Winterzauber in den Highlands

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Eine reglose Schönheit im Schnee! Entschlossen zügelt Iain MacGillivray sein Pferd und bringt die hilflose Fremde in eine schützende Hütte. Mit der Wärme seines nackten Körpers haucht er ihr wieder Leben ein - doch mit dem Feuer, dass Lady Alanna McNabb in ihm entfacht, als sie endlich die Augen aufschlägt, hätte er nie gerechnet! Dabei darf der breitschultrige Laird seinem aufflammenden Verlangen nicht nachgeben: Die Frau, die er zum Weihnachtsfest heiraten soll, wartet auf seiner Burg! Doch plötzlich will er nur noch Alanna. Selbst wenn das zu verhängnisvollen Kämpfen mit ihrem Clan führt, scheint kein Preis zu hoch, sie zu besitzen …


  • Erscheinungstag 10.11.2017
  • Bandnummer 99
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768201
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Craigleith Castle, neunzehn Tage vor Weihnachten

Komm schon, Fiona! Es ist die Jahreszeit für Magie“, sagte Lady Elizabeth Curry zu ihrer schottischen Cousine und drückte Fiona MacGillivray ein kleines Bündel getrockneter Kräuter in die Hand. Die beiden knieten in der Bibliothek von Craigleith Castle vor dem Feuer. Elizabeth hielt ihre eigenen Kräuter hoch. „Siehst du? Wie das hier. Wickle eine Locke deines Haares um das Bündel, sprich die Worte und wirf es mitten ins Feuer.“

Fiona betrachtete die zerbröselnden grauen Blätter in ihrer Hand und krauste die Nase über den scharfen Geruch.

„Bist du sicher, dass es funktioniert? Ich bin keine Engländerin. Außerdem kann sich Magie in eine Richtung entwickeln, mit der man nicht gerechnet hat. Die alte Annie sagt …“

„Die alte Annie!“, spottete Elizabeth. „Was weiß die schon von wahrer Liebe? Sie muss mindestens hundert Jahre alt sein.“

Fiona schaute zur Tür, doch die blieb geschlossen.

„Annie hat das Zweite Gesicht“, flüsterte sie. „Und sie kennt sich besser mit Magie aus als irgendjemand sonst. Ich habe einmal gesehen, wie sie ein Schaf geheilt hat, indem sie …“

Elizabeth schnaubte. „Hier geht es um Liebe, nicht um Schafe! Mach schon! Was kann es schon schaden, wenn man es weiß?“ Sie zog eine Nähschere aus der Tasche und hob die Brauen.

Fiona betrachtete das erwartungsvolle Gesicht ihrer Cousine, das im Widerschein des Feuers golden wirkte. Über dem restlichen Zimmer lagen die dichter werdenden Schatten des Winternachmittags. Im Dezember wurde es früh dunkel, und Annie hatte vorhergesagt, dass der Winter in diesem Jahr früher kommen werde als sonst.

„Sollten wir nicht draußen im Wald um ein Feuer herumtanzen oder etwas in der Art?“, fragte Fiona und hielt still, als Elizabeth ihr vorsichtig eine Locke abschnitt.

„Draußen friert es!“, protestierte Elizabeth. „Warum sollte man es nicht in der Bibliothek des Earls machen können?“

„Ist der Zauberspruch so wirklich richtig? Annie sagt, ein Zauberspruch muss korrekt ausgeführt werden, sonst glückt er nicht“, sagte Fiona. Elizabeths Stirn furchte sich für einen Moment und wurde dann wieder glatt.

„Was kann schon schiefgehen? Es ist ja keine schwarze Magie. Für den Zauberspruch muss man zur Sommersonnenwende Kräuter sammeln, sie trocknen, mit einer Locke deines Haars zusammenbinden und am Nikolaustag verbrennen. Das ist heute. Solange die Worte von Herzen kommen, wird dein Wunsch wahr.“

Fiona schloss die Hände fest um das Bündel. Der Geruch von Lavendel war stärker als der Torfrauch des Feuers. So ein bisschen Lavendel hatte nichts Bedrohliches. Trotzdem zögerte sie.

„Du zuerst“, sagte sie.

Elizabeth warf ihr Bündel ins Feuer.

„Zeig mir meine wahre Liebe und schick sie mir zur Weihnachtszeit!“, sagte sie inbrünstig. Die Flammen machten sich über Elizabeths Gabe her, flammten mit einem hungrigen Zischen auf und verschlangen den Leckerbissen.

Die Mädchen beugten sich vor, um ein Zeichen in den Flammen zu erspähen.

„Hast du etwas gesehen?“, flüsterte Fiona.

Elizabeth verzog das Gesicht und blinzelte.

„Nichts, das man für die wahre Liebe von jemandem halten könnte. Nun du!“

Fiona wickelte ihr Haar um das Bündel. Sie holte tief Luft und warf es mitten ins Feuer.

„Zeig mir meine wahre Liebe und schick sie mir zur …“ Sie zögerte. „Muss es unbedingt Weihnachten sein? Warum nicht Frühling oder nächsten Sommer?“

Elizabeth stöhnte verzweifelt auf, während das Feuer den zweiten Leckerbissen verschlang.

„Jetzt ist es verbrannt. Nun musst du auf den Frühling warten.“

Draußen frischte unvermittelt der Wind auf, und die Fenster klapperten. Ein Windstoß schlüpfte unter der Tür hindurch und durch den Rauchfang und senkte die Temperatur im Zimmer. Der Kamin keuchte, sog am Feuer, ließ die Flammen zischen und hüpfen, zog sie nach oben und brach scharfe rote Funken ab, die einen Moment lang im Russ hingen und funkelten, bevor der eiskalte Atem des Windes sie davontrug. Das Feuer seufzte und sank besiegt in sich zusammen; die Flammen flackerten nervös.

Die Mädchen sahen sich mit aufgerissenen Augen an.

„Was war das?“, fragte Elizabeth. „Was bedeutet das?“

Draußen heulte wieder der Wind. Er klang hell und wild. Fiona zog sich den Schal um die Schultern und stand auf, um die Kerzen anzuzünden. Ihr Licht vertrieb die Schatten in die hintersten Ecken, hinter das Sofa und die Stühle. Elizabeth trat ans Fenster.

„Meine Güte, hier in den Highlands ändert sich das Wetter aber rasch. Vorhin hat es noch nicht geschneit, oder?“

Fiona sah hinaus. Der Schnee war plötzlich gekommen. Schneeflocken rasten wie wild über die braune Landschaft auf die Burg zu, um sich in eisiger Wut gegen die Fenster und Mauern zu werfen. Sie klapperten wie die Klauen eines wütenden Lebewesens, das dringend hineinwollte. Fiona zog sich der Magen zusammen. Vor einer Stunde war keine einzige Wolke am Himmel gewesen. Sie sah wieder das Feuer an. Es brannte ruhig im Kamin und schien den Sturm, der draußen wütete, nicht wahrzunehmen. Sie schluckte. Die Kräuter und der Spruch … Sicher war es unmöglich.

Elizabeth starrte wie hypnotisiert von den dicker werdenden Flocken aus dem Fenster.

„Der Schnee! Es ist Weihnachtszauberei! Schau, der Garten ist schon fast davon bedeckt.“

Fiona setzte sich neben ihre Cousine. Der erste Schnee war immer wunderschön und irgendwie magisch. Es war, als hätten die Menschen im Laufe des Jahres vergessen, wie Schnee aussah. Mehr war sicher nicht daran.

Sie starrte fasziniert nach draußen, wo die Schneeflocken komplizierte Figuren in der Luft tanzten.

Zeig mir meine wahre Liebe und schick sie mir zur Weihnachtszeit.

Draußen, vor den alten Mauern von Craigleith, vereinten sich die Funken in der zunehmenden Dämmerung mit den Schneeflocken in einem wilden Tanz um den spitzen Burgturm. Einmal, zweimal und noch einmal.

Dann flogen sie übers Moor davon und jagten den Wind.

1. KAPITEL

Craigleith Moor, neunzehn Tage vor Weihnachten

Wie schrecklich, am Tag vor deiner Hochzeit zu erfrieren!

Alanna McNabb sah sich um und begriff, dass sie sich verirrt hatte. Schlimmer noch, plötzlich war ein Unwetter heraufgezogen. Noch vor weniger als einer Stunde – oder waren es zwei? – war der Himmel zwar grau wie Blei, aber klar gewesen. Sie war durch die Hügel gewandert, die ganz dünn mit Schnee bestäubt waren wie ein Hochzeitskuchen, den jemand vorsichtig mit Puderzucker bestreut hatte. Dann waren Wind und Schnee außergewöhnlich wild über den Rand der Berggipfel gestürmt, hatten Erde und Himmel ausgelöscht und waren wie ein heimtückischer Raufbold, der auf Ärger aus ist, über Alanna hergefallen.

Der Sturm hatte ihr die Haube vom Kopf gerissen und weggeweht, ihr die Wangen fast wund geschlagen und ihr den Umhang um die Beine gewickelt, sodass Gehen fast unmöglich war, auch wenn der Wind sie vor sich herschob.

