Zufälliges Erbe - Plötzlich reich und glücklich? (5-teilige Serie)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

BERAUSCHT VON DIESER EINEN NACHT
Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf! Dabei hat Harrison schon oft Mädchen wie Gracie getroffen - und meist wollten sie nur eines: sein Geld. Dennoch bezaubert sie den Millionär. Er träumt von heißen Nächten mit Gracie - wenn er nur wüsste, ob er ihr wirklich vertrauen kann …

WORKAHOLICS KÜSST MAN NICHT
Clara ist fassungslos: Ihr kleiner Sohn Hank erbt ein Vermögen - denn sein Vater war ein Millionär! Bei einem Familientreffen in New Yorks Park Avenue lernt sie dessen Zwillingsbruder kennen. Grant Dunbarton ist ein Workaholic, aber auch verdammt sexy …

LEIDENSCHAFT IN DUNKLER NACHT
Gerade sagt ihm die sexy Rechtsanwältin, er sei der Enkel eines Mafiabosses, da muss Milliardär Tate Hawthorne auch schon gemeinsam mit ihr untertauchen: Sein Zeugenschutz ist aufgeflogen. Auf der Flucht verliebt er sich in die schöne Renny - aber sie verbirgt etwas vor ihm …

STARKÖCHIN GESUCHT, LIEBE GEFUNDEN
Dank seinem unverhofften Millionenerbe könnte Mechaniker Hogan Dempsey plötzlich jede Frau haben. Aber er verliebt sich ausgerechnet in die kratzbürstige Köchin Chloe! Obwohl sie sich ihm in heißen Nächten hingibt, scheint ihr Herz für immer einem anderen zu gehören …

EINMAL UM DIE WELT ZU DIR
Hannah hat ein Problem. Sie kann ihr Millionenerbe nur antreten, wenn sie innerhalb von sechs Monaten schwanger wird! Ist der sexy Weltenbummler Yeager Novak der richtige Kandidat? Dazu muss sie ihn erst von dem größten Abenteuer überzeugen: Liebe und Familie!


  • Erscheinungstag 05.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716257
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Elizabeth Bevarly

Zufälliges Erbe - Plötzlich reich und glücklich? (5-teilige Serie)

IMPRESSUM

Berauscht von dieser einen Nacht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2015 by Elizabeth Bevarly
Originaltitel: „Only on His Terms“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 379 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Katja Wagner

Umschlagsmotive: LightFieldStudios/ Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733716110

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

PROLOG

Gracie Sumner stammte aus einer Familie, in der die Frauen seit Generationen als Kellnerinnen arbeiteten. Ihre Mutter hatte drei Jahrzehnte lang für eine beliebte Restaurantkette gearbeitet, und ihre Großmutter leitete einst die Bar eines glamourösen Diners am Broadway. Schon ihre Ur-Ur-Urgroßmutter hatte in einem Saloon in Denver die Zugpassagiere auf deren Weg in den Westen begrüßt.

Durch ihren Job in dem Vier-Sterne-Café Destiné in Seattle brachte Gracie es in ihrer Familie vielleicht zu etwas mehr Ansehen, aber ihr Instinkt und ihre Fähigkeiten als Kellnerin waren genauso in ihrer DNA verankert wie ihr goldbraunes Haar und ihre braunen Augen.

Und dieser Instinkt sagte ihr, dass der silberhaarige Herr an Tisch fünfzehn an etwas mehr als nur dem Pot-au-feu interessiert war.

Er war zum Ende ihrer Mittagsschicht gekommen und hatte sich in ihren Servicebereich setzen lassen. In der Unterhaltung mit ihm beschlich sie das Gefühl, dass er sie bereits kannte. Aber weder er noch der Name auf seiner Platinum-Kreditkarte – Bennett Tarrant – kamen ihr bekannt vor. Was Gracie nicht überraschte, da er offensichtlich vermögend war, während sie sich mit ihren sechsundzwanzig Jahren noch drei Semester lang abmühen musste, um ihr College zu finanzieren, an dem sie ihren Bachelor in frühkindlicher Erziehung machte.

„Bitte schön, Mr. Tarrant.“ Sie legte das Rechnungsmäppchen zurück auf den Tisch. „Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder.“

„Ich bin aus einem ganz besonderen Grund hier, Miss Sumner.“

Hm. Gästen stellte sie sich immer als Gracie vor, ohne ihren Nachnamen zu nennen. „Vermutlich wegen unseres beliebten Pot-au-feu“, antwortete sie vorsichtig.

„Das war vorzüglich“, versicherte Mr. Tarrant ihr. „Aber tatsächlich möchte ich mit Ihnen im Auftrag eines Mandanten sprechen. Ihre Vermieterin hat mir gesagt, wo Sie arbeiten.“

Gute alte Mrs. Mancini. Wenn es um die Nichteinhaltung von Privatsphäre ging, konnte man sich wirklich auf sie verlassen.

Mr. Tarrant übergab ihr eine Visitenkarte seiner Firma Tarrant, Fiver & Twigg, ansässig in New York City. Laut Karte war er dort Partner und leitender Nachlassverwalter und zuständig für die Erbenermittlung. Was Gracie gar nichts sagte.

„Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht. Was ist ein Nachlassverwalter?“

„Ich bin Anwalt. Meine Firma gehört zu denen, die vom Staat New York beauftragt werden, wenn jemand ohne Testament verstirbt oder ein Nachlassbegünstigter gesucht wird. In solchen Fällen machen wir die rechtmäßigen Erben ausfindig.“

Gracies Verwirrung wuchs. „Ich verstehe immer noch nicht. Der Nachlass meiner Mutter in Cincinnati wurde schon vor Jahren abgewickelt.“ Nicht, dass es viel abzuwickeln gegeben hätte. Marian Sumner hatte Gracie gerade genug Geld für die bescheidene Ausstattung einer Einzimmerwohnung und vier Mieten hinterlassen. Und doch war sie dankbar dafür gewesen.

„Es handelt sich nicht um den Nachlass Ihrer Mutter“, erwiderte Mr. Tarrant. „Kennen Sie einen Herrn mit Namen Harrison Sage?“

Gracie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Wie steht es mit Harry Sagalowsky?“

„Aber ja, natürlich kannte ich Harry! Er war mein Nachbar in Cincinnati. So ein netter Mann.“

Liebevolle Erinnerungen kamen ihr in den Sinn. Harry hatte im selben Haus gewohnt, in das sie nach dem Tod ihrer Mutter einzog. Sie waren sofort Freunde geworden. Er nahm die Rolle des Großvaters ein, den sie nie hatte, und sie wurde die Enkelin, die er nie hatte. Sie machte ihn mit J. K. Rowling und Bruno Mars bekannt und zeigte ihm, wie man seine Mitspieler in Call of Duty vernichtete. Er dagegen führte sie an Patricia Highsmith und Miles Davis heran und brachte ihr im Moondrop Ballroom den Foxtrott bei.

„Er starb vor zwei Jahren. Auch wenn ich nicht mehr in Cincinnati lebe, rechne ich manchmal immer noch damit, dass er seine Tür aufmacht, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, und mir erzählt, dass er African Queen heruntergeladen oder zu viel Chili für eine Person gekocht hat. Ich vermisse ihn sehr.“

Mr. Tarrant lächelte freundlich. „Mr. Sagalowsky hat auch Sie sehr geschätzt. Er hat Sie in seinem Testament bedacht, das kürzlich abgewickelt wurde.“

Gracie lächelte bei dem Gedanken. Das exzentrische Zeug, mit dem Harrys Wohnung vollgestopft gewesen war, konnte nicht viel wert sein. Nach seinem Tod half sie dem Vermieter, alles einzupacken, aber niemand hatte es je abgeholt. Harry hatte nie von einer Familie gesprochen, also konnte sie auch niemanden kontaktieren. Als der Vermieter alles wegwerfen wollte, brachte Gracie die Sachen in einem Lagerraum in Cincinnati unter, dessen Miete sie immer noch bezahlte. Dadurch musste sie sich zwar noch mehr einschränken, aber sie ertrug den Gedanken nicht, dass Harrys Sachen im Müll verrotteten. Vielleicht konnte Mr. Tarrant ihr nun helfen, Harrys Habe an seine Erben zu übergeben. Dieser Gedanke heiterte sie regelrecht auf.

„Es hat leider etwas gedauert, Sie zu finden“, fuhr Mr. Tarrant fort.

Sie versteifte sich. „Hm, ja, ich habe Cincinnati etwas überstürzt verlassen.“

„Ohne eine Adresse zu hinterlassen?“

„Ich, äh, wollte nach einer Trennung neu anfangen. Meine Mutter und Harry waren tot und die meisten meiner Freunde weggezogen. Also hatte ich nicht mehr viele Bindungen dort.“

Mr. Tarrant nickte, auch wenn er keineswegs so aussah, als ob unglückliche Beziehungen sein Spezialgebiet wären.

„Wenn Sie später etwas Zeit hätten, würde ich mich gern mit Ihnen über Mr. Sagalowskys Nachlass unterhalten. Und was das für Sie bedeutet.“

Gracie musste fast lachen. Bei diesem Anwalt hörte es sich so an, als ob Harry irgendein verrückter Howard Hughes gewesen wäre.

„Die Straße hoch gibt es ein Café“, sagte sie. „Mimi’s Mocha Java. Ich könnte Sie dort in ungefähr zwanzig Minuten treffen.“

„Wunderbar. Wir haben eine Menge zu besprechen.“

1. KAPITEL

Als Gracie vor dem Haus, das Harry vor fünfzehn Jahren verlassen hatte – das Haus, das jetzt ihr gehörte –, aus Mr. Tarrants Jaguar Coupé kletterte, versuchte sie, ruhig zu bleiben. So schlimm konnte es doch nicht sein. Die verwitterten Dachziegel machten einen recht anheimelnden Eindruck, und die Schotterauffahrt sah wirklich reizend aus. Was machte es da, dass die Größe nicht ganz das war, was sie erwartet hatte? Das Haus war nett. Richtig nett. Sie musste sich also wirklich nicht davor fürchten, die neue Besitzerin zu sein. Es war geradezu … entzückend.

Allerdings nur dann, wenn man auf Multimillionen Dollar teure Wassergrundstücke in Long Island stand. Heiliger Strohsack, Harrys Haus könnte die Vereinigten Arabischen Emirate beherbergen, und es wäre immer noch Platz für Luxemburg!

