Missmut über diesen Besuch erwachte erneut. Wie viel Spaß konnten sie während der Advents- und Weihnachtszeit erwarten, wenn sie darauf angewiesen waren, dass diese Menschen hier die Festfreuden organisierten? Etwas Trübsinnigeres konnte er sich beim besten Willen nicht ausmalen.

2. KAPITEL

D iana folgte den Gästen und ihrem Vater ins Haus. Nicht nur beherrschte Furcht ihre Gedanken, sondern damit einhergehend schien ihr ganzer Körper wie betäubt. Wie sollte sie die nächsten Wochen ertragen? Sie schluckte schwer, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Dass dieser andere Teil der Familie sich selbst eingeladen hatte, war schon schlimm genug, doch dass sie ausgerechnet diese Zeit des Jahres gewählt hatte, in der Mutter noch anstrengender und fordernder war als sonst, machte den Besuch noch weniger begrüßenswert.

Eine Bewegung auf der Treppe ließ sie aufschauen, und Diana verkrampfte sich, denn ihre Mutter kam kraftlosen Schrittes die Stufen herab, ihre natürliche Blässe noch betont durch die schwarzen Gewänder, in die sie sich stets im Dezember, im Gedenken an Simon, von Kopf bis Fuß hüllte. Dabei lag sein Tod nun schon acht Jahre zurück. Acht Jahre, seit Diana nicht nur ihren jüngeren Bruder verloren, sondern auch ihre Kindheit hinter sich zurückgelassen hatte. Wie anders das Leben der ganzen Familie wohl verlaufen wäre, wenn Simon nicht gestorben wäre?

Unauffällig lugte sie zu Aaron hinüber, dem Cousin dritten Grades – oder vierten –?, der nun anstelle von Simon Papas Erbe war und der nächste Viscount Lavenham. Groll wallte in ihrer Brust auf. Seinen Besuch hießen sie und ihre Mutter grundsätzlich nicht gut, aber ausgerechnet im Dezember zu kommen, so kurz nachdem sich Simons Todestag jährte, bewies, dass er noch so arrogant und gefühllos war wie in ihrer Erinnerung.

Aaron war der Einzige jenes Familienzweigs, den Diana je getroffen hatte. In dem Sommer nach Simons Tod war er zu Besuch gekommen – ein frischgebackener Kavallerieleutnant, dessen Interesse eher dahin ging, kichernde Hausmädchen durchs Haus zu scheuchen, als seine schüchterne Cousine zu beachten. Da sie von ihrem attraktiven Cousin völlig übersehen wurde, hatte sie alle Qualen einer Backfischschwärmerei durchlitten, und dieser Schmerz mischte sich noch lange danach mit dem Gram über Simons Tod sowie mit ihrer Verwirrung über das untröstliche Leid ihrer Mutter.

Und nun war Aaron wieder hier – ebenso attraktiv wie in ihrer Erinnerung, mit demselben glänzenden dunklen Haar und den Augen in der Farbe eines klaren Baches, offensichtlich ein Familienmerkmal, das auch seinen Geschwistern eigen war.

Als ihre Mutter näher kam, musterte Diana sie besorgt, denn sie erinnerte sich noch deutlich an deren letztes ausgedehntes Wehgeschrei, mit dem sie die Nachricht von dem anstehenden Besuch aufgenommen hatte. Papa mit seinem üblichen Geschick, den Ausbrüchen seiner Gattin auszuweichen, hatte sich in die Bibliothek zu seinen dicken altgriechischen Wälzern zurückgezogen. Dort fand Diana ihn später, mit dem Kopf unter einer Wolldecke steckend, um Mamas Gekreische auszublenden. Alles Bitten und Betteln hatte ihn nicht bewegen können, dem Besuch abzusagen. Es sei Zeit, dass Aaron sich mit seinem Erbe vertraut mache und etwas über die Leitung des Besitzes lerne, und diese Jahreszeit sei ebenso gut wie jede andere, hatte er gesagt.

„Meine Liebe, komm, begrüße unsere Gäste“, bat er nun seine Gemahlin, als Mama die Halle betrat.

Unauffällig versteckte Diana ihre Hände hinter dem Rücken und drückte die Daumen, dass ihre Mutter, nicht daran gewöhnt, ihre Vorstellungen durchkreuzt zu sehen und jeder Veränderung abhold, sich wohlwollend in ihre Niederlage schickte – eine Niederlage, die sie erst eingeräumt hatte, als Papa ihr verkündete, dass Sally mit ihren Kindern die Reise schon angetreten haben werde und es daher zu spät für eine Absage sei.

Selbst als Diana einwandte, dass die Dienerschaft es niemals werde schaffen können, die zusätzliche Arbeit für acht weitere Leute zu leisten, hatte er nicht eingelenkt. „Cousine Sally hat ihre eigenen Dienstboten vorausgeschickt, um die Mehrarbeit zu bewältigen. Morgen treffen sie ein“, hatte er erklärt, woraufhin Diana sich verwundert gefragt hatte, wie lange ihr zerstreuter Vater von diesem anstehenden Besuch schon gewusst hatte.

Während ihre Mutter und Cousine Sally einander begrüßten, spürte Diana, dass ihr vor Anspannung die Haut im Nacken kribbelte, und als sie sich umwandte, begegnete sie flüchtig Aarons neugierigem Blick, der auf ihren gedrückten Daumen gehaftet hatte. In stummer Frage hob er eine seiner dunklen Brauen, und Diana griff sich verwirrt ans Herz, da lange unterdrückte Mädchenträume von Rittern auf weißem Schlachtross sich in ihr Bewusstsein drängten. Sie straffte sich und lenkte ihre Aufmerksamkeit hastig wieder auf ihre Mutter. Jene dummen Fantasien hatte sie schon längst für entbehrlich erklärt.

Ihre Mutter schenkte Sallys Brut , wie sie sie zu nennen pflegte, ein vages Lächeln und winkte sie zu sich.