Orientierungspunkte verschwanden hinter einem dicken weißen Vorhang, und sie begann sich zu fürchten. Das hier sollte nur ein kurzer Gang durch die Hügel sein, eine Gelegenheit zum Nachdenken, um ihren Kopf vom frischen Wind klären zu lassen und sich mit den Ereignissen des nächsten Tages zu arrangieren. In ihrem Ankleidezimmer auf Dundrummie Castle hing ihr hellblaues Hochzeitskleid. Die Köche waren in Aufruhr und buken Kuchen und Pasteten für das Hochzeitsfrühstück. Ihre Mutter stand vor dem Spiegel und nahm die letzten Änderungen an ihrem eigenen Kleid vor, und ihr Bräutigam, der Marquess of Merridew, war unterwegs.

Er würde an diesem Nachmittag auf Dundrummie Castle ankommen. Sie musste dort sein, um ihn zu begrüßen. Sie sah sich wieder in der leeren weißen Welt um. Würde er sich sorgen, wenn sie zu spät kam? Sie atmete tief ein und spürte, wie der Wind ihr die Luft aus den Lungen drückte, ihr den Atem auf ihren Lippen gefrieren ließ, und wusste, dass sie sich auf jeden Fall verspäten würde. Er würde über die Verspätung irritiert oder wütend oder erschrocken sein. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr Verlobter reagieren würde, weil sie ihn kaum kannte. Sie drehte sich um, und der Wind tat dasselbe, drehte sich in einem Kreis um sie, hielt sie fest und ließ sie nicht entkommen. Wenn sie ihre Spuren zurückverfolgte und denselben Weg zurückging, den sie gekommen war, würde sie bestimmt zu Hause sein, bevor jemandem auffiel, dass sie weg war. Aber wo war der Weg?

Der Schnee war so weiß, dass ihr die Augen schmerzten. Die eisige Luft gefror in ihrer Nase und ihrer Kehle. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie ging.

Ihre Mutter würde sich Sorgen machen, sobald sich ihre Verärgerung über ihre mittlere Tochter, die einfach so nach draußen gegangen war, gelegt hatte. Tante Eleanor würde im Flur auf und ab gehen. Ihr Gehstock würde auf die Platten klopfen, während sie auf Alannas Rückkehr wartete. Ihre jüngste Schwester würde das Schlimmste annehmen. Ihre Familie würde sich zuraunen, Alanna verhalte sich normalerweise nicht impulsiv, was ihr Verschwinden noch schockierender machte.

Ihr Bruder Alec und seine Frau würden bei Alannas Hochzeit ebenso wenig dabei sein wie ihre ältere Schwester Megan. Sie alle würden nicht wissen, dass sie sich verirrt hatte. Alanna bezweifelte, dass Alec überhaupt etwas von der hastig geplanten Hochzeit wusste, und ihre Schwester war in England – ebenso nichts ahnend und selbst frisch verheiratet. Alanna vermisste Megans Gesellschaft sehr. Doch wäre Megan geblieben … Nun, es brachte nichts, darüber nachzudenken. Was geschehen war, war geschehen, und Megan war jedenfalls glücklich. Sogar überglücklich.

Immerhin eine von ihnen.

Alanna fasste ihre Kapuze fester und kämpfte mit dem Sturm um die Kontrolle darüber. Der Wind biss durch das dünne Leder ihrer Handschuhe und machte aus ihren Fingern nutzlose Stümpfe. Ihre Füße steckten in Halbstiefeln, die für andere Ausflüge als diesen hier gemacht waren, und die Kälte kroch wie ein Dieb durch ihren Umhang. Ihr war noch nie so kalt gewesen.

Wie weit noch? Sie erinnerte sich nicht, wie weit sie gelaufen war. Sie war durch den Obstgarten das Tal hinaufgegangen, am Loch vorbei und an den Ruinen der alten Burg von Glen Dorian. Sie war einen steilen Pfad hinaufgeklettert und hatte einen Moment atemlos dagestanden, um die Aussicht zu genießen. Die Hügel hatten sich um sie herum ausgebreitet, und der Wasserfall – wie silberne Spitze vor braunem Hintergrund, wie ein Brautschleier – hatte sich talwärts gestürzt. Bei dem Gedanken an einen Brautschleier hatte sie sich weggedreht, um den Wasserfall nicht länger ansehen zu müssen, und war weitergegangen, obwohl sie hätte zurückkehren sollen. Hatten sich da schon die Wolken zusammengebraut? Als sie das Hochmoor erreichte, war das Brausen des Wassers nicht mehr zu hören gewesen. Der Wind war frisch, aber wohltuend und reinigend gewesen.

Jetzt war er nicht mehr freundlich. Er war wütend, scharfzüngig und erbarmungslos geworden. Panik machte sich in Alannas Brust breit, ein kleines Aufflackern nutzloser Hitze. Wenn sie nur konzentriert genug durch den Schnee spähte, würde sie in der Ferne sicher Dundrummie Castle erblicken und in wenigen Minuten sicher zu Hause sein. Falls nicht, würde jemand kommen, um nach ihr zu suchen. Sie musterte hoffnungsvoll die weiße Welt auf der Suche nach der dunklen Figur eines Retters, doch sie war völlig allein. Sie unterdrückte ein erschrockenes Keuchen.

Wie dumm von ihr! Sie hatte die Burg absichtlich verlassen, ohne jemandem Bescheid zu geben, dass sie nach draußen ging. Mama hätte sie aufgehalten und gesagt, es gebe vor Lord Merridews Ankunft noch viel zu tun. Eleanor hätte darauf bestanden, dass jemand Alanna begleitete, nur für den Fall, dass … Nun, dies hier geschah. Ihr jüngere Schwester Sorcha hätte mitkommen wollen und unaufhörlich geplappert, wo Alanna doch nachdenken wollte. Natürlich nützte Nachdenken überhaupt nichts. Es gab keine Möglichkeit, die Hochzeit zu umgehen, und auch keinen Ausweg aus dem Sturm.

Oh, ihr war kalt. Der Schnee lag jetzt so hoch, dass ihre Stiefel darin versanken. Er schlüpfte über ihren Rand und ließ ihre Knöchel gefrieren, biss sich mit scharfen, eisigen Zähnen in die Haut. Wie weit noch? So ein unvermittelt losbrechender, schrecklicher Sturm würde sicher ebenso plötzlich nachlassen und ersterben wie ein Wutanfall. Sie horchte, ob sich das Heulen des Windes änderte, ob er nachließ. Doch er kreischte weiter. Sie blinzelte, fühlte das Gewicht des Eises auf ihren Wimpern, rieb es weg und unterdrückte das Bedürfnis zu weinen. Tränen würden nur gefrieren.

Sie stapfte weiter. Hinter dem nächsten Hügel lag die Sicherheit, oder war sie in einem Tal? Unmöglich zu sagen. Ihr Umhang war eisverkrustet, der Saum kratzte steif an ihren Beinen, verhakte sich in ihren Strümpfen und zerriss sie. Ihre Angst wuchs, war jetzt bedrohlicher, und sie kämpfte gegen den Drang, in Panik auszubrechen. Sie atmete ein und schmeckte Schnee, fühlte, wie die Kälte in ihre Lunge drang und in ihrem Bauch einen kalten Ball bildete. Sie konnte die Augen kaum öffnen, so stark war der treibende Schnee, der ihr ins Gesicht stach.

Die Welt war so trüb wie Leinen oder frische Milch.

Oder wie ein Leichentuch.

„Hallo!“, rief sie. Der Wind schnappte sich das Wort und riss es mit sich. „Bitte“, bat sie. Der Sturm nahm sich auch dieses Wort. Sie beugte sich vor und ging weiter, Schritt für Schritt, während der Schnee unter ihren Füßen ächzte und wimmerte und der Wind an ihren Kleidern zerrte.

Alanna sah die Rinne nicht. Sie war ebenso weiß wie alles andere. Aber plötzlich fiel Alanna rutschend zur Seite, unfähig, ihren Fall auf dem gefrorenen Abhang aufzuhalten. Sie schrie, als sie gegen etwas Scharfes, Hartes stieß und holpernd abbremste. Schmerz schoss durch ihre Knie und ließ sie aufkeuchen, während ihr Herz gegen die Rippen hämmerte. Der ganze Körper tat ihr weh. Unter dem frischen Schnee lauerten spitze Felsen. Wie gezackte Zähne spähten sie dort empor, wo Alannas Sturz sie freigelegt hatte. Es hätte sehr viel schlimmer ausgehen können, als sich die Knie anzuschlagen.

„Glück gehabt“, flüsterte sie.

Sie lag vor Schrecken und voller Schmerz ganz still und sah gen Himmel, der ebenso weiß und herzlos wie die Erde war. Sie griff nach unten, wo der Schmerz von ihrem linken Knie in den ganzen Körper ausstrahlte. Doch ihre kalten Finger waren nutzlos. Sie hob die Hand und starrte auf das Blut auf ihrem Handschuh. Sie schluckte angestrengt.

