Wo mein Herz zu Hause ist

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Ihre Augen sind immer noch so blau wie der Sommerhimmel, denkt Skip, als er nach dreizehn Jahren seine große Liebe Adelina wiedersieht. Doch wird sie ihm glauben, dass er sie nie vergessen konnte, obwohl er sie so tief verletzte? Denn inzwischen bereut er es, ein arroganter Schönling gewesen zu sein, der es genoss, die Mädchen zu wechseln wie andere ihr Hemd. Ungeschehen machen kann er zwar nichts, aber vielleicht bekommt er ja noch eine Chance. Er muss Adelina einfach zurückerobern, denn er weiß, nur bei ihr findet sein ruheloses Herz sein Zuhause ...


  • Erscheinungstag 10.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769628
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Heute würde sie ihn wiedersehen – das erste Mal nach dreizehn Jahren.

Sie brauchte nicht nachzurechnen; jedes Jahr war ihr schmerzlich bewusst. Allerdings nicht seinetwegen. Skip Dalton war ihr völlig egal. Wenn sie in dieser Zeit überhaupt an ihn gedacht hatte, dann nur, weil jemand seinen Namen erwähnte, oder weil Dempsey Malloy sich Footballspiele im Fernsehen ansah.

Doch mit Dempsey war sie seit über einem Jahr nicht mehr verheiratet, und ihr Fernseher blieb seitdem aus. Wenn sie nicht an der Schule unterrichtete, musste sie sich um ihre Bienen kümmern oder um die nötigen Reparaturen am Haus.

Nein, an Skip Dalton lag es nicht, dass sie sich seit dreizehn Jahren mit Erinnerungen quälte. Sondern an der „logischen Entscheidung“, die sie damals getroffen hatte. Logisch jedenfalls in den Augen ihres Vaters.

Logik. Und was war mit Gefühlen? Mit Tränen? Mit den schrecklichen Schuldgefühlen, die sie manchmal nächtelang wach hielten?

Ihre Finger verkrampften sich, und beinah hätte sie den zierlichen Ohrring fallen lassen, den sie sich gerade anstecken wollte.

Warum hatte sie damals nur auf ihre Eltern gehört?

Weil du feige warst, Addie. Genau wie jetzt. Sieh dich doch an – dir zittern die Knie, weil du ihm gleich begegnen wirst.

Sie biss sich auf die Unterlippe, steckte sich den zweiten Ohrring entschlossen an und atmete auf, als es geschafft war. Sollte sie sich auch die Wimpern tuschen? Ihre Schwestern Lee und Kat lagen ihr ständig in den Ohren damit, dass sie sich öfter schminken sollte. Aber schließlich war sie nicht auf dem Weg zu einer Verabredung. Und Skip Dalton wollte sie schon gar nicht beeindrucken.

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete sich im Spiegel. Das sonnengelbe Sommerkleid hatte sie von Kat; es musste reichen. Geld wuchs schließlich nicht auf Bäumen – schon gar nicht hier auf Firewood Island mit seinen gerade mal zweitausend Einwohnern.

Als Imkerin mit knapp einer halben Million Bienen betrieb sie einen der „Hobbyhöfe“, wie die Leute vom Festland die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf der Insel gern überheblich nannten. Doch sommers wie winters zwölf Bienenstöcke zu betreuen, war beileibe kein Hobby, sondern verdammt harte Arbeit.

Sie steckte sich ihr dunkelblondes, widerspenstiges Haar zu einem Knoten auf, den sie mit vier Holzstäben befestigte. Die losen, sich ringelnden Strähnen ließ sie offen hängen – es war der Mühe nicht wert. An ihrer straßenköterblonden Mähne war wirklich nichts Besonderes.