Trotz der salzigen Sommerbrise, die vom Meer her wehte, das hinter dem Haus glitzerte, fühlte sie sich wieder etwas schwindelig – ein Zustand, der sie seit ihrem Gespräch mit Mr. Tarrant vor einer Woche regelmäßig überkam. Ihr erstes Treffen hatte darin gegipfelt, dass Gracie in Mimi’s Mocha Java mit ihrem Kopf zwischen den Beinen saß und in eine Papiertüte mit der Aufschrift „Kaffee, Schokolade, Männer – von manchen Dingen kann man nie genug bekommen“ ein- und ausatmete, während Mr. Tarrant ihr den Rücken tätschelte und versicherte, dass alles gut werden würde. Und dass die Tatsache, gerade vierzehn Milliarden Dollar geerbt zu haben, kein Grund sei, in Panik auszubrechen.

Tja, er wusste vermutlich, was man mit vierzehn Milliarden Dollar anstellte. Anstatt nur eine Panikattacke zu bekommen.

Jetzt, wo sie hier waren, schien er ihre erneute Beklommenheit zu spüren – was vermutlich an ihrer Atmung lag, die gerade wieder in Hyperventilieren überging – und hakte ihren Arm unter seinen. „Wir sollten Mrs. Sage, ihren Sohn und ihre Anwälte sowie Mr. Sages Kollegen und deren Anwälte nicht warten lassen. Sie möchten die Formalitäten endlich hinter sich bringen und sind sicher genauso angespannt wie Sie.“

Tja, wäre sie diejenige, die erfuhr, dass ihr seit Langem entfremdeter Ehemann oder Vater, ein Titan der Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts, seine letzten Jahre als berenteter Fernsehtechniker im Arbeiterbezirk von Cincinnati verbracht hatte, wo er aufgewachsen war, um dann zu erfahren, dass er fast sein ganzes Vermögen einer Fremden hinterlassen hatte, wäre sie vermutlich auch etwas angespannt. Sie hoffte nur, dass es nicht noch andere Worte gab, die Vivian Sage und ihren Sohn Harrison III. zurzeit beschrieben. Worte wie fuchsteufelswild. Oder rachsüchtig. Oder mordlüstern.

Zumindest war sie dem Anlass entsprechend gekleidet. Harrys Testament war zwar schon einige Male verlesen worden, zumeist vor Gericht, weil nahezu jeder es angefochten hatte, doch Mr. Tarrant versprach ihr, dass dies aufgrund Gracies Anwesenheit das letzte Mal sei. Sie trug ihr schönstes Vintage-Outfit, ein beiges Sechzigerjahrekostüm, bestehend aus Bleistiftrock und kurzem Jäckchen, das Jackie Kennedy hätte gehören können. Sie hatte sogar etwas Make-up aufgelegt und ihr Haar hochgesteckt.

Auf Mr. Tarrants Klopfen hin öffnete ihnen ein livrierter Butler. Schon die Empfangshalle des Hauses war größer als ihre Wohnung in Seattle und randvoll mit Antiquitäten, handgeknüpften Perserteppichen und Kunstgegenständen. Vor Ehrfurcht trat Gracie einen Schritt zurück, aber Mr. Tarrant schob sie weiter. Der Butler führte sie durch das Foyer, einen Flur entlang nach links, dann einen weiteren nach rechts, bis sie vor einer höhlenartigen Bibliothek standen, deren Wände von oben bis unten mit Bücherregalen bedeckt waren. Von den ebenfalls deckenhohen Fenstern hatte man einen wunderschönen Ausblick auf das glitzernde Meer. Gracie hätte sich in dieser Welt nicht fremder vorkommen können.

Ihr Atem normalisierte sich etwas, als sie eintrat. Der Raum war voller Menschen, zwischen denen sie sich verstecken konnte. Mr. Tarrant hatte sie gewarnt, dass eine regelrechte Armee von Anwälten – zusammen mit ihren Mandanten in Form von Harrys ehemaligen Geschäftspartnern und seiner Familie – anwesend sein würde. Sie war überrascht gewesen zu erfahren, dass Harry außer seiner Witwe und seinem Sohn noch zwei weitere Exfrauen mit drei Töchtern hinterlassen hatte. Alle Anwesenden waren ausnahmslos formell gekleidet und unterschiedlichen Alters. Es war Gracie unmöglich zu bestimmen, wer zu wem gehörte.

Einer der Anzugträger winkte Mr. Tarrant zu sich. Nachdem dieser sich vergewissert hatte, dass Gracie einen Moment lang ohne ihn zurechtkam, ging er zu ihm hinüber. Sie mischte sich unter die Leute und war froh, die Situation allein meistern zu können. Eigentlich war es nicht viel anders als bei einem Hochzeitsessen im Café Destiné für ein wohlhabendes Brautpaar aus Seattle. Nur dass sie dabei im Hintergrund agierte, anstatt gleich zum Mittelpunkt des Interesses zu werden. Auch das Trinkgeld würde in diesem Fall etwas höher ausfallen. Vierzehn Milliarden Dollar höher.

Gracie wollte gerade wieder in Panik ausbrechen, als eine freundliche Stimme hinter ihr sagte: „Was ist der Unterschied zwischen einem Haufen Schlipsträger und einem Rudel blutrünstiger Schakale?“

Sie drehte sich um und sah hoch – höher, noch höher – in ein Paar der schönsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Der Rest des Männergesichts vor ihr war nicht weniger anziehend mit geraden pechschwarzen Brauen, einer aristokratischen Nase, einem Kinn wie gemeißelt und vollen Lippen. Ganz zu schweigen von der schwarzen Haarsträhne, die rebellisch über seine Stirn fiel und ihn aussehen ließ, als sei er gerade einem Vierzigerjahrefilm entsprungen.

Sie machte eine schnelle Bestandsaufnahme von seiner restlichen Erscheinung und tat so, als ob sie nicht bemerkte, dass er dasselbe bei ihr tat. Er hatte breite Schultern, eine schmale Taille und verströmte einen schwach rauchigen Geruch, der ihm etwas leicht Unanständiges verlieh. Sein schwarzer Nadelstreifenanzug war sicher von jemandem designt worden, der die teuersten machte. Er sah darin jedoch genauso aus wie einer der Anzugträger, von denen er gerade gesprochen hatte, und so gar nicht wie ein blutrünstiger Schakal.

„Ich weiß nicht“, sagte sie. „Was ist der Unterschied?“

Er grinste, was ihn geradezu unwiderstehlich machte. Gracie bemühte sich, nicht in Ohnmacht zu fallen.

Mit Belustigung in der Stimme antwortete er: „Es gibt keinen.“

Sie kicherte, und zum ersten Mal seit einer Woche legte sich ihre Anspannung. Dafür war sie ihm unendlich dankbar. Nicht, dass sie nicht seine anderen, äh, Eigenschaften genauso schätzen würde. Sehr sogar.

„Aber Sie sind einer dieser Anzugträger“, wandte sie ein.

„Nur aus gegebenem Anlass.“

Wie um seine Abneigung zu demonstrieren, lockerte er seine Krawatte so weit, dass er den obersten Knopf seines Hemdes öffnen konnte. Irgendwie erinnerte er sie an Harry, der der Meinung gewesen war, dass es Wichtigeres im Leben gab, als es anderen recht zu machen.

„Hätten Sie gern einen Kaffee?“, fragte der Mann. „Ich glaube, es gibt auch Kekse.“

Gracie schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“ Nur ein Tropfen Kaffee würde ihre flatternden Nerven umgehend in ein Beben seismografischen Ausmaßes verwandeln. „Aber wenn Sie gern einen hätten …“ Beinahe hätte sie ihm eine Tasse und einen Teller gebracht, so automatisch verfiel sie in ihren Kellnerinnen-Modus.

Aber er ging nicht darauf ein. „Nein, ich hatte genug.“ Die Unterhaltung schien ins Stocken zu geraten. Um nicht den einzigen Freund zu verlieren, den sie heute vermutlich gewinnen würde, platzte sie heraus: „Dieses Haus, dieses Zimmer, dieser Ausblick. Ist das alles nicht wunderschön?“

Die Frage schien ihn zu verblüffen. Er sah sich in der Bibliothek um, als sähe er sie zum ersten Mal, schien aber nicht im Mindesten beeindruckt zu sein. „Es ist ganz okay. Der Raum ist für meinen Geschmack etwas ungemütlich und die Aussicht ein bisschen langweilig, aber …“

Seltsam, dass jemand dieses Haus nicht großartig fand, dachte Gracie. Obwohl sie nicht die Absicht hatte, es zu behalten oder irgendetwas von den vierzehn Milliarden anzunehmen – es war schlichtweg viel zu viel Geld für eine Person –, wusste sie doch die Schönheit des Hauses zu schätzen.

„Was bedeutet für Sie zu Hause?“, fragte sie.

„Die hellen Lichter der Großstadt“, erwiderte er. „Ich lebe seit dem College in Manhattan und werde dort nie wieder wegziehen.“

Seine Begeisterung für diesen schnelllebigen Ort schien überhaupt nicht zu dem zu passen, was sie kurz zuvor an Harry erinnert hatte. „Oh. Okay.“

Sie war wohl nicht sehr überzeugend gewesen, denn er sagte: „Das scheint Sie zu überraschen.“

„Ja, irgendwie schon.“

„Warum?“

Gracie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil Sie mich an jemanden erinnern, aber derjenige war überhaupt kein Stadtmensch.“ Zumindest nicht, als sie ihn kannte. Aber in seinem Leben davor? Woher sollte sie das wissen? Nichts, was sie in der letzten Woche über Harry erfahren hatte, schien zu dem Mann zu passen, der ihr Freund gewesen war.

Ihr neuer Freund musterte sie. „Ein alter Exfreund?“

„Alt allemal.“ Grace musste lächeln. „Aber mehr wie ein Großvater.“

Er entspannte sich sichtlich, sah aber hinreißend beschämt aus. „Wissen Sie, das Letzte, was ein Mann hören möchte, der gerade versucht, eine schöne Frau zu beeindrucken, ist, dass er sie an ihren Großvater erinnert.“

Er fand sie schön? Er wollte ihr imponieren und gab es auch noch zu? Wusste er etwa, dass sie auf Männer stand, die sie – abgesehen von einem betörenden Lächeln – mit Offenheit und Ehrlichkeit beeindruckten? Sie kannte nur wenige solcher Exemplare. Eigentlich nur Harry.

