With All My Heart

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Wahre Liebe erlischt nie. Aber kann sie alles überstehen?

Bereits als Teenagerin verliert Jane ihr Herz an Jamie McKenna. Bei ihm fühlt sie sich sicher und geborgen. Doch Jamie kämpft gegen seine Sehnsucht an, bis der Zeitpunkt gekommen ist, an dem er ihr seine Gefühle gestehen darf. Aber eine Tragödie zerstört nicht nur die McKenna-Familie, sondern lässt Janes gesamte Welt einstürzen. Das Einzige, was ihr und Jamie bleibt, ist ihre Liebe, die sie alles überstehen lässt. Ein Irrtum wie Jane leidvoll erfahren muss. Jahre später begegnen die beiden sich wieder, aber der Jamie, in den sie sich verliebt hat, scheint für immer verschwunden. Er will sich an den Menschen, die ihm alles genommen haben, rächen – und auch sie steht auf seiner Liste. Da Jane Gerechtigkeit für die Vergangenheit möchte, muss sie mit ihm zusammenarbeiten …

»With All My Heart ist fantastisch! So viele Twist und Wendungen – die Geschichte ist intensiv! Ich habe jede Minute davon geliebt!« New-York-Times-Bestsellerautorin Monica Murphy


  • Erscheinungstag 24.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745703337
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.

– KONFUZIUS –

Teil Eins

DIE VERGANGENHEIT

Eins

JANE

Dreizehn Jahre alt

Dieser Smog war ätzend. Manchmal durfte ich Willa begleiten, wenn sie in die Stadt fuhr, aber heute war die Luft besonders schlecht, weshalb wir in unserer Wohnung in der hübschen Wohnanlage in Glendale bleiben mussten. Mir war langweilig. Aber Willa hatte zu viel mit meinen Pflegegeschwistern am Hals, um sich dafür zu interessieren. Flo war achtzehn Monate alt und fasziniert von Steckdosen und Lichtschaltern. Die Hauptbeschäftigung des dreijährigen Tarin bestand darin, alles kaputt zu machen, was er in die Finger bekam.

Sein Geschrei und Flos Gebrüll waren meganervig.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich vom Flur aus.

Willa scheuchte mich mit einer Handbewegung fort und hob Flo in ihren Hochstuhl. »Es ist Sommer, Kleine. Lauf und spiel mit deinen Freundinnen.«

Willa und Nick Green waren die nettesten Pflegeeltern, die ich je gehabt hatte. Ich war jetzt seit über zwei Jahren bei ihnen und hoffte, bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr bleiben zu können. Bis dahin waren es noch fünf Jahre. Ich wusste also, dass ich mich an das nervöse Ziehen in meinem Magen gewöhnen musste, denn ich rechnete jeden Moment damit, dass meine Sozialarbeiterin auftauchte, um mir mitzuteilen, dass es mal wieder Zeit wurde umzuziehen.

Damit Willa und Nick mich behielten, versuchte ich, ihnen so gut es ging zu helfen.

Die jüngeren Kinder beanspruchten all ihre Aufmerksamkeit, weshalb Willa immer noch nicht aufgefallen war, dass ich gar keine Freundinnen hatte. Aber die beiden Erwachsenen tranken nicht, fluchten nicht über meine Anwesenheit und schlugen mich nie.

»Bist du sicher?«

Meine Pflegemom schenkte mir ein verlegenes Lächeln. »Du bist doch keine bezahlte Hilfskraft, Jane. Es sind Sommerferien. Lauf und genieß deine Kindheit!«

Ich nickte und wandte mich dem kleinen Schlafzimmer zu, das mir gehörte. Nick arbeitete als Produktionsleiter für eines der großen Filmstudios, weshalb wir in einer hübschen größeren Wohnung mit drei Schlafzimmern wohnten. Die kleineren Kinder teilten sich ein Zimmer, und das kleinste bewohnte ich für mich allein.

Willa und Nick mochten mir vielleicht nicht allzu viel Zeit widmen, aber sie kauften mir Bücher und Malzeug. Ich schnappte mir mein Skizzenbuch und eine Büchse mit Kohlestiften, holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und verließ die Wohnung. Sogleich hatte ich das Gefühl, von einer Hitzeblase eingehüllt zu werden. Die Luft klebte an meiner Haut, als ich über den Laubengang lief. Von hier aus hatte man Ausblick auf den Pool. Auf den Liegestühlen am Rand entdeckte ich ein paar Nachbarn, während einige Kinder, die ich aus der Schule kannte, im Wasser herumplanschten.

Auch mit ihnen war ich nicht befreundet. Ich war nie besonders gut darin gewesen, Freundschaften zu schließen.

Als ich die benachbarten Wohnungen passierte, hörte ich Stimmen aus der letzten in der Nähe des Treppenhauses. Sie hatten einen interessanten Akzent – Boston vielleicht? – und waren so laut, dass sie die Musik übertönten, die aus den Zimmern drang.

Ich bemerkte, dass ihre Tür weit offen stand.

»Lorna, wir haben noch nicht alles ausgepackt. Steh auf, Lor! Ich will noch vor dem Abendessen fertig sein. Wenn alles erledigt ist, kannst du deinen Hintern den ganzen restlichen Abend auf der Couch parken.«

Ich verlangsamte meine Schritte. Sie sagte »parken« wie »pahken«, was definitiv nach Boston klang, oder?

»Auspacken ist langweilig«, antwortete ein Mädchen mit dem gleichen Akzent. »Können wir nicht mal eine Pause machen?«

»Bringen wir es lieber hinter uns. Dein Bruder ist mit Auspacken schon fertig.«

Sie stritten weiter, während ich mich auf die oberste Treppenstufe setzte und meinen Skizzenblock aufschlug. Ich nahm ihre Unterhaltung kaum noch wahr, weil ich mich nun darauf konzentrierte, meine Nachbarn am Pool zu zeichnen.

Wie immer vergaß ich dabei alles um mich herum. Beim Zeichnen rückte alles andere in den Hintergrund. Die Einsamkeit. Meine Ängste. Die Tatsache, dass ich mich total isoliert fühlte. Zeichnen war meine Art, eine Verbindung zur Welt herzustellen, aber aus sicherer Entfernung. Ich liebte das Kratzen der Kohle auf dem Papier und die Flecken, die sie auf meinen Händen hinterließ. Die Freiheit, diese Schmierflecken nutzen zu können, um interessante Schattierungen und Linien zu erschaffen. Mit meinen Strichen erweckte ich die planschenden Kids auf dem Papier zum Leben. Bewegung. Energie. Das gab mir das Gefühl dazuzugehören.

Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich ihre Schritte nicht hörte, sondern sie erst bemerkte, als sie sich neben mir auf der Treppe niederließ.

»Du bist krass talentiert.«

Erschrocken fuhr ich zusammen, sodass ein Kohlestrich quer über meine Zeichnung zuckte.

»Oh, tut mir leid.«

Ich sah das Mädchen an, das bedauernd die Schultern hob. Ihre Augen waren blau wie das Meer und ihr kurz geschnittenes Haar hellbraun.

»Deine Zeichnung.« Sie deutete darauf. »Krass gut.«

»Sie war okay«, murmelte ich, während ich erfolglos versuchte, den Kohlestrich wegzureiben.

»Wo hast du gelernt, so toll zu zeichnen?«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ehrlich gesagt hatte ich es nie gelernt. Ich … zeichnete eben.

»Wie heißt du?«

»Jane.«

»Jane. Ich bin Lorna McKenna.« Über meiner Zeichnung tauchte eine Hand auf.

Stummelige Fingernägel, die mit leuchtend pinkfarbenem Glitzerlack bemalt waren. Ich lächelte und sah zu Lorna auf. Sie schien wild entschlossen zu sein, mich kennenzulernen. Normalerweise fühlten sich andere Kinder durch meine Schüchternheit immer abgeschreckt.

Ich zeigte ihr meine kohleverschmierte Hand und Finger.

Sie zuckte mit den Schultern und reckte entschlossen das Kinn nach vorn. »Dann gibst du mir eben die andere Hand.«

Ich gehorchte. Die ihre war kühl, als hätte sie in ihrer Wohnung unter der Klimaanlage gesessen.

Sie grinste breit, als ich einschlug, und unwillkürlich erwiderte ich ihr Lächeln. Ihr Blick fiel auf meine linke Wange. »Du hast ein Grübchen!«, rief Lorna aus, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen.

Automatisch berührte ich das Grübchen mit meinen kohlebeschmierten Fingerspitzen.

»Das ist süß! Ich wünschte, ich hätte auch ein Grübchen. Wie alt bist du?«

»Dreizehn.«

Sie nickte, als habe sie das erwartet. »Ich werde in drei Wochen ebenfalls dreizehn.«

»Wo kommst du her?« Meine Neugier siegte über meine Schüchternheit. Ich musste einfach wissen, ob ich mit meiner Boston-Vermutung recht gehabt hatte.

»Aus dem Dot.«

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

Lorna grinste. »Dorchester. Das ist in Boston.«

Ah. Ich hatte also wirklich recht gehabt. Jetzt machte es sich bezahlt, dass ich den Film Good Will Hunting so oft gesehen hatte, weil Willa für Matt Damon schwärmte.

»Ist es da schön?«, fragte ich.

Lorna zog die Nase kraus. »In Boston schon. Aber im Stadtteil Dorchester eher nicht. War eine beschissene Gegend. Vor ein paar Monaten wurde sogar vor unserer Wohnung einer erschossen.« Wieder zuckte sie gleichgültig mit den Schultern.

Mit offenem Mund starrte ich sie an.

»Also, wie kommt’s, dass du nicht mit den anderen Kids im Pool bist?«, fragte sie.