Dafür war ihr Mund ein Hingucker. Sie beugte sich näher zum Spiegel und stellte zufrieden fest, dass ihre Lippen noch so voll und verführerisch aussahen wie damals. Nach kurzem Zögern legte sie einen Hauch zartrosa Lippenstift auf. Schließlich sollte er nicht denken, dass sie die letzten Jahre als Hausmütterchen am Herd verbracht und eine Schar Kinder versorgt hatte.

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Du brauchst keine Schar, Addie. Mit Michaela sind all deine Träume in Erfüllung gegangen.

Trotzdem ließ der Schmerz nicht nach. Warum war die Erinnerung gerade heute so schwer zu ertragen?

Aber sie wusste natürlich warum. Wegen Skip Dalton.

Vergiss ihn einfach! Du bist dreizehn Jahre lang wunderbar ohne ihn ausgekommen.

Genau. Und deshalb klopfte ihr auch das Herz bis zum Hals, und ihre Wangen fühlten sich heiß an.

Nimm dich doch zusammen! Er wird dich sowieso nicht erkennen.

Der Gedanke beruhigte sie etwas, und sie schaltete das Licht aus und trat in den Flur.

Michaela saß in ihrem Zimmer und war dabei, drei ihrer zehn Barbiepuppen umzuziehen. Sie trug nur eine Socke und das gelbe T-Shirt linksrum. Ins dunkle Haar hatte sie sich vier rosa Haarklemmen gesteckt, die im Farbton zu ihren pinkfarbenen Shorts passten.

Addie musste an sich halten, um sich nicht auf ihre Tochter zu stürzen, sie in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken.

Stattdessen fragte sie ruhig: „Na, können wir los zu Grandma?“

„Okay.“ Michaela sammelte drei der Puppen ein, stand auf und nahm Addies Hand.

„Das wird bestimmt lustig. Grandma will heute Nachmittag mit dir Kekse backen. Ehrlich gesagt, beneide ich dich. Ich muss zu dieser langweiligen Veranstaltung in der Schule.“

„Ja.“

Addie wünschte sich wie immer, ihre Kleine würde mehr reden. Die Sprachtherapeutin gab sich die größte Mühe, doch seit Dempsey die Familie vor vierzehn Monaten verlassen hatte, war es schwer, an Michaela heranzukommen.

Als Addie mit ihrer Tochter aus dem Haus trat, das ihre Großeltern aus einfachen Brettern gebaut hatten, blieb sie kurz stehen und betrachtete die lange Einfahrt zu dem Neubau auf der anderen Straßenseite. Das große, zweistöckige Haus mit den grünen Fensterläden und dem Türmchen war in den letzten zwei Monaten entstanden und hinter den vielen Eichen, Espen und Nadelbäumen kaum zu sehen. Nur an manchen Stellen konnte man zwischen den Stämmen einen Blick auf die umlaufende Veranda werfen.

In der Stadt kursierten Gerüchte über den Besitzer: ein reicher Typ vom Festland, hieß es, der sich hier seinen Sommersitz errichtete.

Doch warum baute er dann nicht am Wasser, wo er gleich einen privaten Liegeplatz für seine Jacht dazubekam? Warum hatte er ein Grundstück mitten in der Wildnis gekauft, wo es außer einer holperigen Landstraße nur Bäume gab?

Zum Glück war das nicht Addies Problem. Es interessierte sie nicht, wer in das Haus einzog, solange sich die neuen Nachbarn um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und endlich wieder Ruhe einkehrte. Vom nervtötenden Sägen und Hämmern der letzten Monate hatte sie wirklich genug.

In das fünf Kilometer von der Inselstadt Burnt Bend gelegene Haus ihrer Großeltern war sie Anfang des Jahres kurz nach der Scheidung gezogen. Sie brauchte mit ihrer Tochter schließlich ein Dach über dem Kopf, und hier wohnte sie wenigstens mietfrei.

Dempsey hatte sie verlassen, „um sich selbst zu finden“. Ihre Mutter Charmaine war fest davon überzeugt, dass er zu seiner Familie zurückkehren würde, doch für Addie stand fest, dass sie ihn dann hochkant rauswerfen würde.

