Zärtlicher Trost in deinen Armen

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Dr. Edward North ist der Traum aller Schwestern in der Hunter Clinic! Nur Charlotte verbietet sich jeden Gedanken an den attraktiven Chirurgen. Ihr Leben ist kompliziert genug. Bis sie eines Tages verzweifelt in seinem Büro steht - und Edward sie zärtlich in seine Arme zieht …


  • Erscheinungstag 20.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505666
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Was, glaubst du, steckt dahinter?“

„Wie bitte?“ Charlotte King gab sich alle Mühe, Edward North nicht zu beachten, der seine Taschen gerade nach seinen Schlüsseln durchwühlte. Daher hatte sie die Gespräche auch nicht mitbekommen, die im Schwesternzimmer kursierten.

„Ein geheimes Liebesleben oder gar kein Liebesleben?“ Paula reckte den Hals, um mehr sehen zu können. „Vielleicht braucht er ja Hilfe.“

Charlotte unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. „Was? Weißt du denn, wo er die Schlüssel verloren hat?“

„Nein. Aber ich bin wirklich gut darin, Dinge zu finden.“ Paulas Lächeln ließ keinen Zweifel offen, dass sie eine gründliche Untersuchung plante, vielleicht sogar eine Leibesvisitation.

„Zu spät. Er hat sie.“ Alli grinste Paula an. „Ich wette mit dir, dass er eine heimliche Geliebte hat.“

„Aber wann sieht er sie denn? Der Mann arbeitet ja praktisch rund um die Uhr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Zeit für irgendetwas anderes hat.“

„Immerhin hat er Zeit genug, um schwimmen zu gehen.“ Allie lächelte spitzbübisch.

„Wirklich?“ Paula sah sie interessiert an.

„Ja, ich hatte letzte Woche meine Sportschuhe im Studio gelassen und sie mir nach der Arbeit geholt. Da habe ich ihn im Pool gesehen, wo er ein paar Runden gedreht hat.“

„Verstehe. Na ja, vielleicht kaufe ich mir demnächst einen neuen Bikini. Gemeinsame Interessen sind für eine Beziehung sehr wichtig.“

„Aha, du hast anscheinend schon darüber nachgedacht.“ Charlotte hätte sich gewünscht, dass Paula und Allie etwas leiser sprechen würden. Allerdings war es nicht sehr wahrscheinlich, dass Edward sie gehört hatte. Es war ziemlich schwierig, seine Aufmerksamkeit zu erregen, selbst wenn er vorgab, seinem Gegenüber zuzuhören. Trotzdem hatte sie ein unbehagliches Gefühl. Es war irgendwie falsch, so über ihn zu reden.

„Wer nicht? Ich glaube, er braucht eine gute Frau. Ich würde mich auf jeden Fall für diese Position bewerben, wenn sonst niemand Interesse zeigt.“

Allie lachte. „Reiß dich zusammen, Paula. Es stehen schließlich noch andere in der Schlange. Ich zum Beispiel und auch Charlotte, oder?“

Charlotte dachte ernsthaft über die Vorstellung nach. „Na gut, aber nur, um euch Gesellschaft zu leisten. Eigentlich habe ich keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen.“

Und auch kein Geld. Oder auch nur den Wunsch dazu, jedenfalls meistens. Allerdings war Edward einmal … sie sah hinüber in sein Büro, durch die Glaswand hindurch. Er saß jetzt hinter seinem Schreibtisch und war tief in Gedanken versunken. Vor ihm türmte sich ein großer Stapel Bücher und Papiere auf.

Nein, Edward war kein Mann, den man mit anderen teilen konnte. Er verdiente es, von einer Frau geliebt und verwöhnt, nicht aber wie ein hübsch verpacktes Geschenk herumgereicht zu werden. Plötzlich sah er auf, als ob er ihre Gedanken gespürt hätte. Ihre Blicke trafen sich.

Charlotte merkte, dass sie errötete. Ja, vielleicht war Edward der Mann für eine einzige Frau. Aber diese Frau war sie nicht.