Ich folgte ihrem neugierigen Blick zu den zwei Mädchen und zwei Jungs, die kreischend im Wasser herumtobten. Die Mädchen stammten aus dem gleichen Haus wie wir, die Jungs wohnten um die Ecke. Das wiederum wusste ich, weil wir in die gleiche Klasse gingen. »Das sind Summer und Greta. Sie sind die beliebtesten Mädchen in meiner Klasse.«

»Ja, und?«

Ich errötete, da ich wusste, dass meine nächsten Worte Lorna womöglich vergraulen würden. »Ich bin nicht besonders beliebt.«

Lorna stieß mich mit der Schulter an und nickte mir verschwörerisch zu. Die Geste war so vertraulich, als seien wir seit Ewigkeiten Freundinnen. Das gefiel mir. »Beliebte und weniger beliebte Kids? Wie im Fernsehen, was? In meiner früheren Schule gab keine Cliquenwirtschaft dieser Art. Man versuchte nur, möglichst unauffällig zu bleiben und auf jeden Fall die fiesen Typen zu meiden, die schon jede Menge Dreck am Stecken hatten.«

»Kommst du aus dem Ghetto?«

Sie lachte. »Dem Ghetto? Echt jetzt? Neeeein.« Sie versetzte mir einen weiteren Schubs, wie um mir zu zeigen, wie süß sie mich fand. »Aber wir sind ziemlich arm. In Boston waren das all unsere Bekannten. Mom sagte immer, dass die Leute dumme Sachen machen, um zu vergessen, wie beschissen ihr Leben ist. Oder sogar noch dümmere Sachen, um sich mit krummen Dingern aus der Armut zu mogeln.«

Ich hatte nicht allzu viel Ahnung von Geld, wusste aber, dass die Mieten in unserer Wohnanlage nicht besonders günstig waren, weil Willa sich immer wieder darüber beklagte.

Lorna schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie fuhr fort: »Wir sind zu unserer großen Schwester Skye gezogen.«

Wie aufs Stichwort erscholl die Stimme einer Frau aus der Wohnung. »Lorna! The Waterboys!«

Ihre Miene hellte sich auf. »Komm mit.« Lorna nahm meine Hand und zog mich auf die Füße, sodass mir keine andere Wahl blieb, als ihr zu folgen. Ich ließ meinen Skizzenblock auf der obersten Stufe liegen und mich von ihr in die Wohnung ziehen. Wie lange mochte es wohl her sein, dass jemand meine Hand gehalten hatte?

Vor Aufregung war ich wie elektrisiert.

Die Wohnung war genauso groß wie die von Willa und Nick, und überall standen Umzugskisten herum.

Eine hochgewachsene, umwerfend aussehende junge Frau schwenkte zu einem mir unbekannten Song aus dem Fernsehen die Hände in der Luft hin und her. Bei unserem Anblick erhellte ein hinreißendes Lächeln ihr Gesicht. »Wer ist das?«

»Das ist Jane!«, rief ihr Lorna über die Musik hinweg zu. »Jane, das ist meine große Schwester Skye.«

»Nett, dich kennenzulernen«, sagte Skye offenbar aufrichtig erfreut. Ich winkte ihr scheu zu. Dann beugte sie sich vor, nahm eine Fernbedienung zur Hand und richtete sie auf den Fernseher, um lauter zu stellen.

Ich sah, wie Lorna meine Hand losließ und sich zu ihrer Schwester inmitten des Zimmers gesellte. Mir schoss durch den Kopf, dass auch Lorna ziemlich groß für ihr Alter war. Gekonnt wirbelte sie ihre große Schwester durch die Gegend, und beide sangen aus vollem Hals mit: I saw the crescent, you saw the whole of the moon … Ich sah nur die Halbmondsichel, du aber den Vollmond – so etwa lauteten die Lyrics. Ich kannte den Song nicht, aber er gefiel mir auf Anhieb.

Als sie merkte, dass ich nur unbeteiligt dastand und zusah, winkte Lorna mich zu sich.

Aber ich war zu schüchtern und blieb, wo ich war.

Und so war es Skye, die sich von ihrer kleinen Schwester löste und mich zu ihnen in die Mitte des Raumes zog. »Entspann dich!«, schrie sie. »Das macht Spaß!«

Und zu meiner eigenen Überraschung begannen meine Füße, sich ebenso zu bewegen wie meine Hüften. Lorna nahm eine meiner Hände, Skye ergriff die andere, und wir bildeten einen Kreis und schwangen unsere ineinander verschränkten Hände hoch in die Luft. Ich lachte, als die Schwestern weiter in voller Lautstärke mitsangen. Dieser Augenblick war deshalb so absolut bizarr und wunderbar, weil ich das Gefühl hatte, etwas mit den Mädchen zu teilen.

Als der Song vorbei war, stimmte ich in ihr Kichern mit ein, war ganz high vom Gefühl der Verbundenheit – und dem Gefühl, gesehen zu werden.

»Das Lied kenne ich gar nicht«, gestand ich, als Skye wieder leiser schaltete.

»Es heißt The Whole of the Moon von der Band The Waterboys«, stellte Lorna klar. »Eine Formation aus den Achtzigern, und das hier war der Lieblingssong unserer Mom.«

»Und jetzt ist es unser Song.« Skye legte ihrer Schwester den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Lorna kicherte und tat, als wolle sie sie wegstoßen.

Dann sah Skye mich an. »Limonade?«

Ich nickte, denn die Tanzerei hatte mich durstig gemacht.

Sie machte sich auf den Weg in die offene Küche, während Lorna mir bedeutete, mich aufs Sofa zu setzen, dem einzigen Möbelstück, auf dem nicht jede Menge Krempel herumlag.

Ich entspannte mich, überrascht, wie schnell ich mich an die Gesellschaft der Schwestern gewöhnt hatte. Schwungvoll ließ sich Lorna neben mir auf die Couch plumpsen. Beide trugen wir Shorts und T-Shirts, aber während meine Beine kaum den Boden berührten, konnte sie die ihren richtiggehend ausstrecken. Lorna war blasser als ich und Skye, aber das würde sich schnell geben, da sie die Winter ab sofort nicht mehr in Massachusetts, sondern in Kalifornien verbringen würde.

»Wann seid ihr eingezogen?«

»Gestern Abend. Du bist der erste Mensch, den wir hier kennenlernen.«

Skye kehrte mit der Limonade zurück und reichte jeder von uns ein Glas. Sie schob ein paar Sachen auf dem Beistelltisch beiseite und setzte sich uns gegenüber darauf, während wir an dem kühlen Getränk nippten.

»Wohnst du hier, Jane?«, fragte sie.

Nun, da sie ruhig vor mir saß, wurde mir einmal mehr bewusst, was für eine schöne Frau sie war. Liebend gern hätte ich sie gemalt. Sie und Lorna hatten beide meerblaue Augen und hellbraunes Haar. Nur dass Skyes Haar ihr in weichen Wellen bis zur Mitte des Rückens hinabfiel und von goldenen Strähnchen durchzogen war. Lornas Nase war kräftig, Skyes zierlich. Wie ein kleiner Knopf. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war unverkennbar, aber es schien, als seien Skyes Züge perfektioniert worden, während Lornas mangelnde Vollkommenheit sie umso interessanter machte. Ich fand beide Gesichter wunderschön – toll zum Malen.

»Stimmt«, beantwortete ich Skyes Frage. »Ich wohne ein paar Türen weiter.«

»Mit deinen Eltern?«

»Pflegeeltern.«

Beide sahen mich mitfühlend an.

»Mittlerweile sind nur noch wir drei übrig: Jamie, ich und Skye«, bemerkte Lorna.

Ich sah sie an und runzelte ganz verwirrt die Stirn. »Wer ist Jamie?«

»Mein großer Bruder. Er wird im September fünfzehn. Unsere Mom ist vor drei Monaten gestorben. Und unser Dad ist abgehauen, als ich noch klein war.« Lorna verzog die Lippen zu einem bitterbösen Grinsen. »Er hatte nie viel für mich übrig.«

Ich schwieg unbehaglich.

Skye spürte das anscheinend und tätschelte Lornas Knie. »Süße, du weißt doch, dass das nicht stimmt.« Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Sorry, Jane. Im Moment ist alles ein bisschen schwierig.«

»Ist es nicht.« Lorna schob die Hand ihrer Schwester fort. »Es ist besser denn je.«

Erstaunt riss ich die Augen auf. Ihre Mutter war gerade gestorben, und trotzdem verlebte sie gerade die beste Zeit ihres Lebens?

»Was soll Jane denn von uns denken?« Skye schnaubte verärgert.

»Die Wahrheit.« Lorna warf mir diesen eigensinnigen, entschlossenen Blick zu, der typisch für sie zu sein schien. »Jane wird meine neue beste Freundin werden, und beste Freundinnen erzählen einander alles.«

Skye lache leise darüber, aber trotzdem machte mein Herz bei diesen Worten einen Satz.

Ich hatte schon seit der zweiten Klasse keine beste Freundin mehr gehabt.

»Skye ist schon vor ein paar Jahren nach L. A. gezogen, um Schauspielerin zu werden, und gerade hat sie diese tolle Rolle in The Sorcerer

Ich riss die Augen auf. In L. A. gab es jede Menge Möchtegern-Schauspieler, aber noch nie hatte ich jemanden getroffen, der in so einer bekannten Produktion mitspielte. »Ich liebe diese Serie!«

Skye strahlte. Ihr Lächeln war genauso ansteckend wie Lornas. Während Lornas Meeraugen kieselhart und ein wenig zu abgebrüht für eine Dreizehnjährige dreinblickten, waren Skyes warm und funkelten wie Wellen unter der Sonne. »Toll! Ein Fan! Ich bin eine der neuen Hauptfiguren.«

Mir fiel auf, dass Skyes Akzent nicht ganz so ausgeprägt war wie der ihrer Schwester.

»Das ist ja der Hammer!« Ich war mega beeindruckt.

»Willst du etwa Schauspielerin werden?« Lorna missverstand mein ehrfürchtiges Staunen.

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Keinesfalls. Auf mein Gesicht gerichtete Kameras, während ich vorgab, jemand anderes zu sein. Andere Leute, die jede einzelne meiner Bewegungen verfolgten. Fotos von mir in den Boulevardzeitungen. Igitt, eher würde ich Nacktschnecken essen.

»Lass mich raten … lieber Malerin?«

Ich wurde rot und zuckte mit den Schultern. Was so viel wie Ja heißen sollte.