„Ich, äh …“, stammelte sie. „Ich meine, äh …“

Es schien ihm zu gefallen, dass er sie sprachlos gemacht hatte, ohne dass er dabei arrogant wirkte. Der Erfolg gab ihm eben recht. „Sie selbst sind also kein Großstadtmensch?“

Dankbar für den Wechsel auf ein Thema, zu dem sie mit Worten beitragen konnte, schüttelte sie den Kopf. „Überhaupt nicht. Ich habe zwar mein Leben lang in Großstädten gelebt, aber nie mitten drin. Ich war immer ein Vorstadtkind.“

Auch wenn sie ihren Vater nie gekannt hatte und in einer Wohnung aufgewachsen war, hatte sich ihr Leben nicht sehr von dem ihrer Freunde unterschieden, die mit ihren Familien in Häusern wohnten. Irgendwie hatte ihre Mutter trotz ihres mageren Einkommens immer genug Geld gehabt für Sommerurlaube und den Klavier- oder Turnunterricht. Als Kind spielte Gracie im Sommer im Park, im Herbst hüpfte sie in Laubhaufen herum, im Winter baute sie Schneemänner, und im Frühling fuhr sie Fahrrad.

Ihr neuer Freund betrachtete sie erneut prüfend. „Zuerst dachte ich, dass Sie auch ein Stadtmensch wären. Ihr Kostüm ist ein bisschen altmodisch, aber Sie würden trotzdem nach East Village oder Williamsburg passen. Jetzt allerdings …“

Seine Stimme erstarb, bevor er seine Analyse beendete, und er sah sie auf höchst interessante – und interessierte – Weise an. Hitze breitete sich in ihrem Körper aus, bis jede ihrer Zellen davon durchdrungen war und sie sich fühlte, als ob sie gleich in Flammen aufgehen würde. Einen endlosen Moment lang schien der Raum um sie herum still zu werden und es nur noch sie beide zu geben. Gracie hatte so etwas noch nie erlebt. Es war … beunruhigend. Aber schön.

„Jetzt?“, wiederholte sie in der Hoffnung, diesen eigenartigen Zauber zu brechen. Doch sie sprach das Wort so leise aus, und er schien so in Gedanken versunken zu sein, dass sie sich fragte, ob er es überhaupt gehört hatte.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf, als ob er versuchen würde, die Gedanken aus seinem Gehirn zu verbannen. „Jetzt scheinen Sie mir eher das brave Mädchen von nebenan zu sein.“

Dieses Mal sah Gracie beschämt aus. „Wissen Sie, das Letzte, was ein Mädchen hören möchte, wenn sie versucht, einen schönen Mann zu beeindrucken, ist, dass sie ihn an ein Glas Milch erinnert.“

Sie mussten beide lachen, und die merkwürdige Spannung zwischen ihnen löste sich endlich auf.

„Müssen Sie hiernach wieder zurück zur Arbeit?“, fragte er. „Oder hätten Sie Zeit für ein spätes Mittagessen?“

Trotz des Zaubers, unter dem sie gerade beide gestanden hatten, war Gracie verblüfft über seine Einladung. Der Morgen hatte mit düsteren Vorahnungen begonnen, und jetzt war sie plötzlich mitten in einem Flirt? Wo war nur dieser Mann hergekommen? Wie konnte sie ihn so gernhaben, obwohl sie ihn gerade erst kennengelernt hatte? Und wie sollte sie seine Einladung zum Mittagessen annehmen, wenn ihr gesamtes Leben kurz davor war, auf atomare Weise zu explodieren?

„Mittagessen? Ich? Äh, Arbeit …?“

Es bereitete ihm offensichtliches Vergnügen, sie wieder aus dem Konzept gebracht zu haben. „Ja, Sie. Und ja, Mittagessen. Für welche Firma arbeiten Sie?“ Er sah sich im Raum um. „Vielleicht kann ich meine Beziehungen für Sie spielen lassen. Die meisten hier kenne ich schon mein Leben lang. Einige schulden mir noch einen Gefallen.“

„Firma?“, wiederholte sie mit zunehmender Verwirrung.

„Welche Anwaltsfirma und welche Beteiligungen meines Vaters vertreten Sie? Auch wenn sie nicht mehr meinem Vater gehören. Nicht nachdem diese billige, durchtriebene, manipulative Hochstaplerin ihn in die Finger bekommen hat. Aber meine Mutter und ich werden dabei nicht kampflos zusehen.“

In diesem Moment dämmerte es Gracie, dass der Mann, der eben noch so freundlich mit ihr gesprochen hatte, nicht zu den zahlreichen hier ansässigen Anwälten gehörte. Und auch keiner von Harrys ehemaligen Kollegen war. Dies hier war Harrys Sohn Harrison Sage III. Der Mann, der zusammen mit seiner Mutter angenommen hatte, er würde den Großteil des Vermögens seines Vaters erben. Dessen Hoffnung sie zerstört hatte. Von dem sie noch vorhin angenommen hatte, dass er vielleicht fuchsteufelswild, rachsüchtig oder gar mordlüstern sein könnte.

Dann fiel ihr seine andere Bemerkung ein. Er hielt sie für eine billige, durchtriebene, manipulative Hochstaplerin? Sie? Die Frau, die niedrige Pfennigabsätze für Stilettos hielt? Deren Röcke über knielang waren? Die heute Morgen beim Wimperntuschen fast erblindet wäre? Die Frau, die fast jeden einzelnen Penny der vierzehn Milliarden Dollar verschenken wollte?

Denn auch ohne Harrys von Mr. Tarrant vorgetragenem Wunsch, dass Gracie den Großteil seines Vermögens dafür verwenden sollte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, hätte sie genau das getan. Sie scheute die Verantwortung für so viel Geld. Oder die damit zusammenhängende Berühmtheit.

Vielleicht hatte sie es bis vor einer Woche schwer gehabt, über die Runden zu kommen, aber sie war über die Runden gekommen. Und sie war glücklich mit ihrem Leben in Seattle. Sie hatte witzige Freunde und eine süße Wohnung. Sie hatte einen Job und arbeitete auf ihren Abschluss hin. Jeden Tag freute sie sich auf den nächsten und auf ihre Zukunft. Aber seit der Nachricht über ihre Erbschaft war sie jeden Morgen mit Magenschmerzen aufgewacht und konnte abends nur mithilfe einer Tablette einschlafen. Dazwischen war sie schreckhaft, verschlossen und verängstigt gewesen.

Die meisten Menschen hielten sie vermutlich für verrückt, aber Gracie wollte keine Milliardärin sein. Nicht einmal eine Millionärin. Sie wollte genug, um ein sorgloses Leben zu führen, aber nicht so viel, um sich den Rest ihres Lebens sorgen zu müssen. Für sie ergab das Sinn. Aber für Harrys Sohn …

Sie suchte nach Worten, die Harrison III. überzeugen würden, dass sie nichts von alldem war, was er soeben frech behauptet hatte. Aber sie verstand selbst so vieles noch nicht. Wie konnte sie es dann einem anderen erklären?

„Ich, äh, tja …“ Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das sicher genauso gekünstelt aussah, wie es sich anfühlte, und versuchte es erneut. „Eigentlich … also, die Sache ist die …“

Grrr. Wenn sie so weitermachte, würde sie Harry im Jenseits begegnen, bevor sie einen vollständigen Satz zustande brachte. Jetzt spuck es schon aus! Aber alles, was sie herausbrachte, war: „Äh, eigentlich muss ich gleich nicht wieder zur Arbeit.“

Na also! Das war doch ein Anfang. Und die Wahrheit obendrein.

Sofort entspannte sich Harrison Sages Gesichtsausdruck. „Ausgezeichnet. Mögen Sie Thai? Auf der 46. West hat gerade ein toller Laden aufgemacht. Sie werden das Essen dort lieben.“

„Doch, ich mag Thai.“ Auch das war die Wahrheit. Weiter so, Gracie!

„Ausgezeichnet.“ Er schenkte ihr ein weiteres betörendes Lächeln. „Ich heiße übrigens Harrison. Harrison Sage. Falls Sie das noch nicht selbst herausgefunden haben.“

Gracie unterdrückte einen erstickten Laut. „Doch, habe ich irgendwie.“

„Und Sie sind?“

Tja, die adäquate Antwort wäre wohl: „Ich bin besagte billige, durchtriebene, manipulative Hochstaplerin. Angenehm.“

„Ich … ich heiße Gracie“, sagte sie stattdessen.

Sie hoffte, dass ihr Name gängig genug war, um sie nicht mit der Frau in Zusammenhang zu bringen, die er vermutlich mit der Intensität von tausend Höllenfeuern hasste. Doch er verstand sofort. Sie konnte es daran erkennen, wie seine Gesichtszüge sich verhärteten, sein Blick kalt wurde und er mit den Zähnen knirschte.

Und daran, dass die Temperatur im Zimmer gerade um vierzehn Milliarden Grad fiel.

2. KAPITEL

Harrison Sage hoffte, sich verhört zu haben. Vielleicht hatte sie gar nicht Gracie gesagt. Sondern Stacy. Oder Tracy. Oder vielleicht sogar Maisey. Gracie war der Kosename für Grace. Und Grace war der Name der Frau, die ihre weiblichen Reize dazu benutzt hatte, einen gebrechlichen, alten Mann zu verführen und so zu manipulieren, dass er sein Testament änderte und ihr alles überließ, was er hatte.

Und das sollte diese Frau sein? Verblüfft musterte er sie. Er hatte mit einer lauten, grell geschminkten Platinblondine im kurzen Rock, engen Top und mit endlos hohen Absätzen gerechnet. Eine mit viel Haar, langen Beinen und ungemein üppigen …

Tja. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie aussehen würde wie aus einem Märchen entsprungen. Denn das war genau der Eindruck, den er von ihr hatte, als sie den Raum betrat. Dass diese feenhafte Nymphe aus einer anderen Welt kam und überhaupt nicht in diese Trollhöhle passte. Sie war zart und zerbrechlich, und er konnte kein Make-up an ihr erkennen. Einzelne Strähnen ihres Haars in der Farbe des Sonnenuntergangs an einem goldenen Herbsttag hatten sich aus ihrem Knoten gelöst, und es schien nur ein Hauch von Zauberei nötig zu sein, um die ganze Pracht zu befreien.

Und wann, zur Hölle, war er zu einem derart glühenden Poeten geworden? Sonnenuntergang an einem goldenen Herbsttag? Hauch von Zauberei? Wie konnte er so über eine Frau denken, die seine Familie ihres rechtmäßigen Erbes beraubt hatte? Was für ein Testosteronschub hatte ihn denn da erwischt?

Andererseits verstand er langsam, was seinen Vater an ihr fasziniert hatte. Offensichtlich war sie die Art von Trickbetrügerin, die erfolgreicher die keusche Jungfrau mimte als die blonde Sexbombe. Da war er doch beinahe selbst in ihre Falle getappt.

