Zeit der Hoffnung, Zeit der Liebe?

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Claires Augen gleichen Sternen, ihr süßer Mund macht jede Begegnung unterm Mistelzweig zu einer Erfüllung – noch nie hat Ralph so ein bezauberndes Weihnachtsfest erlebt! Doch er ist nur kurz in London. Und unmöglich kann er die junge Frau mit der schmerzhaften Vergangenheit bitten, ihm zuliebe England aufzugeben und mit nach Indien zu kommen – oder doch?


  • Erscheinungstag 11.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512503
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

MacPherson und Tochter, Buchhändler

Covent Garden, London

23. Dezember 1890, drei Uhr nachmittags

Engelnovizin Periwinkle lächelte erleichtert, als sie die zwei anderen Novizinnen auf einem der staubigen Bücherregale in der Buchhandlung von „MacPherson und Tochter“ in Covent Garden entdeckte. Fern und Rose hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf drei junge Frauen gerichtet, die im hinteren Teil des gemütlichen Geschäfts an einem Tisch saßen und Tee tranken. Periwinkle gesellte sich zu den beiden auf das Regal, begrüßte sie mit einer Umarmung und heftete ihrerseits den Blick auf die Runde der jungen Damen.

„Sie treffen sich hier also jeden Monat?“, fragte sie. Die beiden anderen wachten schon eine ganze Weile über ihre sterblichen Schützlinge, wie Periwinkle erfahren hatte. Sie selbst war Claire Halliday erst vor etwas über drei Wochen zugewiesen worden und fing an, ihre Aufgabe als recht erdrückend zu empfinden.

„Fast auf die Minute genau. Seit nun fast zwei Jahren“, erwiderte die mollige, freundliche Rose mit einem Nicken.

„Meine Fiona hat sie zusammengebracht, weißt du. Alle drei lieben Bücher“, fügte die hochgewachsene, energische Fern hinzu. „Jetzt sind sie die besten Freundinnen und gehen durch dick und dünn.“

„Nun, Claire Halliday kann gute Freunde wirklich gebrauchen.“ Periwinkle seufzte. „Ihr solltet mal sehen, was sie zu Hause alles erdulden muss.“

„Ah, die lieben Verwandten.“ Rose nickte wieder mitfühlend.

„Wir haben von ihnen gehört.“ Ferns ungeduldiges Schulterzucken ließ ihr Kleid rascheln und verursachte einen kleinen Funkenregen aus grün und gold schimmerndem Glitzerstaub.

„Sind sie so schlimm, wie Claire sie beschreibt?“, erkundigte sich Rose.

„Schlimmer.“ Periwinkle seufzte wieder. „Ich weiß nicht, wie das arme Ding die Weihnachtszeit übersteht. Wenn unsere Schützlinge nur näher beieinander leben würden und sich öfter treffen könnten …“

Nur leider taten sie das nicht. Außerhalb ihres monatlichen literarischen Gesprächskreises trafen sie nie zusammen. Und Claire Halliday kam auch sonst kaum mit anderen Menschen außer ihrer Familie in Kontakt. Eine Tatsache, die Periwinkles Aufgabe, Claire innerhalb der folgenden Woche dazu zu verhelfen, die wahre Liebe zu finden, regelrecht unmöglich zu machen schien. Wenn etwas, das die himmlischen Mächte anordneten, überhaupt unmöglich genannt werden konnte.

„Ich wünschte, die Damen würden sich eine andere Lektüre aussuchen.“ Periwinkle zog die zarte Nase kraus. „Dickens. Immer muss es Dickens sein zur Weihnachtszeit.“

„Ich bin schon ganz froh, dass sie überhaupt lesen können.“ Fern verschränkte die Arme. „Zu meiner Zeit standen Bücher nur den Reichsten und Mönchen zur Verfügung.“

„Kettenrasseln, Geistererscheinungen um Mitternacht und rücksichtsloses Hin- und Herzerren der Leute in die Vergangenheit und Zukunft wie bei Dickens …“, Rose verdrehte die Augen, „… als ob solche Methoden erlaubt wären.“

Die Arbeit der Engel, das wussten alle drei sehr gut, beschränkte sich meist auf zarte Anstöße, leises Zuflüstern und bedeutungsvolle Träume – also nur ein sanfter Einfluss, dazu gedacht, die Menschen auf den richtigen Weg zu leiten. Zu dramatischen Auftritten von der Art „Siehe, ich bring euch gute neue Mär“ waren Novizen nicht befugt. Allerdings gestaltete sich so die Erfüllung ihrer Aufträge als umso mühevoller, wie Periwinkles derzeitiges Dilemma bewies.