Ein Schnitt also. Oder war das Bein gebrochen? Sie versuchte, es zu bewegen, spürte sofort einen stechenden Schmerz und schrie laut auf. Die Welt veränderte sich. Der Schnee wurde zu glühend weißem Feuer. Sie spürte, wie sich der Drang, hysterisch zu lachen, in ihrer Brust ausbreitete. Das hier würde die Hochzeit gewiss verzögern. Oder würde es nur dazu führen, dass sie in ihrer Hochzeitsnacht verletzt und ramponiert war und hässlich aussah? Ihre Heiterkeit erlosch. Sie versuchte sich jetzt – wie so oft in den vergangenen Tagen – Merridew vorzustellen, über ihr, in ihrem gemeinsamen Bett, wie er seinen Körper an sie presste. Dabei fühlte sie nichts als Furcht.

Auf, sie musste aufstehen, weitergehen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu erheben. Die weiße heiße Qual presste ihr die Luft aus den Lungen, und sie fiel wieder zurück. Vielleicht war die Verletzung schlimmer, als sie dachte, oder aber sie versank einfach nur in einer tiefen Schneewehe. Sie würde sich daraus befreien müssen, sich dazu bringen müssen, auf die Füße zu kommen und loszugehen. Sie sah sich um, versuchte, sich zurechtzufinden. Doch da war nichts und niemand. Die Welt war verschwunden. Sie biss sich auf die Lippen, kämpfte gegen die Tränen und legte eine Hand aufs Herz, um das Grauen zu bezwingen, dass sie zu ersticken drohte. Ihr war kalt, und sie war so müde.

Sie legte sich hin. Sie musste sich nur ein wenig ausruhen. Dann würde sie aufstehen und ihren Weg suchen. Über ihr eilten die Schneeflocken auf sie zu, silbern vor weißem Hintergrund, hypnotisch. Jetzt kitzelten sie wie eine sanfte Liebkosung, wenn sie sich auf Alannas Haut legten. Alanna schloss die Augen.

Nur einen Moment lang wollte sie sich ausruhen. Dann würde sie aufstehen und ihren Weg nach Hause finden.

2. KAPITEL

Craigleith Castle

Fiona starrte stirnrunzelnd aus dem Fenster und wunderte sich über den wild stöbernden Schnee. Er war mit dem Wind wie ein Angreifer übers Moor, die Zäune und Nebengebäude gekommen, bevor er sich auf die Mauern und Fenster der Burg stürzte. Die Mauern bebten, hielten aber stand.

Was jenseits der Mauer lag, die den Garten umgab, konnte Fiona nicht mehr sehen. Es war, als sei der Rest der Welt weggefegt worden und habe Craigleith – und nur Craigleith – auf dem Erdboden zurückgelassen.

Sie wickelte sich den Schal enger um die Schultern und zitterte, als sie sich vorbeugte, um gegen die Fensterscheibe zu hauchen und ein Loch in die Eisblumen zu schmelzen. Ihr Bruder Ian, der Laird of Craigleith, war irgendwo da draußen im Schneesturm. Er war losgegangen, um Illa MacGillivray für ihre steifen Gelenke eine von Annies Salben zu bringen. Wie Fiona ihren Bruder kannte, würde er auf seinem Weg zwischen der Burg und Illas Haus überall haltmachen und nach den Leuten schauen, um nachzusehen, ob jemand etwas benötigte, was ihm Ian zur Verfügung stellen konnte. Er nahm Mildtätigkeit und seine Pflicht gegenüber anderen sehr ernst, sehr viel ernster als seine eigenen Bedürfnisse. Er würde sein letztes Hemd hingeben, wenn er dachte, jemand anderes brauche es. Fiona hoffte, er habe es nicht ausgerechnet heute während des Sturms getan.

Ian wäre selbst dann fortgeritten, wenn er von dem aufziehenden Sturm gewusst hätte, und hätte sich geweigert, im sicheren Haus zu bleiben, während andere sich auf seinen Besuch verließen. Bald würden die Angehörigen des Clans der MacGillivray ohne ihn auskommen müssen. Als neuer Earl of Purbrick warteten größere Pflichten auf ihn. Er hatte nicht darüber gesprochen, doch Fiona wusste, dass er sich sorgte, wie die Leute klarkommen würden, wenn er nach Shropshire in England gezogen war.

Sie sah zu ihrer Cousine hinüber. Elizabeth döste – gelangweilt und schläfrig – beim Feuer. Ein Buch lag geöffnet, aber ungelesen in ihrem Schoß. Elizabeth machte sich um gar nichts Sorgen. Sie hatte keine Ahnung, wie bang Fiona zumute war: um Ian draußen im Sturm, um die unbekannte Zukunft in England und den Sturm, dem ihr Bruder sich innerhalb der Mauern von Craigleith ausgesetzt sah.

Sie sah wieder aus dem Fenster und hielt nach ihrem heimkehrenden Bruder Ausschau. Doch das Moor war leer. Wahrscheinlich gab es keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Alle würden hocherfreut sein und sich geehrt fühlen, ihrem Bruder etwas Warmes zu essen, einen Schluck Whisky und ein Bett für die Nacht anbieten zu können. So war es Tradition in den Highlands. Es spielte keine Rolle, ob der Ankömmling ein Fremder oder der vertraute Laird Ian MacGillivray war. Trotzdem, dieses Unwetter war irgendwie anders. Die Schneeflocken glitzerten wie Kristalle, und der Wind schien etwas zu murmeln, was sie nicht recht verstand, stieß seufzend einen Zauberspruch hervor und wickelte ihn fest um die Burg.

Die Tür zur Bibliothek ging auf, und Fiona sprang in der Hoffnung, es wäre Ian, auf die Füße. Beim Anblick von Elizabeths Schwester Penelope sank ihr das Herz. Fiona beobachtete ihre zwanzigjährige Cousine, wie sie zum Kamin ging, um sich die Hände zu wärmen, und ersparte Fiona damit einen abschätzigen Blick, bevor sie Elizabeth ansah.

„Was macht ihr zwei?“, wollte Penelope wissen. Sie kniff die Augen misstrauisch zusammen.

„Im Moment gar nichts. Wir haben Zaubersprüche ausgesprochen, aber es hat nicht funktioniert“, antwortete Elizabeth. Sie setzte sich auf, griff in ihre Tasche und holte ein weiteres Kräuterbündel hervor. Sie hielt es ihrer Schwester auf der Handfläche unters Kinn, wie man einem Pferd, das einen beißen könnte, einen Apfel hinhielt. „Warum versuchst du es nicht, Pen? Ich habe ein Bündel für dich aufbewahrt. Du wickelst eine Locke deines Haars darum und sagst die passenden Worte.“

„Welche Worte“, wollte Penelope wissen, nahm das Bündel und drehte es misstrauisch zwischen den Fingern. Sie hielt es sich an die Nase und verzog das Gesicht.

„Du musst ‚Zeig mir meine wahre Liebe und schick sie mir zur Weihnachtszeit‘ sagen“, sagte Elizabeth eifrig.

Penelope drehte ihre Hand um und ließ die Kräuter auf den Teppich fallen.

„Was für ein Unsinn!“ Sie fuhr mit der Hand über ihre üppigen blonden Locken. „Warum sollte ich für so etwas meine Haare ruinieren? Ich kenne meine wahre Liebe bereits, und er ist jetzt hier. Ich muss nicht bis Weihnachten warten.“

Fiona kreuzte die Finger hinter ihrem Rücken.

„Hat mein Bruder sich dir also erklärt?“

Penelope wurde rot und hob den Kopf.

„Nein, aber es dauert nicht mehr lange. Vor Weihnachten wird es geschehen. Iain und ich werden nächstes Frühling in England heiraten, und ich werde Countess of Purbrick.“

Fiona schluckte ihre Furcht herunter. Wenn Penelope Iain heiratete, würde sie das auch zur Herrin von Craigleith machen. Armer Iain und armes Craigleith! Elizabeth beugte sich herunter, um das Kräuterpäckchen aufzuheben, und schob es mit einem aufsässigen Blick in die Tasche zurück, während sich Penelope wieder dem Feuer zuwandte.

Fiona fragte sich, ob der Spruch auch jemanden zur Weihnachtszeit wegschicken konnte. Sie wünschte sich, ihre englischen Verwandten wären nie nach Schottland gekommen, obwohl sie Elizabeth mochte, die wesentlich unterhaltsamer und weniger scharfzüngig war als ihre Mutter und ihre ältere Schwester.

Tante Marjorie hatte gesagt, Penelope zu heiraten, sei das Klügste, was Iain tun konnte! Er war ein schottischer Laird, nur ein schottischer Laird und daher einem Engländer weit unterlegen, jedenfalls nach Marjories Meinung. Doch Iain hatte gerade die englische Grafschaft Purbrick von seinem Großonkel geerbt, und Tante Marjorie und ihre Töchter waren der überraschenden Neuigkeit auf dem Fuß gefolgt. Sie waren in einer hübschen Kutsche mit dem Wappen der Purbricks in Craigleith Castle angekommen und mit Klagen über den Geruch der Highlands, die Kälte, den Regen und den baufälligen Zustand der Burg daraus herausgestolpert und hatten den Earl of Purbrick auf der Stelle sehen wollen. Es hatte etwas gedauert, um zu verstehen, dass sie Iain meinten.