„Hilf mir zurück in mein Boudoir, Diana“, hauchte sie mit der Stimme einer von stetem Leiden Geplagten. „Ich muss sagen, all diese Unruhe und Hetze haben mich völlig erschöpft. Ich spüre, meine Migräne ist im Anzug. Bestimmt wirst du uns entschuldigen, Sally …“

Ihr Ton wurde immer leiser, als Sally sie entschlossen lächelnd beim Arm nahm.

„Lassen wir die jungen Leute allein, damit sie sich besser kennenlernen, Venetia“, sagte sie. „ Ich helfe dir hinauf, dann können wir ein nettes Schwätzchen halten.“

Ehe ihre Mutter antworten konnte, warf ihr Vater ein: „Prächtige Idee. Diana, führe deine Cousinen und Cousins in den Salon und läute bitte. Die Köchin hat Erfrischungen parat, die sie auf dein Zeichen hinaufschicken lassen wird.“

„Perkins?“ Diana winkte dem Butler, der abwartend in der Halle stand, bereit, die neu dazugekommenen Dienstboten einzuweisen.

„Miss Diana?“

„Bitte geleiten Sie unsere Gäste in den Salon. Ich möchte mit meinem Vater ein paar Worte unter vier Augen reden.“

Kaum dass sie es ausgesprochen hatte, erkannte sie, wie unfreundlich sie klang, und Aarons finstere, missbilligende Miene bestätigte es, wie ihr ein kurzer Blick über die Schulter zeigte. Ihr Magen verkrampfte sich, doch um ihre Anspannung zu mildern, flüchtete sie sich in Ärger. Was interessierte es sie, wie er über sie dachte? Sie würde nicht vor ihm kriechen, auch wenn er Papas Erbe war. Oder genauer gesagt, weil er Papas Erbe war.

„Du solltest die Gelegenheit begrüßen, deine Vettern und Cousinen kennenzulernen und dich ein wenig mit ihnen vergnügen, Diana“, mahnte Papa sanft, während die Besucher einer nach dem anderen im Salon verschwanden. „An Vergnügungen hast du, weiß der Himmel, wenig genug, wenn du dich deiner Mutter annehmen musst, weil mich meine Arbeit so sehr beansprucht.“

Ihr anfänglicher Schock darüber, dass sogar ihr geistesabwesender, weltfremder Vater das öde Dasein seiner Tochter bemerkt hatte, machte rasch einer ungewohnten Bitterkeit Platz. Vergnügen? Sie hatte die Bedeutung des Wortes ganz vergessen. Und dieser Besuch kündete nur noch mehr Pflichten an, von der Betreuung der Gäste bis zum Hätscheln der unvermeidlichen Unpässlichkeiten, ob echte oder eingebildete, ihrer Mutter.

„Ich bezweifle, dass ich Zeit für Vergnügen finde“, sagte sie ruhig. „Mama wird mich brauchen.“

Papa wies zur Treppe, die die beiden Frauen langsam erklommen. „Es ist alles in die Wege geleitet. Sally ist gewillt, deiner Mutter Gesellschaft zu leisten, damit du Zeit hast, deine Verwandten zu unterhalten.“

Misstrauisch dachte Diana über diese neue, praktisch gesinnte Version ihres Vaters nach. Papa mischte sich nie in solch triviale Angelegenheiten. Erneut erhob sich die Frage, wie lange genau er von diesem Besuch gewusst hatte. Eine Antwort darauf zu verlangen würde jedoch nichts ändern, also verschwendete sie ihren Atem gar nicht erst.

„Wie du wünschst, Papa.“

Damit steuerte sie den Salon an, verharrte aber, plötzlich voller Hemmungen, vor der Tür. Doch es musste sein. Tief atmete sie ein, straffte die Schultern und stieß die Tür auf. Sieben Augenpaare richteten sich auf sie, sodass der Mut sie verließ, aber sie verzog den Mund zu einem Lächeln und zwang ihre Beine, sie über die Schwelle zu tragen.

Nach kurzem, bedeutungsschwerem Schweigen – das sich hoffentlich nicht wirklich so lange hinstreckte, wie es ihr vorkam –, äußerte sie: „Ich werde nach Erfrischungen schicken.“ Das waren nicht viele Worte, doch besser als gar nichts. Sie schluckte und fuhr fort: „Gewiss seid ihr nach der langen Reise alle hungrig.“

Sie läutete und begab sich zu einem etwas seitwärts von den anderen stehenden Stuhl, auf dem sie sich niederließ.

„Die Fahrt war sehr langweilig.“

Das kam von der jüngsten Cousine. Das Zwillingsmädchen. Isabel.

„Das kann ich mir vorstellen, Isabel.“

Dankbar sah Diana, dass Isabels Miene sich erhellte.

„Du weißt meinen Namen noch.“

„Aber ja.“ Ihr fiel ein, dass zwischen Isabel, ihrem Zwillingsbruder und dem jüngsten Knaben eine Verstimmung herrschte, weil die Jungen sie verspottet hatten. „Ich dachte, als ihr eintraft, wie klug es von dir war, bei der Kälte im Wagen zu reisen anstatt oben bei deinen Brüdern auf dem Kutschbock.“

„Ich bin klug, zu klug, um mich über euch beide zu ärgern!“ Isabel zeigte auf ihre Brüder. „Hört ihr, das sagt sogar Diana.“

Zu spät erkannte Diana, dass sie, indem sie sich auf Isabels Seite schlug, die beiden Knaben beleidigt hatte. Zwei graue Augenpaare richteten sich vorwurfsvoll auf sie, und ihr wurden die Wangen heiß.

„Diana meinte es, glaube ich, nicht ganz so, Isabel“, sagte eine tiefe Stimme.

Weit davon, sich durch Aarons Einwurf getröstet zu fühlen, kam sich Diana nur umso törichter vor. Ihr Hirn mochte ihr sagen, dass sie ihre frühere Vernarrtheit abgelegt hatte, nur schien ihr Herz diese Botschaft nicht empfangen zu haben und begann atemberaubend schnell zu klopfen, als der Cousin sich ihr zuwandte. Die Kehle wurde ihr trocken, und sie war erleichtert, da eben in diesem Moment drei Hausmädchen Tabletts mit Kuchen, Limonade und Tee hereinbrachten.