„Wird man von mir erwarten, ihr zu helfen, die wahre Liebe zu finden, ohne wenigstens einen kleinen Blick in die Zukunft zu tun?“, meinte Periwinkle mit einem Anflug von Verzweiflung.

„Du kennst ihre einzige große Liebe nicht?“ Rose klang entsetzt.

„Nicht wirklich. Angeblich weiß sie schon von seiner Existenz, aber so selten, wie Claire mit dem männlichen Geschlecht in Kontakt kommt, könnte sie genauso gut Nonne sein. In ihren Gedanken und Träumen ist kein einziges Mal der Name eines Mannes erschienen.“ Periwinkle ließ die Schultern hängen, betrachtete ihren braunhaarigen Schützling und dachte schaudernd an die drei trostlosen Wochen, während der sie Claire durch ihr ereignisloses Leben begleitet hatte.

Claire trug ein schlichtes, elegantes marineblaues Wollkostüm, das sowohl ihren guten Geschmack wie auch ihre auffallenden weiblichen Rundungen aufs Beste zur Geltung brachte. Sie war reizend anzuschauen, ein liebenswerter Mensch und freundlicher, als gut für sie war. Perinwinkle überkam nur leider das ungute Gefühl, dass Claire in den folgenden Jahrzehnten dazu verdammt sein würde, Teekannenwärmer zu häkeln und verschrobene Verwandte zu pflegen. „Mein Schützling steuert direkt und ohne Umwege auf das Los einer alten Jungfer zu, fürchte ich sehr.“

„Und dich zieht sie gleich mit in den Abgrund – zu weiteren hundert Jahren Novizentum“, fügte Rose schaudernd hinzu, und ein wunderhübscher rosa- und fuchsiafarbener Funkenregen bedeckte das Regal um sie herum. „Wenn du ihr bis Schlag Mitternacht am 31. Dezember nicht zu ihrer wahren Liebe verhelfen kannst, bleibst du wieder hundert Jahre ohne Flügel.“

„So wie wir alle.“ Fern runzelte die Stirn, wahrscheinlich in Gedanken an die gemeinsame Frist, die ihnen gesetzt worden war.

Alle drei blickten verstohlen über die Schultern und stellten sich die langen, wunderschönen Flügel vor, das Zeichen dafür, dass sie endlich den Status eines vollwertigen Engels erreicht hatten – und damit eine neue Stufe der Verantwortlichkeit.

„Das Schlimmste ist, dass ich sehr wohl weiß, wer Fionas wahre Liebe ist“, sagte Fern bedauernd. „Schon seit Jahren.“

„Ich auch.“ Rose warf ihrer Adelaide einen Blick voller Zuneigung zu. „Nicht, dass es die Aufgabe erleichtern würde. Er ist so gut wie verheiratet mit ihrer Schwester. Um an eine glückliche Wendung der Dinge zu glauben, muss man darauf vertrauen, dass Glück möglich ist. Ich fürchte nur, meine Addie hat jede Hoffnung aufgegeben.“

„Claire leider auch.“ Periwinkle seufzte.

Eine Weile saßen sie schweigend da.

„Sagt mal …“ Fern beugte den Kopf und senkte die Stimmte. „Habt ihr schon versucht, etwas zu bewegen? Zum Beispiel eine Lampe oder ein Buch? Wenn ihr es ein wenig übt, geht es nämlich. Habt ihr je etwas auf eine vereiste Fensterscheibe geschrieben? Oder eurem Schützling einen kleinen Stoß versetzt?“

„Ja“, gab Periwinkle verlegen zu. Es war ja nicht so, als wüssten die himmlischen Mächte nicht bereits von ihren Experimenten. „Aber jedes Mal, wenn ich versuche, mich auf der materiellen Ebene bemerkbar zu machen, kommen ihr meine blauen Funken wie Staub vor. Das arme Mädchen erleidet einen Niesanfall, kann kaum atmen und steuert sofort auf die Mentholsalbe los.“