„Er ist doch nur ein großer Junge, der seinen Weg noch finden muss“, pflegte Charmaine dann zu sagen, ungeachtet der Tatsache, dass der Mann zweiundvierzig war. Eine recht überraschende Aussage von einer Mutter, die ihrer Tochter vor dreizehn Jahren geraten hatte, „eine erwachsene Entscheidung zu treffen“, als sie noch vor dem Highschool-Abschluss schwanger wurde.

Womit Addie mit ihren Gedanken wieder bei Skip war – ihrer ersten großen Liebe und dem Vater ihrer Tochter.

Heute würde sie ihn wiedersehen, weil der alte Trainer des Highschool-Footballteams seinen Job nach über dreißig Jahren an seinen früheren Starspieler Skip Dalton übergab.

Und nicht nur heute. Als neuer Trainer würde Skip auf der Insel wohnen und ihr ständig über den Weg laufen. In der Schule, in der Post, im Café, im Laden seiner Mutter.

Ganz gleich, was Addie auch tat: Sie konnte ihm nicht entkommen.

Auf dem Schulgelände wimmelte es von Schülern und Ehemaligen, die alle gekommen waren, um Coach Henry McLane zu verabschieden. Einige waren sogar Tausende von Kilometern angereist, um das letzte Kapitel in der dreißigjährigen Trainergeschichte nicht zu verpassen.

Skip war ein Teil dieser Geschichte, auch wenn er das heute lieber verdrängt hätte. Damals hatte er auf dem Footballfeld gestanden und den Mädchen in den Zuschauerrängen zugewinkt. Jetzt stand er neben seinem früheren Trainer an der Tür und begrüßte Leute, die er dreizehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Viele seiner früheren Mitschüler erkannte er sofort – jedenfalls die Männer – obwohl sie sich verändert hatten: Der eine hatte jetzt eine Glatze, der andere schon graue Haare.

Bei den Mädchen – jetzt den Frauen – sah das anders aus. Erst wenn sie ihren Namen nannten, konnte er eine Verbindung herstellen, und das war ihm etwas peinlich. Denn immerhin war er mit fast jeder der Frauen, die um ihn und den Trainer herumstanden, während der Schulzeit mindestens einmal ausgegangen.

Kein Wunder, dass viele ihn kühl und distanziert betrachteten. Sie hatten seine Überheblichkeit als Star-Quarterback der Fire Highschool nicht vergessen. Außerdem merkten sie natürlich sofort, dass er sie nicht mal wiedererkannte – ein sicheres Zeichen dafür, wie unwichtig sie ihm damals gewesen waren.

Doch viel schlimmer war, was er ihr angetan hatte.

Um das wiedergutzumachen, hätte er sogar seine neun Jahre als Footballspieler in der Profi-Liga hergegeben.

„Skip, erinnerst du dich an Cheryl Mosley?“ Der Coach stellte ihm eine hochgewachsene Rothaarige vor. „Sie hat Keith Bartley geheiratet und ist jetzt Fachbereichsleiterin für Naturwissenschaften. Du wirst dir mit ihr die Chemieklassen teilen.“

Skip nickte der Frau kurz zu. Zum Glück hatte er einen ordentlichen Abschluss gemacht, bevor er Football-Profi wurde. Schließlich konnte eine Sportkarriere von heute auf morgen enden. Und so war es ja auch gekommen – vor zwei Jahren war er bei einem Spiel so schwer an der Schulter verletzt worden, dass er auch nach etlichen Operationen noch Schmerzen hatte.

Also konnte er sich glücklich schätzen, jetzt als Trainer und Chemielehrer einen neuen Lebensinhalt zu finden.