Sie drehte sich schnell um und gab vor, nicht bemerkt zu haben, dass er sie beim Starren erwischt hatte. „Stellt ihr beide euch nur hübsch an. Ich muss noch eine Runde auf der Station machen. Außerdem wird meine Freundin Lucy bald Isaac bringen.“

„Ach, wirklich?“ Paula liebte Isaac, Charlottes Sohn, über alles. „Welchem Umstand verdanken wir diese Ehre?“

„Na ja, heute fällt die Schule aus, und Lucy hat sich bis jetzt um ihn gekümmert. Aber später hat sie ein Date, deshalb liefert sie ihn vorher bei mir ab. Wenn ihr die beiden seht, könnt ihr ihnen dann sagen, dass sie auf mich warten sollen?“

Paula nickte. „Natürlich. Lass dir ruhig Zeit.“

Edward North war gerade zum interessantesten Teil der morgigen Operation gekommen. Mikrochirurgie war an sich schon sehr komplex, aber dieser Fall stellte für ihn eine besondere Herausforderung dar. Er liebte es, sich gedanklich darauf vorzubereiten, und das gelang ihm am besten im Pool, der sich im Keller der Hunter Clinic befand. Durch körperliche Anstrengungen bekam er seinen Kopf am besten frei. Doch leider konnte er nicht damit rechnen, heute im Pool allein zu sein, daher hatte er sich für sein Büro entschieden.

„Nein. Nein, nicht so …“ Frustriert schüttelte er den Kopf. Er würde noch einmal von vorn anfangen müssen. Oder wenigstens vom letzten Satz der mikroskopischen Nähte aus. Er holte tief Luft und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Aber ihm kam ein ungebetenes Bild dazwischen. Das Bild einer Frau mit dunkelblonden Haaren, die hinten fest zusammengebunden waren. Sie hatte hellbraune Augen. Aus der Ferne konnte er die kleinen Goldfleckchen darin nicht erkennen. Doch er wusste, dass es sie gab. Irgendwann war Charlotte ihm aufgefallen, obwohl er sich von keiner anderen Schwester den Namen merken konnte.

Er hatte hochgeschaut und sie angesehen. Sie war errötet und hatte weggeguckt.

Die genaue Funktionsweise dieser speziellen Art der Gefäßerweiterung zu analysieren, war für Edward ein Kinderspiel, auch wenn der Fall recht kompliziert war. Er schloss die Augen, fokussierte sich erneut und kehrte zur Arbeit zurück.

Lucy stand bereits vor der Tür zum Schwesternzimmer, als Charlotte von der Stationsrunde zurückkehrte.

„Hey, Lucy, du siehst toll aus. Warte bitte kurz, ich muss nur meinen Mantel holen.“ Sie sah sich suchend um. „Wo ist Isaac?“

„Oh, er wollte dir entgegengehen. Ich habe ihm nachgerufen, konnte ihn aber nicht mehr aufhalten.“

Charlotte sah ihre Freundin entsetzt an. Eiskalte Furcht packte sie, und sie wusste, dass sie sofort handeln musste.

„Bitte, geh nach unten und sieh nach, ob er das Gebäude nicht verlassen hat. Ich werde ihn hier suchen, auf diesem Stockwerk.“

Isaac wusste, dass er nicht in die Behandlungszimmer gehen durfte. Das hatte Charlotte ihm strengstens verboten. Trotzdem sah sie dort nach und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Weder Allie noch Paula hatten ihn gesehen, und ihre Furcht wurde immer größer. Schließlich kam Lucy von unten zurück.

„Nein, die Dame am Empfang hat ihn auch nicht gesehen. Er muss noch in der Klinik sein.“

Nun, das war ein kleiner Trost. Aber ein Fünfjähriger konnte schnell in Schwierigkeiten geraten. Der Pool … plötzlich musste Charlotte an den Pool im Keller denken, und ihr wurde ganz schlecht.

„Ich werde den Sicherheitsdienst rufen.“ Sie griff nach dem Telefonhörer, ließ ihn dann aber sinken. Entweder hörte sie jetzt schon Stimmen, oder …

Aber nein, das war eindeutig das Lachen ihres Sohnes gewesen und keine Halluzination.

Lucy hatte es auch gehört. „Wo kann er nur sein?“

Ein erneutes Lachen, aber diesmal von einem Erwachsenen. Vielleicht von Edward? Charlotte konnte sich nicht erinnern, ihn jemals lachen gehört zu haben. Wortlos marschierte sie auf sein Büro zu und riss die Tür auf, ohne anzuklopfen.