Als er erschienen war, hatten Lady Marjorie und ihre Töchter vor ihm geknickst. Sie waren gekommen, um ihre Hilfe anzubieten, hatte Marjorie gesagt, und Iain dabei mit einem Lächeln bedacht, das Fiona an die fürchterliche ausgestopfte Wildkatze erinnerte, die die alte Burghalle schmückte. Marjorie hatte versprochen, Iain alle englischen Sitten und Gebräuche beizubringen, die er kennen musste, bevor er nach Süden ging, um seinen neuen Pflichten nachzukommen. Tante Marjorie hatte das in einem Ton gesagt, als besitze Iain nicht das geringste Benehmen. Sie hatte Fiona kaum angesehen, als Iain sie miteinander bekannt machte. Sie hatte einfach erklärt, dass eine gute englische Gouvernante Fiona bald in eine richtige junge Dame verwandeln würde. Allerdings könne man gegen ihr unglückseliges Humpeln nicht das Geringste tun. Vor Tante Marjories Ankunft war es nicht unglückselig gewesen.

Fiona wollte nicht in etwas verwandelt werden, was sie nicht schon war, und sie fand an Iains Manieren nichts auszusetzen. Er war sogar der netteste, mutigste Mann, den sie und alle anderen auf Craigleith kannten.

Beim Abendessen am ersten Tag ihres Besuchs hatte Tante Marjorie vorgeschlagen – eigentlich darauf bestanden –, dass Iain Penelope heiraten sollte. Penelope werde ihm eine Gefährtin und eine perfekte Countess sein, weil sie in Woodford Park, dem prachtvollen Hauptwohnsitz des Earl of Purbrick, aufgewachsen war. Penelope hatte mit ihren dichten goldenen Wimpern geklimpert und Iain süß angelächelt. Eine Weile hatte Iain nichts gesagt. Er war ein Mensch, der sorgfältig nachdachte, bevor er etwas sagte oder tat. Er hatte genug gesunden Menschenverstand besessen, um vorzuschlagen, sie müssten sich – für den Fall, dass er als Ehemann nicht nach Penelopes Geschmack war – erst einmal näher kennenlernen. Er hatte nichts darüber gesagt, ob Penelope nach seinem Geschmack war, sondern hatte ein ausdrucksloses Gesicht gemacht, sodass nicht einmal Fiona wusste, was er wirklich über seine albern lächelnde Cousine dachte. Selbst jetzt – zwei Wochen nach Penelopes Ankunft – hatte Fiona keine Ahnung. Iain war natürlich wie immer freundlich, aber der erwartete Heiratsantrag war bisher ausgeblieben.

Die Verzögerung hatte alles noch merkwürdiger gemacht. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte Tante Marjorie dafür gesorgt, dass sich Penelope – wie eine Prinzessin gekleidet, mit klimpernden Wimpern und herausgedrücktem Busen – an Iain heranmachte. Um so viel Haut zu zeigen, war es in Schottland um diese Zeit zu kühl.

„Wenn du mich fragst, hatte Iain genug Zeit, um sich zu erklären. Vielleicht tut er es nicht“, sagte Elizabeth jetzt zu ihrer Schwester. Penelope sprang schnell wie eine Katze vor und zog ihre Schwester an den Haaren.

„Natürlich wird er sich erklären. Warum sollte er nicht?“ Sie sah Fiona scharf an, die vernünftig genug war zu schweigen. „Ich bin schön und charmant. Jeder Mann, dem ich begegne, verliebt sich in mich. Iain wird es nicht anders gehen. Du wirst schon sehen: Er wird mir zu Füßen fallen und mich bitten, ihn zu heiraten.“

„Wann?“, fragte Elizabeth und rutschte aus der Reichweite ihrer Schwester, um sie nicht noch mehr zu reizen.

Nie, hoffte Fiona.

„Schon sehr bald“, sagte Penelope fest und zog sich den modischen Kaschmirschal um die Schultern. „Leg mehr Holz aufs Feuer! In diesem Witz von Burg ist es zugig. Es sind sicher Löcher in den Wänden, die so groß wie mein Kopf sind.“ Und sie war ebenso dumm wie die Steine, aus denen die Burgmauern gemacht waren, dachte Fiona. Sie ging durch den Raum und legte noch ein Stück Torf ins Feuer, denn Gästen mussten in einem Heim in den Highlands immer Ehre und Freundlichkeit erwiesen werden, selbst wenn die Gäste nicht besonders freundlich waren. Ihrer Ansicht nach konnte sich Iain keine schlimmere Frau als Penelope Curry aussuchen, und er verdiente etwas Besseres, etwas viel viel Besseres, jemanden, der ebenso freundlich und sanft und mutig war wie er.

Fiona konnte der Verlockung nicht widerstehen, Penelope auf die Probe zu stellen.

„Was willst du Iain zu Weihnachten schenken, Penelope?“, fragte sie. „Vielleicht kann ihn das dazu bringen, in dir die richtige Frau zu sehen.“

„Ein Weihnachtsgeschenk?“ Penelope sah erschrocken aus. „Macht ihr so was in Schottland?“

Aye, machen wir.“

„Was wird er mir schenken?“, fragte Penelope.

Fiona hob die Augenbrauen.

„Weihnachten geht es darum, Geschenke zu machen, jedenfalls hier in Schottland.“

Penelope hob das Kinn.

„Nun denn: Was würde er gerne haben?“

„Etwas, das von Herzen kommt“, sagte Fiona. Sie war sicher, dass Penelope keins besaß.

„Was zum Beispiel?“, fragte Penelope, die jetzt die Stirn runzelte.

Fiona hielt ihre Zunge in Zaum und lächelte. Wenn Penelope es noch nicht wusste, wenn sie mit dem Mann, den sie heiraten wollte, nicht oft genug geredet hatte, um zu wissen, was er mochte und was er nicht mochte, dann konnte, wollte Fiona ihr nicht helfen. Sie strickte an einem Schal für ihren Bruder. Die Wolle dafür hatte sie selbst gekämmt, gesponnen und gefärbt. Auch er würde – wie jedes Jahr – selbst etwas für sie machen, meistens etwas aus Holz Geschnitztes.

Wieder öffnete sich die Tür. Fiona sah hoffnungsvoll auf. Aber es war nur die alte Annie.

„Klopfen Diener in Schottland nicht an?“, fragte Penelope.

„Behandeln die jungen Leute in England die Älteren respektlos?“, gab Annie zurück. Sie sah das Mädchen so lange an, bis es als Erste wegsah.

Annie schnupperte.

„Ich rieche Mädesüß, Lavendel und Schafgarbe“, sagte sie und fixierte Fiona mit einem scharfen Blick. „Welche Art Spruch?“, fragte sie auf Gälisch.

„Ein Liebeszauber.“

„Für die da?“, fragte Annie und sah zu Penelope herüber.

Fiona schüttelte den Kopf.

„Für Elizabeth und mich“, sagte sie. Annie kicherte.

„Für so etwas bist du noch zu jung, Mädel.“ Sie warf einen Blick auf den Kamin. „Was hast du gesehen?“

„Eigentlich nichts. Funken“, sagte Fiona. Annie ging zur Feuerstelle hinüber.

„Sprich Englisch und leg mehr Holz ins Feuer, wenn du schon da bist!“, befahl Penelope. Doch Annie beachtete sie nicht.

„Nur Funken? Etwas hat den Schnee gebracht“, fuhr Annie auf Gälisch fort. „Ich habe nicht vorausgesehen, dass er kommen würde, und Sandys Ellbogen hat nicht auf die Art und Weise geschmerzt, wie er es normalerweise tut, wenn sich das Wetter ändert.“

Sie ging so nah an die Flammen heran, dass sie ihren Arisaid ankokelte. Das Feuer züngelte an den gedämpften Farben des MacGillivray-Plaids, orangerot, blaugrün und grün. Sie zeigte mit einem knochigen Finger auf die Herdstelle.

„Ah! Siehst du das Stückchen Ruß, das da am Gitter hängt?“, sagte sie auf Englisch. Elizabeth kam herüber, um es auch zu sehen.

„Ist es ein Zeichen?“, fragte Elizabeth. „Hat es mit wahrer Liebe zu tun?“

„Es bedeutet, dass wir einen Gast haben werden“, sagte Annie. „Und zwar bald.“

Fiona blickte in die vom Feuer beschienen Augen der alten Frau, sah, wie die Flammen in ihren dunklen Tiefen zurückgeworfen wurden und spürte den Schauer der Magie durch alle Glieder fließen.