»Willst du denn schauspielern?«, fragte ich Lorna.

»Nope. Zu unsicheres Einkommen.« Lorna straffte den Rücken. »Ich gehe aufs College und werde eine schicke Prozessanwältin. Also Juristin. Die machen haufenweise Kohle.«

»Und das wird sie auch schaffen.« Skye grinste liebevoll und wandte sich dann wieder mir zu. »Deine neue beste Freundin ist die ehrgeizigste Person, die du jemals treffen wirst.«

»Na ja, irgendwie muss ich die Schauspielerin und den mürrischen Schriftsteller in der Familie ja ausgleichen.«

Skye runzelte die Stirn. »Hör auf, Jamie wegen seiner Schreiberei aufzuziehen. Du weißt doch, wie sehr ihn das auf die Palme bringt.«

Ihr Bruder war Schriftsteller? Wie cool! »Ich liebe Bücher.«

»Ja, siehst du?« Skye deutete auf mich und stand auf. »Wenn Jamie mitkriegt, wie du jedem auf die Nase bindest, dass er schreibt, dann gibt’s hier eine Schlägerei. Und dafür hab ich nun wirklich keine Zeit.«

»Jane kann ein Geheimnis für sich behalten. Stimmt’s, Jane?«

Ich nickte heftig.

»Sag ich doch.«

Skye schenkte mir ihr freundliches Lächeln. »Jane, ich liebe meine Schwester, aber pass bloß auf, dass sie dich nicht dauernd überfährt und dazu bringt, zu allem, was sie von sich gibt, Ja und Amen zu sagen. Und lass dich in eurer frischgebackenen Freundschaft auch zu nichts verleiten, was du nicht tun willst.«

Lorna schnaubte. »So was würde ich nie tun.«

Ihre Schwester verdrehte die Augen. »Ich muss jetzt arbeiten. Auf der Theke liegt Geld für Pizza, und Jane ist herzlich eingeladen. Ich sage Jamie, dass er mehr als eine einzige Pizza bestellen soll, damit genug für alle da ist. Dieser Junge frisst einem die Haare vom Kopf.«

Skye lief den Flur hinab, wo ich sie mit jemandem reden hörte.

Offensichtlich mit Jamie. Trotz meiner Schüchternheit war ich neugierig auf ihn. Wenn er auch nur im Entferntesten wie seine Schwestern war, würde ich mich wahrscheinlich auf der Stelle in ihn verlieben.

Nachdem Skye aufgebrochen war, wandte Lorna sich auf dem Sofa mir zu und zog die Knie an die Brust. »Skye lebt jetzt schon seit ein paar Jahren in L. A., und durch ihren neuen Job können wir uns diese Wohnung leisten und müssen nicht in dieser Absteige wohnen, die sie sich früher mit ihrer Mitbewohnerin geteilt hat. Sie hat gesagt, dass man hier toll shoppen kann. Stimmt das?«

Ich nickte und berichtete Lorna vom Brand Boulevard – einer Straße mit Geschäften, Restaurants und sogar einem Kino – und davon, dass demnächst sogar eine Outdoor-Shoppingmall geplant war. Ich schwärmte davon, dass Glendale die einzige Stadt war, in der man echtes, armenisches Essen bekam. Wir gingen nicht oft aus, ließen aber immerhin häufiger etwas kommen, sodass ich ihr noch ein paar weitere Restaurants empfehlen konnte. Außerdem bot ich Lorna an, sie in meine Lieblingskonditorei mitzunehmen.

Nachdem sie mir aufmerksam zugehört hatte, legte Lorna den Kopf schief und musterte mich. »Du kommst mir viel älter vor als dreizehn. Ich weiß ja, warum ich so krass erwachsen rüberkomme.« Mit dramatischer Geste deutete sie auf ihre Brust. »Aber warum ist das bei dir so?«

Der plötzliche Themenwechsel brachte mich ein wenig aus dem Tritt. Trotzdem dachte ich darüber nach und erinnerte mich daran, wie ich kurz nach meinem Einzug mal eine Unterhaltung zwischen Willa und Nick belauscht hatte.

»Sie ist eine kleine Erwachsene«, hatte Willa Nick zugeflüstert. Sie standen in der Küche, ich befand mich im Flur. Eigentlich hatte ich mir gerade ein Glas Wasser holen wollen.

»Ich weiß. Das liegt daran, dass sie immer ein Pflegekind war.«

»Ja, dieses System prügelt einem auch noch den letzten Rest von Kindheit aus dem Leib. Deshalb betreue ich auch lieber kleinere Kinder. Mit ein bisschen Glück bleiben sie lange genug bei uns, dass wir ihnen eine vernünftige Kindheit ermöglichen können.«

»Bereust du es, Jane aufgenommen zu haben?«

»Nein, ich bin froh darüber! Sie hat viel durchgemacht. Hier ist sie zumindest in Sicherheit.«

Nach diesen Worten machte ich mir nur noch mehr Sorgen als vorher. Was, wenn Willa eines Tages doch zu dem Schluss kam, dass sie sich neben der Betreuung zweier jüngerer Kinder nicht auch noch einen Teenager aufhalsen wollte?

Vermutlich lag es unter anderem an derlei Befürchtungen, dass ich nach außen zwanzig Jahre älter wirkte, als ich tatsächlich war.

»Bin Pflegekind«, antwortete ich Lorna jetzt. »Hab schon viel gesehen, schätze ich.«

Lorna dachte darüber nach und nickte. »Ich wusste gleich vom ersten Augenblick an, dass wir verwandte Seelen sind. Weißt du, was das heißt?«

Ich nickte. Immerhin las ich viel.

»Und? Findest du das auch?«

Ich nickte noch einmal.

Sie lächelte. »Willst du mal mein Zimmer sehen?«

Ich folgte ihr über den Flur, verlangsamte mein Tempo aber, als ich an einer offenen Tür vorbeikam. Dahinter lag der kleinste Raum der Wohnung. Ein langbeiniger Junge saß auf einem Einzelbett, das an die Wand unter dem Fenster gerückt war. Für einen Teenager hatte er sein Zimmer recht ordentlich aufgeräumt. An einer Wand hing ein Poster des Albumcovers von Eminems The Marshall Mathers LP. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte ich ein gruselig aussehendes Poster mit verschwommenen Gesichtern und einem Totenschädel mit Reißzähnen, über denen die Worte Ich bin Legende prangten.

War das ein Buch?

Mein Blick huschte wieder zu dem Jungen zurück, und plötzlich bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Das hellbraune Haar hing ihm zerzaust in die Stirn, in den Ohren steckten Kopfhörer. Die Musik war so laut, dass ich sie bis hierher hören konnte. Sein Profil war markant, und er besaß hohe Wangenknochen und ein kantiges Kinn. Er hatte den Arm auf das angewinkelte Knie gelegt und hielt ein abgegriffenes Taschenbuch in der Hand. Konzentriert knabberte er an seiner Unterlippe.

Plötzlich hatte ich Schmetterlinge im Bauch.

Ihr Flattern wurde stärker, als ich sah, wie er mir langsam den Kopf zuwandte.

Unter der mürrisch gerunzelten Stirn funkelten mich stürmische Meeraugen unwillig an.

Einen Augenblick lang sahen wir einander an. Eine Sekunde, die sich anfühlte wie die Ewigkeit. Mir wurde ganz heiß.

Plötzlich warf er das Buch auf die Decke und schwang die Beine aus dem Bett.

Auf seinem schwarzen T-Shirt waren die Worte »The Black Keys« aufgedruckt. Mein Herz machte einen kleinen Satz. Wir mochten die gleiche Band. Zu dem T-Shirt trug er eine Jeans, die früher sicher mal dark denim gewesen war, aber so oft gewaschen worden war, dass sie beinahe auseinanderfiel. Er zog die Kopfhörer raus.

»Wer bist du?«, stieß er hervor. Dann huschte sein Blick nach links.

Lorna war wieder zu mir zurückgekehrt.

»Was machst du?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich zeige Jane unsere Wohnung. Sie ist meine neue beste Freundin. Jane, das ist mein großer Bruder Jamie.«

Jamie McKenna bedachte mich mit dem gleichen wütenden Blick wie zuvor noch seine Schwester. »Gott steh dir bei.«

»Hey!«, schrie Lorna entrüstet.

»Ich will nicht, dass deine Freundinnen in meinem Zimmer herumschnüffeln.«

Ich wurde rot. Knallrot. Zutiefst beschämt.

»Mann, Jamie, mit deiner schlechten Laune bringst du Jane nur in Verlegenheit«, schnaubte Lorna. »Ein mies gelaunter Blödmann ist alles andere als cool, egal, was die ganzen Bücher, die du liest, dir weismachen wollen. Das ist total Neunziger, und falls du es noch nicht bemerkt hast, dieses Jahrzehnt ist lange vorbei.«

»Oh, tut mir ja so leid, dass ich deine neugierige kleine Freundin in Verlegenheit gebracht hatte«, höhnte er, durchquerte das Zimmer und kam zur Tür. »Und lass die Beschimpfungen. Du versuchst mit allen Mitteln, cool zu sein, bist aber nichts weiter als eine dumme kleine Gans.« Und mit diesen Worten schlug er uns die Tür vor der Nase zu.

Oh, tut mir ja so leid, dass ich deine neugierige kleine Freundin in Verlegenheit gebracht hatte.

Meine Wangen brannten noch heißer.

»Achte gar nicht auf ihn.« Lorna packte mich am Arm und zog mich über den Flur zu ihrem Zimmer. »In Wirklichkeit liebt er mich.«

Lornas Zimmer hatte etwa die gleiche Größe wie das, das sich Tarin und Flo in Willas und Nicks Wohnung teilten. Ich versuchte, mir Jamie aus dem Kopf zu schlagen und mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Lornas Zimmer war größer als Jamies, was ich seltsam fand, denn schließlich war er älter als sie.