Sie war so erleichtert darüber, Isaac zu sehen, dass sie die Szene gar nicht richtig wahrnahm. Doch dann sah sie, dass Isaacs Lieblingsspielzeug, das blaue Häschen, das er überall mit sich herumschleppte, auf Edwards schwarzem Ledersessel thronte und dass Edward auf dem Boden kniete.

„Isaac!“, sagte sie entsetzt. „Was machst du denn da?“

Ihr Sohn sah sie an. Aus seinen unschuldigen blauen Augen und mit jenem Lächeln, das all ihren Ärger und ihre Angst zum Schmelzen brachte.

„Hi, Mum. Ich mache Wasser.“ Er griff nach einem kleinen roten Ball aus einer Kiste, die vor ihm stand. „Schau mal, hier, dieser Ball. Das ist …“

„Sauerstoff“, sagte Edward und stand schnell auf. Er sah Charlotte beschämt an. „Sie sind seine Mutter?“

„Ja.“ Jetzt hatte sie nur noch Augen für Isaac. „Bitte, komm her.“

„Aber Mum, ich hab’s dir ja noch gar nicht gezeigt. Sieh mal …“

„Wir dürfen Mr North nicht länger bei der Arbeit stören. Wo hast du das her?“ Verblüfft betrachtete sie den Modellsatz von Molekülen vor ihm auf dem Boden. Er sah wie ein großartiges Spielzeug aus. Sie wünschte, sie könnte es sich leisten, ihrem Sohn so etwas zu schenken, auch wenn er im Moment noch ein bisschen zu klein dafür war.

„Das gehört Edward“, erklärte Isaac und wandte sich seinem neuen Freund zu, der inzwischen wieder im Sessel saß – allerdings nicht ohne vorher schnell das blaue Häschen wegzunehmen.

Es war eine lange Woche gewesen, und Charlotte merkte plötzlich, wie erschöpft sie war.

„Bitte, leg jetzt alles wieder in die Kiste zurück und verabschiede dich von Edward. Wir müssen nach Hause fahren.“

Isaac warf ihr einen gekränkten Blick zu, aber dann nickte er schließlich.

Charlotte wandte sich an Edward. „Bitte entschuldigen Sie, dass er Sie gestört hat. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Er sah sie eindringlich an. „Haben Sie ihn gesucht?“

„Ja, allerdings.“

„Ich hätte Ihnen Bescheid sagen müssen.“

„Das ist schon in Ordnung. Schließlich habe ich ihn gefunden.“ Sie war entsetzlich müde und den Tränen nahe. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause. „Isaac, bitte gib Edward die Kiste zurück.“

Isaac gehorchte ihr, hob die Kiste hoch und setzte sie vorsichtig auf Edwards Schreibtisch ab. „Vielen Dank noch mal.“

„Gern geschehen.“ Edward schenkte Isaac ein verhaltenes Lächeln, das der Junge erwiderte. „Vergiss … Wie heißt er noch mal?“

„Stinky.“

„Richtig. Also, dann vergiss Stinky nicht.“

Er sah Charlotte an, und sie versuchte zu lächeln.

„Würden Sie bitte noch eine Minute bleiben?“

Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Ihr war klar, dass Isaac nicht unbewacht in der Klinik herumlaufen durfte. Das musste Edward ihr nicht sagen. Selbstverständlich würde sie dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkam. „Isaac, bitte geh raus zu Lucy und warte dort auf mich, okay? Es wird nicht lange dauern.“

Edward beugte sich nach vorn und drückte Isaac ein bisschen Kleingeld in die Hand. „Davon kannst du dir und Lucy etwas im Automaten holen.“

Charlotte hätte das gern verhindert, aber ihr Sohn war schon fast an der Tür. Er bedankte sich noch einmal bei Edward, dann waren die beiden allein.

„Es tut mir leid, Charlotte.“

Sie sah ihn verblüfft an.