„Der Schnee wird jemanden vor unsere Tür führen“, sagte Annie, verließ den Platz am Feuer und ging zum Fenster. Sie runzelte die Stirn. „Iain ist seit heute Morgen weg. Ich habe ihm gesagt, er solle sich beeilen. Inzwischen ist es fast dunkel, und er ist immer noch nicht zurück.“ Sie schaute in die weiße Leere des Parks hinaus. Fiona schlug das Herz bis zum Hals. Der Sturm war wirklich übel, und wenn sich sogar Annie Sorgen machte …

Doch Annie drehte sich zu ihr um und lächelte breit.

„Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein, Fiona. Ich sehe nicht, dass dem Laird etwas Schlimmes zustoßen wird. Außerdem kennt Iain die Hügel wie seine Westentasche. Er wird sich irgendwo unterstellen, bis sich der Sturm beruhigt hat. Ihm wird nichts passieren.“

Doch Fiona wusste, wie leicht man sich im Winter im Moor verlaufen konnte. Ohne Weiteres verlor man die Orientierung und wanderte ins Nichts. Wenn der Sturm die Wegmarken auslöschte … Fiona wollte nicht daran denken. Annie drückte ihr die Hand. Ihre knorrigen Finger waren erstaunlich stark.

„Du kannst ruhig schlafen, Mädchen. Alles wird gut“, beruhigte sie Fiona mit durchdringendem Blick.

„Wann ist das Essen fertig? Besteht die Möglichkeit, Tee zu bekommen?“, fragte Penelope. Annie warf ihr einen scharfen Blick zu, doch Fiona griff nach dem Arm der Dienerin, bevor sie die Zurechtweisung aussprechen konnte, von der Fiona wusste, dass sie Annie auf der Zunge lag. Fiona fragte sich, ob Annie Penelope in eine Kröte oder wenigstens in einen Molch verwandeln konnte. Das wäre das perfekte Weihnachtsgeschenk für Iain. Sie verbarg ein Lächeln bei diesem Gedanken.

„Komm, Annie! Ich helfe dir und Seonag beim Kochen“, sagte sie.

„In England helfen Ladies ihren Dienern nicht“, sagte Penelope, als Annie und Fiona schon bei der Tür standen.

Fiona lächelte ihre Cousine verkniffen an.

„Für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind in Schottland, Cousine, und sitzen hier wahrscheinlich fest, bis der Schnee geschmolzen ist.“

Nun waren Schreie der Bestürzung und Betroffenheit zu hören. Fiona schloss die Tür, während Penelope und Elizabeth zum Fenster eilten, um dem wütenden Sturm zuzusehen.

3. KAPITEL

Craigleith Moor

Iain MacGillivray zog sich das Plaid über das Gesicht, um sich gegen den scharfen Wind zu schützen. Der Schnee trieb ihm spitze Nadeln in die Haut, während der Sturm ständig zunahm. Seltsam, dass er ihn nicht hatte kommen sehen. Der Tag hatte gut begonnen, auch wenn Iains Stimmung alles andere als gut gewesen war. Er war in Gedanken versunken hinaus nach Craigleith Moor geritten und hatte nicht auf die bleifarbenen Wolken geachtet, die sich über den Hügeln zusammenzogen und sich rasch näherten, bis ihm der Himmel schier auf den Kopf fiel und ihm den Atem nahm.

Sein tapferes Pony stapfte – auf dem Weg nach Hause in den warmen Stall – weiter durch den Schnee. Aber die Burg war noch immer mehr als eine Stunde entfernt, zu weit weg bei diesem Wetter. Die Gefahr, in den schneebedeckten Hügeln vom Weg abzukommen, war groß. Die Orientierungspunkte verschwanden, und der Nachmittag ging mehr und mehr in Dämmerung über. Bald würde nichts mehr da sein, das Iain die Richtung wies.

Ewan MacGillivrays Hütte lag näher als die Burg. Doch Iain wusste, dass ihn dort niemand willkommen heißen würde. Ewan war seit dem Frühjahr tot und begraben und sein Cottage leer. Trotzdem bot es Schutz. Iain wäre dort in Sicherheit, bis der Sturm wieder abzog. Er sollte die Möglichkeit dankbar annehmen.

Eine gute Seite hatte das Wetter immerhin: Es bedeutete eine Gnadenfrist für ihn. Er hatte vorgehabt, sich Penelope an diesem Abend zu erklären, weil er keine andere Möglichkeit sah. Er tat es nur wegen Fiona und weil es von ihm erwartet wurde und nicht, weil er Penelope liebte oder begehrte. Das, so hoffte er, würde mit der Zeit kommen.

Der Sturm heulte in seinen Ohren und wütete mit einer Wildheit, die selbst Iain überraschte. Dabei war er in den Highlands aufgewachsen und hatte siebenundzwanzig Winter – nun, sechsundzwanzig Winter, weil er ein Jahr in England gewesen war – hier verbracht. In England hatte er entschieden, dass ihm die Highlands selbst bei einem solchen Wetter jederzeit lieber waren. Doch die Entscheidung lag nun nicht mehr bei ihm. Er hatte neue Verpflichtungen und einen englischen Titel, den er nicht wollte.

Er drückte die Fersen in die Flanken des Ponys und beugte sich über seinen Hals.

„Es ist nicht mehr weit, mein Junge, nur noch über den Hügel dort“, sagte er aufmunternd und klopfte die zotteligen Schultern des Pferdes, die jetzt dick mit Schnee bedeckt waren. Doch das Pferd scheute. Iain griff fest in die Zügel, beruhigte das Tier und blickte sich nach dem um, was es erschreckt hatte.

Rot auf weiß lag etwas im Schnee. Vielleicht die Beute eines Wolfes? Doch Wölfe war in den Highlands selten, die Jagd hatte sie fast ausgerottet. Er zog sich das Plaid vom Gesicht und schaute genauer hin. Ein Stück roten Tuchs flatterte wie eine Fahne im Wind, und als er den Umriss eines Körpers sah, den der Schnee halb begraben hatte, setzte sein Herzschlag einen Moment lang aus. Er ließ sich besorgt vom Pferd gleiten.

Er kniete sich in den Schnee und berührte die eiskalte Schulter unter dem Umhang. Die Gestalt rührte sich nicht. Iain runzelte die Stirn und drehte den Körper um. Innerlich wappnete er sich dagegen, jemanden zu sehen, den er kannte.

Er schob die rote Kapuze beiseite und sah hinunter. Er schluckte. Er kannte sie nicht, doch wer auch immer sie war, sie war sehr schön. Sie war weiß wie Eis, ihre Lippen dunkelblau. Ihre Augen waren geschlossen, und die langen, eisbedeckten Wimpern lagen auf ihren Wangen. Dunkles Haar umrahmte ihr Gesicht, weich wie Seide. Sie trug einen Kopfputz aus Eis und sah wie ein Engel aus.

Er beugte sich weiter herab, um nach Lebenszeichen zu suchen. Er fühlte den Puls an ihrem Hals und spürte ein schwaches Pochen.

„Mädchen?“, sagte er, doch sie reagierte nicht. Das Pony sah schweigend zu und hielt den Wind mit seinem Körper ab.

Iain entledigte sich seines Plaids und spürte sofort, wie der Wind durch seinen Mantel drang. Er wickelte die junge Frau in das dicke Wolltuch, hob sie hoch und drückte sie schützend gegen den Oberkörper. Sie erwachte nicht. Sie war dem Tode nahe, dachte er grimmig. Er suchte den Horizont nach dem Cottage ab. Es lag halb begraben im Schnee in der Nähe. Er konnte den Umriss des Daches und ein einzelnes Fenster ausmachen, das ihn anzublinzeln schien. Wohl wissend, dass sein Pony ihm folgen würde, ging er darauf zu.

„Am besten gehen wir rein“, sagte er zu seinem Pferd – und zu ihr, falls sie ihn hörte. Er betrachtete wieder ihr Gesicht. Es sah mehr wie das Marmorbildnis auf einem Grabmals aus als wie das einer lebenden Frau. „Woher zum Teufel bist du gekommen?“, fragte er leise.

Beim Cottage angekommen trat er die Tür auf und trug sie hinein. Er legte sie vorsichtig bei der Herdstelle nieder und deckte sie mit seinem Plaid zu. Sie lag still da, aschfahl und kalt und leblos. Er zog ihr die dünnen Handschuhe aus. Ihre Hände waren zart, die Nägel vor Kälte lavendelblau. Er rieb sie zwischen seinen Händen, doch sie erwachte auch jetzt nicht.

Er musste ein Feuer anzünden, um sie warm zu halten.

„Warte hier“, wies er sie an, obwohl sie keine Anstalten gemacht hatte zu gehen. Im Gegenteil. Er wickelte das Plaid fester um sie und zog obendrein seinen Mantel aus und deckte sie auch damit zu.

Iain legte Anmachholz in den Kamin, fand einen Korb mit trockenem Moos und Reisig und kümmerte sich um das Feuer, bis es brannte und mitten in den dunkelblauen Schatten des leeren Zimmers glühte.