„Träume sind das wirkungsvollste Mittel, habe ich festgestellt“, warf Rose ein und tätschelte Periwinkle mitfühlend den Arm. „Mit ein wenig Übung wirst du die Träume deines Schützlings beeinflussen und darin sogar mit ihr sprechen.“

„Wahrscheinlich hast du recht. Sieh dir doch nur den alten Scrooge an“, meinte Periwinkle trocken. „Einige merkwürdige Träume, und er wird ein völlig anderer Mensch … Aber ja!“ Sie setzte sich aufrechter hin. Ihre Augen leuchteten. „Dickens’ Geschichte hat sie so beeindruckt. Warum nutzen wir sie also nicht für unseren Zweck? Träume – von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Es passt doch! Claire ist quasi Witwe, und man erlaubt ihr einfach nicht, von ihrer Vergangenheit loszukommen. Vielleicht sollte ich ihre Vorgeschichte ausnutzen, um sie zu erreichen und ihr Hoffnung zu geben.“

Roses Miene hellte sich auf. „Und Addie sieht einfach nicht, was sich genau vor ihrer Nase abspielt. Ich könnte die Gegenwart übernehmen.“

„Meine Fiona macht sich ständig Sorgen um die Zukunft“, warf Fern ein. „Also werde ich sie einmal in die Zukunft blicken lassen.“

In diesem Moment läutete die Glocke an der Tür des Geschäfts, und alle drei Engelanwärterinnen sahen mit einem Schauer der Erregung auf. Welch gesegneter Laut! Das Klingeln der Glocke zeigte an, dass irgendwo eine Novizin ihre Engelsflügel bekommen hatte. Die drei sahen einander hoffnungsvoll an, nickten und wandten sich mit noch größerer Entschlossenheit wieder ihren drei Schützlingen zu.

1. KAPITEL

23. Dezember 1890, vier Uhr dreißig nachmittags

Aufdringliche Besserwisser, diese albernen Weihnachtsgeister“, meinte Claire Halliday, als sie und ihre Freundinnen sich vom Tisch erhoben. „Scrooge tut mir wirklich leid. Ich meine, der Mann war nicht nur geizig, sondern auch entsetzlich unglücklich. Sein Leben war so fürchterlich leer und kalt. Und da kommen die Geister einfach so daher und erschrecken ihn regelrecht zu Tode.“

„Ich glaube, das war auch der Zweck der Übung“, sagte Fiona, die Besitzerin der Buchhandlung, mit einem trockenen Lächeln. „Sein Leben war so einsam und trostlos, dass eine Änderung auf üblichem Wege nicht geschehen konnte. Es brauchte schon etwas Übersinnliches, um Scrooge aufzuschrecken.“

„Nun“, sagte Claire mit listigem Lächeln. „Ich frage mich, wie man solche Geister zu sich nach Hause bestellen könnte.“

Lady Adelaide Kendall und Fiona MacPherson lachten. Die drei Damen trafen sich seit geraumer Zeit hier zu einem Tee und Plausch über ihre geliebten Bücher und wussten von Claires Problemen mit der Verwandtschaft.

„Wieder kein Weihnachtspunsch oder Weihnachtsbiskuit im Haus der Mayhews, Claire?“, fragte Adelaide, während sie in ihre Mäntel schlüpften.

Claire hielt beim Zuknöpfen inne. „Stephen starb genau letzte Woche vor vier Jahren. Jedes Jahr um diese Zeit ist es, als würde es wieder passieren. Seine Mutter weint und geistert im Salon herum wie eine verlorene Seele. Onkel Abner bleibt bis spät in der Fabrik und kommt mit verdrossener Miene nach Hause. Tante Eloise kramt das schwarze Garn hervor und häkelt zum zigsten Mal Trauerspitzen. Cousin Halbert schließt sich im Arbeitsraum ein, und Cousine Tillie setzt sich an das Spinett und spielt die erbärmlichsten Klagelieder.“

„Klingt schaurig“, sagte Adelaide mitfühlend.