Aber egal, wie sie seinen Vater übertölpelt hatte. Es war ihr gelungen, einen der gerissensten Geschäftsmänner des letzten Jahrhunderts auszutricksen und ihn dazu zu bringen, sich von jedem abzuwenden, den er je geliebt hatte. Nun, soweit sein Vater jemanden oder etwas anderes außer seinem Vermögen und seiner gesellschaftlichen Stellung hatte lieben können. Aber was konnte man sonst schon lieben? Geld, Macht und Stellung waren die einzigen Dinge, auf die man zählen konnte. Oder zumindest konnte, bevor alles den Bach hinunterging dank dieser, dieser …

Harrison trat einen Schritt zurück und musterte Grace Sumner kühl. „Sie sind die billige, durchtriebene, manipulative Hochstaplerin?“ Und weil sie bei seinem Kommentar aufrichtig verletzt aussah – wow, sie war wirklich gut –, fügte er hinzu: „Ich dachte, sie wären größer.“

Wäre sie nicht eine Frau gewesen, die sich ihren Lebensunterhalt mit Betrügereien verdiente, hätte er geschworen, dass ihr Lächeln ängstlich wirkte.

Harrison wollte gerade weiterreden, als Bennett Tarrant – noch so ein Dorn im Fleisch der Sage-Familie – neben Gracie erschien, als ob sie ihn herbeigezaubert hätte.

„Wie ich sehe, haben Sie Mr. Sage kennengelernt“, sagte er unnötigerweise.

„Ja.“ Graces Blick blieb auf Harrison geheftet.

„Und wie ich sehe, haben Sie Miss Sumner kennengelernt.“

„Ja.“ Harrisons Blick blieb auf Grace geheftet. Die einsetzende Stille war dick genug, um sie mit einem Fleischerbeil zerhacken zu können.

„Wir fangen gleich an und sollten uns zu unseren Sitzen begeben“, sagte Tarrant schließlich.

Aber Harrison konnte sich einfach nicht von der Stelle bewegen – oder aufhören, Grace Sumner anzustarren. Verdammt. Sie war wirklich die geborene Verführerin!

Er rief sich ins Gedächtnis, was seine Mutter und er seit dem Verschwinden seines Vaters vor fünfzehn Jahren durchgemacht hatten. Und dass seiner Mutter nichts bleiben würde dank dieser Frau, die durch reines Glück über die Gelegenheit gestolpert war, einen schwachsinnigen, reichen, alten Mann auszunehmen.

Vor fünfzehn Jahren hatte er sich an einen Frühstückstisch gesetzt, an dem seine Eltern so weit wie möglich voneinander entfernt saßen, obwohl zweiundzwanzig Personen am Tisch Platz hatten. Wie üblich hatte sein Vater seine Nase im Wall Street Journal vergraben, während seine Mutter durch das Programm der Mailänder Fashion Week blätterte. Oder der Pariser Fashion Week. Oder vielleicht auch der Lickspittle Fashion Week in Idaho. Also setzte er sich wie immer genau zwischen sie, weit genug entfernt, damit keiner von ihnen mit dem anderen reden musste. Es war schließlich eine Familientradition der Sages, dass man nicht miteinander sprach.

Sie aßen schweigend, bis der Butler sie darüber informierte, dass ihre Wagen bereitstünden, um seinen Vater zur Arbeit, seine Mutter zum Einkaufen und ihn zur Schule zu fahren. Dann hatten sich alle drei Sages ohne ein Wort des Abschieds auf den Weg gemacht, so wie jeden Morgen. Hätte Harrison gewusst, dass er seinen Vater zum letzten Mal sah, hätte er vielleicht …

Was? fragte er sich. Ihm einen schönen Tag gewünscht? Ihn umarmt? Ihm gesagt „Ich habe dich lieb“? Er war sich nicht sicher, was davon er im Alter von fünfzehn Jahren getan hätte, geschweige denn, was davon er heute tun würde. Aber wenigstens hätte er seinem Vater … irgendetwas gesagt.

Er wünschte, sein Vater und er hätten mehr miteinander geredet. Oder überhaupt. Aber das war schwer, wenn der Vater neunzig Prozent seiner Zeit bei der Arbeit war und der Sohn neunzig Prozent seiner Zeit in Schwierigkeiten. Harrison erinnerte sich, dass er in der Nacht, bevor sein Vater ging, auf dem Rücksitz eines Streifenwagens nach Hause kam, weil er in einem Schnapsladen in der Innenstadt ein paar Pornomagazine und eine Flasche Starkbier hatte mitgehen lassen.

Fünf Monate nach dem Verschwinden seines Vaters teilte einer der Familienanwälte ihnen schließlich mit, dass er gefunden worden war, aber nicht die Absicht hatte, auf absehbare Zeit nach Hause zu kommen. Oh ja, er würde mit einem seiner Anwälte und ein paar Geschäftspartnern in Verbindung bleiben, damit Sage Holdings Inc. weitergeführt wurde und man ihn nicht für tot erklärte. Aber er würde sobald nicht ins Arbeitsleben – oder in sein Privatleben – zurückkehren. Denjenigen, mit denen er in Kontakt blieb, zahlte er eine stattliche Summe, damit sie seinen Aufenthaltsort nicht verrieten. Er würde zurückkehren, wenn ihm danach wäre. Aber dieser Fall trat nie ein.

Harrison sah in Grace Sumners trügerisch schönes Gesicht und ihre tiefgründigen dunklen Augen. Zwei Richter mochten entschieden haben, dass ihr das Vermögen seines Vaters zustand, aber er würde es ihr nicht kampflos überlassen, sondern ein für alle Mal klarstellen, dass sie keinen Anspruch auf nur einen Cent davon hatte. Er war sich so sicher gewesen, dass das Berufungsgericht zugunsten der Familie entscheiden würde, dass er noch gar nicht alle Karten ausgespielt hatte. Bis jetzt.

Schon bald würde jeder wissen, dass Grace Sumner mitnichten ein feenhaftes, überirdisches Wesen war. In Wahrheit passte sie perfekt in diese Trollhöhle.

Gracie hätte gern noch etwas zu Harrys Sohn gesagt, aber sein Gesichtsausdruck war so frostig geworden, dass jegliche Form der Erklärung oder Beileidsbekundung vermutlich an ihm abgeprallt wäre. Trotzdem konnte sie nicht einfach gehen. Der Mann hatte seinen Vater verloren – zweimal – und keine Chance auf eine Wiedergutmachung bekommen. Durch Harrys letzten Wunsch war das Leben seiner Familie auf den Kopf gestellt worden. Sie konnte ihm seine Ablehnung ihr gegenüber wohl nicht vorwerfen.

Also lächelte sie tapfer und sagte: „Ich bezweifele, dass Sie mir glauben, Mr. Sage, aber es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Es tut mir so leid wegen Ihres Vaters. Er war der netteste und anständigste Mann, den ich je kennengelernt habe.“

Ohne ihm die Möglichkeit einer Erwiderung zu geben, drehte sie sich um und folgte Mr. Tarrant zu zwei sich gegenüberstehenden Sitzreihen, die vor einem großen Bildschirm aufgebaut worden waren. Sie setzte sich zwischen Mr. Tarrant und zwei Anwälte seiner Firma, die wie zu ihrem Schutz einen Verteidigungsring um sie bildeten.

Gus Fiver, Mr. Tarrants Stellvertreter bei Tarrant, Fiver & Twigg, war ein Mittdreißiger und so blond und liebenswürdig, wie Harrison Sage dunkelhaarig und übellaunig war, auch wenn seine Kleidung ebenso teuer aussah. Renny Twigg, die Mr. Tarrant als eine ihrer Teilhaberinnen vorstellte – ihr Vater war einer der Namensgeber der Firma –, kam Gracies Alter schon näher. Renny war eine zierliche Brünette, die sich in ihren Nadelstreifen nicht ganz wohlzufühlen schien. Auch mit ihrem strengen Dutt und den perfekt manikürten Händen sah sie aus wie jemand, der lieber einer Arbeit im Freien nachgehen würde, bei der man schlichte Flanellhemden trug.

Alle anderen im Raum hatten entweder in irgendeiner Weise mit Harry in Verbindung gestanden oder waren deren Anwälte. Gracie gegenüber – natürlich – saßen Harrys Familienmitglieder und deren Anwälte. Außer Harrison Sage III. und seiner Mutter Vivian gab es noch einen ganzen Stall voller Exfrauen, Geliebter und einem halben Dutzend Kinder, von denen drei sogar rechtmäßig anerkannt waren. Auf beruflicher Ebene hatte Harry haufenweise Großkonzerne und Aktiengesellschaften besessen. Alles zusammen ergab einen finanziellen Nachlass epischen Ausmaßes, von dem jetzt fast alles rechtmäßig Gracie gehörte. Harry hatte auch eine Handvoll anderer Leute bedacht, aber den Rest seines Privatvermögens – jeden Stein, Byte und Dollar – ihr hinterlassen.

Wo war die Papiertüte zum Hyperventilieren, wenn man sie brauchte?

Nachdem sich alle gesetzt hatten, stand Bennett Tarrant auf und ergriff das Wort. „Vielen Dank für Ihr Kommen. Dieses Treffen ist nur eine Formalität, da Mr. Sages Vermögen bereits gerichtlich abgewickelt wurde, und …“

„Was nicht bedeutet, dass das Urteil nicht angefochten werden kann“, unterbrach Harrison Sage so laut, dass Gracie zusammenzuckte. „Und genau das werden wir in den nächsten zwei Wochen tun.“

„Ich wüsste nicht, wofür das gut sein sollte“, erwiderte Mr. Tarrant. „Eine Berufung wurde bereits zugunsten von Miss Sumner entschieden. Sollten keine neuen Informationen vorliegen, würde eine weitere Berufung den Entscheid nur bestätigen.“

Harrisons Anwalt ergriff das Wort. „Wir werden bald neue Beweise vorlegen.“

Mr. Tarrant sah nicht ein bisschen beunruhigt aus. „Mr. Landis, es wurde zweimal bestätigt, dass Harrison Sage im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte war, als er Grace Sumner sein Vermögen vermachte.“

„Tatsächlich werden wir dies widerlegen“, erwiderte Mr. Landis. „Und wir werden beweisen, dass Grace Sumner nicht nur ungebührlichen Einfluss sexueller Natur auf Mr. Sage ausgeübt hat, sondern …“

„Was?“ Dieses Mal war es Gracie, die unterbrach. Sie konnte die Hitze von Harrison Sages Blick förmlich auf sich spüren.

Mr. Landis fuhr fort. „Wir werden außerdem beweisen, dass Grace Sumner Mr. Sage mit einer sexuell übertragbaren Krankheit angesteckt hat, durch die er geistig unzurechnungsfähig wurde.“

„Was?!“ Jetzt wurde Gracie laut.