Er eilte hinaus, um Torfziegel zu suchen, die – geschützt vor dem Wetter – im Anbau gestapelt sein mussten. Er brachte das Pony in den Unterstand, rieb dem Tier den schlimmsten Schnee aus dem Fell und legte ihm Heu hin. Als Iain damit fertig war, klapperten seine Zähne. Er lud sich den Torf auf die Arme und eilte um die Ecke der Hütte, wo ihn der Wind voll erwischte. Iain keuchte, während er versuchte, das Brennmaterial nicht fallen zu lassen und die Tür öffnete.

Das Mädchen lag noch genau so neben dem Kamin, wie er sie zurückgelassen hatte. Verglichen mit den leuchtenden Farben seines Plaids war ihr Gesicht weiß wie Schnee. Er legte Torf aufs Feuer und murmelte ein Gebet auf Gälisch, während er seinen Finger noch einmal auf ihren Hals legte, um den Puls zu fühlen. Ihr Herzschlag war schwach, doch spürbar. Im Dämmerlicht des Schneesturms sah er die zarten blauen Adern unter ihrer Haut. Der Schnee auf seinem Hemd begann zu schmelzen. Er zitterte. Drinnen war es fast so kalt wie draußen. Iain kniete sich neben den Kamin.

Seine Finger zitterten, als er zuerst mehr Zweige, dann mehr Torf aufs Feuer legte. Er schaute immer wieder über die Schulter zu der Frau, wollte, dass sie am Leben blieb, bis die Wärme des Feuers sie erreichte. Er blies in die Flammen, sah zu, wie sie orange wurden und die Glut stark und gleichmäßig glomm und lebendig und heiß zu knistern begann.

Er hörte die Frau leise seufzen und drehte sich um. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Aber ihr Gesicht blieb unbewegt. Er berührte ihre Wange, doch sie fühlte sich noch immer wie aus Marmor an und nicht wie die eines Menschen.

„Mädchen?“, flüsterte er wieder, doch es kam keine Antwort. Das Eis auf ihren Haaren und ihrer Haut begann zu schmelzen, und die Tropfen verwandelten sich in Diamanten. Sie glitzerten im Licht des Feuers. Sie lag schön und unbewegt da, schlafend oder schon jenseits des Schlafs.

Vorsichtig wickelte er das Plaid auf, in das er sie eingehüllt hatte, und löste den Umhang darunter. Sie trug ein schönes Wollkleid, grün und weich wie Sommergras, auch wenn der Stoff um ihren Hals nass und dort, wo der Schnee unter ihren Umhang gekrochen war, fast gefroren war. Iain runzelte die Stirn und spürte Angst in sich aufsteigen. Wie lange hatte sie draußen im Sturm gelegen? Wenn er nicht hier entlanggekommen, sondern abgebogen wäre, um es noch bis nach Craigleith zu schaffen oder einen anderen Weg genommen hätte, nur ein Dutzend Schritte rechts oder links … Er schluckte.

„Ich muss dir die nassen Kleider ausziehen, Mädchen, dich warmhalten und nach Verletzungen sehen“, murmelte er, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. Er legte die Hände um ihr Gesicht, untersuchte ihren Kopf nach Beulen, Schnitten oder Blut und fand nichts. Ihre Haare lösten sich aus dem Zopf, zu dem sie gebunden waren. Dunkle Wellen flossen wie Seide über seine Finger. Er atmete tief durch, während er nach den Perlmuttknöpfen griff, die auf der Vorderseite ihres Kleides von der Taille bis zu ihrem Schlüsselbein verliefen. Er knöpfe sie auf und öffnete das Kleid. Sie sprang nicht auf und beschimpfte ihn wegen seiner Dreistigkeit. Sie blieb still, und er betrachtete ihre Brüste. Ihre Haut über dem Spitzensaum ihrer Unterwäsche war eiskalt. Er hob sie sacht an und hielt sie in den Armen, während er ihr die Kleiderärmel herunterzog und ihr das Gewand anschließend über die Schultern bis hinab zur Taille schob.

Er bemühte sich, sachlich zu bleiben. Aber wer auch immer sie war, sie war wunderschön. Er zweifelte nicht daran, dass irgendwo ein Mann gerade verrückt vor Sorge war. Er sah auf ihre linke Hand. Es gab keinen Ehering, doch das musste nicht heißen, dass sie unverheiratet war. Er fuhr mit den Händen über ihre Arme, um nach Verletzungen zu suchen. Es gab viele Prellungen, aber gebrochen war nichts. Als er bei ihren Handgelenken ankam, fühlte er noch einmal ihren Puls, rieb ihre Hände zwischen seinen und sah düster zum Feuer hinüber, als könne er es mit seinem Blick dazu bringen, heißer zu brennen. Er legte die junge Frau auf dem Plaid ab und strich über ihre Rippen bis hinunter zur Taille, die so schmal war, dass er sie mit den Händen umgreifen konnte. Auch dort waren keine Verletzungen. Ihr Hemdchen war aus feinem Leinen und mit Weißstickerei schön verziert. Zusammengehalten wurde es von Bändern aus Satin. Sie trug kein Mieder und brauchte auch keins. Er schluckte und wandte den Blick von den hellen Brustwarzen unter dem Kleidungsstück ab. Er konzentrierte sich darauf, ihr das Kleid über die Hüften und Beine zu ziehen und bemerkte, dass das durchweichte Kleid zerrissen und blutverschmiert war. Er biss die Zähne zusammen und fürchte sich vor dem, was er finden würde.

Als er ihr linkes Bein sah, sog er den Atem scharf ein. Ein langer, oberflächlicher Schnitt verlief seitlich am Knie. Drumherum waren dunkle Prellungen und tiefe Kratzer. Die Kälte hatte verhindert, dass das Knie stark anschwoll und die Wunde hatte auch nicht stark geblutet. Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, als er ihr Bein abtastete. Sie seufzte leise, fast unhörbar. Als er ihr verletztes Knie berührte, runzelte sie die Stirn. Iain murmelte eine Entschuldigung. Er wusste, dass er ihr Schmerzen zufügte. Doch ihr Kopf bewegte sich nicht, und sie gab auch kein Geräusch mehr von sich, als er prüfte, ob ihre Knochen gebrochen waren. Er setzte sich seufzend hin und trocknete sich die Stirn. Trotz der Kälte schwitzte er. Schlimmstenfalls war ihr Knie verstaucht. Es würde höllisch wehtun, wenn sie zu sich kam. Falls sie zu sich kam.

Iain schob den Gedanken beiseite. Die Verletzung musste gesäubert und verbunden werden. Wenn die Frau aufwachte, würde das Knie anzuschwellen beginnen. Er hatte nichts bei sich, um die Schmerzen zu lindern, denn er hatte nicht damit gerechnet, sich mit etwas Schlimmerem als mit Illa MacGillivrays Klagen über ihre schmerzenden Gelenke auseinandersetzen zu müssen. Er hatte Annies schmerzlindernde Salbe bei Illa gelassen und musste nun ohne sie auskommen und dem Mädchen helfen, so gut es eben ging. Er knüpfte ihre Halbstiefel auf und zog ihr die zerrissenen, blutigen Reste der Strümpfe aus. Wo, zum Teufel, war sie hergekommen? Sie musste eine wahre Ochsentour hinter sich gebracht haben.

Respektvoll bedeckte er sie vom Hals bis zu den Schenkeln und ließ sie allein, um einen Eimer voll Schnee zu holen. Draußen war der Wind bitterkalt und ließ den Schweiß auf seiner Haut im Handumdrehen gefrieren. Er füllte Ewans alten Kessel und setzte ihn aufs Feuer. Während er darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, beobachtete er sie unablässig. Er murmelte eine Entschuldigung, als er ihr verletztes Knie wieder aufdeckte, tauchte sein Taschentuch ins warme Wasser und reinigte die Wunde. Sobald der Stoff ihr eiskaltes Knie berührte, wurde er kalt. Iain arbeitete rasch, machte das Tuch dann wieder nass und band es vorsichtig um ihr Knie. Um eine Schwellung zu verhindern, brauchte man eigentlich einen richtigen Verband – und Eis. Doch er wagte nicht, ihre Körpertemperatur weiter zu senken.

Er runzelte die Stirn. Sie war immer noch bewusstlos. Das Feuer hatte die schlimmste Kälte im Zimmer vertrieben, doch ihre Gliedmaßen waren wie Wachs, ihr Körper unbewegt wie Eis. Er legte mehr Torf aufs Feuer und hängte ihre Kleider zum Trocknen über ein Seil, das zwischen den Dachsparren angebracht war. Wieder untersuchte er sie. Ihre Haut war kalt wie der Tod, sie atmete schwach, ihr Puls war wie ein Flüstern unter der Haut. Immer noch waren ihre Augen geschlossen. Er streichelte ihr über die Stirn, tätschelte ihre Hände, versuchte sie zu wecken. Doch sie reagierte nicht.

Iain atmete tief durch. Es blieb nur noch eins übrig.

Er schluckte mehrmals, als er nach den Bändern seines Hemds griff und sie aufknüpfte.