Rasch erhob sie sich, schenkte Tee ein und bat: „Bitte kommt doch und bedient euch nach Herzenslust.“

Sofort sprangen Harry und Joseph auf und rannten los, um die Ersten zu sein.

„Langsam!“

Aarons Stimme dröhnte so laut, dass Diana erschrak, und da sie gerade den Tee einschenkte, stieß die Kanne klirrend gegen die zarten Porzellantassen.

„Was soll Diana von euch denken, wenn ihr euch wie die Wilden aufführt?“

Bei seinem barschen, zürnenden Ton zuckte Diana zusammen.

Die armen Jungen.

„Damit habt ihr nur bewiesen“, fuhr Aaron fort, „dass Diana recht hatte, als sie sagte, Isabel wäre bei ihren Schwestern in der Kutsche besser aufgehoben.“

Diana spürte, wie sich ein Arm um ihre Taille legte. „Ich hoffe wirklich, wir erweisen uns nicht als zu anstrengend für dich, Cousine Diana“, flüsterte Eliza ihr ins Ohr. „Ich weiß, du bist an so ungebärdige Kinder nicht gewöhnt.“

Diana lächelte zaghaft. „Bestimmt werde ich mich bald daran gewöhnen.“ Doch sie war sich nicht sicher, ob sie da die Wahrheit sagte, denn was sie fürchtete, war nicht so sehr, sich an die Kinder zu gewöhnen.

Kurz darauf ließ ihr Vater Aaron bitten, zu ihm ins Kontor des Besitzes zu kommen, und Diana verbrachte den restlichen Nachmittag damit, mit ihren jüngeren Verwandten vertraut zu werden. Sie führte sie im Herrenhaus umher und zeigte ihnen auch ihr geliebtes Gewächshaus, in dem sie alle möglichen Pflanzen hegte und pflegte und ihnen mit viel Aufwand Blüten abtrotzte, ein Quell der Freude für sie. Ohne Aaron mit seinen stürmischen grauen Augen und seiner tiefen Stimme, die ihr durch und durch zu gehen schien, war sie viel entspannter, und sie musste zugeben, dass ihr diese Abweichung von ihrem sonstigen Tagesablauf Vergnügen machte.

„Mein lieber Sohn, du musst Dianas Sicht der Dinge verstehen.“

„Warum denn?“

Aaron schaute durch das Fenster im Zimmer seiner Mutter hinaus in die Dämmerung. Normalerweise konnte der Monat Dezember ihm die Laune nicht trüben, versprach er doch trotz der kurzen Tage und der grauen Wolken, durch die die Sonne sich nur selten schob, Frohsinn und Festfreuden im Familienkreis. Dieser Dezember jedoch war ihm völlig verdorben. Er fragte sich, was wohl die anderen gerade machten. Langweilten sie sich so sehr wie er? Nach ihrer Ankunft hatte er den Nachmittag, eingeschlossen im Arbeitszimmer, mit Lavenham und dessen Verwalter Walker zugebracht und Gutsangelegenheiten besprochen, und kaum war er davon erlöst, hatte seine Mutter nach ihm geschickt und ihm die Aufgabe übertragen, während sie auf Lavenham Hall weilten, dafür zu sorgen, dass Diana sich als Mitglied der Familie fühlte.

„Sie will uns ebenso wenig hier haben, wie wir hier sein wollen. Schließlich hat sie uns nicht gerade stürmisch begrüßt, oder?“, entfuhr es ihm, da ihn sein immer noch köchelnder Ärger über das Nichtstattfinden ihrer traditionellen weihnachtlichen Freuden zu Taktlosigkeit verleitete. „Also, sie konnte sich nicht mal ein Lächeln abringen. Ein Marmorklotz hätte mehr Wärme.“

„Aaron! Hier ist seit jeher ihr Zuhause, und nach dem Tod ihres Vaters wird es an dich fallen; sie wird von hier fortgehen müssen.“

Aaron wandte sich kurz zu seiner Mutter um, dann schaute er wieder aus dem Fenster, die Zähne trotzig zusammengebissen. Er fühlte sich sowieso schon unbehaglich genug, allein weil er hier war – als greife er schon gierig nach dem, was einmal ihm gehören sollte –, da brauchte er nicht auch noch Mamas Erinnerung, dass er obendrein Diana heimatlos machen würde.

Ein Lichtschimmer erregte seine Aufmerksamkeit; auf das Fensterbett gestützt, beugte er sich vor.

Was ist das?

Nun sah er es. Jemand bewegte sich, eine Lampe in der Hand, in dem Gewächshaus, das seitlich an das Herrenhaus angeschlossen war. Eine zweite Lampe wurde entzündet, und als das Licht eine sanft gerundete Wange und eine zarte Kieferlinie hervorhob, erkannte er Diana. Er beobachtete, wie sie sich zwischen dem üppigen Blattwerk bewegte. Wann hatte sein Mäuschen von Cousine sich in eine so attraktive junge Frau verwandelt? Ein Jammer, dass sie so kühl und zurückhaltend war.

„Sie darf unser vielzähliges Auftreten in ihrem Heim wohl durchaus mit Vorsicht betrachten“, fuhr Mama fort. „Du bist ungerecht, wenn du sie nach diesem einen kurzen Zusammentreffen verurteilst.“

Nun wandte er sich seiner Mutter zu – sie lag auf ihrem Bett und ruhte, ehe es Zeit war, sich zum Dinner umzukleiden, und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann sollte sie ihren Unmut über ihren Vater ergießen, denn der hat doch auf diesem Besuch bestanden.“

Den Blick auf ihre Finger senkend, die unsicher mit den Fransen ihres Schals spielten, antwortete sie: „Sie ist das einzige Kind, Aaron, und verlor ihren geliebten Bruder. Kannst du nicht annehmen, dass ihre Zurückhaltung eher Schüchternheit entspringt als Missmut? Überlege doch, wie sie sich angesichts der Invasion einer so großen Familie fühlen muss! Sosehr ich euch alle liebe, werde ich einfach das Gefühl nicht los, dass Diana ziemlich überwältigt sein muss.“

Aaron antwortete nicht, aber sein Gewissen regte sich und wisperte, dass an dem, was Mama sagte, durchaus etwas dran war.