In dem Raum stapelten sich ein paar Umzugskisten, aber viel schien sie insgesamt nicht zu besitzen. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, stemmte sie die Hände in die Hüften und verkündete: »Skye hat versprochen, mit mir vor Schulbeginn shoppen zu gehen. Ich brauche neue Sachen. Viele neue Sachen. Und jetzt kann sie es sich leisten.« Ihre Augen funkelten mutwillig. »Ich kaufe mir auch hübsche Poster für mein Zimmer. Nicht so wie die von Jamie. Hast du das mit den Totenköpfen gesehen?«

Ich nickte.

»Ganz schön creepy, was? Das ist übrigens sein Lieblingsbuch.«

Im Geiste fügte ich Ich bin Legende meiner zukünftigen Leseliste hinzu.

Mir war aufgefallen, dass er jede Menge Bücher an der Wand aufgestapelt hatte, für die er noch ein Regal brauchte. Er war also genau so ein Bücherwurm wie ich. Das Flattern in meinem Bauch wollte einfach nicht nachlassen. Wie seltsam!

»Ich wette, er hat das, was er geschrieben hat, irgendwo in seinem Zimmer versteckt.« Sie grinste, als hätte sie es am liebsten heimlich durchsucht. »Er schreibt von Hand, weil wir uns keinen Laptop leisten können. Oder besser gesagt, wir konnten uns keinen leisten. Ich wette, Skye kauft ihm jetzt einen. Hast du die vielen Bücher gesehen? Zu Hause hätte er die nie so offen herumliegen lassen.«

»Warum nicht?«

Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich zu mir um. »Wenn seine Freunde mitbekommen hätten, dass er gern liest und sogar Geschichten schreibt, hätten sie ihn sicher windelweich geprügelt.«

»Scheinen keine besonders netten Freunde gewesen zu sein.«

Lorna schnaubte. »Allerdings nicht. Keine Ahnung, warum er wegen unseres Umzugs so angepisst ist, wo er doch hier, na ja, so was wie er selbst sein kann. Also, das hier ist mein Zimmer. Nichts Besonderes. Aber meins.« Sie griff wieder nach meiner Hand und zog mich zurück ins Wohnzimmer, wo sie mir bedeutete, mich aufs Sofa zu setzen. Dann ließ sie sich neben mir daraufplumpsen und drehte die Knie in meine Richtung.

»Okay, wir sind ab sofort beste Freundinnen, einverstanden?«

Ich nickte, wobei ich das Gefühl hatte, ohnehin kein Mitspracherecht zu besitzen.

»In jeder Freundschaft gibt es Regeln. Regel Nummer eins. Wir unterstützen einander.«

Das kriegte ich hin.

»Regel Nummer zwei: Wir machen uns nicht die Hölle heiß wegen der Dinge, die wir mögen oder nicht mögen. Du zum Beispiel zeichnest gern und hast was für Kunst und so übrig, und ich shoppe gern. Zumindest vermute ich das.«

Ich grinste.

»Regel Nummer drei: Wir vergucken uns nicht in die gleichen Jungs. Freundschaft ist wichtiger als Jungs. Das heißt, wenn du überhaupt auf Jungs stehst?«

In der sechsten Klasse war ich in Zion Reynolds verknallt gewesen, und nach meinem Zusammentreffen vorhin mit Jamie raste mein Herz auch jetzt immer noch. Also ja, ich stand auf Jungs. Und nickte.

»Cool. Obwohl ich auch kein Problem damit gehabt hätte, wenn du nicht drauf stehen würdest.«

Ich mochte die dritte Regel. Loyalität war mir wichtig. Ich hatte nicht allzu viel Erfahrung damit, aber ich freute mich über eine Gelegenheit, meine Treue unter Beweis zu stellen.

»Regel Nummer vier.« Mit verengten Augen musterte sie mich, als könne sie mir bis auf den Grund meiner Seele blicken. »Und die ist besonders wichtig, denn durch diesen Mist habe ich schon einmal Freundinnen verloren.«

»Okay?«

»Du darfst dich nicht wie jede einzelne meiner anderen Freundinnen in Jamie verknallen, und du darfst auch nicht die beste Freundin von Skye werden. Du bist meine Freundin.«

Ich wurde rot. Hatte sie mitbekommen, wie süß ich Jamie fand? Nicht dass ihr fünfzehnjähriger Bruder mich je beachtet hätte. Und was Skye anging … ich mochte sie zwar, aber sie war älter als wir. Ich bezweifelte, dass sie sich mit der besten Freundin ihrer kleinen Schwester abgeben wollte.

»Okay.«

Lorna grinste und klatschte in die Hände. »Mega!«

Ich lächelte, und wieder spürte ich dieses Flattern im Magen. Aber diesmal waren es Schmetterlinge nervöser Vorfreude. Mit einer besten Freundin an meiner Seite würde mein letztes Jahr in der Unterstufe vielleicht doch nicht ganz so schlimm werden. Und Lorna war nicht nur irgendeine beste Freundin – sie kam aus Boston, trug das Herz auf der Zunge und wusste, was sie wollte. Und sie wusste, wie sie es bekam.

Zwei

JAMIE

Achtzehn Monate später

Sechzehn Jahre alt

Mein Handy brummte und unterbrach den Song von Silverchair, den ich gerade hörte. Wahrscheinlich einer von den Jungs. Doch ein Blick aufs Display verriet mir, dass ich mich geirrt hatte.

Es war ein Mädchen.

Hey, Jamie, Julie hier. Trewitt. Wyd heutN8? xx

Ich hatte sowieso vorgehabt, heute Abend jemanden aufzureißen, da kam mir diese Nachricht gerade recht. Julie war in der Oberstufe und hatte neuerdings ein Auge auf mich geworfen. Keine Ahnung, woher sie meine Nummer hatte. Aber egal. Jeder wusste, dass Julie eine sichere Bank war und kein Interesse an einer Beziehung hatte. Die Kleine wollte einfach nur ihren Spaß haben – also warum hätte ausgerechnet ich ihr den vermasseln sollen?

Meine Finger schwebten über der Tastatur, um ihr zu schreiben, wo wir uns treffen konnten, als mich etwas Weiches am Hinterkopf traf. Ein Kissen.

Ich wirbelte herum und wollte Lorna gerade den Kopf abreißen, als ich Skye in meiner Tür stehen sah.

Sie bedeutete mir, die Kopfhörer aus den Ohren zu ziehen, und ich gehorchte, sodass Ana’s Song von Silverchair zu einem leisen Murmeln verblasste.

»Was ist?« Meine nervige, kleine Schwester konnte ich nicht allzu lang ertragen, aber für meine große nahm ich mir immer Zeit.

Am Anfang war ich stocksauer darüber gewesen, dass wir aus Boston weggegangen waren. Eigentlich war ich sauer auf alles. Dass meine Mom ihr Leben lang so egoistisch und verbittert gewesen war, dass mein Dad abgehauen war, weil er ihre Nähe nicht mehr ertragen hatte, dass meine Mom gestorben war, ohne mir die Gelegenheit zu geben, die Wut auf sie zu überwinden, und schließlich, dass ich alles, was ich kannte, hatte zurücklassen müssen, um ausgerechnet nach Kalifornien zu ziehen. L. A. war so vollkommen anders als Boston.

Trotzdem waren die letzten anderthalb Jahre hier so schlimm nun auch wieder nicht gewesen. Ich hatte mich der Leichtathletik-Mannschaft angeschlossen, wofür die Jungs in Boston mich sicher grün und blau geprügelt hätten. Aber meine neuen Kumpels im Team waren cool. Nicht cool genug, um ihnen zu erzählen, dass ich Schriftsteller war, aber trotzdem fühlte ich mich bei ihnen deutlich sicherer als bei den Typen, mit denen ich aufgewachsen war und die schon damals in Dorchester in ziemlich brutalen Aggro-Scheiß verwickelt waren. Ein paar Jungs von zu Hause waren gute Freunde gewesen; den Rest konnte man vergessen. Doch eigentlich waren alle auf dem absteigenden Ast und damit auf dem besten Weg in den Knast.

Ich war froh, all das hinter mir gelassen zu haben.

Das war Skye zu verdanken. Sie sorgte dafür, dass Lorna und ich an einem sicheren Ort aufwuchsen. Vor ein paar Jahren war ich auch auf sie megasauer gewesen, weil sie uns zurückgelassen hatte, aber nach Moms Tod war Skye sofort eingesprungen.

Und jetzt hatte sie als Schauspielerin so viel Erfolg, dass wir aus der Wohnung in ein Haus mit drei Schlafzimmern in Glendale hatten ziehen können, ganz in der Nähe unserer ersten Wohnung.

Ein Haus.

Keiner von uns hatte jemals in einem Haus gewohnt.

Dieses hier hatte sogar einen Pool, und von der hinteren Terrasse konnte man die Verdugo Mountains sehen.

»Hoffentlich hast du heute Abend noch nichts vor.« Skyes Miene wirkte bedauernd.

Jegliche Hoffnung, Befriedigung zwischen Julie Trewitts fantastischen Schenkeln zu finden, löste sich allmählich in Luft auf – war schon jetzt nur noch ein Schemen. »Warum?«

»Ich habe ein Meeting.«

Ich runzelte die Stirn. »Es ist Samstagabend.«

»Ich weiß, aber ich darf trotzdem nicht fehlen. Ich treffe mich mit einem echt wichtigen Typen, der Wunder für meine Karriere wirken könnte. Große Wunder.« Sie machte einen weiteren Schritt in mein Zimmer hinein. »Wodurch ich die finanziellen Mittel hätte, dir und Lorna jegliche Zukunft zu ermöglichen, von der ihr träumt.«

Mist.

Warum konnte Skye nicht wenigstens ein bisschen so sein wie meine Mom und Lorna? Egoistisch bis ins Mark. Aber stattdessen war es ihr ein Herzensanliegen, unser Leben besser zu machen.

Ich versuchte trotzdem zu widersprechen. »Sie ist vierzehn.«

Skye warf mir einen Blick zu, bei dem ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam. »Wenn wir Lorna hier allein lassen und ihr etwas zustößt, würden wir beide unseres Lebens nicht mehr froh.«

»Fuck.« Ich ließ mich wieder aufs Bett zurückplumpsen. »Ich hatte heute Abend was vor.«

»Tut mir leid. Ich weiß, dass du eigentlich keine Lust hast, auf deine kleine Schwester und ihre beste Freundin aufzupassen, aber es ist ja nur für diesen einen Abend.«

Also musste ich auch noch für Jane den Babysitter spielen.