„Ich hoffe, es wird dir nicht zu viel ausmachen, wenn du zu dir kommst, Mädel. Ich möchte, dass du weißt, dass ich nicht zu der Sorte Mann gehöre, die eine solche Situation ausnutzt. Aber ich muss dich wärmen, und ich kenne nur eine Möglichkeit, das zu tun. Wir haben ein Feuer und mein Plaid und uns selbst. Der Sturm ist schrecklich. Ich sollte dafür sorgen, dass du von den richtigen Leuten vernünftig behandelt wirst. Aber jetzt …“ Er zog sich das Hemd über den Kopf. Auf den Anblick seines nackten Oberkörpers reagierte die Frau weder mit einem überraschten Keuchen noch mit einem Wutanfall.

Er zog sich die Stiefel aus, stellte sie neben ihre Schuhe nahe ans Feuer und begann, die Knöpfe seiner Hosen zu öffnen. Was, wenn sie jetzt erwachte, in diesem Moment, und einen halbnackten Mann sähe? Der Schock darüber würde sie zweifellos auf einen Schlag aufwärmen. Er wandte sich ab, zog sich so diskret wie möglich aus und hängte seine Kleider neben ihre über die Leine.

Nackt hob er das Plaid und schlüpfte neben sie. Er schnappte nach Luft, als er ihren kalten Körper spürte. Unter der Decke löste er vorsichtig die Bänder ihres Leibchens und schob die Träger über ihre Schultern. Er rollte das Kleidungsstück nach unten, passte dabei auf, dass sie zugedeckt blieb, und versuchte, nicht auf das zu schauen, was er entblößte. Doch seine Finger strichen über ihre Brüste, huschten über ihren festen Bauch, flogen über ihr Hüften. Er musste sie nicht sehen, um festzustellen, wie schön sie war.

Iain pries die Tatsache, dass er ein Gentleman war und verfluchte den Umstand, dass er ein Mann war und sie eine Frau. Er warf das Leibchen neben ihr Kleid über die Leine und legte sich wieder unter die Decke. Ihm war jetzt auch kalt. Er unterdrückte einen Fluch, als er ihren schmalen Körper in seine Arme zog. Sie war kalt wie der Tod. Die Kälte in ihr strahlte auf ihn aus und ließ ihn frösteln. Er biss die Zähne zusammen und drückte sich an sie. Auf ihr verletztes Knie achtend wickelte er das dicke, weiche Plaid um sie beide und umgab die Frau mit seiner Körperwärme. Seine Zähne begannen zu klappern, doch sie merkte nichts davon. Würde er neben einer Leiche aufwachen? Er würde alles tun, damit das nicht geschah. Er lag neben ihr und versuchte, die Hitze und das Leben seines Körper in ihren zu übertragen. Er barg ihre eisige Wange in seiner Schulterbeuge und legte seine Finger auf ihren Hals, um ihren Puls zu überwachen.

„Du bist jetzt in Sicherheit, Mädchen. Lebe!“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Gib nicht auf! Bleib bei mir!“ Ihr Herz schlug weiter, ihr Körper zog Wärme und Trost aus Iains Leib. Iain schloss die Augen.

Jenseits der festen Mauern wütete der Schneesturm weiter. Nach und nach spürte er, wie sie wärmer und weicher wurde, während sie seine Hitze in sich aufnahm. Sie rollte sich noch näher, drückte – den Rücken gegen seine Brust gepresst – ihren Po gegen seine Leisten. Sie war weich und süß, und ihre Kurven passten perfekt zu seinem Körper. Das letzte Mal, als er eine kalte Winternacht mit einer schönen Frau unter einer Decke verbracht hatte … Sein Körper reagierte wie der eines gesunden Mannes, der in einer kalten Dezembernacht eine nackte Schönheit in den Armen hält. Iain biss die Zähne zusammen und versuchte die Erektion mit der Kraft seines Willens verschwinden zu lassen, sie nicht zu beachten und konzentrierte sich stattdessen darauf, die Frau warm und am Leben zu halten.

Er lauschte auf den kehligen Gesang des Windes, der um das stabil gebaute Cottage brauste und nach einem Weg hinein suchte. Hier drinnen waren sie sicher. Trotzdem würde es eine sehr lange Nacht werden.

4. KAPITEL

Achtzehn Tage vor Weihnachten

Alanna McNabb erwachte mit furchtbaren Kopfschmerzen. Tatsächlich schmerzte sogar jeder Zentimeter ihres Körpers. Sie roch Torfrauch und Feuchtigkeit und hörte den Wind heulen. Ihr fiel der Sturm ein. Sie öffnete die Augen. Sie befand sich in einem kleinen, dunklen Zimmer, einer Hütte, begriff sie, einer Berghütte vielleicht – oder war es eine der Bauernhütten in Glenlorne? War sie zu Hause, bei den Menschen, die sie kannten und liebten? Sie sah sich um und versuchte zu begreifen, wo sie genau war, in wessen Haus sie sich befand. Die Dachbalken über ihrem Kopf waren vom Alter und vom Ruß schwarz. Ein großer Keramikkrug baumelte an einem Nagel, den jemand als eine Art Haken in einen der Balken gehämmert hatte. Doch das alles gab ihr keinen Hinweis. Es sah hier aus wie in jedem Highland-Cottage. Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite, wohl wissend, dass sie eine Herdstelle sehen würde und …

Ein paar Schritte von ihr entfernt kauerte ein Mann am Feuer.

Ein sehr großer, sehr nackter Mann.

Sie starrte auf seinen breiten, glatten Rücken. Als er im Feuer stocherte, fielen ihr seine muskulösen Arme auf. Ihr Blick glitt über sein Rückgrat bis hin zu den beiden Grübchen über seinem runden weißen Po.

Ihre Kehle wurde trocken. Sie versuchte sich aufzusetzen. Sofort schoss ein gewaltiger Schmerz durch ihren Körper und das Zimmer schwankte vor ihren Augen. Ihr Bein brannte wie Feuer. Sie schrie leise auf.

Bei dem Geräusch drehte er sich halb um und schaute über die Schulter. Im Feuerschein sah sie kurz seine hohen Wangenknochen und ein schimmerndes Auge, dass sich sofort überrascht weitete. Er ließ den Schürhaken fallen und ließ sich ächzend auf sein Hinterteil fallen.

„Sie sind aufgewacht!“, rief er. Sie starrte ihn an, wie er da auf den Platten vor dem Kamin saß. Er stöhnte noch einmal auf und legte die Hand über seinen … Sie presste die Augen fest zusammen, während er den nächstbesten Gegenstand ergriff, um sich zu bedecken: eine Ecke seines Plaids. Doch sie riss es mit einem Ruck zurück und hielt es fest. Er ließ es sofort los und griff nach dem nächsten Kleidungsstück in Reichweite, und das war ihr roter Umhang. Er wickelte ihn sich unbeholfen um die Taille und versuchte gleichzeitig aufzustehen. Mit seinem provisorischen Kilt ragte er über ihr auf und hielt dabei das Kleidungsstück mit festem Griff an Ort und Stelle. Sein Gesicht war fast ebenso rot wie die Wolle. Sie hielt den Blick auf sein Gesicht gerichtet und zog sich das Plaid bis ans Kinn.

„Wie ich sehe, sind Sie wach“, sagte er und sah sie an. Seine Stimme klang nun eine Oktave tiefer. „Wie fühlen Sie sich?“

Wie fühlte sie sich? Sie bemühte sich abzuschätzen, wie stark ihre Verletzungen waren, und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie hierhergekommen war, wo auch immer ‚hier‘ sein mochte. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich im Sturm verirrt hatte und hingefallen war. An ihrem Handschuh war Blut gewesen. Sie runzelte die Stirn. An das, was danach geschehen war, erinnerte sie sich nicht.

Sie bewegte sich vorsichtig, und das Zimmer schien sich in Luft aufzulösen. Sie sah Sterne und schwarze Punkte, und ein entsetzlicher Schmerz, der vom Knie ausging, durchfuhr ihren Körper. Sie schnappte nach Luft, keuchte und versuchte, dem Schmerz standzuhalten.

„Bewegen Sie sich nicht!“, sagte er und hielt eine Hand gespreizt in ihre Richtung. Doch er berührte sie nicht. Er lächelte. Im Feuerschein blitzten seine weißen Zähne auf, und seine Augen leuchteten. „Ich habe befürchtet … Nun, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ihr Knie ist verletzt. Sie haben es sich aufgerissen, vielleicht ist es auch verstaucht. Aber es ist nichts gebrochen“, sagte er in einem Atemzug. Wieder lächelte er, als seien das gute Neuigkeiten und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. „Sie haben wieder etwas Farbe.“

Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange mit dem Handrücken. Es war nur eine zarte Berührung, trotzdem zuckte sie zurück und keuchte bei dem Schmerz, der sofort aufflackerte. Sofort ließ er seine Hand sinken und sah sie entschuldigend an.

„Ich habe es nicht böse gemeint. Ich wollte nur ihre Temperatur fühlen und prüfen, ob Sie Fieber haben. Oder ob Sie unterkühlt sind …“ Er schwatzte und unterbrach sich, warf ihr ein mattes Lächeln zu, stand wieder auf und trat einen Schritt zurück, wobei er sich weiter ihren Umhang vorhielt. Errötete er, oder war es nur der Widerschein des Feuers auf seiner Haut? Sie versuchte, nicht auf seine breite Brust zu starren oder auf seine nackten Beine, die unter dem baumelnden Saum des Umhangs hervorsahen.