Lächelnd schüttelte er der Frau die Hand. Cheryl, richtig. Sie war die Anführerin der Cheerleader gewesen und hatte ihm bei jedem Spiel zugejubelt. Fünf Monate hatte die Beziehung gehalten – und dann hatte er Addie Wilson kennengelernt. Sie war die einzige Frau aus seiner Vergangenheit, die er bis jetzt noch nicht hier gesehen hatte.

Und sie kommt auch nicht, sagte seine innere Stimme. Warum sollte sie? Du hast sie sitzen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.

„Ich freue mich drauf, mit dir zusammenzuarbeiten.“ Cheryls Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. „Wir sollten uns mal zusammensetzen, bevor die Schule wieder anfängt. In der naturwissenschaftlichen Abteilung stehen ein paar Veränderungen an.“

„Klar, kein Problem. Der Coach hat meine Nummer. Ruf mich einfach an.“

„Sehr schön. Na dann, willkommen an Bord.“ Es klang nicht besonders enthusiastisch.

Nach ihr kamen weitere Frauen: Mütter, Schülerinnen, Ehemalige und Lehrerkollegen, und sie alle hatten eins gemeinsam: Sie verabschiedeten sich tränenreich vom Coach und begrüßten Skip recht halbherzig.

Frauen vergessen nicht so leicht, dachte er beschämt. Was erwartete ihn dann erst bei Addie?

Eine Stunde später hatte jeder einen Platz gefunden, und es folgten die Abschieds- und Lobreden. Der alte Trainer übergab ihm offiziell den Schlüssel zum Trainerraum, und die Menge skandierte „Coach Wilson“ und schließlich, verhaltener, „Coach Dalton“.

Und da endlich entdeckte er Addie.

Sie stand ganz hinten, in der Nähe einer Gruppe, die zu spät gekommen war und keinen Platz mehr gefunden hatte. Addie klatschte und jubelte auch nicht, sondern lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Hallenwand – und beobachtete ihn.

Unwillkürlich musste er lächeln, so freute er sich, sie zu sehen. Am liebsten wäre er von der Bühne gesprungen und direkt auf sie zugelaufen. Er wollte sie aus der Nähe betrachten, ihre Hand nehmen, über ihr dichtes, weiches Haar streichen und ihr tief in die blauen Augen blicken. Er wollte ihren Namen flüstern …

Und dann was? Sie um Verzeihung bitten? Ihr sagen, was du getan hast, warum du hier bist, und was du erreichen willst?

Wusste er überhaupt, was er bei Addie erreichen wollte? Immer wieder hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen, als er vor zehn Monaten beschloss, auf die Insel zurückzukehren. Als er von den Ruhestandsplänen des alten Trainers hörte, hatte er einfach in der Schule angerufen und sich um die Nachfolge beworben. Der Schulrat hatte freudig zugestimmt und Skip einen Fünf-Jahres-Vertrag angeboten, den dieser sofort unterschrieb.

Denn schließlich ging es hier vor allem um seine Tochter.

Er warf einen verstohlenen Blick zu der Zwölfjährigen, die in der ersten Reihe saß und ihm mit strahlenden Augen zujubelte. Unglaublich, wie sehr er dieses Kind liebte. Jedes Mal, wenn er Becky ansah, konnte er sein Glück kaum fassen: dass er sie wiedergefunden hatte und sie jetzt bei ihm lebte.

Manchmal bedauerte er die verlorenen Jahre. Doch er konzentrierte sich lieber aufs Hier und Jetzt, und das bestand darin, ihr ein liebevolles Zuhause zu geben. Einschließlich einer guten Schule, netten Freunden und einer Familie, der sie sich zugehörig fühlte.

Wenn es nach ihm ging, würde Becky das alles auf Firewood Island finden – mit Hilfe von Addie.