Shit, mit Jane kam ich klar – mit Lorna weniger. »Wenn du nicht da bist, ist sie ein richtiges Miststück, Skye.«

»Ähm, eigentlich ist sie auch ein Miststück, wenn ich da bin. Aber sie ist unsere Schwester, und wir lieben sie.«

»Sie ist wie Mom.« Ich warf Skye einen besorgten Blick zu. »Durch und durch.«

Skye seufzte tief. Sie wusste, dass ich recht hatte. Meine kleine Schwester war egoistisch und selbstbezogen und hatte nichts als Geld im Kopf, weil sie bis vor einem Jahr keines gehabt hatte. Außerdem war sie megaanstrengend. Niemand liebte sie genug. Sorgte genug für sie. Schenkte ihr genug Aufmerksamkeit.

Durch und durch wie Mom.

»Ach, ich weiß nicht so recht. Immerhin ist sie erst vierzehn, und vierzehnjährige Mädchen sind schon mal schwierig.« Sie zuckte mit den Schultern. »Bis vor einem Jahr war das Zusammensein mit dir auch nicht gerade ein Picknick.«

Ich grunzte.

»Und Mom war auch nicht mit einer Jane Doe verheiratet. Jane hat einen guten Einfluss auf Lorna.«

Ich grunzte noch einmal. Jane war ein Weichei. Diese Kleine sehnte sich so verzweifelt nach Liebe, dass sie sich von Lorna ganz und gar unterbuttern ließ. Mein schlechtes Gewissen versetzte mir einen leisen Stich, denn Jane hatte es nun wirklich mies getroffen. Auch unser Elternhaus hatte nicht gerade vor Geborgenheit gestrotzt, aber immerhin hatte man uns nicht als Baby vor einem Polizeirevier ausgesetzt.

Noch nie hatte ich jemanden kennengelernt, der tatsächlich den Namen trug, der in den USA für fiktive oder nicht identifizierte Personen benutzt wurde.

Skye lächelte und sah sich kurz in Richtung Flur um. »Ich liebe das Mädchen«, bekannte sie. »Und ich liebe es, dass ausgerechnet unsere Jüngste mit einem tollen Kind wie Jane abhängt.«

Das war nichts Neues. Mit ihrer Zuneigung für die kleine Waise hielt Skye nie hinterm Berg. Ich seufzte. Wenn jemand Lorna mäßigen konnte, dann wahrscheinlich Jane.

Trotzdem hatten sich meine Pläne für den Abend nun vollends zerschlagen.

»Muss ich mich im gleichen Raum wie sie aufhalten?«

Meine große Schwester lachte leise. »Nein, Drama-King. Aber ich will, dass du dich ins Wohnzimmer setzt, statt dich hier drin zu verkriechen. Wenn du in deinem Zimmer bleibst, könnten sich die beiden unbemerkt aus dem Haus schleichen.«

»Wohin sollten sie sich schleichen?«

»Du kennst doch Lorna. Sie ist unberechenbar.«

Das stimmte. »Na gut.« Ich stieß mich vom Bett ab und schleuderte meine Schuhe von mir. Dann schnappte ich mir meine Ausgabe von Stephen Kings The Stand – Das letzte Gefecht vom Nachttisch und folgte Skye nach draußen. Kichern und die Klänge von On Call der Kings of Leon drangen den Flur entlang. Ich grinste. Ein weiterer Pluspunkt, den Jane für sich verbuchen konnte, war die Tatsache, dass sich in ihrer Anwesenheit der Musikgeschmack meiner kleinen Schwester deutlich verbessert hatte.

Während wir die Treppe hinabstiegen, schrieb ich Julie, dass ich babysitten musste, wir uns aber morgen Abend treffen konnten. Auf dem Couchtisch entdeckte ich einen offenen Skizzenblock und blieb stehen, um einen Blick darauf zu werfen. Vorsichtig drehte ich den Block an der Ecke um, um das Bild nicht zu verschmieren. Es war eine Zeichnung von Skye. Auf dem Bild zwirbelte sie an einer Haarsträhne herum und blickte nachdenklich in die Ferne.

Das hatte Jane gezeichnet.

Ich spürte Skyes Kinn auf meiner Schulter. »Gefällt mir, wie die Kleine mich sieht.«

Ich lächelte.

»Schon der Hammer, wie talentiert sie ist.« Skye entfernte sich. »Diese Zeichnung ist nur die Spitze des Eisbergs.« Sie kehrte zu mir zurück und hielt mir ihr Handy ins Gesicht. »Ihr Kunstprojekt für die neunte Klasse.«

Überrascht blinzelte ich auf die Anordnung dreidimensionaler Holzkisten unterschiedlicher Größe. Die Installation erinnerte an die Skyline einer großen Stadt. Auf jeder einzelnen Kiste befand sich die Skizze eines anderen Gesichts. Bekannte Gesichter mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken, die zusammen eine Fülle von Emotionen preisgaben.

»Ein Stadtbild aus Comedians und Komikern einerseits und aus ernsthaften Schauspielern und Schriftstellern andererseits. Ihr Gesichtsausdruck ist genau das Gegenteil von dem, was die Öffentlichkeit von ihnen kennt. Die Comedians sind traurig und nachdenklich. Die Schriftsteller lachen oder schauen verliebt drein. Damit greift Jane auf künstlerischer Ebene die Anonymität der Stadt auf, in der einzelne Gesichter verschwimmen. Wenn wir nicht genau hinsehen, kennen wir Menschen nicht wirklich.«

Meine Augenbrauen schossen bis zum Haaransatz hinauf, und Skye grinste. »Sie ist vierzehn«, rief sie mir ins Gedächtnis.

Manchmal war mir die Freundschaft zwischen Lorna und Jane ein Rätsel. Für ihr Alter war Jane schon ziemlich reif und verfügte über kein geringes Maß an Selbsterkenntnis. Lorna war ehrgeizig und klug, das schon, aber überdies auch mehr als nur ein wenig oberflächlich.

Mein Handy brummte und lenkte mich von Janes Kunstwerk ab. Ich ließ mich auf das riesige Ecksofa in dem offenen Wohn- und Küchenbereich plumpsen und öffnete die Textnachricht.

Wie süß ist das denn xx

Ich seufzte. War das eine Absage an morgen?

Wieder vibrierte mein Telefon.

Sry, morgen kann ich nicht. Dinner mit Freunden meiner Eltern – kotz. CU Montag 1 Stunde vor der Schule? Wird sich für dich lohnen ;)xx

Ihre vielversprechenden Worte sandten Lava in meine Lenden.

Alles klar.

Ich warf mein Handy auf die Couch und war angesichts von Julies Ankündigung nicht mehr ganz so frustriert, weil der Sex heute Abend ausfiel. Dem Vernehmen nach war Julie das Warten durchaus wert.

Dennoch fragte ich mich, ob Bethany morgen Abend Zeit hatte? Ich griff wieder nach meinem Mobiltelefon, um ihr zu schreiben.

»Schreibst du deinem Harem?«, neckte mich Skye, die sich gerade einen leichten Pullover überzog.

Ich zuckte mit den Schultern.

Sie seufzte. »Brich nur keine Herzen, Jamie! Glaub mir, zu dieser Art von Jungs willst du nicht gehören.«

Ihre Unterstellung ärgerte mich. »Ich bin immer offen zu ihnen und mache nie Versprechungen«, erklärte ich stirnrunzelnd.

Sie schnappte sich ihre Tasche und die Schlüssel vom Beistelltisch und musterte mich mit ihrem typischen Große-Schwester-Blick. »Ich weiß, dass du erst sechzehn bist, und fände es auch nicht gut, wenn du dich in so jungen Jahren schon auf etwas allzu Ernstes einlassen würdest … Aber darf ich fragen, ob es einen Grund hat, warum du dauernd eine andere hast und dich nicht nur auf eine beschränkst?«

Ich hatte keine Lust, weiter darüber zu reden.

Schwestern waren Nervensägen.

»Skye«, stöhnte ich.

»War nur eine Frage.«

»Ja, die Art von Frage, die Schwestern einander stellen … nicht … Jungs. Wir reden nicht so.«

Genervt deutete ich zwischen uns beiden hin und her.

Sie lachte. »Manche schon. Gefühle machen einen schließlich nicht zu einem schlechteren Mann. Oder tippst du abends einfach nur unzusammenhängendes Zeug in deinen Laptop?«

Ihre Stichelei war mir peinlich.

Na gut, okay, ich hatte viele beschissene Gefühle, die ich in meine Geschichten einfließen ließ. Das war etwas anderes. Aber ich wollte, dass sie mich endlich in Ruhe ließ, also stieß ich hervor: »Ich könnte mir durchaus vorstellen, nur mit einem einzigen Mädchen zu gehen.«

»Wirklich?«

»Herrgott noch mal!«, schnaubte ich. »Das reicht doch wohl, oder?«

»Nope.«

»Ich bin erst sechzehn!« Ich wedelte mit der Hand, sodass das Paperback darin umklappte und ich die Stelle verlor, an der ich gerade gewesen war. »Ich hab sie halt einfach noch nicht kennengelernt. Mehr steckt nicht dahinter.«

»Wen hast du nicht kennengelernt?«

Schwesternmord war ein Verbrechen, oder?

»Diejenige, durch die mir die Lust auf andere Mädchen vergeht. Können wir das Thema jetzt endlich fallen lassen?«

Sie wirkte selbstzufrieden. »Ich wusste es ja: Schriftsteller sind insgeheim Romantiker. Aber denk dran: Du musst dich noch nicht so bald festlegen. Tummele dich also nur weiter auf dem Jahrmarkt der Erotik, aber achte auf deine Sicherheit. Schütze dich und andere und verhalte dich nicht wie ein Arschloch.« Mit dieser nervigen Ermahnung schlenderte sie zur Tür. »Bestell euch was zu essen. Aber denk dran, die Mädels vorher zu fragen, was sie wollen.«

»Ja, egal.«

»Und danke.«

»Du bist mir was schuldig.«

»Ich weiß.«

Ich hob den Kopf. »Und viel Glück bei deinem Meeting heute Abend.«

Meine große Schwester grinste, winkte mir noch einmal kurz zu und schwebte zur Tür hinaus.