Seine Mutter seufzte. „Aaron, ich kenne dich – du fühlst dich übergangen, weil ich mich wegen der Reise hierher nicht mit dir beraten habe, und du bist störrisch genug, an deinem Groll festzuhalten. Aber ich bitte dich, gib nicht der armen Diana die Schuld. Wenn es jemandem anzulasten ist, sind das Cousin Arthur und ich, denn wir haben die Absprache getroffen. Bitte, gib Diana eine Chance, bevor du über sie urteilst.“

Sie hat recht. Ich bin störrisch, und wenn ich mich nicht zusammenreiße, verderbe ich uns allen die Weihnachtszeit.

Aaron ging zu seiner Mutter und setzte sich neben sie auf das Bett. Beruhigend tätschelte er ihr die Hand. „Also gut, Mama. Ich werde mir Mühe geben. Ich verspreche es.“

3. KAPITEL

A m allerliebsten wäre Diana in ihrem Zimmer geblieben, bis alle wieder abgereist waren. Aber das war unmöglich. Sie blieben drei Wochen, also musste sie sich an jeden einzelnen dieser lauten, stürmischen Verwandten gewöhnen. Ganz besonders aber an Aaron mit seiner hochgewachsenen Statur, seinem männlich-schönen Äußeren und seinen finsteren, missbilligenden Blicken. Immer noch ragten ihre Befürchtungen wie ein Berg vor ihr auf, dabei hatte es ihr durchaus Spaß gemacht, ihren Cousins und Cousinen das Haus zu zeigen.

Seit sie alle eingetroffen waren, hatte sie Aaron nicht mehr gesehen, und der Gedanke, ihn erneut zu treffen – mit ihm reden zu müssen und seine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehen – machte sie ganz benommen vor Anspannung. Er war so anders als die jungen Männer, die sie sonntags beim Kirchgang traf: sein militärisches Gebaren, sein ihm eigenes Selbstvertrauen, seine modische Erscheinung. Selbst sie erkannte, wenn ein Mann Lebensart hatte.

Und dann waren da jene Backfischfantasien nach seinem früheren Besuch auf Lavenham Hall – flüchtige Wunschbilder, in denen Aaron ihr edler Ritter war, obwohl sein Charakter sie doch so enttäuscht hatte. Sie hatte geglaubt, jene Tagträume wären längst vergessen und begraben, doch mit Aarons Ankunft waren sie wieder auferstanden und hatten sie in die gleiche Sprachlosigkeit und Befangenheit gestürzt wie damals, als sie noch ein junges Mädchen war.

Vielleicht ist er ja so mit Papa und den Gutsangelegenheiten beschäftigt, dass ich ihn kaum einmal sehe.

Aber gewiss war das vergebliche Hoffnung. Papa würde sich schon bald langweilen und sich wieder in seine geliebten griechischen Übersetzungen vertiefen. Sie würde Aaron unmöglich ausweichen können – Papa hatte ihr nachdrücklich erklärt, dass die Verwandten die Weihnachtszeit mit all den alten Traditionen begeistert feierten, und dass sie dazu beitragen müsse, dass sie hier ebenso viel Spaß hatten, als wenn sie bei sich daheim wären.

Diese strikte Anordnung hatte sie so stark beunruhigt wie alles andere zusammengenommen.

Was weiß ich schon über weihnachtliche Freuden?

Und wichtiger, wie würde ihre Mutter reagieren, der doch Abweichungen von ihrem üblichen Tagesablauf über alles verhasst waren?

Zum Dinner zog Diana ihr bestes Abendkleid an – azurblauer Krepp über einem weißen Seidenunterkleid. Nicht dass ihr Aussehen eine Rolle spielte … wichtig war einzig, dass sie sich nicht ganz zum Narren machte. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel und richtete eine verirrte Haarsträhne. Braun. Und nicht einmal das tiefe glänzende Braun wie bei Sally und ihren Kindern, sondern eine fade, unklare Farbe. Und langweilige haselnussbraune Augen, anders als die großen, klaren grauen Augen ihrer Verwandten, die beim Schwatzen und Lachen lebhaft funkelten. Die ganze Familie hatte immer etwas zu sagen und schien intuitiv zu verstehen, was die anderen meinten. Dauernd beendeten sie die Sätze eines Geschwisters und brachen in Kichern aus, wenn Diana, sosehr sie sich auch bemühte, das Lustige an dem Gesagten nicht verstehen konnte.

Ungeduldig stieß sie den Atem aus und wandte sich vom Spiegel ab. Die Ankunft ihrer lebhaften Verwandten hatte ihr vor Augen geführt, welch abgeschiedenes Leben sie führte. Wenn Simon noch lebte, wären sie beide dann auch so aufeinander eingestimmt, dass sie keinen Satz beenden müssten, um zu wissen, was der andere meinte?

Wenn er noch lebte, würde Mutter dann – wie Cousine Sally – ihre Kinder mit stillem mütterlichen Stolz und freudiger liebender Anerkennung betrachten, anstatt unzufrieden und vorwurfsvoll, wie sie es bei ihr zu tun pflegte? Der Schmerz, den Bruder verloren zu haben, drückte ihr das Herz ab.

Diana sah sich noch einmal in ihrem Zimmer, ihrer Zufluchtsstätte, um und straffte die Schultern. Sie durfte nicht trödeln. Mutter hatte verlangt, sie solle sie vor dem Dinner aufsuchen, damit sie gemeinsam hinuntergehen konnten. Sie trat auf den Gang, schloss die Tür hinter sich und keuchte erschreckt auf, als ihr Vater dort plötzlich auftauchte. Aus dem Augenwinkel glaubte sie einen Zipfel orangefarbener Seide blitzen zu sehen, doch als sie genauer hinsah, war da nichts.