„Bestimmt haben Sie sich Sorgen gemacht, als Sie Isaac nicht finden konnten.“

Sorgen? Sie hatte fast einen Herzanfall bekommen. „Bitte … entschuldigen Sie, wenn er Sie belästigt hat.“

„Er hat mich nicht belästigt. Außerdem hat er anscheinend eine Schwäche für Moleküle.“

„Er ist erst fünf“, erklärte sie. „Nichts macht ihm mehr Spaß, als Dinge auseinanderzunehmen und sie dann wieder zusammenzusetzen.“ Erst jetzt merkte sie, wie sehr der Vorfall ihr an die Nerven gegangen war. Außerdem setzte ihr Edwards intensiver Blick zu. Seine Augen wirkten plötzlich viel blauer als zuvor.

„Hey. Was ist das denn?“ Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte ihr die Hände auf die Schultern. Seine Freundlichkeit war Charlotte in diesem Moment fast zu viel.

„Nichts, gar nichts. Mir geht es gut.“

„Das ist aber nicht mein Eindruck.“

In Edwards Stimme klang eine unerwartete Zärtlichkeit mit. Sie atmete seinen herben, männlichen Duft ein und hätte sich am liebsten an ihn geschmiegt. Doch sie wusste, dass das keine gute Idee gewesen wäre.

„Nein, wirklich. Ich bin okay. Bitte glauben Sie mir.“

Edward zog seine Hände zurück und trat zur Seite. „Wie Sie meinen. Wenn es irgendetwas gibt, was Ihnen Sorgen macht, sollten Sie sich vielleicht jemandem anvertrauen.“ Er dachte einen Moment lang an sich selbst, wusste aber, dass er der letzte Kandidat für so etwas war. „Vielleicht Lizzie. Sie ist sehr gut in solchen Dingen.“

Jetzt klang er wieder sehr professionell, was Charlotte erleichtert zur Kenntnis nahm. „Nein, es ist nichts. Ich habe mich nur sehr erschrocken, als ich Isaac nicht finden konnte.“ Sie biss sich auf die Lippen. Es klang ja doch ein bisschen so, als würde sie Edward die Schuld daran geben.

„Tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Eigentlich wäre das ihr Satz gewesen. Sie lächelte ihn an. „Alles in Ordnung. Er ist in Sicherheit, und nur das zählt.“

„Mir hat es Spaß gemacht, mit ihm zu sprechen.“ Er zeigte auf den Modellsatz von Molekülen vor ihm. „Der Junge hat einen ausgesprochen erfrischenden Ansatz.“

Wollte er sie auf den Arm nehmen? Das konnte man bei Edward nie genau sagen. Charlotte blickte sich um und sah aus den Augenwinkeln, wie Lucy und Isaac sich gerade mit ihren Getränken auf einer Bank niederließen. Sie unterhielten sich angeregt miteinander.

„Wofür ist das eigentlich?“, fragte sie neugierig.

„Oh, damit kann man alles Mögliche machen. Zum Beispiel eine DNA nachbauen.“ Das klang ganz selbstverständlich, als hätte jeder ein solches Modell zu Hause im Schrank stehen.

„Vielleicht würde Isaac sich ja darüber freuen. Oder später, wenn er ein bisschen älter ist.“

„Gute Idee. Wäre das dann so weit alles?“ Sie hatte die Tränen ja noch im letzten Moment zurückhalten können. Aber wer wusste schon, für wie lange?

„Wollen Sie nach Hause fahren? Wenn Sie mögen, kann ich Sie mitnehmen. Die Busse fahren um diese Zeit ja nur noch selten.“ Er biss sich auf die Zunge, als ob er etwas Falsches gesagt hätte.

Woher wusste er, dass sie mit Isaac den Bus nehmen würde? Verblüfft starrte sie ihn an.

„Ich habe Sie an der Bushaltestelle warten sehen“, erklärte er und wirkte dabei etwas verlegen.

„Verstehe.“ Sie lächelte ihn an. „Vielen Dank für das nette Angebot. Aber bestimmt haben Sie noch zu arbeiten.“

Er zuckte die Achseln. „Ich war heute Morgen schon um sechs Uhr im OP. Ich hätte längst zu Hause sein müssen. Und Sie sehen ziemlich müde aus.“

Vielleicht nahm Edward doch mehr von seiner Umwelt wahr, als alle glaubten.

„Danke, aber … nein, das geht nicht. Isaac braucht einen Kindersitz.“

Eigentlich war es schade. Am Freitagabend waren die Busse immer besonders voll.