Manchmal war es nicht so einfach, eine große Schwester zu haben, die so attraktiv war, dass all meine Freunde gern Sex mit ihr gehabt hätten, die ihre Nase ständig in meine Angelegenheiten steckte und die nicht wusste, wann man besser die Klappe hielt.

Aber trotzdem wollte ich Skye gegen keine andere Schwester der Welt eintauschen.

Schnaubend schüttelte ich den Kopf über sie, öffnete mein Buch und versuchte zu vergessen, dass sie mir heute Abend die Tour vermasselt hatte.

Nach einer Weile knurrte mir der Magen. Ich war versucht, einfach eine Pizza zu bestellen, ohne Lorna und Jane zu fragen, was sie wollten, aber dann würde Lorna wieder den ganzen Abend herumzetern. Wenn ich das Gequengel umgehen wollte, musste ich wohl oder übel hoch zu ihr.

Erst vor Lornas Tür konnte ich die Musik wieder hören. Sie hatten sie leiser gedreht, um sich besser unterhalten zu können. Lorna und Jane schienen pausenlos miteinander zu quasseln, was einer der Gründe dafür war, dass ich keine Freundin wollte. Ich bezweifelte, dass ich zu den Typen gehörte, die damit leben konnten, wenn sie jemand pausenlos zulaberte.

»Das ist Regel Nummer zwei«, hörte ich Lorna in so scharfem Ton fauchen, dass ich unwillkürlich stehen blieb. Wenn sie so drauf war, hatte ich keine Lust, mit ihr zu reden. Ich liebte meine kleine Schwester, mochte sie aber meist nicht. War mir egal, wenn mich das zum Arschloch machte. Skye versicherte mir immer wieder, dass Lornas Herumgezicke sich irgendwann auswachsen würde und sie sich in einen coolen Menschen verwandeln würde, mit dem ich eines Tages vielleicht sogar befreundet sein konnte. Na klar! Wer’s glaubt, wird selig.

»Es ist nicht Regel Nummer zwei«, antwortete Jane ebenso ruhig wie entschieden. Ihr Ton überraschte mich.

»Ist es doch«, widersprach Lorna. »Wir sollen das, was der andere mag, respektieren und einander unterstützen.«

»Wir sollen auch respektieren, was der andere nicht mag. Und ich mag Greta nicht. Sie schikaniert andere Leute. Mit so jemandem will ich nichts zu tun haben.« Jane wurde nicht laut, klang aber immer noch entschlossen und hart.

Ich wollte gerade klopfen und die beiden unterbrechen, hielt aber inne, als Lorna schnauzte: »Ist doch nur eine Party. Und ich bin es leid, immer ausgeschlossen zu werden, weil du dich wie ein Baby benimmst!«

Ich runzelte die Stirn. Großer Gott, meine kleine Schwester konnte ganz schön herumkeifen.

»Ich bin kein Baby.« Jetzt zitterte Janes Stimme. »Ich habe nur keine Lust, mich mit Leuten anzufreunden, die hinter dem Rücken anderer über sie lästern und das Wort Loyalität nicht mal dann kennen würden, wenn Gucci eine Tasche herausbrächte, auf der es aufgedruckt wäre. Ich muss nicht beliebt sein, um glücklich zu sein. Ich bin schließlich kein hirnloses Schaf.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. So eine Antwort hätte ich der Kleinen gar nicht zugetraut.

»Willst du damit sagen, dass ich ein hirnloses Schaf bin?«

»Wenn du dir den Schuh anziehen willst.«

In diesem Augenblick hätte ich Jane Doe am liebsten abgeklatscht.

»Zumindest bin ich keine Loser-Waise! Außer mir will dich keiner haben, Jane. Denk mal drüber nach, bevor du irgendwas sagst, was du vielleicht bereuen könntest.«

Plötzlich hatte ich die dicke Wut im Bauch. Schon jetzt, mit ihren gerade mal vierzehn Jahren, war Lorna McKenna eine Meisterin der Manipulation.

Zu spät vernahm ich das verräterische Quietschen der Bodendielen, denn schon flog die Tür auf. Jane stürmte hinaus und wäre beinahe mit mir zusammengeprallt. Ich packte sie am Arm, damit sie nicht hinfiel, und spürte, wie die Wut auf meine Schwester sich verzehnfachte. Janes Wangen waren gerötet und tränenüberströmt.

Na toll.

Ein heulender Teenager. Wie verhasst mir so was war!

Jane wischte sich die Tränen ab, riss sich los und rannte an mir vorbei und den Flur entlang.

Mir fiel ein, dass sie zu Fuß eine halbe Stunde bis zu ihrer Wohnung brauchen würde. Skye würde mich umbringen, wenn ich die Kleine allein nach Hause gehen ließ.

Und ich wiederum hätte Lorna umbringen können.

Mit einem genervten Seufzen steckte ich den Kopf in Lornas Zimmer und sah sie auf dem Bett sitzen. Wütend funkelte sie die Wand an, zwei leuchtend rote Flecken des Zorns auf den Wangen.

Nachdem Skye ihr nicht das Elternschlafzimmer hatte geben wollen, hatte Lorna einen Wutanfall bekommen, weshalb sie nun zumindest das größere der beiden restlichen Schlafzimmer bewohnte. Skye bezahlte immerhin die Miete. Das Elternschlafzimmer stand ihr zu. Ich fand das absolut folgerichtig. Hatte versucht, es Lorna zu erklären. Wie ein Kind mit ihrer Vorgeschichte dermaßen verwöhnt sein konnte, wollte mir nicht in den Kopf. Irgendwann hatte ich nachgegeben und war ins kleinste Zimmer im Haus gezogen. Obwohl Skye immer wieder betonte, dass mir als älterem Bruder doch eigentlich das größere zugestanden hätte.

»Ich sorge dafür, dass Jane sicher nach Hause kommt.«

Ihr Blick flog zu mir herüber. »Was?«

Ich kochte vor Wut. »Ich begleite Jane nach Hause. Wenn du es wagst, in meiner Abwesenheit das Haus zu verlassen, mache ich dir das Leben zur Hölle, bis ich aufs College gehe.« Ich griff nach der Klinke und knallte die Tür zu.

Während ich Jane eilig über die Treppe nach unten folgte, überlegte ich, ob ich mir die Autoschlüssel schnappen und das Mädchen nach Hause fahren sollte, aber bevor ich später zu meiner kleinen Schwester zurückkehrte, brauchte ich einen klaren Kopf. Die frische Luft würde mir guttun.

Draußen entdeckte ich Jane, die den Bürgersteig entlangrannte.

»Warte, Jane!«, rief ich ihr hinterher.

Überrascht wirbelte sie so schnell herum, dass ihr langes, dunkles Haar wie ein Schleier um ihre Schultern flog. Und sie wartete tatsächlich auf mich.

Im Näherkommen sah ich, wie die letzten Sonnenstrahlen sich in ihren braungrünen Augen widerspiegelten, und wie aus heiterem Himmel – wie ein Blitz oder ein Güterzug oder sonst ein Klischee – traf mich die Erkenntnis, dass Lornas beste Freundin schön war.

Verblüfft blieb ich vor ihr stehen.

Vor einem Jahr war Jane Doe noch ein linkisches, kleines Mädchen gewesen. Große Augen, große Ohren, großer Mund. Sie hatte ausgesehen wie eine Comicfigur.

Aber mittlerweile war der Babyspeck verschwunden, sodass sie mit ihren hohen Wangenknochen und den zarten Gesichtszügen beinahe erwachsen wirkte.

Aus der Raupe war tatsächlich ein Schmetterling geworden.

Jane Doe war auf dem besten Wege zur Schönheit.

Hmm.

Ich schüttelte die Benommenheit ab, die sich bei dieser Erkenntnis über mich gelegt hatte.

»Ich begleite dich nach Hause.« Ich berührte Jane am Ellbogen und setzte mich in Bewegung.

Glücklicherweise widersprach sie nicht. Wenigstens musste ich jetzt nicht stundenlang auf sie einreden, nur um sie davon zu überzeugen, wie gefährlich es war, den Weg allein zurückzulegen. Wortlos lief sie neben mir her.

Als ich merkte, dass sie kaum mitkam, verlangsamte ich mein Tempo.

Eine kühle Brise bescherte mir eine Gänsehaut auf den Armen. Ich hätte ein Hoodie mitnehmen sollen. Mitte Oktober war es in L. A. normalerweise immer noch warm, nur abends wurde es schon mal empfindlich kühl. Gerade genug, dass Jeans besser als Shorts und Hoodies besser als T-Shirts waren. Doch Jane trug nur ein dünnes Sommerkleid und zitterte nicht einmal. Wenn also eine vierzehnjährige Kalifornierin die Brise meisterte, dann konnte ein Typ von der Ostküste das allemal.

Ich sah auf ihren dunklen Schopf hinab, merkte, wie sie unverwandt zu Boden blickte, und verfluchte meine kleine Schwester einmal mehr. Ich seufzte. »Ignorier Lorna, okay? Sie geht doch immer hoch, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt.«

Offen gesagt hatte ich es Jane bis jetzt nicht zugetraut, Lorna die Stirn zu bieten.

»Ich weiß.« Jane blickte mit diesen hübschen Augen zu mir empor. »Aber in letzter Zeit ist sie häufig gemein zu mir, und irgendwann ist das Maß halt voll.«

Na ja, ich war ein Mann, und Männer hielten sich gern für erhaben über kleinlichen Scheiß wie diesen. Andererseits hatte ich genug Eifersüchteleien zwischen meinen Freunden erlebt – sogar zwischen den Jungs in Boston –, um zu wissen, was eine Freundschaft kaputtmachen konnte. Vielleicht war Lorna nicht glücklich darüber, dass ihre schüchterne, linkische, kleine Freundin zu einer hübschen, talentierten Künstlerin heranwuchs, auf die so manch einer ein Auge werfen würde. Wenn das nicht manche sogar jetzt schon taten.