„Papa? Stimmt etwas nicht?“

„Ah … nein, mein Liebes. Nicht doch. Ich kam nur, um dir zu sagen, dass du bitte auf direktem Wege hinuntergehen sollst, um unsere Gäste vor dem Dinner zu begrüßen.“

„Aber Mama bat mich ausdrücklich, mit ihr …“

„Ich werde Mama begleiten, Diana, Lauf schon, sei ein braves Mädchen. Cousine Sally soll doch nicht denken müssen, dass wir nicht wissen, wie man seine Gäste behandelt, nicht wahr? Hmmm? Ja. Gut, gut.“

Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begab sich gemächlich zum Zimmer seiner Gemahlin. Diana schaute ihm mit großen Augen hinterher. Nach etwa zehn Schritten wandte er sich um.

„Geh!“ Er machte eine scheuchende Geste. „Beeil dich.“

Kopfschüttelnd gehorchte sie, immer noch verwirrt. Beklommen ging sie hinunter in den Salon. Genaugenommen war sie nicht wirklich schüchtern, doch die Verwandten waren so zahlreich, und sie fühlte sich ein wenig wie ein Eindringling im eigenen Heim – das machte ihr Unbehagen. Sie trat ein und verharrte am Fleck. Einzig Aaron Fleming war hier. Er sah sie an, und ihr war, als schlüge ihr Herz einen Purzelbaum. Tief atmete sie ein und raffte ihren Mut zusammen. Sie mochte ihm ja in ihren Träumen die Rolle des edlen Ritters zugeteilt haben, aber damals war sie jung und leicht zu beeindrucken gewesen. Von seinem guten Aussehen hatte sie geträumt – nicht von ihm, von dem Menschen Aaron. Und der hatte sie bisher noch nicht beeindruckt, wie stattlich der Mann auch in seinem blauen Frackrock, der cremefarbenen Weste und den schmalen Pantalons aussah.

„Guten Abend, Sir“, begrüßte sie ihn förmlich. Sie konzentrierte sich ganz darauf, gelassen zu einem der beiden Sofas zu schreiten, wobei sie seinen Blick, als sie den Raum durchquerte, deutlich auf sich haften fühlte. Ja, ihr sträubten sich sogar die kleinen Härchen in ihrem Nacken. Angestrengt suchte sie ihre Anspannung zu dämpfen und auch die höhnische innere Stimme, die sie erinnerte, dass Aaron an die modischsten Damen des ton gewöhnt war. „Ist Cousine Sally schon auf dem Weg?“

Er zog die dichten Brauen zusammen. „Eigentlich ja. Sie muss aufgehalten worden sein. Wir waren bereits im Korridor, da ging sie noch einmal zurück in ihr Zimmer, um ein Taschentuch zu holen, und sagte, ich solle einfach schon vorgehen.“

Diana setzte sich, doch Aaron blieb stehen und schaute immer wieder zur Tür. Er wirkte so befangen, wie sie sich fühlte. Der Gedanke beruhigte sie. Nach einer Weile räusperte er sich.

„Da wir verwandt sind – wenn auch sehr entfernt nur –, sollen wir nicht auf Förmlichkeiten verzichten?“

„Förmlichkeiten, Sir? Ich … ich glaube, ich verstehe Sie nicht.“

Sir. Sie … du sagst ‚Sir‘. Könntest du mich nicht Aaron nennen und ich sage Diana – oder Cousine Diana, wenn du denn darauf bestehst?“

Er lächelte, und man sah kräftige, regelmäßige Zähne, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Diana stockte der Atem. Er war so … maskulin . Kein Mann aus der Nachbarschaft konnte es mit ihm, was Aussehen und Gestalt anging, aufnehmen.

„Ich hörte“, fügte er hinzu, „dass du und meine Geschwister euch schon beim Vornamen nennt, also sollte es doch keine Einwände geben.“

Diana überlegte. Sie nahm an, ihre Mutter könnte etwas dagegen haben, doch sie selbst pflichtete ihm durchaus bei. Es wäre nicht überzeugend, ihn anders zu behandeln als den Rest seiner Familie.

„Ich habe keine Einwände, S… äh, Aaron. Du kannst mich gern Diana nennen.“

Erneut trat Schweigen ein, bis Aaron, mit der Miene eines Mannes, der wider besseres Wissen handelt, sagte: „Mir ist klar, dass unser Besuch hier für dich schwierig sein muss, Diana …“

„Schwierig?“ Fest verschränkte sie die Hände auf dem Schoß. „Inwiefern?“

„Nun …“, Aaron ging ein paarmal auf und ab, ehe er sich ihr gegenüber niederließ, „… weil ich der Erbe deines Vaters bin.“

Er sah sie durchdringend mit seinen grauen Augen an, und Diana, wohl wissend, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnte, konzentrierte sich lieber auf seinen Mund.

Schwierig? Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Du arroganter Teufel.

Aber sie konnte einfach nicht übersehen, wie schön geschwungen seine Lippen waren und wie diese Lippen seine ansonsten harten Züge milderten.

„Ich würde nicht wollen, dass deine Mutter sich … schutzlos fühlt, sollte dein Vater …“ Er presste kurz die Lippen zusammen. „Entschuldige, das war unsensibel. Aber ich verstand es so, dass seine Gesundheit in den letzten Monaten zu wünschen übrig ließ.“

Seine Worte schreckten sie auf. Hatte sie doch die ganze Zeit bewundernd seinen Mund angestarrt! Sie runzelte die Stirn. „Seine Gesundheit? Wie kommst du darauf? Es geht ihm sehr gut, außer dass er immer viel zu lange über seinen Büchern hockt.“

„Verzeih mir. Ich … ich muss da etwas falsch verstanden haben. Ich dachte … das heißt, meine Mutter …“ Sie sah, wie seine Brust sich weitete, da er einen tiefen Atemzug nahm. „Ich hoffe, meine Geschwister waren heute Nachmittag nicht zu anstrengend. Ich hörte, du hast sie ausgiebig herumgeführt.“

Mühsam ihr Lächeln wahrend überlegte Diana, wie sie antworten sollte, ein wenig in Sorge, dass sie das Richtige sagte.