Gus Fiver hielt sie gerade noch davon ab, aufzuspringen, indem er ihr sanft die Hand auf die Schulter legte und ihr bedeutete, die Anschuldigungen zu ignorieren. Gracie gehorchte nur zögernd. Aber wenn Blicke töten könnten, wäre Harrison Sage in diesem Moment zu einem Häufchen Asche zerfallen.

Insbesondere als sein Anwalt sagte: „Sie hat einen bereits gebrechlichen alten Mann verführt und dann seinen geschwächten Zustand ausgenutzt, um ihn dazu zu überreden, ihr sein Vermögen zu vererben. Wir beauftragen einen Privatdetektiv, um die erforderlichen Beweise beizubringen, da dies erst kürzlich ans Licht gekommen ist.“

„Soso“, erwiderte Mr. Tarrant. „Oder vielleicht ist dies ein völlig aus der Luft gegriffener letzter, verzweifelter Versuch.“

Unglaublich, dachte Gracie. Selbst wenn sie gewusst hätte, dass Harry reich war, hätte sie ihn niemals ausgenutzt. Und ganz sicher hätte sie dazu nicht ihre angeblichen sexuellen Verführungskünste eingesetzt, weil sie gar keine hatte. Wahre Freundschaft war viel mehr wert als Geld und viel schwerer zu finden. Und gebrechlich und geschwächt? Harry? Oh, bitte! Er war voller Saft und Kraft gewesen bis zu der Minute, in dem dieses verdammte Aneurysma ihm den Garaus gemacht hatte.

Mr. Tarrant blieb ungerührt. „Der Verstorbene hat sein Testament persönlich in Anwesenheit seiner Anwälte, von denen zwei heute anwesend sind, geändert. Er hat ihnen nicht nur ein ärztliches Attest über seinen ausgezeichneten körperlichen und geistigen Zustand vorgelegt, sondern sogar seinen Arzt als Zeugen mitgebracht. Die Absicht Ihres Vaters war unmissverständlich. Er wollte, dass Grace Sumner den Großteil seines persönlichen Vermögens bekommt. Zwei Richter haben dies bestätigt. Nun denn, im Zuge dieser Testamentsänderung hat Mr. Sage ein Video aufgenommen, das Miss Sumner, seiner Familie und seinen Angehörigen sowie ihren Vertretern vorgespielt werden soll. Renny, würdest du bitte?“

Renny Twigg hielt die Fernbedienung Richtung Fernseher, und Sekunden später erschien Harrys Gesicht auf dem Bildschirm. Gracies Magen zog sich zusammen. Er sah ganz anders aus als der Harry, den sie aus Cincinnati kannte. Anstatt seiner Sweatshirts und zerknitterten Khakihosen trug er Anzug und Krawatte. Sein sonst so unordentliches Haar war von einem Profi geschnitten und frisiert worden. Mit seinem strengen Gesichtsausdruck sah er genauso aus, wie sie sich einen Firmenmogul und Milliardär vorstellte: humorlos, rücksichtlos und gemein. Doch dann setzte er sein Weihnachtsmannlächeln auf, zwinkerte und wurde zu dem Harry, den sie gekannt und geliebt hatte. Plötzlich fühlte sie sich viel besser.

„Hallo, Gracie“, sagte er in dem ihr so bekannten verspielten Tonfall. „Tut mir leid, dass wir uns auf diese Weise sehen, Kindchen, denn das bedeutet, dass ich tot bin.“

Gracie war den Tränen nahe. Wie sehr sie Harry vermisste. Er war der beste Freund gewesen, den sie je hatte. „Hi, Harry“, murmelte sie, ohne nachzudenken.

Alle Augen im Raum richteten sich auf sie, aber das war ihr egal. In diesem Moment fühlte es sich so an, als ob Harry bei ihr war. Viel zu lange hatte sie nicht mehr mit ihm sprechen können.

Er fuhr fort. „Es bedeutet auch, dass du jetzt die Wahrheit über mich kennst und mit den Mitgliedern meines ursprünglichen Clans im selben Raum sitzen musst. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schlimm das sein kann, also fasse ich mich kurz. Ich hoffe, es hat dich nicht zu Tode erschreckt, wie viel ich dir hinterlassen habe. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht selbst erzählt habe. Aber als wir uns kennenlernten, war ich schon viel mehr Harry Sagalowsky als Harrison Sage, also habe ich nicht wirklich gelogen. Du hättest Harrison eh nicht gemocht. Er war ein Arschloch.“

Gracie lachte laut auf. Das war typisch Harry. Als sie wieder alle Augen auf sich gerichtet fühlte, biss sie sich auf die Lippe und wappnete sich gegen weitere unangemessene Ausbrüche. Obwohl Harry ihre Reaktion nichts ausgemacht hätte.

Er sprach weiter. „Darum wollte ich nicht mehr Harrison sein. Eines Tages wurde mir klar, wie sehr ich mich von meinen Wurzeln und damit von mir selbst entfernt hatte. In all diesen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten geht es nie darum, welche Opfer du bringen musst und wie deine Moralvorstellungen und dein Charakter dabei auf der Strecke bleiben.“

Gracie hörte gebannt zu. So ernst kannte sie Harry gar nicht. Er beschrieb, wie er kaum noch mehr als eine Repräsentationsfigur seiner Firmen war, als er ging, und wie unglücklich ihn sein Privatleben machte, sodass er nur noch wegwollte. Also verließ er seine Firmen, seine Familie und sein „scheiß großes Haus in Long Island“, nahm wieder den Nachnamen seiner Vorfahren an und zog zurück in den Arbeiterbezirk von Cincinnati, wo er groß geworden war.

Gracie sah zu Vivian und Harrison hinüber, die beide mit derselben Mischung aus Verärgerung, Verwirrung und etwas anderem auf den Bildschirm starrten, das sie sich nicht erklären konnte. Sie versuchte, Mitleid mit ihnen zu haben. Wie musste es sich anfühlen, fünfzehn Jahre lang von Mann und Vater ignoriert und dann enterbt worden zu sein? Einige ihrer Gefühle Harry gegenüber waren sicher gerechtfertigt.

Aber vielleicht sollten sie sich auch überlegen, warum Harry das getan hatte. Er war nicht der Mensch gewesen, der sich grundlos von anderen abwandte.

Harrys Erwähnung ihres Namens ließ sie wieder auf den Bildschirm blicken. „Vivian und Harrison, dieser Teil ist für euch. Milliarden von Dollar sollte niemand allein besitzen. Gracie Sumner ist ein Mensch, der versteht, was für eine überwältigende Verantwortung so viel Geld darstellt, und sie wird das Richtige damit tun. Ich kenne sie, sie wird es nicht für sich behalten, sondern es so schnell wie möglich loswerden wollen und dafür sorgen, dass es in die Hände von Menschen kommt, die es brauchen.“

Gracie wagte einen weiteren Blick in den Raum. Vivian Sage, im goldenen Kostüm und mit Edelsteinen jeglicher Farbe behängt, war offensichtlich den Tränen nahe. Harrison dagegen starrte Gracie an. Seine Miene war undurchdringlich. Sie hatte keine Ahnung, ob er gerade überlegte, wo er später zu Mittag essen oder ihren Körper verscharren wollte.

„Gracie, dieser Teil ist für dich“, fuhr Harry fort. „Ich hätte dir diesen ganzen Ärger ersparen und mein Geld selbst für gute Zwecke spenden können. Aber da du ein besserer Mensch bist als ich, weißt du auch besser, was damit zu tun ist. Aber hör gut zu, Kindchen. Dieser letzte Teil ist wirklich wichtig. Behalte etwas von dem Geld für dich. Und das meine ich ernst. Kauf dir eins dieser lächerlichen kleinen Autos, die du so magst. Oder ein Haus am Wasser. Geh nach Spanien, wie du es immer wolltest. Tu irgendetwas für dich. Versprichst du es mir?“

Wieder fühlte Gracie, wie alle sie anstarrten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es fühlte sich so falsch an, Harrys Geld zu nehmen, wenn auch nur ein bisschen davon. Sie wollte nicht zu denen gehören, die nur Dollars sahen, wenn sie seinen Namen hörten, insbesondere weil er ihr schon zu Lebzeiten so viel gegeben hatte.

„Versprich es mir, Gracie.“ Harry schien gewusst zu haben, dass sie zögern würde.

„Okay, Harry“, erwiderte sie weich. „Ich verspreche es.“

„Braves Mädchen“, sagte Harry augenzwinkernd.

Er verabschiedete sich von allen, dann wurde der Monitor schwarz. Wieder fühlte Gracie sich den Tränen nahe. Hastig kramte sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche hervor und betupfte sich damit die Augen.

Auf der anderen Seite des Raums begann Harrison Sage langsam zu klatschen. „Oh, ausgezeichnet, Ms. Sumner. Das war wirklich eine preisverdächtige Leistung. Ich verstehe langsam, wie Sie meinen Vater einwickeln konnten.“

„Wenn ich Sie wäre, Mr. Sage“, unterbrach Bennett Tarrant, „würde ich mehr Vorsicht walten lassen bei dem, was ich zu der Frau sage, der das Anwesen in Long Island gehört, in dem meine Mutter wohnt.“

In diesem Moment wurde Gracie plötzlich klar, wie viel Macht sie zurzeit in Händen hielt. Tatsächlich könnte sie Vivian Sage auf die Straße setzen und selbst in das Haus in Long Island einziehen. Genau das würde eine billige, durchtriebene, manipulative Hochstaplerin tun, die ihre sexuellen Verführungskünste eingesetzt hatte, um einen gebrechlichen alten Mann auszunutzen.

„Mr. Tarrant“, sagte sie, „was muss ich tun, um dieses Haus und alles darin Mrs. Sage zu überschreiben? Es ist ihr Zuhause. Es sollte ihr gehören, nicht mir.“

Harrison beäugte Gracie misstrauisch, sagte aber nichts. Vivians Gesichtsausdruck allerdings wurde weicher.

„Dafür müssen nur ein paar Schriftstücke aufgesetzt werden“, erwiderte Mr. Tarrant. „Heute ist Mittwoch. Wir könnten alles bis Ende nächster Woche vorbereiten. Sofern es Ihnen nichts ausmacht, noch etwas in der Stadt zu bleiben.“ Gracie seufzte. Harrys Haus musste mehrere zehn Millionen Dollar wert sein und das Interieur noch mehr. Sie fühlte sich schon besser, nur einen kleinen Teil seines Reichtums zu teilen.