»Gut für dich. Dass du für dich selbst einstehst.« Was für eine blöde Bemerkung. Aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Bisher hatten Jane und ich höchstens zwanzig Worte miteinander gewechselt.

»Alle halten mich für ein Weichei. Sogar Lorna.« Sie schaute zu mir auf und wandte den Blick sofort wieder ab. »Aber das bin ich nicht.«

Ich hatte schon vor einer ganzen Weile bemerkt, dass ich die Kleine nervös machte. Wenn wir im gleichen Zimmer waren, konnte sie mir kaum in die Augen sehen.

Na ja, war nicht zu ändern.

Auf sauberen Gehsteigen wanderten wir den sanften Abhang der menschenleeren Straße hinab, vorbei an Häusern, deren Architektur dem spanischen Kolonialstil nachempfunden war und in deren Vorgärten beinahe ausnahmslos Palmen standen. Zwischen hier und Dorchester lagen Welten.

»Schreibst du gerade irgendwas Neues?«, platzte Jane plötzlich heraus.

Ich wäre beinahe gestolpert.

Verengte die Augen.

Ich bring dich um, Lorna!

»Ähm … nicht … Ich meine, ich wusste nicht …« Jane schloss die Augen ganz fest, und ihr süßes Gestammel ließ meinen Zorn verrauchen.

Nur noch ein ganz klein wenig verärgert – wenn auch nicht auf sie – winkte ich ab. »Schon gut.«

»Ich erzähle es keinem.«

Ich zuckte mit den Schultern, als sei mir das egal, obwohl es das verdammt noch mal absolut nicht war.

Schweigend setzten wir unseren Weg fort.

Bis …

»Ich habe dieses Buch gelesen. Das von Richard Matheson. Ich bin Legende

Ich sah sie an, und diesmal hielt sie meinem Blick stand. Als mir klar wurde, dass sie das Buch von dem Poster in meinem Zimmer kannte, musste ich grinsen. Hatte die kleine Jane Doe etwa eine Schwäche für mich? »Ja? Und wie hat es dir gefallen?«

»Super. Aufregend. Aber auch traurig.« Sie seufzte, und das Zittern ihrer Stimme verriet, wie nervös sie war. Einerseits tat sie mir leid, aber andererseits freute ich mich darüber, dass meine Gegenwart sie so aus der Fassung brachte. »Danach habe ich Echoes: Stimmen aus der Zwischenwelt gelesen. Das fand ich auch toll.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du solche Bücher liest.«

»Ich würde alles lesen, wenn es gut ist.«

Ich musste lächeln. »Ja«, pflichtete ich ihr bei.

Wieder verfielen wir in längeres Schweigen. Ich überlegte, ob Jane vielleicht ihren ganzen Mut für einen Abend aufgebraucht hatte. Normalerweise hätte auch ich nichts mehr gesagt. Aber irgendetwas an ihr gefiel mir. Womöglich war es diese ruhige Stille. Sie machte mich neugierig.

»Warum hast du deine Pflegeeltern nicht angerufen, damit sie dich abholen? Du weißt doch, dass du einen so weiten Weg nicht im Dunkeln allein zurücklegen solltest.«

Jane biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, dass ich dir Umstände mache.«

»Das hab ich nicht gesagt. Und ist auch keine Antwort auf meine Frage.«

»Ich will sie nicht behelligen.«

Behelligen? Sie war ihr Pflegekind. Es war ihr Job, sie zu behelligen. »Sie werden dafür bezahlt, für dich zu sorgen, oder?« Kaum war es mir über die Lippen gekommen, wusste ich auch schon, dass es die falsche Antwort gewesen war. Ich spürte einen schuldbewussten Stich, als ich ihr trauriges Gesicht sah. »Das wollte ich nicht …«

»Schon gut. Ich … ich will nur einfach keinen Staub aufwirbeln. Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag dauert es nur noch vier Jahre, und bis dahin will ich bei ihnen bleiben. Ich will nicht noch einmal umziehen.«

»Wie lange wohnst du schon bei ihnen?«

»Dreieinhalb, fast vier Jahre.«

Ich runzelte die Stirn. »Und davor?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Bei ein paar anderen Familien.«

»Und die Greens sind die nettesten?« Mein Freund Lip aus Dorchester war ebenfalls ein Pflegekind gewesen. Den Großteil seines Lebens hatte er bei einer netten Frau namens Maggie verbracht. Ihr beschissener Mann war ein Faulpelz, und Maggie war mit den fünf Pflegekindern ständig überfordert gewesen, weshalb Lip jede Menge Scheiße gebaut hatte.

Jane zögerte, und ich spürte einen seltsamen Stich in der Brust. »Ja.«

»Und weshalb das Zögern?«

»Sie sind nur … Sie sind in Ordnung. Sie sind nicht allzu häufig da, aber sie sorgen dafür, dass ich alles habe, was ich brauche, und sie schreien mich nicht an oder … sonst etwas.«

»Sonst etwas? Hat jemand dir ›sonst etwas‹ angetan?« Warum war ich plötzlich so sauer?

Jane blickte zu mir auf. Angesichts ihres winzigen Lächelns und des wissenden Ausdrucks in ihren Augen kam ich mir wie ein naiver, kleiner Junge vor. »Jamie, das Pflegesystem hat jede Menge Schwachstellen. Zu viele Kids, die betreut werden müssen, nicht genügend Sozialarbeiter und definitiv nicht genug Pflegefamilien. Ich hatte beides. Gutes und Schlechtes.«

Einen Augenblick lang vergaß ich, dass ich mit einer Vierzehnjährigen und nicht mit einer Erwachsenen sprach. Ich fühlte mich beschissen, als ich den Kummer und Schmerz in ihren Augen sah. Wer so aufwuchs wie ich, musste schnell erwachsen werden. Aber nun erkannte ich, dass auch jemand, der allein aufwuchs wie Jane, schnell erwachsen wurde. Das kam mir total unfair vor. »Das tut mir leid.«

Sie schwieg eine Weile, dann holte sie tief Luft, als bereite sie sich auf irgendetwas vor. Und schließlich platzte sie heraus. »Du kommst mir verändert vor. Weniger wütend.«

Offenbar hatte Jane Doe tatsächlich eine Schwäche für mich und mich im Auge behalten. Ich runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«

»Früher warst du irgendwie …«

»Irgendwie was?«

Janes Lippen zuckten, und sie warf mir einen amüsierten Blick zu, bevor sie wieder nach vorn sah. »Mürrisch.«

Mich beschlich der Verdacht, dass das nicht das Wort war, nach dem sie gesucht hatte. Außerdem war ich immer noch ein mürrischer Mistkerl.

»Ja, na ja, das wärst du wohl auch, wenn dein Dad sich verpisst hätte und dich bei einer Mom wie meiner zurückgelassen hat. Und schlechte Mom oder nicht – schließlich ist sie sowieso gestorben.« Verwundert über mich selbst runzelte ich die Stirn. Warum erzählte ich ihr das?

Als sie mich diesmal ansah, hielt sie meinen Blick auf eine Weise fest, die mich verunsicherte. In ihren Augen stand eine Weisheit, die mir das seltsame Gefühl gab, sogar jünger als sie zu sein. »Darf ich dir was erzählen? Etwas, das ich nicht mal Lorna verraten habe.«

Ich nickte, denn was immer es war, ich wusste, dass es wichtig war. Keine Ahnung, warum sie es mir erzählen wollte, und auch nicht, warum ich unbedingt wissen wollte, was es war, aber es interessierte mich nun mal.

»Ich wurde als Baby adoptiert.«

Was?

Sie sah, wie verwirrt ich war, und nickte mit so einem traurigen Gesicht, dass mein Herz plötzlich schneller schlug.

»Marissa und Calvin Higgins adoptierten mich im Alter von neun Monaten. Damals hieß ich Margot Higgins.«

»Das kapier ich nicht.«

»Sie konnten keine Kinder bekommen. Die einzige Familie, die sie hatten, war Calvins Mom. Sie mochte Marissa nicht. Und mich ebenso wenig. Sie mochte niemanden, den Calvin mehr liebte als sie. Aber damals war mir das natürlich nicht klar.« Sie grinste betrübt. »Das reimt man sich erst später zusammen, wenn man älter ist, weißt du. All die Erinnerungen, die plötzlich einen Sinn ergeben, wenn man kein kleines Kind mehr ist.«

»Jane … Ich verstehe nicht …« Wie konnte sie adoptiert worden sein, nur um dann doch wieder bei einer Pflegefamilie zu landen?

»Sie liebten mich«, flüsterte sie bedrückt. »Sie waren Mom und Dad. Als es passierte, war ich sieben. Autounfall. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade in der Schule. Sie fuhren zusammen zur Arbeit. Ich habe nach ihrem Tod erst erfahren, dass ich adoptiert war. Dass sie gar nicht meine richtigen Eltern waren.«

Mir sank ihretwegen das Herz.