Allerdings musste er da äußerst behutsam vorgehen. Nach allem, was er in den letzten Tagen auf der Insel gehört hatte, konnte Addie sehr gut für sich selbst sorgen und ließ so leicht niemanden an sich heran. Sogar über die Entfernung meinte er ihren trotzigen Gesichtsausdruck zu erkennen, der ihm zu verstehen gab: Ich bin zur Verabschiedung von Coach McLane hier; nicht deinetwegen.

Als der Applaus verebbte, verließen er und der Trainer die Bühne. Nun begann die Party, und er konnte sich unters Volk mischen und über seine Pläne für das Footballteam sprechen.

Und endlich Addie treffen, um ihr Becky vorzustellen.

Seine Tochter erwartete ihn schon. „Du warst toll da oben, Dad“, strahlte sie. „Sie sind begeistert von ihrem neuen Trainer.“

Ihr Vertrauen machte ihn stolz, und noch immer rührte es ihn, wie selbstverständlich sie ihn „Dad“ nannte. Als er ihr vor zehn Monaten die Lage erklärt hatte, hatte sie sich in ihrer Sehnsucht nach einer richtigen Familie so schnell und vollständig angepasst, dass es ihm fast das Herz brach. Doch ihr die Wahrheit über Addie zu sagen, hatte er bisher nicht gewagt.

Er legte seiner Tochter einen Arm um die Schultern und ging mit ihr in Richtung Ausgang. Draußen war das Festzelt mit dem Büfett aufgebaut. Dabei hielt er angestrengt Ausschau nach Addie, doch trotz ihres auffälligen gelben Kleides konnte er sie nirgends entdecken. Vielleicht hatte er sich nur eingebildet, sie zu sehen? Schon möglich.

Schließlich hatte er in den letzten dreizehn Jahren fast ständig an sie gedacht. Nachts träumte er von ihr – manchmal gute, manchmal schlechte Träume. Auf jeden Fall wurde es höchste Zeit, einen Abschluss zu finden. So oder so.

„Komm, lass uns das Büfett stürmen“, sagte er zu seiner Tochter.

Zusammen traten sie hinaus auf den Schulhof.

Manchmal konnte es Addie kaum fassen, dass sie mal zu fünft in dem nicht sehr geräumigen Haus gelebt hatten, in dem ihre Mutter immer noch wohnte. Von den drei Schwestern war sie diejenige, die Charmaine fast täglich besuchte. Lee hielt sich als Charterpilotin oft tagelang nicht auf der Insel auf, und Kat hatte mit ihrer Frühstückspension gerade im Sommer alle Hände voll zu tun.

Doch es lag auch daran, dass Addie, die Jüngste der drei, als Einzige ihren leiblichen Vater kannte. Er war vor zwei Jahren gestorben und hatte die Vaterrolle für alle drei Schwestern übernommen, aber noch immer überschatteten diese Familiengeheimnisse Kat und Lees Verhältnis zur Mutter. Lees Vater hatte Frau und Tochter verlassen, als Lee noch klein war, und Kat wusste überhaupt nicht, wer ihr Vater war, und ob er noch lebte. Charmaine weigerte sich standhaft, irgendetwas darüber preiszugeben.

Wozu? fragte sie immer. Das ist alles lange vorbei und vergessen.

Tja, Mom, dachte Addie bitter. Manchmal holt die Vergangenheit einen trotzdem ein. Skip Dalton ist das beste Beispiel dafür.

Als sie ihn vorher auf der Bühne gesehen, seine tiefe, warme Stimme gehört hatte, stand ihr sofort wieder alles deutlich vor Augen. Es kam ihr wie gestern vor, als er sie am Rande des Footballfelds geküsst und in einer Mondnacht am Ufer des Silver Lake entjungfert hatte. Und dann hatte er sie geschwängert, hier in ihrem Elternhaus, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo sie jetzt in ihrem alten Pick-up saß.