„Es macht mir nichts aus, noch etwas zu bleiben. Ich war noch nie in New York und freue mich darauf. Könnten Sie ein Hotel empfehlen, das nicht zu teuer ist? Mein jetziges ist ganz schön happig, aber ich hatte ja auch nicht vor, länger als ein paar Nächte zu bleiben.“

„Das hier ist New York City, Gracie“, sagte Mr. Tarrant lächelnd. „‚Nicht zu teuer‘ gibt es hier nicht.“

„Oh, Sie sollten nicht in der Stadt wohnen“, fiel Vivian ein. „Dort ist es so laut und voll, Liebes. Bleiben Sie hier bei uns in den Hamptons. Jetzt im Juni sind die Abende wunderschön.“

Harrison sah seine Mutter an, als ob ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen wäre. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Auch Gracie dachte, dass Vivian sie auf den Arm nehmen wollte. Noch vor einer Minute hatte sie so ausgesehen, als ob sie sich wünschte, Gracie würde spontan in Flammen aufgehen, und jetzt lud sie sie in ihr Haus ein? Warum? Um sie im Schlaf erdrosseln zu können?

„Natürlich ist es mein Ernst“, sagte Vivian. „Wenn Grace – ich darf Sie doch so nennen, Liebes – so freundlich ist, mir das Haus zu schenken, kann ich es ihr hier wenigstens bequem machen, damit sie nicht in solch einem muffigen alten Hotel in der Stadt wohnen muss. Meinst du nicht auch, Harrison?“

Was Harrison dazu meinte, wollte Gracie gar nicht wissen. Nicht wenn sein Gesichtsausdruck Schlüsse darauf zuließ.

„Bitte, Grace“, drängte Vivian. „Wir haben auf dem völlig falschen Fuß angefangen. Es war solch ein Schock für uns alle. Lassen Sie uns unser schlechtes Benehmen wiedergutmachen. Sie können uns alles über das Leben meines Mannes in Cincinnati erzählen und wir ihnen alles über sein Leben davor.“

Gracie wusste nicht, was sie sagen sollte. Tat Vivian nur so nett, oder wollte sie sich wirklich versöhnen? Möglicherweise war die Sache mit dem Erdrosseln noch nicht vom Tisch.

Gracie gab sich einen Ruck. Da war sie kaum eine Woche lang Milliardärin, und schon erwartete sie das Schlimmste von den Menschen. Genau deswegen wollte sie nicht reich sein – und jedem mit Misstrauen begegnen, den sie traf. Natürlich war Vivian nett und versöhnlich. Und etwas über Harrys Vergangenheit zu erfahren wäre schön. Sein Leben musste faszinierend gewesen sein.

Dieser Gedanke brachte Gracie dazu, Harrison anzusehen. Da er sie nun nicht mehr so finster anstarrte, konnte sie die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Vater erkennen. Sie hatten die gleichen blauen Augen und das gleiche kantige Kinn, aber Harrison war um einiges größer und breitschultriger. Gracie fragte sich, ob er noch anderes mit Harry gemeinsam hatte. Liebte er Baseball, und hatte er denselben Sinn für respektlosen Humor wie sein Vater? Mochte er auch lieber Pasteten als Kuchen? Konnte er Chili kochen und Foxtrott tanzen wie ein Profi? Und warum interessierte sie das plötzlich?

„In Ordnung“, sagte sie, bevor sie sich ihrer Entscheidung überhaupt bewusst war. „Es ist nett von Ihnen, mich bei sich aufzunehmen, Mrs. Sage. Vielen Dank.“

„Nennen Sie mich Vivian, Liebes“, erwiderte diese lächelnd. „Ich bin sicher, dass wir alle gute Freunde sein werden, bevor die Woche um ist.“

Dessen war sich Gracie nicht so sicher, auch wenn es Vivian ernst zu sein schien. Vielleicht würde es mit ihr klappen, aber mit Harrison? Tja, da konnte man nur das Beste hoffen.

Und sich gegen das Schlimmste wappnen.

3. KAPITEL

Als Gracie an ihrem zweiten Tag in Long Island erwachte, fühlte sie sich kaum weniger unbehaglich als am ersten. Das gestrige Dinner, bei dem Harrison durch Abwesenheit glänzte – welche Überraschung –, war höflich verlaufen. Vivian hatte sie in einem Zimmer untergebracht, das praktisch die Größe ihrer gesamten Wohnung in Seattle hatte. Himmel, allein das Bett hatte die Größe ihres Wohnzimmers. Die Zimmerdecke war blassblau gestrichen mit angedeuteten weißen Wolken auf der einen Seite, die in eine sternengesprenkelte Abenddämmerung auf der anderen Seite übergingen. Der seidig glatte Holzfußboden war übersät mit Teppichen, und das Mobiliar und die Vorhänge hätten aus dem Versailler Schloss kommen können. Gracie fühlte sich völlig fehl am Platz.

Wie hatte Harry in solch einem Haus leben können? Es passte so gar nicht zu ihm. Seine Wohnung war mit abgenutzten, ausrangierten Sachen und fadenscheinigen Teppichen möbliert gewesen. Die Wände zierten Fanartikel der Cincinnati Reds und ein paar „Malen nach Zahlen“-Bilder mit Cocker-Spaniel-Motiven. Harry hatte seine Wohnung jedoch geliebt.

Dort gab es kein Meeresrauschen, keine warme Brise, die durch die Fenster hereinwehte, keine verlassenen Strände und schon gar keine palastartigen Häuser. Warum hatte ein Mann all dies hinter sich gelassen, um sechshundert Meilen entfernt in einer winzigen Wohnung im Arbeitermilieu zu leben? Es war ihr ein Rätsel.

Was sie irgendwie auf Harrys Sohn brachte, der ihr ebenfalls Rätsel aufgab. War er der flirtende Charmeur, den sie gestern in der Bibliothek kennengelernt hatte? Oder der grimmige junge Mann, der überzeugt war, sie hätte seinen Vater ausgenutzt? Und warum war es ihr so wichtig, ihm zu zeigen, dass er sich in ihr irrte?

Heute würde es besser laufen, sagte sie sich, als sie ins Badezimmer tapste. Sie und Harrison – und natürlich auch Vivian – hatten die Gelegenheit, sich unter besseren Voraussetzungen kennenzulernen. Ein neuer Tag, ein neuer Anfang. Harrison Sage würde sicherlich genauso denken und ihr die Chance geben, ihm zu beweisen, dass er ein völlig falsches Bild von ihr hatte.

Ganz sicher würde er das.

Harrison kam absichtlich zu spät zum Frühstück. Er hatte gehofft, dass Grace Sumner schon beleidigt von dannen gezogen wäre, weil man ihr so wenig Beachtung schenkte, obwohl sie jetzt reicher und wichtiger war als neunundneunzig Prozent der restlichen Welt. Doch als er frisch geduscht in marineblauem Poloshirt und Khakihose erschien, die eher zu einem Golfspiel passten, als einschüchternd zu wirken, saß sie neben seiner Mutter am Pool. Und was noch schlimmer war: Sie lachten wie zwei Frauen, die irgendeine alberne Gemeinsamkeit entdeckt hatten.

Und was hatte Gracie für ein nettes Lachen – echt und ungekünstelt, als ob sie viel und gern lachen würde.

Seine Mutter trug noch Pyjama und Morgenmantel, während Grace so gar nicht wie eine Hochstaplerin aussah, sondern vielmehr wie das Mädchen von nebenan. Jedenfalls so, wie Harrison sich ein Mädchen von nebenan vorstellte: frisch, süß und unschuldig, wie aus einem Film. Nicht, dass er jemals solch ein Mädchen gesehen hätte. Die, mit denen er aufgewachsen war und die nebenan wohnten – eine halbe Meile den Strand hinunter –, hatten ausgesehen wie … tja, wie Hochstaplerinnen, um genau zu sein.

Aber nicht wie Grace Sumner. Heute trug sie ihr glänzendes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Brise spielte mit den losen Strähnen in ihrem Nacken und an ihren Schläfen. Harrison juckte es in den Fingern, sie zurückzustreichen, nur um beobachten zu können, wie der Wind sie wieder zum Tanzen brachte. Ihr makelloses Gesicht war in morgendliches Sonnenlicht getaucht, das ihm einen rosigen Schimmer verlieh. Das Retrokostüm vom Vortag war durch Retroalltagskleidung ersetzt worden: eine ärmellose weiße Bluse und diese Hosen, die eigentlich keine waren – aber auch keine Shorts – und zwischen Knie und Knöchel endeten. Ihre zierten große, runde Blumen in Gelb und Rosa. Als einzigen Schmuck trug sie ein rosa Plastikarmband, das sie vermutlich ganze zwei Dollar gekostet hatte. Vielleicht sogar drei.

Wüsste er es nicht besser, würde er fast glauben, dass sie so unschuldig war, wie sie behauptete. Er musste bei ihr auf der Hut sein. Hätte sein Vater sich so umsichtig verhalten, wäre nichts von alldem passiert.

„Oh, Harrison, da bist du ja!“, rief seine Mutter, als sie ihn sah. „Wir haben dir etwas Kaviar übriggelassen, weil Gracie keinen mag. Kannst du dir das vorstellen?“

Nein, Harrison konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau, die sich gerade Milliarden von Dollar ergaunert hatte, keinen Kaviar mochte. Aber sie würde bald den Dreh raus haben, wofür man das Geld seiner Familie alles ausgeben konnte.

„Champagner ist auch noch übrig“, fuhr seine Mutter fort. „Den mag Gracie auch nicht.“

Harrison ebenfalls nicht. Trotzdem hätte er erwartet, dass jemand wie Gracie Champagner aus ihren Stilettos schlürfen würde – was ihn auf ihre Füße blicken ließ. Sie trug flache rosa Schuhe, die zu den Blumen auf ihrer Hose passten.

Okay, das reichte. Keine Frau war so hinreißend und unschuldig, wie Grace Sumner sich darstellte. In einer korrupten und verdorbenen Welt wie dieser war es einfach nicht möglich. Er verdrängte jegliches Gefühl der Sentimentalität, von dem er dankenswerterweise nur wenig hatte, und bewaffnete sich mit tröstlichem Zynismus.

Jep, das fühlte sich schon besser an.

„Guten Morgen“, sagte er, als er sich zwischen die beiden Frauen setzte.

„Es ist wirklich ein guter Morgen“, erwiderte seine Mutter. „Ich habe so viel besser geschlafen dank Gracie.“

Gracie, wiederholte Harrison innerlich. Waren sie schon beste Freundinnen geworden? Na toll. Jetzt war ihr auch noch seine Mutter verfallen.