„Und du?“, fragte Fiona. „Was tust du?“

Claire schüttelte die finsteren Gedanken ab und griff nach den in braunes Packpapier gewickelten Büchern, die sie gerade von Fiona erstanden hatte. „Ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück und lese. Dem Himmel sei Dank, dass du die Bücher gefunden hast, die ich haben wollte, Fiona. Ein Becher heißer Kakao und ein gutes Buch reichen mir. In wenigen Tagen ist Weihnachten vorbei. Vielleicht gehe ich am zweiten Weihnachtsfeiertag zur Fabrik und mache in Onkel Abners Büro ein wenig Ordnung und putze.“

„Putzen? Lieber Gott, sag mir bitte, dass du nicht ganz so verzweifelt bist“, warf Fiona in gespieltem Entsetzen ein und besah sich die mit dichtem Staub bedeckten Regale in ihrem Geschäft. „Ich kann dir ja für ein paar Tage eine Katze leihen, wenn du willst.“

Sie lachten und umarmten sich, und einige Minuten später war Claire auf dem Gehweg, schlug den Mantelkragen gegen die Kälte hoch und ging mit langen Schritten auf die Haltestelle des Dampfomnibusses zu. Das Wetter verschlechterte sich merklich. Der leichte Regen nahm zu und verwandelte sich schließlich in eisigen Graupel. Na, wunderbar, dachte Claire und blickte bedrückt zum bleigrauen Himmel empor. Er passte großartig zu den düsteren Erwartungen, die sie für den bevorstehenden Abend hegte.

Das Bücherpaket fest an sich drückend, klammerte Claire sich an die wohltuende Erinnerung des gemütlichen, warmen Nachmittags und versuchte so gut es ging, die zunehmend frostige Kälte abzuwehren. Doch als sie den Omnibus erreicht hatte, der sie bis nach Breton Cross, ein Dorf am Rande Londons, bringen würde, war ihr bereits ganz kalt. Auf dem Weg von der Endhaltestelle bis zu ihrem Haus würde ihr die Kälte wahrscheinlich bis in die Knochen kriechen.

Dieser Gedanke beschäftigte sie noch, während sie einstieg, das Fahrgeld zahlte und sich hinsetzte. Ihr Haus gehörte eigentlich gar nicht ihr, sondern den Mayhews. Das Haus, das Vermögen und – so sehr es sie schmerzte, es zuzugeben – auch die Trauer gehörten eher ihnen als ihr. Claire war Waise und stammte aus einer guten Familie, die mit den Mayhews geschäftlich verbunden gewesen war. Im Alter von zwölf Jahren war sie in die Familie Mayhew aufgenommen worden. Später war beschlossen worden, dass sie Stephen, den einzigen Sprössling der Mayhews, heiraten sollte.

Doch Stephen starb bei einem Kutschunfall vor vier Jahren, nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit. Die Familie hatte darauf bestanden, Claire bei sich zu behalten. Sie gehörte hierher, meinten sie. „Die arme Braut unseres geliebten Stephen.“

Allerdings war sie nicht wirklich eine Braut, ebenso wenig eine Witwe und noch weniger ein junges Mädchen voller unschuldiger, hoffnungsfroher Träume. Sie war zu ihrem Unbehagen nichts von allem – weder Frau noch Mädchen, weder Braut noch Gattin, weder Jungfrau noch Witwe. Natürlich hatte sie Stephen geliebt, doch nach endlos langen vier Jahren begann sie allmählich, sein freundliches Gesicht und den Klang seiner ruhigen Stimme zu vergessen. Lag es daran, dass ihre Gefühle von den jährlich wiederkehrenden Trauerfeiern abgestumpft waren, oder stand sie kurz davor, den Schmerz über die Tragödie endlich zu überwinden?

Der Omnibus passierte soeben den Friedhof der St.-John’s-Kirche, wo Stephen zur Ruhe gebettet worden war. Zum ersten Mal seit vier Jahren wandte Claire sich nicht von seinem Anblick ab. Die hohen, kahlen Bäume, die unzähligen Grabsteine und Denkmäler machten ihr nicht mehr das Herz schwer, schnürten ihr nicht mehr die Kehle zu. Es war einfach nur ein stiller, geheiligter Ort, der denjenigen Trost spendete, die sich an ihre Erinnerung klammerten. Hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Bedauern, erkannte Claire, dass sie diesen Trost nicht mehr brauchte.