Völlig überanstrengt war ich nicht“, entgegnete sie schließlich, die Wahrheit wählend, anstatt eine Plattitüde von sich zu geben. „Wenn es mich auch eine Weile kostete, mir zu merken, wer wer ist.“

„Es geht besser, wenn du dir vergegenwärtigst, dass ihre Namen in alphabetischer Reihenfolge sind.“ Er grinste, und sein Blick erwärmte sich, während er über seine Familie sprach. „Eliza, Frances, George, Harry, Isabel und Joseph.“

„Oh!“ Sie beugte sich vor. „Das war mir nicht aufgefallen, obwohl ich doch deine Familie und die Namen der Kinder schon mein Leben lang kenne. Das ist höchst …“ Entsetzt über das, was sie beinahe gesagt hätte, brach sie den Satz ab.

„Das ist höchst seltsam?“, soufflierte Aaron ihr.

„Ich wollte nicht unhöflich sein. Deine Mutter …“

„Meine Mutter sieht das genauso“, warf er ein. „Mein Vater hatte die Idee. Er behauptete, so könnte er sich uns alle besser merken. Meine Mutter hätte eins der Mädchen gern Rachel genannt, aber wenn Papa sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte …“ Aaron wirkte nun traurig. „Die Kinder mit den Anfangsbuchstaben B, C und D starben noch im Säuglingsalter.“

Diana fühlte zutiefst mit ihm. „Das tut mir leid.“

„Ich kann mich kaum an sie erinnern, aber ich war sehr froh, als dann Eliza kam. Obwohl natürlich nicht ganz so froh, weil sie ein Mädchen war.“

Er zögerte, und abermals war Diana sich bewusst, dass er sie eindringlich betrachtete. Verbissen sah sie auf ihre Hände nieder.

„Dein Bruder muss dir sehr fehlen.“

Diana schluckte schwer. Das stimmte, doch sie wollte weder über Simon noch über ihre Gefühle sprechen. Besonders nicht mit Aaron. Ihr wurde eine Antwort erspart, denn die Tür öffnete sich, und Eliza und Frances kamen herein, gefolgt von George.

„Diana! Hier bist du! Siehst du, Eliza, ich sagte doch, sie würde mittlerweile unten sein. Ich wusste , Mama hatte unrecht.“

Frances, die ein hübsches rosa Popelinkleid trug, ließ sich neben Diana auf das Sofa fallen.

„Bitte kritisiere Mama nicht, Frances, das steht dir nicht an.“ Eliza folgte ihrer Schwester. „Und denke daran, wir sind nicht zu Hause. Wir sind hier zu Gast. Wenn du ernstlich im Frühling debütieren willst, musst du deine unglückselige Neigung unterdrücken, erst zu reden und dann zu denken.“

Frances schmollte. „Immer tadelst du mich. Du bist schlimmer als Mama.“ Dann wandte sie sich an Diana. „Ich habe ein Geschenk für dich, Diana.“ Sie streckte ihr die Hand hin, in der sie einen hübschen Schildpattkamm hielt.

„Oh, aber den kann ich unmöglich annehmen …“

„Doch, das kannst du!“ Frances steckte ihr den Kamm mit einer flinken Geste ins Haar. „Da! Ich wusste, er würde dir viel besser stehen als mir. Mein Haar ist so dunkel und fade und gewöhnlich . Darin sieht man ihn kaum, wohingegen deine Haarfarbe so apart und warm ist … wie … wie Zimt! Sie hebt den Kamm wunderbar hervor. Findest du nicht auch, Aaron?“

Aaron, der sich auf die andere Seite des Kamins zurückgezogen hatte, wo er sich gedämpft mit George unterhielt, runzelte die Stirn. „Was finde ich auch, Frances?“

Diana errötete heiß; am liebsten wäre sie hinter dem Sofa verschwunden. Frances’ Kompliment hatte sie sehr gefreut, doch sie stand nicht gern im Mittelpunkt, noch legte sie Wert darauf zu hören, was Aaron über ihr Haar dachte.

„Frances! Du bringst Diana in Verlegenheit“, zischte Eliza. Lauter sagte sie: „Es ist nichts, Aaron. Nur Frances und ihre kindischen Spielchen.“

Kindisch …?“

Eliza beugte sich über ihre Schwester und packte sie beim Handgelenk. „Möchtest du, dass ich deinen ehrgeizigen Wunsch, nächstes Jahr zu debütieren, unterstütze oder nicht?“

Wütend funkelte Frances sie an. „Das weißt du doch!“

„Na, dann empfehle ich dir, sei still. Sofort!“

Eliza verdrehte die Augen und schaute zu Diana, die ihr ein Lächeln schenkte, dankbar für deren Eingreifen. Sie kam sich vor, als wäre sie in einen Wirbelsturm geraten, doch ein Blick auf Frances’ trübe Miene weckte sofort ihr Mitleid, und sie tätschelte dem jüngeren Mädchen die Hand.

„Vielen Dank für den Kamm, Frances, und für das Kompliment über meine Haare.“

„Komm, schau in den Spiegel.“ Frances sprang auf und zog Diana vom Sofa hoch und zum Spiegel über dem Kaminsims.

Prüfend drehte Diana den Kopf hin und her, um den Kamm besser sehen zu können. Frances hatte recht. Ihr Haar hob sich sehr hübsch von dem dunklen Braun des Schildpatts ab.

„Diana!“

Lieber Himmel! Es sieht Mutter ähnlich, mich zu erwischen, wie ich mich im Spiegel bewundere.

Sie fuhr herum, sah aus dem Augenwinkel, dass Aaron sie beobachtete – mit einem Ausdruck, den sie lieber … mitfühlend … als mitleidig nennen wollte.