Entschlossen verdrängte sie diese Erinnerungen und stieg aus. Sie führte längst ihr eigenes Leben. Sollte Skip Dalton sich doch eine andere Frau suchen – was ihm sicher nicht schwerfallen würde. Schließlich hatte er nach allem, was sie dank Dempsey so aus der Footballszene gehört hatte, noch nie etwas anbrennen lassen.

„Liebe Güte, du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen“, begrüßte sie ihre Mutter an der Tür.

„Schön wär’s. Wie geht’s meiner Kleinen?“, lenkte Addie ab.

„Sehr gut.“

Addie ging ins Wohnzimmer, wo sie Michaela unter einer Wolldecke fand, die mit Hilfe von Stühlen zu einem Zelt geworden war. Vor dem „Eingang“ lagen mehrere Barbiepuppen.

Addie zupfte liebevoll an Michaelas Haar. „Hey, Süße, kommst du mit nach Hause?“

„K-k-k-ann ich n-n-n-och b-bl-bleiben?“

Michaela verkroch sich noch weiter unter der Decke und sah Addie bittend an. Sie kniete sich auf den Boden und nahm die Hände ihrer Tochter.

„Sprich langsam, Liebes.“

„Kann … ich … noch … bleiben?“

„Grandma hat heute noch etwas anderes zu tun.“

Zwar wusste Addie nicht sicher, ob das stimmte, aber jedenfalls wollte sie so schnell wie möglich nach Hause. Sie brauchte die Geborgenheit ihrer eigenen vier Wände, um sich zu beruhigen und zu verinnerlichen, dass Skip Dalton nicht ihre ganze Welt durcheinanderbringen würde.

Michaela verzog das Gesicht. „Aber … ich … will … weiterspielen.“

„Ich weiß. Vielleicht kommen wir morgen wieder her, okay?“

Addie stand auf und streckte ihrer Tochter die Hand hin, ein Zeichen, dass die Diskussion beendet war.

Michaela packte ihre Barbies ein und kroch aus ihrem Versteck. „T-tschüss, Grandma.“

Nachdem Charmaine ihr noch Kekse zugesteckt hatte, beeilte sich Addie, wieder zum Wagen zu kommen.

Doch ihre Mutter hielt sie zurück und flüsterte: „Was ist auf der Party denn passiert, dass du so durcheinander bist?“

„Nichts. Der neue Coach wurde vorgestellt, und Harry bekam die übliche goldene Uhr überreicht. Und das war’s auch schon.“

„Und war Skip Dalton da?“

Addie beobachtete, wie Michaela ins Auto stieg. „Tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest. Es stand schließlich zweimal in der Zeitung.“

Charmaine kniff die Augen zusammen. „Hast du mit ihm geredet?“

„Nein.“

„Aber du hast ihn gesehen.“

„Ja.“

Die Fragen standen Charmaine förmlich ins Gesicht geschrieben: Wie sah er aus? Waren die Leute beeindruckt? Hat er sich verändert?

„Ich muss jetzt los.“ Addie ging die Stufen hinunter.

„Addie … dein Vater wollte doch nicht, dass du so … unter der Sache leidest.“

Unter der Sache. Ein neutraler Ausdruck für die Gehirnwäsche, die Cyril Watson seiner Tochter verpasst hatte, um sie dazu zu bringen, den Mann aufzugeben, den sie liebte. Und einige Monate später das Kind von ihm.

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. „Fang nicht davon an, Mom. Ich weiß schon, warum Dad so einen Druck auf mich ausgeübt hat. Er wollte nicht, dass seine wunderbare Tochter abrutscht.“

Erschrocken riss Charmaine die Augen auf. „Aber nein, so darfst du das nicht sehen. Er wollte, dass du eine Chance hast, er wollte …“

„Genau. Er wollte. Und was er wollte, hat er immer bekommen.“

„Aber das stimmt doch gar nicht. Dein Vater hat das getan, was er für das Beste hielt …“