Was sie stattdessen brauchte, war ein eigenes Leben. Die Zeit war gekommen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und einige jener Träume zu verwirklichen, die ihr Leben in den vergangenen vier Jahren erträglich gemacht hatten. Ihr Blick fiel auf das Bündel auf ihrem Schoß, und unwillkürlich strich sie mit der Hand darüber, um die Umrisse der Bücher darin zu spüren. Sie wollte reisen und die Wunder sehen, über die sie gelesen hatte. Sie wollte exotische Speisen kosten, den Klang fremder Sprachen hören und einen Sonnenuntergang erleben, der nicht vom Nebel und dem Rauch der Schornsteine Londons getrübt wurde. Und vielleicht würde sie irgendwo auf ihren Reisen auch einem hochgewachsenen dunkelhaarigen Fremden begegnen, der wieder ein Gefühl der Erregung, der Hoffnung und innigen Vertrautheit in ihr erwecken könnte.

Dunkelheit begann sich herabzusenken, als Claire Mayhew House erreichte. Wie alle Häuser in dieser Gegend war es ein großes Anwesen mit einem schönen Garten zur Straße hinaus. Ein Eisenzaun umgab das Grundstück, dessen Eingangspforte sich zu einem eindrucksvollen Bogen erhob. Der warme Lichtschimmer, der aus den Fenstern drang, und der elegante, von einem gepflegten Rasen gesäumte Weg zum Haus sprachen von Wohlstand und allen Annehmlichkeiten eines behaglichen Lebens. Allerdings war das Leben hinter jenen eindrucksvollen, schwarz lackierten Toren zurzeit leider alles andere als behaglich.

Claire hielt kurz unter dem Torbogen inne und wunderte sich schon fast, dass während ihrer Abwesenheit kein Trauerkranz an der Tür angebracht worden war. Sie atmete tief die eiskalte Luft ein und wappnete sich, als sie eintrat, für die schwermütige Stimmung, die sie zweifellos erwartete.

„Da ist sie!“ Tante Hortenses durchdringende Stimme erschallte hinter einem riesigen Stapel von Kisten, der die Eingangshalle füllte. „Claire ist zu Hause!“

Claire blieb an der offenen Tür stehen und betrachtete verwundert Tante Hortense, Stephens Mutter, die mit ihrer leicht verrutschten Haube und der schmutzigen Schürze einen äußerst ungewöhnlichen Anblick bot. In diesem Moment erschien hinter dem Stapel staubiger Kisten auch Cousine Tillie, ebenfalls mit einer Schürze angetan. Bevor Claire ihr Erstaunen ausdrücken konnte, kam Tante Eloise aus dem Esszimmer, ausgestattet mit Schürze und Ärmelschonern. Seit Claire denken konnte, legten die Mayhews eine gewisse Besessenheit an den Tag, wenn es um das Thema Staub ging. Dies hier ging allerdings weiter als alles, was sie bisher erlebt hatte.

„Was hat das hier zu bedeuten?“, fragte sie.

„Ach, du Armes! Du bist ja halb erfroren!“ Tante Hortense wischte Claire die Regentropfen von den Schultern und betastete ihre kühlen Wangen. „Du musstest ja leider darauf bestehen, auch beim schlimmsten Wetter zu deinem Buchklub zu gehen. Komm, wir müssen dich schnellstens von den feuchten Sachen befreien, bevor du dir noch eine Lungenentzündung zuziehst!“

Während sie ihr gemeinsam Bücher und Mantel abnahmen – der tatsächlich sehr feucht und kalt war –, wiederholte Claire ihre Frage.

„Was ist in all diesen Kisten? Woher kommen sie?“

Autor

Betina Krahn
<p>Betina Krahn wurde in Huntington, West Virginia geboren. Bücher und Kunst waren von Beginn an wichtige Bestandteil e ihres Lebens. Mit vier lernte sie lesen, mit fünf nahm sie an ihrem ersten Kunstwettbewerb teil, mit sechs entwickelte sie die ersten Geschichten und schon bald verfasste sie Drehbücher für populäre TV-Shows....
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