4. KAPITEL

A aron sah, wie eine zarte Röte Dianas Wangen überzog, die ihren Teint strahlen ließ und sie von einem anziehenden Mädchen in eines verwandelte, das absolut umwerfend war. Wieso war ihm das nicht aufgefallen, als er zuvor mit ihr gesprochen hatte? Es war Schwerstarbeit gewesen, mit ihr, die anscheinend jedes Wort, das sie sprach, sorgsam abwägte, eine Unterhaltung in Gang zu halten. Es hatte ihm seinen ersten Eindruck von ihr in Erinnerung gerufen – eine Katze, distanziert und nur mühsam in eine Freundschaft zu schmeicheln. Mit einer Mutter wie der ihren jedoch sollte man ihr vielleicht ihre Vorsicht verzeihen.

„Mutter.“ Sofort war Diana an der Seite ihrer Mutter, führte sie zu einem Sessel neben dem Kamin.

„Nicht hier, Diana. Die Wärme ruiniert meinen Teint.“

Aaron unterdrückte den heftigen Impuls, seine Cousine zu verteidigen. Lady Lavenham war seit seinem Besuch vor ein paar Jahren wenn möglich noch fordernder geworden. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ging ihn eigentlich nichts an, dennoch wünschte er sich heftig, Diana würde etwas mehr Rückgrat zeigen und sich ihrer Mutter widersetzen. Die Frau konnte mit ihren Befehlen und anspruchsvollen Bedürfnissen manchen Kommandeur aus seiner Militärzeit übertreffen.

Mit Dianas Eltern war auch seine Mutter eingetreten, und Aaron fing ihren Blick auf. Angesichts ihres lieben Lächelns dankte Aaron Gott, dass nicht Cousine Venetia sondern sie seine Mutter war.

„Wo warst du, Diana?“, verlangte ihre Mutter zu wissen, kaum dass die Tochter ihr zu einem Platz weiter vom Feuer entfernt verholfen und ihr sorgsam einen Schal um die Schultern gelegt hatte. „Ich sagte dir doch ausdrücklich, dass du dich mir widmen solltest, ehe du nach unten gehst.“

Lavenham, der hinter seiner Gattin stand, legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Meine Liebe, ich bat Diana, frühzeitig hinunterzugehen, damit unsere Gäste sich nicht vernachlässigt sehen.“

„Ich wünsche wirklich, dass du meine Anordnungen nicht abänderst, ohne es mit mir abzusprechen. Es ist höchst echauffierend, anstatt Diana dich an meiner Tür vorzufinden.“

Mama nahm einen Platz neben Cousine Venetia ein, die wie schon zuvor ganz in Schwarz gekleidet war. Aaron hatte von seinem Kammerdiener Giggs erfahren, dass sie Jahr für Jahr den gesamten Dezember hindurch Schwarz trug, zum Zeichen der Trauer um Simon. Neben Venetia strahlte seine Mama geradezu in ihrer Robe aus orangefarbener Seide, ihrem Lieblingskleid.

„Diana nimmt uns alle sehr herzlich auf, Venetia“, sagte sie gerade. „Sei stolz; du hast sie zu einer so reizenden jungen Dame erzogen.“

Abermals färbten sich Dianas Wangen rosig, und ihr Haar schimmerte im Kerzenschein. Frances hatte recht. In Dianas Haar kam der Kamm prächtig zur Geltung. Aaron hatte vorhin vorgegeben, nicht gehört zu haben, dass seine Schwester um seine Meinung gebeten hatte – er war noch nicht bereit, seiner Cousine Komplimente zu machen. Doch er war bereit zuzugeben, dass er nicht so rasch urteilen durfte. Diana hatte den Nachmittag mit seinen Schwestern verbracht, und sie war sichtlich aufgetaut, als Eliza und Frances den Salon betraten. Mama hatte recht: Er musste ihr Zeit lassen, auch ihm gegenüber ihre Hemmungen abzulegen.

In diesem Moment platzten die beiden Knaben zusammen mit Isabel in den Raum und übertönten mit ihrem lärmenden Auftritt jedes weitere Wort zwischen Lavenham und Mama. Die drei, alle mit ordentlich gekämmtem Haar, waren ungewöhnlich sauber und adrett. Harry und Joseph schauten zwar beide recht resigniert drein, doch Isabel strahlte. Aaron schlenderte zu ihnen, um herauszubekommen, was sie im Schilde führte.

„Aber gar nichts!“ Unschuld im Blick, sah sie zu Aaron auf.

Da ihr Zwillingsbruder ein Prusten unterdrückte, packte Aaron ihn beim Ohr. „Komm, Harry, teil doch den Spaß mit uns!“

„Aua!“, rief der Junge gedämpft. „Lass los!“

Aaron bemerkte, dass Diana mit großen Augen zu ihm blickte. Sie glaubte doch nicht etwa, dass er Harry wirklich wehtat? Wie lächerlich! Er ignorierte sie und beugte sich zu seinem Bruder. „Nur, wenn du mir sagst, was los ist“, flüsterte er ihm ins Ohr.

„Isabel bildet sich ein, sie wäre eine Dame“, meldete Joseph sich. „Es macht ihr Spaß, sich herauszuputzen und ihr Dinner mit euch im Speisesalon zu essen, aber ich und Harry …“

„Harry und ich “, korrigierte Aaron. „Was bringen sie euch eigentlich in der Schule bei?“

„Harry und ich würden lieber oben im Kindertrakt essen.“

Das ist alles?

Zufrieden, dass sie keinen Schabernack im Sinn hatten, schenkte Aaron seiner kleinen Schwester ein Lächeln. „Du siehst heute Abend sehr hübsch aus, Issy“, lobte er. „Hübsch genug, um jeder vornehmen Tafel zur Zierde zu gereichen.“

Erfreut sah er, dass sich die Wangen seiner Schwester ob seines Kompliments sanft röteten. Seit er sie zuletzt gesehen hatte, war sie ein gutes Stück gewachsen. Er schaute zwischen Isabel und Harry hin und her. Tatsächlich überragte sie ihren Zwilling schon um ein paar Zoll. Doch er würde es nicht erwähnen. Der arme Harry wäre peinlichst berührt. Wie gut er selbst sich noch an jene kritischen Jahre zwischen Kindheit und Jünglingszeit erinnerte!