„Das Beste für wen? Für mich? Für dich? Für die Familie? Mach dir doch nichts vor. Er wollte nur seinen Ruf schützen; das wissen wir alle. Alle außer dir. Und wann wirst du dir das eingestehen?“

„Du nimmst dir Skips Rückkehr zu sehr zu Herzen, aber das ist er nicht wert.“

Addie lachte verächtlich. „Irgendetwas muss er schon wert sein. Immerhin war er mal der beste Quarterback in der Liga.“

Ihre Mutter senkte den Blick, wahrscheinlich aus Schuldgefühl. Aber Addie kümmerten Charmaines Gefühle schon lange nicht mehr. Im Laufe der Jahre hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt, und das hatte auch Dempsey zu spüren bekommen.

„Waren Kat und Lee auch da?“, fragte Charmaine.

„Keine Ahnung, ich habe sie nicht gesehen. Ich bin sofort wieder gegangen, als der Coach seine Uhr hatte.“

Charmaine seufze vernehmlich.

„Was? Hast du etwa erwartet, dass ich mich dort amüsiere, Skip treffe und ihn herzlich willkommen heiße?“ Als Charmaine nicht antwortete, schüttelte Addie ungläubig den Kopf. „Ja, das hast du tatsächlich.“

„Immerhin werdet ihr an derselben Schule sein.“

„Ja, und darauf freue ich mich wirklich nicht. Das kannst du mir glauben.“

„Warum trefft ihr euch nicht vorher mal? Vielleicht hilft es dir, über deine Probleme hinwegzukommen.“

Probleme? Als Dad mich gezwungen hat, die Papiere zu unterzeichnen, wollte ich nur noch sterben. Sterben, verstehst du?“

„M-m-mom!“, rief Michaela ängstlich aus dem Wagen.

„Ich muss los. Bis später.“

Mit schnellen Schritten ging Addie zum Auto.

Charmaine eilte ihr nach. „Und was willst du nun unternehmen?“

„Nichts. Rein gar nichts. Der Mann ist mir völlig egal.“

Sie stieg ein, startete den Wagen und ließ ihre Mutter einfach stehen.

Nichts. Rein gar nichts. Vergiss das nicht, Addie.

Skip Dalton war nichts weiter als ein kleines Schlagloch in ihrem Lebensweg. Sie würde ihn einfach ignorieren.

Aber warum war sie dann noch immer so aufgewühlt?

2. KAPITEL

Am Montag nach der Willkommensparty in der Schule stellte Skip seinen Pick-up neben dem Prius auf der Einfahrt seines neuen Hauses ab und stieg aus. Gestern hatte die Umzugsfirma die Möbel gebracht, und heute würden er und Becky die Umzugskisten auspacken.

Über die Motorhaube lächelte er Becky an. „Tja, da sind wir. Unser neues Zuhause.“

Er hoffte sehr, dass ihr das Haus, die Insel und die Schule, auf die sie nach den Sommerferien gehen würde, gefielen. Immerhin machte sie schon mal große Augen, als sie das Haus zum ersten Mal sah.

„Es ist riesig! Ich war noch nie in einem so großen Haus! Wohnen wir da ganz allein drin?“

„Nur wir beide.“ Im Moment jedenfalls. Skip konnte natürlich nicht in die Zukunft sehen, aber er hoffte sehr, dass er und die Nachbarin von gegenüber irgendwann Freundschaft schließen würden. Um Beckys willen. Und vielleicht ergab sich dann ja mehr daraus …

Auf einmal war ihm Beckys Staunen etwas peinlich. Immerhin war dies hier nur eins der drei Häuser, die er besaß – und nicht einmal das größte.

„Wenn du dich draußen etwas umsehen willst, nur zu. Ich fange schon mal an, auszupacken. Komm einfach rein, wenn du Lust hast.“

Dankbar lächelte sie ihn an. „Gern. Es ist so still hier. Ich wusste vorher gar nicht, dass mir das so gut gefällt.“

„Du meinst die viele Natur?“

„Ja.“ Staunend betrachtete sie einen Buntspecht, der auf einen Baumstamm in der Nähe einhämmerte.