„Kein Problem. Ich habe einen in meinem Auto.“

Fast hatte sie den Eindruck, als hätte er es darauf angelegt, sie nach Hause zu bringen. Jedenfalls hatte sie jetzt keine Entschuldigung mehr.

„Na gut. Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht … vielen Dank!“

Edward lieferte keine Erklärung für den brandneuen Kindersitz ab, als er die Hintertür seines Autos öffnete und Isaac beim Einsteigen half. Vielleicht hatten Charlottes Kolleginnen ja recht gehabt, und er hatte doch eine Freundin. Eine Freundin mit Kind.

Wie dem auch sein mochte, Charlotte hatte nichts gegen eine Mitfahrgelegenheit. Das war auf jeden Fall bequemer, als sich in den vollen Bus zu quetschen. Sie half Edward dabei, den Kleinen anzuschnallen, und ließ sich dann auf dem Beifahrersitz nieder. Edward stellte das Radio an und fuhr los.

„Wäre es nicht bequemer für Sie, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren?“

Sie waren bereits am Regents Park, als er das Schweigen unterbrach.

„Bequemer bestimmt. Aber auch viel teurer. Denken Sie nur an die Parkgebühren!“

Er nickte. „Ich dachte, vielleicht mögen Sie es ja, mit dem Bus zu fahren.“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Man trifft eine Menge interessanter Leute. Isaac und ich sitzen am liebsten oben, stimmt’s?“

Ihr Sohn nickte. „Ja, da kann man immer in die Fenster sehen.“

„Und was sieht man da?“, fragte Edward neugierig.

„Weihnachtsbäume.“

„Im Juli?“

„Nein, an Weihnachten. Letztes Mal haben wir sie alle gezählt.“

„Aha, du bist also Mathematiker. Heißt du deshalb Isaac? Nach Isaac Newton?“

Der Kleine sah ihn verblüfft an. „Wer ist das?“

Charlotte rollte die Augen. „Edward, er ist erst fünf!“

Er nickte. „Wie viele Weihnachtsbäume habt ihr denn gesehen?“

„Eine Million.“

„Ach, ja? Dann lebst du wohl auf dem Mond?“ Seine Lippen zuckten verräterisch, und Isaac fing laut zu lachen an. Obwohl sie intellektuell Lichtjahre voneinander entfernt waren, hatten sie anscheinend denselben Humor.

„Nee. In Kentish Town.“

„Verstehe. Und bist du sicher, dass du sie nicht doppelt gezählt hast?“

Der Kleine zuckte die Schultern. „Na ja, vielleicht waren es auch hundert.“

Charlotte stimmte in das Lachen der beiden ein. „Es waren dreihundertneunundvierzig, stimmt’s?“

„Ja, genau.“

Edward nickte. „Das ist eine Primzahl, hast du das gewusst?“

„Was ist eine Primzahl?“

Er sah Charlotte Hilfe suchend an, doch sie blieb stumm. Plötzlich war dieser ruhige, reservierte Mann geradezu gesprächig, und sie wollte hören, was ihm dazu einfiel.

„Das ist … äh, na ja, eine sehr besondere Zahl. Es gibt ganz viele davon. Irgendwann wirst du das in der Schule lernen.“

„Wann denn?“

„Na ja … ziemlich bald, würde ich sagen. Frag mal deinen Lehrer.“

„Mach ich.“

Gerade noch mal davongekommen. Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, doch er hob nur leicht die Augenbrauen, als hätte er die Situation von Anfang an im Griff gehabt. Aber er hatte nicht mit Isaacs Ausdauer gerechnet.

„Wie viele gibt es denn davon?“

„Unglaublich viele. Mehr, als du zählen kannst, und wenn du den ganzen Tag mit dem Bus durch die Gegend fahren würdest. Die erste Primzahl ist zwei. Dann kommt die drei …“

Als Edward bei der neunundzwanzig war und immer noch keine Ermüdungserscheinungen zeigte, entschloss Charlotte sich, einzugreifen. Wenn sie so weitermachten, konnten sie bis Birmingham und zurück fahren, bevor einer der beiden des Spiels müde wurde.