Er nahm wieder den Platz neben seiner Mutter ein, neugierig, zu beobachten, was sich zwischen Diana und ihrer Mutter abspielte. Besaß sie überhaupt ein wenig Feuer, oder kapitulierte sie immer ohne Gegenwehr vor den Forderungen ihrer Mutter?

„Ich danke dir“, flüsterte seine Mama. „Isabel fühlt sich von ihren Brüdern ausgeschlossen.“ Sie seufzte. „Sie wird im Handumdrehen eine junge Dame sein.“

Wie hatte Mama nur nach dem Tod seines Vaters die Erziehung der jüngeren Kinder heil überstanden? Sein Gewissen regte sich, und damit das nagende Schuldgefühl. Vielleicht hätte er häufiger daheim sein sollen, um sie zu unterstützen, anstatt, seit er die Garde verlassen hatte, nur seinem Vergnügen zu leben.

Er hauchte einen Kuss auf ihr dunkles Haar, und es gab ihm einen Stich, als er die silbernen Strähnen darin bemerkte.

„Ooh!“

Das jämmerliche Stöhnen ließ Aaron von der Platte mit Backwerk aufblicken, von der er sich gerade bedienen wollte. Am anderen Ende der Tafel hatte Cousine Venetia eine zarte Hand an ihre Stirn gehoben. Ihre Lider flatterten.

„Diana“, hauchte sie mit bebender Stimme. „Hilf mir hinauf in meine Räume.“

Seine Mutter erhob sich. „Ich werde dir helfen, Venetia. Wir sollten den jungen Leuten Gelegenheit geben, einander besser kennenzulernen.“

„Ach, wirklich?“ Hektische rote Flecken erschienen auf Venetias Wangen. „Danke für deine Rücksichtnahme, Sally, doch Diana kennt meine Bedürfnisse am besten. Komm, Diana.“

Aaron sah zu, wie Diana, ihre Miene unergründlich, aufstand und um den Tisch herum zu ihrer Mutter ging. Er sah auch den ärgerlichen Blick, den seine Mutter Lavenham zuwarf, der unverwandt auf seinen Teller starrte, anscheinend ohne wahrzunehmen, wie seine Gattin mit seiner Tochter umging. Wie oft schon hatte eine solche Szene stattgefunden? Sosehr ihn Dianas zurückhaltende Art vorher auch gereizt hatte, empfand Aaron nun doch Mitgefühl für sie. Welche Chance hatte sie, sich den Forderungen ihrer Mutter zu widersetzen, wenn ihr Vater das Schauspiel, das sich um ihn abspielte, völlig ignorierte? Und gerechterweise musste er sich fragen, wenn er an Dianas Stelle wäre, würde er nicht auch auf ein ruhiges Leben setzen, anstatt permanente Konfrontation zu riskieren? Seit vielen Jahren war dies ihr Leben. Ihm fiel wieder ein, dass er sie bei ihrem ersten Zusammentreffen als kleine braune Maus abgetan hatte, und erneut stach ihn sein Gewissen. Damals war ihr Bruder gerade einmal sechs Monate tot, ihre Mutter – erinnerte er sich – war immer noch ganz außer sich, und ihr Vater hatte sich einfach in sich selbst zurückgezogen.

Was gab mir das Recht, das Verhalten eines jungen Mädchens so kritisch zu beurteilen?

Es war keine Entschuldigung, dass er damals selbst kaum mehr als ein Jüngling war – jetzt war er ein Mann und immer noch bereit, sie zu verurteilen, anstatt sich um Verständnis für sie zu bemühen. Die Reue brachte ihn dazu, eine versöhnende Bemerkung zu machen.

„Du wirst dich hoffentlich bald wieder zu uns gesellen, Diana“, sagte er. „Meine Mutter hat recht, wir sollten alle besser miteinander bekannt werden, wenn wir die Weihnachtszeit mit all ihren Freuden genießen wollen.“

Diana warf ihm einen rätselhaften Blick zu. „Danke, Aaron. Ich komme zurück, sobald es mir möglich ist – wenn Mutter versorgt ist.“

Sie geleitete ihre Mutter hinaus. Mama tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, murmelte: „Entschuldigt mich“, und folgte ihnen. Aaron wunderte sich, warum seine Mutter, wie es schien, so versessen darauf war, Zeit mit Cousine Venetia zu verbringen.

„Diana!“ Venetias Rüge hörte man noch im Salon. „Pass doch auf, was du tust. Beinahe hättest du mich gegen das Geländer gedrückt.“

„Tut mir leid, Mutter.“

Im Geiste schüttelte Aaron den Kopf. Diana war kein Kind mehr, warum nahm sie den Vorwurf hin, wenn doch Cousine Venetia mit zwei gesunden Augen gesegnet war und selbst deutlich sehen konnte, wohin sie ihre Schritte lenkte? Aufseufzend schaute er sich an der Tafel um und erinnerte sich, wie Venetia vor dem Essen kritisiert hatte, dass die jüngeren Familienmitglieder am Dinner teilnehmen sollten. Entschieden hatte sie die Auffassung geäußert, dass Kinder – und dazu hatte sie sehr zu dessen Verdruss auch George gerechnet –, ihre Mahlzeiten im Kindertrakt zu sich nehmen sollten. Mit vereinten Kräften hatten Lavenham und Mama sie überzeugt, dass besonders in der Adventszeit die Familie gemeinsam speisen solle. Diana hatte sich nicht dazu geäußert, und zu dem Zeitpunkt schien es Aaron ein Wunder, dass sie sich nicht auf die Seite ihrer Mutter geschlagen hatte.

Wenn seine Famil...

Autor

Janice Preston
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Die öffentliche Bibliothek in ihrem Heimatort nahe der walisischen Grenze war der Ort, an dem Catherine George als Kind in ihrer Freizeit meistens zu finden war. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Mutter, die Catherines Lesehunger förderte. Zu einem Teil ist es sicher ihrer Motivation zu verdanken, dass Catherine George...
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