»Früher habe ich getanzt.« Sie verlor sich in Erinnerungen. »Ballett. Aber das ist teuer. Außerdem wurde ich von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Ballettstunden rückten in weite Ferne. Eine Weile konnte ich nur malen. Ballerinen. Manchmal male ich die noch heute. Der Anblick einer Tänzerin erinnert mich jedes Mal daran, dass mein Leben anders hätte verlaufen können.« Sie stieß ein kleines, niedergeschlagenes Lachen aus. »Aber es ist nicht anders verlaufen. Es ist, was es ist, und wir machen das Beste aus dem, was wir haben. Trotzdem träume ich auch heute noch gern von diesem Leben. Marissa, meine Mom, versprach mir damals, mich, wenn ich älter wäre, mal mit in eine richtige Aufführung zu nehmen. Aber bis heute war ich noch nie im Ballett.«

»Eines Tages wirst du das.« Ehe ich michs versah, waren die Worte raus. Ein Versprechen. Eine Überzeugung. »Warum heißt du heute Jane Doe?«

»Dads Mom wollte mich nicht haben, obwohl sie meine nächste Verwandte war. Willa glaubt, dass meine Eltern alles, auch mich selbst, meiner Adoptiv-Großmutter hinterlassen haben. Dass sie sich nur nicht an ihre Wünsche gehalten hat. Von der Adoption habe ich erst nach dem Tod meiner Eltern erfahren. Die Mom meines Dads wollte nicht mal, dass ich den Namen meines Vaters behielt. Die Fürsorgebehörde wollte deshalb keinen Streit anzetteln, und ich selbst war erst sieben. Also nahm ich von Rechts wegen wieder den Namen Jane Doe an und kehrte ins Fürsorgesystem zurück.«

Großer Gott! »Das tut mir leid.«

Sie nickte, und eine feine Röte überzog ihre Wangen. »Das hab ich dir nur erzählt, damit du weißt, dass du nicht allein bist, Jamie. Wahrscheinlich durchwandern wir die Flure der Highschool in der festen Überzeugung, dass keiner den Mist versteht, den wir durchgemacht haben, aber beinahe jeder hat ein Geheimnis. Einen Schmerz, über den man nicht redet.«

Meine Kehle schnürte sich zu, und ich fühlte mich, als sei ich gerade von einer Dampfwalze überfahren worden. Mein Herz hämmerte zu heftig, und ich schämte mich. Ein ganzes Jahr lang hatte ich mich Skye gegenüber wie ein Arschloch verhalten. Und manchmal flippte ich vor lauter Wut und Groll immer noch aus. Und die Mädels servierte ich gleich reihenweise ab. Wurde unleidlich, sobald sich eine Hoffnungen machten – als hätte ich ihnen nicht von Anfang an klargemacht, dass ich nichts Festes wollte. Ich hatte zwar gute Noten, aber bei den Lehrern eine große Klappe. Und manchmal sehnte ich mich so sehr nach einer Prügelei, dass es mir in den Fingern juckte.

Das alles hatte die gleiche Ursache.

Und hier stand die junge Jane Doe vor mir, trauerte um ein Leben, das sie hätte gehabt haben sollen, behandelte aber jedermann geduldig, freundlich und respektvoll.

So hatte mir diese Neuntklässlerin gerade etwas Wichtiges beigebracht.

Jane bemerkte, wie sehr mir das alles zu schaffen machte, und schenkte mir ein liebenswürdiges Lächeln. Ein Grübchen, das ich bis dahin nicht bemerkt hatte, erschien in ihrer linken Wange. Wie süß. Es fühlte sich an wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube.

Fuck.

Ich wandte den Blick ab und rief mir ins Gedächtnis, dass sie nicht nur in der neunten Klasse, sondern auch die beste Freundin meiner Schwester war.

»Lass uns ein bisschen schneller gehen«, sagte ich also mit ausdrucksloser Stimme. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. »Ich hab noch was zu tun.«

Bei diesen Worten errötete sie, und ich verfluchte mich selbst, weil ich mich ihr gegenüber so mies verhielt.

Während des restlichen Weges zu ihrem Wohnblock sagte sie kein Wort mehr.

Mehr als nur einmal musste ich mir auf die Zunge beißen, um ihr nicht noch mehr Fragen zu stellen. Ich interessierte mich für das, was Jane zu sagen hatte. Ich wollte ihre Meinung zu Büchern und Musik hören … und vieles mehr.

Ohne sich zu verabschieden, eilte sie die Treppe zur Wohnung der Greens hinauf, was mich ärgerte. Hatte ich etwa ihre Gefühle verletzt, nachdem sie mir ihr Geheimnis anvertraut hatte? Während des gesamten Rückwegs zu unserem Haus verfluchte ich mich selbst und wünschte, ich hätte etwas anderes gesagt.

Sie vielleicht sogar in den Arm genommen.

Shit. Das ging nicht. Das ging überhaupt nicht. Jane war tabu. Sie war noch ein Kind. Ich durfte mich weder von ihren großen, seelenvollen Augen noch von ihrer erwachsenen Art einwickeln lassen – genauso wenig wie von dem Eindruck, den sie mit ihrer traurigen Geschichte bei mir hinterlassen hatte.

Vielleicht war es mit Lornas Freundschaft zu Jane ja jetzt vorbei, dann musste ich sie ohnehin nicht mehr sehen.

Doch diese Hoffnung löste sich in Wohlgefallen auf, als ich das Haus betrat und Lorna auf der Couch sitzen sah, das Handy ans Ohr gepresst. »Nein, es war meine Schuld. Es tut mir so leid, Jane. Ich war eine totale Bitch. Natürlich musst du nicht mit auf diese Party gehen. Ich will nur nicht, dass du wütend auf mich bist, wenn ich es tue.«

So leid ich ihr kleines Drama des heutigen Abends war, so wurde mein Blick doch weich, als ich hörte, wie meine Schwester sich entschuldigte. Vielleicht hatte Skye ja recht, und Jane hatte einen guten Einfluss auf Lorna. Im Vorbeigehen zerzauste ich ihr das Haar und wandte mich zur Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Sie sah mit einer solchen Heldenverehrung zu mir auf, dass mein schlechtes Gewissen mir einen schmerzhaften Stich versetzte.

Vielleicht sollte ich versuchen, ein besserer großer Bruder zu sein.

In diesem Moment vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Es war Bethany.

Ja. Hab morgen Zeit. Meine Eltern sind weg, und das Poolhouse steht leer. xxxx

Schon besser. Sonntag und Montag waren geritzt. Auch wenn mir meine Verpflichtungen als Babysitter für heute die Tour vermasselt hatten, hatte sich das Blatt gewendet, was mich mit meinem Schicksal versöhnte.

»Was willst du zu essen bestellen?«, fragte ich meine kleine Schwester, nachdem sie aufgelegt hatte.

Ihre Augen leuchteten auf. »Ich darf mir was aussuchen?«

»Ja.«

Sie schnellte vom Sofa empor. »Willst du damit wiedergutmachen, dass du Jane heute Abend mir vorgezogen hast?«

Sämtliche positiven Gefühle verflogen im Nu.

Genau das war nämlich die Scheiße, die mich an ihr immer so sauer machte. »Ich habe Jane nicht vorgezogen. Aus eurem kleinkarierten, unwichtigen Freundinnendrama hab ich mich rausgehalten. Sie ist vierzehn, und ich hab sie nicht allein nach Hause gehen lassen. Punkt, aus, Ende.«

»Aber mich hast du im Haus allein gelassen.« Lorna verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte mich an.

Ich sah sie an und erkannte meine Mutter in ihr wieder. Als ich noch klein war, pflegte Mom mich mit diesem Mist völlig durcheinanderzubringen und mir das Gefühl zu geben, sie einfach nicht genug zu lieben, egal, was ich für sie tat. Erst im Laufe der Jahre war mir ein Licht aufgegangen. Es war zermürbend. »Na gut«, blaffte ich und drückte die Kurzwahltaste auf meinem Handy. »Wir bestellen Pizza.«

»Jamie!«

Ich ignorierte ihr Gezeter und bestellte, was ich verdammt noch mal bestellen wollte. Meine Stimmung war nun offiziell auf dem Nullpunkt angelangt.

Aber als ich an diesem Abend im Bett lag, hörte ich im Geiste Janes Stimme.

Wahrscheinlich durchwandern wir die Flure der Highschool in der festen Überzeugung, dass keiner den Mist versteht, den wir durchgemacht haben, aber beinahe jeder hat ein Geheimnis. Einen Schmerz, über man nicht redet.

Es war ein ebenso schlichter wie bedeutsamer Moment gewesen. Weise Worte, die mir im Gedächtnis bleiben würden. Sie ermöglichten es mir, über meinen eigenen Horizont hinauszublicken. Diese Worte würden mich zu einem besseren Schriftsteller machen … aber was noch wichtiger war: auch zu einem besseren Menschen.

In der Stille lag ich da und ließ ihre Worte auf mich wirken. In dieser Nacht hörte ich auf, so verdammt wütend auf die Welt zu sein, denn mir wurde klar, dass da draußen ein paar Leute herumliefen, die erheblich Schlimmeres durchgemacht hatten als ich.

Ich hörte auf, mich so verdammt allein zu fühlen.

Ihretwegen.

Drei

JANE

Zwei Jahre später

Sechzehn Jahre alt

Heiß loderte der Schmerz in meiner Brust. Ich war keineswegs wütend, weil Christopher Cruz mit Lorna statt mit mir herumgeknutscht hatte.

Ich war verletzt, weil Lorna sich bewusst an Chris herangemacht hatte, und zwar, weil sie genau wusste, dass ich in ihn verknallt war.

Die Regeln, die sie mit dreizehn aufgestellt hatte, hatte sie selbst schon so oft gebrochen, dass ich den Überblick verloren hatte.

Ich war nicht dumm. Mir war klar, dass unsere Freundschaft teilweise schön und innig, aber teilweise auch toxisch war. Eine fünfzigprozentige Toxisch-Quote hätte eigentlich ausreichen müssen, um ihr den Laufpass zu geben. Aber ehrlich gesagt wollte ich unsere Freundschaft nicht beenden, weil es immer wieder Momente gab, in denen Lorna total lieb zu mir war, mich unterstützte und mit aller Macht beschützte. Außerdem blieb ich, weil ich Skye wie eine große Schwester liebte und meine Gefühle für ihren Bruder Jamie ein episches Ausmaß angenommen hatten. Ihr Haus mit den drei Schlafzimmern in Glendale war mittlerweile wie ein zweites Zuhause für mich. Wenn ich meine Freundschaft mit Lorna kappte, würde ich auch ihren Bruder und ihre Schwester verlieren.

Obwohl es zwischen Jamie und mir gar nicht so viele Berührungspunkte gab.

Ich liebte ihn aus der Ferne.

Autor

Samantha Young
<p>Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Samantha Young lebt in Schottland und hat in Edinburgh Geschichte studiert – viele gute<br/>Romanideen hatte sie während der Vorlesungen. Ihre Romane werden in 30 Ländern veröffentlicht. Wenn Samantha Young mal nicht schreibt, kauft sie Schuhe, die sie eigentlich nicht braucht.</p>
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