„Du hast gestern ein wunderbares Abendessen verpasst“, fügte Vivian hinzu. „Gracie will uns auch das Penthouse in der Park Avenue überlassen. Sie hat schon Mr. Tarrant angerufen. Ist das nicht nett von ihr?“

Harrison starrte Grace an, die seinen Blick unsicher erwiderte. „Tatsächlich.“

Seine Skepsis war wohl nicht zu überhören, denn Grace senkte den Blick auf ihre nervös verknoteten Finger unter dem Tisch. Sie hatte ihr Frühstück kaum angerührt. Obwohl sie mit seiner Mutter Spaß zu haben schien, fühlte sie sich ganz offensichtlich unbehaglich.

„Es ist richtig so.“ Sie mied seinen Blick. „Harry hätte gewollt, dass seine Familie ihr Zuhause behält.“

„Das Richtige wäre gewesen, alles, was mein Vater Ihnen vermacht hat, an die Familie zurückzugeben, die es von Rechts wegen hätte erben sollen.“

Gracie sah hoch. „Harry wollte, dass ich das Geld für eine gute Sache einsetze. Und das werde ich tun.“

„Wann?“, fragte Harrison.

„Sobald ich nach Seattle zurückkehre. Ich möchte mich erst mit einem Finanzberater zusammensetzen. Zurzeit weiß ich noch nicht, was ich tun werde.“

Natürlich wollte sie sich beraten lassen. Sie musste schließlich herausfinden, wie sie das Geld so tief in Nummern- und Offshore-Konten versenken konnte, dass es unauffindbar wurde, nachdem ein neuer Einspruch zugunsten der Sages entschieden worden war. Was ihn daran erinnerte … Harrison wandte sich seiner Mutter zu. „Ich habe heute Morgen mit unserem Anwalt gesprochen. Er hat diesen Privatdetektiv beauftragt.“ Vivian antwortete nicht. Gracie schon.

„Sie verschwenden Ihr Geld. Es wird Ihnen nichts bringen. Aber ich erzähle Ihnen gern alles, was Sie über mich wissen wollen.“

Er musterte sie – den aufrichtigen Blick aus ihren dunklen Augen, die geröteten Wangen, die leicht geöffneten Lippen. Sie sah genauso aus wie gestern, als er in der Bibliothek zum ersten Mal auf sie aufmerksam wurde. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so unmittelbar und intensiv auf eine Frau reagiert zu haben. Warum nur? Irgendetwas war an ihr, das sie von allen anderen Frauen abhob.

Sie hatte wie eine verträumte Gazelle ein Zimmer voller Raubtiere betreten, ohne sich im Mindesten der Gefahr bewusst zu sein, in der sie sich befand. Plötzlich wurde ihm klar, dass es genau diese vertrauensselige Ausstrahlung war, die ihn so fasziniert hatte. Vom ersten Moment an ließ ihn etwas an ihr glauben, dass auch er ihr vertrauen konnte. Und Vertrauen war etwas, das Harrison schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Vielleicht noch nie. Und doch ließ sie es ihn fühlen, ohne ein Wort zu sagen. Aber jetzt, wo er wusste, wer sie wirklich war … wurde es noch merkwürdiger. Denn selbst jetzt wünschte er sich, ihr vertrauen zu können.

Natürlich hatte er sie gegoogelt. Grace war in den üblichen Netzwerken zu finden, hielt sich dort aber sehr bedeckt. Ein paar Dinge hatte er dennoch in Erfahrung bringen können. Sie lebte seit anderthalb Jahren in Seattle, war aber in Cincinnati aufgewachsen. Neben ihrem Job als Kellnerin studierte sie frühkindliche Erziehung – es war schließlich immer gut, auf etwas zurückgreifen zu können, wenn das Übertölpeln alter Männer gerade schlecht lief –, und weder gab sie öffentlichen Kommentare ab, noch postete sie eierköpfige Selfies.

Es ärgerte ihn, dass ihr Verhalten, sowohl online als auch persönlich, sich so gar nicht mit seiner vorgefassten Meinung von ihr deckte. Sollte sie nicht eine nach Aufmerksamkeit heischende Angeberin sein? Dann erinnerte er sich daran, dass sie eine Betrügerin war. Natürlich behielt sie ihr wahres Ich unter Verschluss. So konnte sie jederzeit in eine neue Rolle schlüpfen. Wie zum Beispiel in die einer verträumten Gazelle, die einen misstrauischen Menschen dazu brachte, ihr zu vertrauen.

Er beschloss, sie auf die Probe zu stellen. „Na schön. Waren Sie jemals verheiratet?“

„Nein.“ Es folgten keine Ausführungen.

„Verlobt?“

„Nein.“ Wieder keine Ausführungen.

„Haben Sie einen Freund?“

„Es gibt niemand Besonderen in meinem Leben.“ Nach einem vielsagenden Zögern fügte sie hinzu: „Es gab nie einen.“

Ihre Antwort schrie geradezu nach einer weiteren Frage, die Harrison nur aufgrund der Anwesenheit seiner Mutter am Tisch nicht stellte: Heißt das, Sie sind noch Jungfrau? Es wäre perfekt gewesen, denn wenn nicht, bedeutete es, dass sie sich mit irgendjemandem eingelassen hatte, wodurch man sie als Flittchen abstempeln konnte. Würde sie mit Ja antworten, konnte sie bei ihrem Alter nur eine Lügnerin sein. Vor Gericht wäre dies in jedem Fall eine Win-win-Situation.

Nur merkwürdig, dass er sie gar nicht fragte, um diese Information gegen sie zu verwenden, sondern aus ganz persönlichen Gründen. War Grace Sumner eine Lügnerin und Betrügerin? Oder war sie wirklich so süß und unschuldig, wie es schien? Und warum hoffte er irgendwie, es wäre Letzteres? Denn bei einer Betrügerin würde er die Oberhand behalten, weil er wusste, wie man mit solchen Leuten fertig wurde. Aber er wusste rein gar nichts über süße Unschuld. Niemand in seinem sozialen oder beruflichen Umfeld wies diesen Wesenszug auf.

Er änderte die Taktik. „Haben Sie Geschwister?“

„Ich bin ein Einzelkind.“

„Mädchenname der Mutter?“

„Sumner.“

Derselbe wie Graces, was bedeutete … „Kein Vater?“

Sie lächelte. „Äh, tja, ich hatte einen Vater. Den hat jeder. Haben Sie an dem Tag im Biologieunterricht gefehlt?“

Er versuchte, sich nicht von ihrer Respektlosigkeit bezaubern zu lassen – oder von ihrem Lächeln. „Wie hieß Ihr Vater?“

„Ich weiß es nicht“, war ihre nüchterne Antwort.

„Sie wissen nicht, wer Ihr Vater war?“

Sie schüttelte den Kopf, wodurch sich eine weitere verlockende goldene Strähne aus ihrem Pferdeschwanz befreite. „Meine Mutter hat es mir nie gesagt. Auf meiner Geburtsurkunde ist er als unbekannt angegeben.“

Okay, hier wurde es interessant. Bei einer Berufung würde es zum Beispiel einen Nachlassrichter nicht überraschen, dass ein vaterloses Mädchen als Erwachsene alte Männer über den Tisch zog.

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht würde er tatsächlich keinen Privatdetektiv brauchen.

„Was ist mit Ihren Großeltern?“

„Ich erinnere mich kaum an meine Großmutter. Sie starb, bevor ich in die Schule kam.“

„Und Ihr Großvater?“

„Er starb, als meine Mutter auf die Highschool ging. Meine Großmutter hat nie wieder geheiratet.“

Oh, das wurde ja immer besser. Die Abwesenheit männlicher Vorbilder im Leben der kleinen Gracie schrie geradezu nach einem Muster. Man musste nicht Freud sein, um das zu erkennen. Unfähig, sich zurückzuhalten, sagte er: „Aha, gravierende Vaterkomplexe also, habe ich recht?“

„Harrison!“, rief seine Mutter.

Reagierte sie aufgrund seiner unverschämten Frage so, oder hatte sie Angst, dass Gracie ihre Meinung ändern könnte, was die Rückgabe ihrer Domizile betraf? Vielleicht … möglicherweise … eventuell hatte er es etwas übertrieben.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich beinahe ehrlich. „Das ging zu weit.“

„Ja, allerdings“, stimmte Grace zu.

Erstaunlicherweise schien sie nicht beleidigt zu sein. Schon gar nicht so sehr, wie Harrison es wäre, wenn ihm jemand dieselbe Frage gestellt hätte.

„Nein, Mr. Sage, ich habe keine Vaterkomplexe“, fuhr sie ungerührt fort. „Ich komme aus einer Familie kluger, unabhängiger Frauen, die niemanden brauchen, um klarzukommen – am wenigsten einen Mann.“

Er war überrascht über den Splitter von Bewunderung, der sich bei ihrer coolen Antwort unter seine Haut bohren wollte.

Bis sie hinzufügte: „Aber Sie sollten vielleicht mit jemandem über Ihre eigenen Probleme reden.“

Er musste grinsen. „Was für Probleme?“

„Die, die Sie mit starken, unabhängigen Frauen haben.“

„Ich habe keine Probleme mit Frauen. Ich habe Probleme mit einer Frau. Einer, die meinen Vater ausgenutzt hat.“

Er konnte ihr ansehen, dass sie gern mehr zu dieser Angelegenheit gesagt hätte. Stattdessen entgegnete sie: „Wenn Sie mich entschuldigen wollen, dann nehme ich jetzt den Zug nach New York, um ein bisschen Sightseeing zu machen. Vielleicht habe ich nie wieder die Gelegenheit dazu.“

Harrison verbiss sich einen Kommentar über den Privatjet und die Yacht, die sie dank seines Vaters jetzt besaß und die sie jederzeit an jeden Ort der Welt bringen konnten. Stattdessen nippte er an seinem Kaffee und versuchte, die seidige Strähne ihres goldbraunen Haars zu ignorieren, die sich in ihrem Nacken ringelte. Bei jeder anderen Frau hätte er einfach danach gegriffen, sie um seinen Finger gewickelt und dazu benutzt, ihr Gesicht näher an seines zu ziehen, um …

Um gar nichts zu tun! Grace Sumner war die letzte Frau, die er zärtlich berühren wollte. Oder anderweitig. Nicht einmal mit einem Feuerhaken.

„Das ist eine wundervolle Idee“, sagte seine Mutter. „Sie sollten auch einkaufen gehen. Ein junges – reiches – Mädchen wie Sie sollte einen Kleiderschrank voller schöner Sachen zum Anziehen haben. Schöne neue Sachen.“

Die Betonung auf „neu“ schien Grace nicht entgangen zu sein. Sie sah an ihrem Outfit herunter, das bestenfalls aussah wie aus einem Sechzigerjahrestreifen mit dem Titel Barbie geht an den Strand. Eigenartigerweise schien sie nichts Seltsames daran zu finden. Einen Moment lang sah sie so aus, als ob sie sich für die Wahl ihrer Garderobe rechtfertigen wollte, dann schien sie ihre Meinung zu ändern.