Behutsam griff sie unter die Decke und ertastete einen Verband um ihr Knie. Er wandte sich ab. Als er wieder errötete, begriff sie, dass das Plaid heruntergerutscht war. Sie war ebenso nackt wie er. Sie schnappte nach Luft, zog das Plaid enger um sich und schaute ihn an. Dann sah sie nach oben und erblickte ihre Kleider auf einer Leine über der Herdstelle, alle, auch ihr Leibchen.

„Wo …?“ Sie schluckte. Ihre Stimme klang heiser, ihre Kehle war ebenso mitgenommen wie ihr Knie. „Wer sind Sie?“, versuchte sie es noch einmal. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Panik presste ihr die Brust zusammen. Wieder versuchte sie, sich an den vergangenen Abend zu erinnern, aber es kam nichts. Wenn er unbekleidet war und sie genauso unbekleidet …

„Was …“, begann sie erneut und schluckte die Frage hinunter, die sie nicht aussprechen konnte. Sie wusste kaum, was sie zuerst fragen sollte. Wo, wer oder was? Ihr Kopf arbeitete nur langsam, ihre Gedanken waren ebenso träge wie ihre eingerostete Zunge.

„Sie sind in Sicherheit“, sagte er, und sie fragte sich, ob das stimmte. Sie sah ihn an. Sie hatte Männer mit nackter Brust, gebräunten Körpern und angespannten Muskeln im Sommer arbeiten sehen. Gedacht hatte sie sich nie etwas dabei. Das hier – er – war anders. Und sie war ebenso nackt wie er.

„Kann ich meine Kleider haben?“, fragte sie.

„Oh, natürlich.“ Er nahm ihr Leibchen und gab es ihr. Ihr Umhang rutschte ein Stückchen herab und gab ein Stück Hüfte und einen flachen Bauch frei, bevor er den Stoff wieder bis zur Taille hochzog. Er war groß. Sein Kopf berührte beinahe die Dachbalken. Doch das konnte ebenso gut eine Täuschung sein, weil er stand und sie selbst flach auf dem Boden lag. Er hatte rotes Haar, das im Feuerschein wie poliertes Kupfer schimmerte. Die Bartstoppeln am Kinn schimmerten ebenfalls. Er sah wie vergoldet aus, fast magisch. War er real? Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Doch er verschwand nicht.

Er nahm ihr Kleid ebenfalls von der Leine und legte es neben sie aufs Plaid. Es war trocken und warm, wenn auch schlimm zerrissen.

„Falls Sie meine Hilfe beim …“, begann er. Doch sie warf ihm einen Blick zu und schob eine Hand unter der Decke hervor, um nach ihrem Kleid zu greifen und unter das Plaid zu ziehen. Sie drückte es einen Augenblick lang gegen ihren Bauch und beobachtete ihn misstrauisch.

Sie sah zu, wie er sein Hemd von der Leine nahm und das Kleidungsstück sorgfältig gegen ihren Umhang tauschte und das bedeckte, was notwendig war. Dann hängte er den Umhang mit einer Hand wieder über die Leine und hatte so einen provisorischen Vorhang.

Sie konnte nur noch seine wohlgeformten, kräftigen Knöchel sehen und seine Füße, die sich weiß vor den Kaminplatten abzeichneten. Er schnappte sich die Hose von der Leine, und sie sah, wie er erst den einen Fuß, dann den anderen hob, während er sich die Beinkleider überstreifte. Das leise Rascheln des Stoffs klang in dem kleinen Zimmer nahezu intim. Dann stand er einfach nur da. Seine Füße bewegten sich nicht mehr. Sie realisierte, dass er ihr Zeit gab, sich ebenfalls anzuziehen. Sie hielt sich das Plaid vor die Brust, zog sich erst das Leibchen, dann ihr Kleid über den Kopf und griff unter die Decke, um die Bänder und Knöpfe zu richten. Ihre Finger fühlten sich dick und unbeholfen an. Sie schaffte es zwar, die Bänder an ihrem Leibchen zu verknoten, doch die Knöpfe an ihrem Kleid waren unglaublich klein, und sie konnte sie nicht schließen. Sie gab auf, hielt die beiden Hälften ihres Kleides fest über ihren Brüsten zusammen und starrte ihre Stiefel an, die neben seinen am Feuer standen. Ihre Strümpfe waren nirgendwo zu sehen.

Hinter dem provisorischen Vorhang tauchte eine Hand auf und griff nach seinen Stiefeln. Er zog sie über.

„Ich muss nach draußen und nach dem Pony sehen. Das wird Ihnen genug Zeit geben, um … zu tun, was immer auch nötig ist. Ich werde in der Nähe sein, für den Fall, dass Sie Hilfe brauchen.“ Als er die Tür öffnete und sie wieder fest hinter sich schloss, kam ein Schwall kalter Luft ins Zimmer. Die Stille schien ohrenbetäubend.

Sie schob das Plaid beiseite und versuchte aufzustehen. Ihr Bein verwarf die Idee sofort, und ihr Kopf stimmte ihm zu. Ihre restlichen Glieder waren ebenso schwer und langsam wie ihre Finger. Sie sah sich den Verband an, der ihr Knie bedeckte. Ein Taschentuch, wie es schien. Mit unbeholfenen Stichen war – blau auf weißem Leinen – ein Monogramm darauf gestickt: I.M. Sie öffnete den Knoten und zuckte zusammen. Die Kratzer waren tief und hässlich, lange Kratzspuren, die ein wütender Sturm – wild wie eine Bergkatze – hinterlassen hatte. Die Prellungen sahen aus wie Schatten auf Schnee, bronzefarben und schwarz, und ihr Knie war doppelt so dick, wie es hätte sein sollen.

Wieder wurde die Tür geöffnet. Sie zog sich das Kleid über die nackten Beine, doch es war vom Saum bis zu den Knien zerrissen, und es bedeckte rein gar nichts. Außerdem waren die Knöpfe offen, und sie musste sich entscheiden. Sie packte das Oberteil und hielt es mit den Fäusten zusammen.

Er stand da und schaute auf ihr verletztes Knie. Der Wind hatte ihn zerzaust; seine Haut war gerötet. Er begegnete ihrem Blick.

„Der Sturm hat sich für einige Zeit gelegt, doch es scheint so, als würde es bald wieder schneien. Können Sie reiten?“ Er kam näher und hielt die Hände so, als wolle er beweisen, dass er keine Waffe trug und keine bösen Absichten habe. Der Schnee in seinem Haar begann zu schmelzen. Die Tropfen glitzerten wie Edelsteine und bildeten eine Art Heiligenschein um seinen Kopf, als wäre er ein Engel oder ein anderes überirdisches Wesen. War sie im Himmel? Hatte sie …? Sie rief ihre Gedanken zur Ordnung. Falls das hier der Himmel war, würde ihr das Bein nicht weh tun, und es würde auch sicher nicht schneien oder kalt sein.

„Ich denke …“, hob sie an. Ihre Stimme klang rau, und sie wusste nicht mehr, was sie hatte sagen wollen. Sie schluckte, als er sich neben sie kniete.

„Ich sollte nach Ihrem Bein sehen“, sagte er in entschuldigendem Tonfall. „Darf ich?“

Wie höflich er war, und sein Blick war freundlich. Sie nickte, wohl wissend, dass sie sich kaum würde dagegen wehren können. Er hob ihre Kleid nur so weit hoch, wie es sein musste. Seine Hände berührten sie vorsichtig, beinahe tröstend. Seine langen Finger waren dunkel und bewegten sich sicher auf ihrer weißen Haut. Sie keuchte vor Schmerz, und er zuckte zurück.

„Es ist nichts gebrochen. Ich habe auch nach anderen Verletzungen gesucht.“

Sie sah ihn an.

„Das haben Sie?“

Wieder wurde er rot, aber er sah ihr in die Augen.

„Es war nötig. Ich habe Sie in schlechter Verfassung gefunden. Wie kommt es, dass Sie bei diesem Wetter draußen waren?“

Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„Ich habe mich verlaufen“, sagte sie. Er tauchte sein Taschentuch in einen Eimer mit kaltem Wasser und wickelte es wieder um ihr Knie. Die Kälte erschreckte sie. „I.M. Sind Sie das?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

„Iain MacGillivray“, erwiderte er und hob erwartungsvoll die Brauen.

Autor

Lecia Cornwall
<p>Lecia Cornwall lebt und arbeitet im kanadischen Calgary – dort, wo sich die ersten malerischen Ausläufer der Rocky Mountains erheben. Sie wohnt unter einem Dach mit fünf Katzen, zwei Teenagern, einem verrückten schokoladenbraunen Labrador und einem ausgesprochen geduldigen Ehemann, der einst an Weihnachten um ihre Hand angehalten hat.</p>
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