Daher drehte sie sich zu ihrem Sohn um. „So, das reicht jetzt. Edward muss sich aufs Autofahren konzentrieren. Ich werde dir alles über Primzahlen erzählen, wenn wir zu Hause sind.“

„Okay.“

Edward gefiel es, Charlotte in seinem Auto zu haben. Sie roch gut – nach Seife und Rosen. Nach Rosenseife, vielleicht.

Aber sie duftete nicht nur gut, sondern war auch ausgesprochen sympathisch. Immer, wenn er sie bei der Arbeit sah, blieb sie dieselbe – freundlich zu allen Leuten, aufmunternd und mit einem kleinen Lächeln um die Lippen. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, als wäre das noch nicht alles. Als er sie eines Nachmittags im Regen an der Bushaltestelle gesehen hatte, wirkte sie ausgesprochen niedergeschlagen. Am liebsten hätte er angehalten, aber er hatte sich das dann doch nicht getraut. Er gehörte schließlich nicht zu den Leuten, die sich in die Angelegenheiten anderer einmischten.

„Mögen Sie Jazz?“, fragte Charlotte in diesem Moment, nachdem sie der Musik eine ganze Weile zugehört hatte.

„Ich liebe diese Musikrichtung“, erwiderte Edward. „Und Sie?“

„Keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht viel Jazz gehört. Aber dieses Stück gefällt mir.“

„Freut mich.“ Dabei hätte er es eigentlich belassen können. Doch er wollte das Gespräch unbedingt verlängern. „Die meisten Leute sagen, sie würden Jazz mögen, ob sie ihn nun kennen oder nicht.“

Charlotte lachte. „Ja, ich weiß, was Sie meinen. Als müsste man ihn mögen. Wenn nicht, ist man ein Banause.“

„Ich würde Sie nie für einen Banausen halten.“ Aber ihre Ehrlichkeit gefiel ihm.

Charlotte bat Edward, sie in der High Street abzusetzen, doch davon wollte er nichts hören. Daher dirigierte sie ihn in eine ruhige Seitenstraße. Die Häuser waren recht klein, manche davon auch ziemlich heruntergekommen. Er parkte den Wagen vor einem Haus mit Vorgarten. Die Haustür musste dringend gestrichen werden. Charlotte stieg aus und hob Isaac aus dem Kindersitz, während Edgar die Einkaufstüten aus dem Kofferraum holte.

„Darf ich sie Ihnen noch hineintragen?“

„Nein, nicht nötig. Danke für die Mitfahrgelegenheit.“ Sie griff nach den Tüten. „Wir sehen uns dann am Montag.“

„Tschüss, Edward. Vielen Dank noch mal“, sagte der Kleine.

„Tschüss, Isaac. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“

Als die beiden auf den Eingang zugingen, drehte der Junge sich noch einmal zu Edward um und schenkte ihm ein Lächeln. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als einzusteigen und davonzufahren. Nach ein paar Metern sah er jedoch im Rückspiegel, dass Charlotte Mühe hatte, das kleine Tor vor dem Garten zu öffnen. Er überlegte, ob er zurückfahren und ihr helfen sollte. Doch dann stieß sie mit dem Fuß dagegen, und es sprang auf. Sie marschierte direkt zum Eingang, ohne sich noch einmal nach ihm umzuschauen.

Charlotte ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und stellte die Einkaufstüten ab. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie wären doch bis nach Birmingham und zurück gefahren. Aber der andere Teil war froh, dass Edward weggefahren war, ohne den abgetragenen Teppich im Flur und die Möbel aus zweiter Hand im Wohnzimmer gesehen zu haben.

„Ist Edward dein Boss, Mum?“

„Er ist Chirurg in der Klinik.“

„Hilft er den Leuten, wieder gesund zu werden? So wie du?“

„Ja, Liebling.“

Isaac nickte. „Er ist nett.“

Sie sah ihn lächelnd an. „Ja, das finde ich auch.“ Sie griff wieder nach den Tüten. „So, jetzt lass uns mal sehen, was wir heute zum Abendessen machen.“

Eigentlich war es nur ein kurzer Weg von Edwards Haus zurück zu der Straße, in der Charlotte und Isaac wohnten. Aber es schienen Welten dazwischen zu liegen. Irgendwann wichen die modischen Boutiquen und schicken Cafés einer Reihe von Häusern, die ihm noch heruntergekommener vorkamen als gestern Abend.