Skip erwiderte ihr Lächeln. „Das hier ist zwar nur eine kleine Insel, und sie ist 1892 einmal komplett abgebrannt – daher der Name. Aber die Natur hat sich den Ort zurückerobert, und jetzt gibt es hier wieder mindestens genauso viele Tiere wie früher. Viel Spaß beim Entdecken.“

Damit ging er die Verandastufen hinauf. Auch er hatte vorher gar nicht gewusst, wie sehr er die Insel vermisst hatte.

Wie im Traum ging Becky über das Grundstück. Alles war so grün und riesig, und die Luft roch frisch und nach Salz. Manchmal konnte sie noch gar nicht glauben, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. War es wirklich erst zehn Monate her, dass ihr Dad sie gefunden hatte?

Ihr richtiger Dad …

Er war so cool. Freundlich und geduldig und einfach nett. Ganz anders als ihr anderer Dad. Ihn vermisste sie kein bisschen – aber dafür ihre Mom. Kaum zu fassen, dass diese jetzt schon vier Jahre tot war. Becky versuchte, sich die Frau vorzustellen, die sie so sehr geliebt hatte – ihre blonden Haare und ihr liebevolles Lächeln. Wie sie ihr beim Einschlafen vorgelesen oder bei den Hausaufgaben geholfen hatte.

Doch das Bild blieb verschwommen, als würde sie ihre Mutter durch dichten Nebel sehen. Und an die Stimme konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern.

Vielleicht war es ja besser so. Wenn sie nicht mehr wusste, wie ihre Mutter aussah, dann konnte sie vielleicht auch jenen schrecklichen Tag vergessen.

Sie hob den Kopf und merkte, dass sie schon recht weit in den dichten Wald hineingelaufen war.

Konzentrier dich auf dein neues Leben. Denk nicht an damals.

Becky kam in den Vorgarten. Auf der anderen Seite der Straße führte ein langer Feldweg zu einem Holzhaus. Ein Kind saß auf der Türschwelle.

Auf der Suche nach neuen Freunden überquerte Becky die Straße und ging den Feldweg hinauf.

„Hi!“, rief sie, als sie näherkam.

Das Mädchen trug Shorts und ein rosafarbenes T-Shirt und hatte lange, dunkle Zöpfe.

Becky schätzte es auf sechs oder sieben. Weil die Kleine etwas verängstigt aussah, stellte sie sich gleich vor. „Ich bin Becky. Ich wohne gegenüber.“

Aus großen braunen Augen sah die Kleine sie an. Ihr Mund bewegte sich, doch sie sagte nichts. Becky setzte sich neben sie und ihre Barbiepuppen.

„Ich hatte auch mal eine Prinzessin-Barbie“, sagte sie und griff nach der Puppe mit der kleinen Krone. „Aber das ist schon lange her. Dann ist meine Mom gestorben, und ich habe die Prinzessin irgendwo verloren.“

Becky ließ die Barbie ein paar Tanzschritte machen und summte dazu. Das Mädchen schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

„Wie heißt du?“, fragte sie.

„M-m-michaela.“

„Ein schöner Name“, bemerkte Becky und überhörte das Stottern.

„M-m-meine Mom und ich g-g-ehen gleich z-z-u den B-b-bienen. Willst du m-m-itkommen?“

„Bienen?“ Becky sah sich um. „Gibt es hier irgendwo einen Bienenstock?“

„Ja. M-m-meine Mom v-v-erkauft den Honig.“

„Oooh – dann gehören diese weißen Bienenkästen euch?“

Die Augen des Mädchens strahlten. „Ich … kann … Mom fragen … ob du … mitkommen … darfst.“

Autor

Mary J Forbes
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