Vielleicht war es ja ein Fehler, zu ihr zu fahren. Wahrscheinlich ging sie samstagmorgens einkaufen oder blieb lange im Bett. Aber Isaac hatte Stinky in Edwards Auto vergessen und vermisste ihn wahrscheinlich schon sehr. Wenn die beiden nicht da waren, würde er das Häschen einfach in den Briefkasten stecken.

Edward fand keinen Parkplatz direkt vor dem Haus und fuhr daher weiter. Doch dann erblickte er plötzlich Charlotte auf der Türschwelle. Vor ihr standen zwei Männer, die ziemlich bedrohlich wirkten.

Er beeilte sich, eine Parklücke zu finden, und eilte dann zurück zum Haus. Seine innere Stimme sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Charlotte!“ Beim Näherkommen erkannte er, dass er recht gehabt hatte. Sie trug Freizeitkleidung, ihre Miene war grimmig und entschlossen. „Was ist los?“

Sie starrte ihn an, als käme er von einem anderen Planeten. Einer der beiden Männer drehte sich zu ihm um. Er wirkte gedrungen und grobschlächtig. „Das geht Sie nichts an, Sir. Nur uns und die Lady.“

Charlotte errötete tief. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, dann wischte sie sie schnell weg.

Edward erkannte, dass er es mit zwei üblen Gestalten zu tun hatte. Sie trugen billige Anzüge und wirkten ausgesprochen aggressiv.

„Nein, jetzt haben Sie es auch mit mir zu tun“, erwiderte er und stellte sich demonstrativ neben Charlotte. Am liebsten hätte er ihr den Arm um die Taille gelegt, wagte es dann aber doch nicht. „Lassen Sie die Dame in Frieden. Und zwar sofort!“

Die beiden traten einen Schritt zurück. Der Ärger, den Edward spürte, spiegelte sich anscheinend auch in seinem Gesicht wider, denn sie wurden sofort weniger angriffslustig. Das nutzte er zu seinem Vorteil. „Also, was soll das alles?“

„Sind Sie der Ehemann dieser Dame, Sir?“

„Nein, aber ihr Anwalt.“ Plötzlich war er froh, dass er Stinky im Auto gelassen hatte.

Er spürte Charlottes Hand auf seinem Arm. „Nicht, Edward. Bitte.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er ignorierte sie und sah die Männer streng an. „Wer sind Sie überhaupt? Können Sie sich ausweisen?“

Einer von beiden griff langsam in seine Tasche und zog seinen Ausweis hervor, den er Edward zeigte.

Schuldeneintreiber! Worauf hatte Charlotte sich eingelassen? Doch das konnte er sie ja auch später noch fragen. In diesem Moment erklang das verängstigte Schluchzen eines kleinen Jungen aus dem Haus. Er spürte, wie sie zusammenzuckte. „Gehen Sie rein, Charlotte. Und machen Sie die Tür hinter sich zu.“

Sie sah ihn an – mit roten Wangen, die Augen noch feucht vor Tränen. Dennoch zögerte sie, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihren Sohn zu beschützen, und der Notwendigkeit, mit den beiden Männern fertigzuwerden.

„Bitte, kümmern Sie sich jetzt um Isaac“, sagte Edward drängend. Sie nickte, drehte sich um und ging hinein. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Er wandte sich den beiden Männern zu. „Ich nehme an, Sie haben keinen Gerichtsbeschluss, der Ihnen erlaubt, dieses Grundstück zu betreten.“

„Das ist richtig, Sir.“ Doch aus dem Mund des Mannes klang auch das wie eine Drohung.

„Dann muss ich Sie bitten zu gehen. Wir können uns gern auf dem Bürgersteig unterhalten.“

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Sie merkten offensichtlich, dass Edward nicht so leicht einzuschüchtern war, und drehten sich widerstrebend um. Er folgte ihnen auf die Straße.

„Es geht hier um unbeglichene Schulden, Sir.“

Edward sah sich um und erkannte, dass Charlotte wieder in der Tür stand. Sie war gerade im Begriff, ihre Sportschuhe anzuziehen.

„Lassen Sie die Dame in Ruhe. Wenn Sie etwas zu sagen haben, sagen Sie es mir.“

Autor

Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
Mehr erfahren