Gute Entscheidung, dachte Harrison. Seine Mutter behielt ihre Garderobe nie länger als eine Saison lang.

„Timmerman kann Sie zum Zug fahren“, sagte Vivian. „Aber seien Sie bis acht zurück. Eleanor macht ein ganz besonderes Abendessen. Zu Ihren Ehren.“

Harrison rollte innerlich mit den Augen. Wann war seine Mutter zu solch einer Schleimerin geworden?

Nachdem Grace gegangen war, trank er seinen Kaffee aus, aß, was an Toast und gebratenem Schinken noch übrig war, und wartete, bis ihr Wagen abfuhr. Dann setzte er sich in seinen Maserati und machte sich selbst auf den Weg zum Bahnhof.

Grace wollte sich also die Sehenswürdigkeiten von New York ansehen. Ja, klar. Die ganze Fifth Avenue hinunter, von Saks bis Tiffany. Danach sicher ein Mittagessen im Le Bernardin. Glücklicherweise hatte er sich den Rest der Woche freigenommen – wozu er als Firmeninhaber in der Lage war –, um sich des Sumner-Problems anzunehmen. Er hatte also keine anderen Verpflichtungen, als eine Betrügerin zu entlarven, die so gut war in dem, was sie tat, dass sie einen Mann dazu bringen konnte, sich Dinge zu wünschen, die er nie würde haben können.

Ein paar Stunden später bestätigte sich Harrisons Verdacht. Grace Sumner ging tatsächlich shoppen und Mittag essen. Aber erst nachdem sie sich das Empire State Building, das Rockefeller Center und den Times Square angesehen hatte. Und obwohl sie sich dadurch in Laufnähe der Fifth Avenue befand, nahm sie stattdessen die U-Bahn nach Brooklyn, um dort bummeln zu gehen. Insbesondere in den dortigen Second-Hand-Läden. Und ihr Mittagessen kaufte sie sich an einem salvadorianischen Snackstand.

Grace Sumner war entweder eine noch raffiniertere Betrügerin, als er angenommen hatte, oder sie wusste, dass er ihr folgte. Da er sich sicher war, nicht aufgeflogen zu sein, nahm er Ersteres an. Sofern sie mit dem Geld seines Vaters nicht genau das vorhatte, was sie behauptete, und daher nur über ein bescheidenes Budget verfügte, welches eine Einkaufsorgie in der Fifth Avenue ausschloss.

Ja klar. Und vielleicht würde heute Nacht die Blaue Fee in sein Zimmer geflogen kommen und ihn in einen echten Jungen verwandeln.

Was für ein Spiel spielte sie nur? Und wie lange sollte das noch so weitergehen? Auch falls – nein, wenn – der Privatdetektiv die Wahrheit über sie herausfand und eine Berufung zugunsten der Sages ausfiel, gehörte ihr vorerst das Geld seines Vaters. Es konnte Wochen oder Monate dauern, bis sie es letztlich zurückgeben musste. Aber bis dahin hatte sie alles Recht der Welt, jeden einzelnen Cent auszugeben.

Warum also tat sie es nicht? Und warum wohnte sie bei seiner Mutter in Long Island, weit weg von Bennett Tarrant und seinen Kollegen, ihren einzigen Unterstützern? Es musste hier um mehr gehen als einen simplen Betrug. Es blieb nur herauszufinden, um was, und zwar innerhalb einer Woche, da Grace nach Fertigstellung der Unterlagen für die Übergabe des Anwesens und des Penthouses abreisen würde. Was war Grace Sumner wirklich – durchtriebenes Weib oder braves Mädchen?

Und die schwierigste aller Fragen war: Warum hoffte Harrison, dass sie Letzteres war?

4. KAPITEL

Wenn sie es nicht gerade selbst erleben würde, hätte Gracie niemals geglaubt, dass die New Yorker Börse dem Klingeln der Küchenglocke im Café Destiné glich, wenn die Béchamel-Sauce danebengegangen war. Ein absolutes Chaos. Sie stand mit Harrison auf der Galerie und beobachtete, wie Waren, Termingeschäfte und Vorkaufsrechte – und offenbar auch Mittagessen, Pokémon-Karten und Neopets – in Millionenhöhe auf eine ihr völlig unverständliche Art und Weise gehandelt wurden. Auch wenn Harrison auf der Fahrt hierher nichts anderes getan hatte, als es ihr zu erklären. Vermutlich um nicht über andere Dinge mit ihr reden zu müssen.

Er hatte sie heute für eine andere Art Sightseeing in die Stadt gefahren. Es war Vivians Idee gewesen. Sie war der Meinung, dass Gracie und Harrison sich besser kennenlernen sollten, nachdem sie sich beim Abendessen lediglich misstrauische Blicke zugeworfen und zu Vivians Bemühungen um Konversation mit unbehaglichem Gemurmel beigetragen hatten.

Gracie vermutete allerdings, dass Vivian sich eher sorgte, zwischen ihr und Harrison könnte sich eine Feindseligkeit entwickeln, die Vivian zur Obdachlosen machen würde.

Also waren Gracie und Harrison extra früh aufgestanden, um nicht den Börsenbeginn an der Wall Street zu verpassen. Gracie hatte nur eine Tasse Kaffee trinken können, trotzdem schaffte sie es irgendwie, Harrisons Ausführungen über Aktiengesellschaften, Freihandelsabkommen und Bullen und Bären zu folgen. Jetzt allerdings hatte sie einen Bärenhunger, ihre Stimmung tendierte gen null, und ihr Gehirn begann, sich selbst zu liquidieren.

Hm, vielleicht hatte sie doch mehr begriffen, als sie dachte …

„Mein Vater war ein Handelsgenie“, erzählte Harrison. Mit seinem anthrazitfarbenen Anzug und dem taubengrauen Hemd passte er ausgezeichnet in diese Welt, auch wenn seine bunt gepunktete Krawatte eine Spur weniger konservativ war als die der anderen Männer. Zwar war Gracie ebenfalls dem Anlass entsprechend gekleidet, hatte aber nur auf das andere ihrer beiden Kostüme zurückgreifen können. Dieses war in dunklem Rubinrot mit Bleistiftrock und tailliertem Jäckchen mit einem kleinen Schößchen. Beim Anziehen war sie sich noch sehr schick vorgekommen, aber unter all den anderen Frauen in ihren dunkelgrauen und schwarzen Kostümen kam sie sich vor wie ein riesiger Lolli.

„Das gesamte Startkapital seiner Firmen hat er mit Börsengeschäften verdient“, fuhr Harrison fort. „Er ist nie aufs College gegangen, wussten Sie das?“

Ein Anflug von Stolz auf seinen Vater sprach aus seiner Stimme, der Gracie überraschte. Sie hätte gedacht, dass Harrison ein Mann war, der Harrys mangelnde Bildung lieber geheim hielt, um nicht Schande über den Familiennamen zu bringen.

„Ja, das wusste ich“, erwiderte sie. „Aber er sagte mir, der Grund sei, dass er sich das College nicht leisten konnte.“

„Konnte er auch nicht. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt, als er die Highschool abschloss.“

„Harry hat die Highschool nie abgeschlossen.“

Gracie bereute ihre Worte, sowie sie herausgerutscht waren. Nicht aus Angst, ihrerseits nun den Namen der Sages zu beflecken, sondern weil sie an Harrisons Gesicht erkannte, dass er es nicht gewusst hatte.

Trotzdem sagte er: „Natürlich hat mein Vater die Highschool abgeschlossen. Die Findlay Highschool in Cincinnati, Jahrgang 1953.“

„Aber Harry hat das vorletzte Jahr nicht einmal angefangen. Er hat mit der Schule aufgehört, als er fünfzehn war, um in der örtlichen Resopalfabrik zu arbeiten. Um den Job zu bekommen und in die Gewerkschaft eintreten zu können, musste er sich für älter ausgeben.“

Harrison starrte sie an. „Warum hätte er das tun sollen?“

Hoppla. Offensichtlich wusste er eine ganze Menge nicht über seinen Vater. Und Gracie wollte nicht diejenige sein, die die Katze aus dem Sack ließ, denn in Harrys Fall schien dies eher so zu sein, als würde man einen sibirischen Tiger aus dem Moskauer Zoo freilassen.

Vorsichtig sagte sie: „Weil Harrys Vater zu der Zeit so viel trank, dass er jeden Job verlor. Seine Mutter musste sich um seinen kleinen Bruder kümmern und konnte auch nicht arbeiten. Also musste Harry die Familie durchbringen.“

Bei dem Wort „Bruder“ weiteten sich Harrisons Augen, und Gracies Magen zog sich zusammen. Er hatte doch sicher gewusst, dass sein Vater einen Bruder hatte?

„Mein Vater hatte einen Bruder?“

Okay, vielleicht doch nicht. „Äh, ja. Wussten Sie das nicht?“

Obwohl er sie weiter anstarrte, zeigte die Leere in seinen unglaublich blauen Augen ihr, dass er mit den Gedanken meilenweit weg war. Oder er überlegte nur, ob er ihr glauben sollte oder nicht. Aber Gracie hatte alte Fotos von Harrys Familie gesehen. Sie waren unter den eingelagerten Sachen.

Harrison schüttelte langsam den Kopf. Seine eisblauen Augen fixierten sie plötzlich etwas weniger eisig. „Aber ich dachte immer … Ich meine, er sagte mir … Okay, wirklich gesagt hat er es nicht, aber ich nahm immer an …“ Er atmete tief ein und wieder aus. „Ich glaubte immer, er sei ein Einzelkind. Als ich geboren wurde, waren seine Eltern schon tot, und andere Familienmitglieder hat er nie erwähnt. Verdammt, er hat kaum je seine Eltern erwähnt.“

Gracie versuchte, es so schonend wie möglich zu machen. „Benjy – sein kleiner Bruder – hatte Kinderlähmung. Er starb, als er dreizehn und Harry sechzehn war. Es hat ihn schwer getroffen und seine Mutter auch. Ungefähr ein Jahr später ist sie weggegangen, und er hat sie nie wiedergesehen. Er hat sich noch ein paar Jahre um seinen Vater gekümmert, bis der an Leberversagen starb. Dann hat er Cincinnati verlassen und ist erst zurückgekommen, als er in Rente ging. Zumindest hat er es mir so erzählt“, fügte sie hastig hinzu. „Dass er in New York als Fernsehtechniker gearbeitet hat. Offensichtlich entsprach das nicht der Wahrheit, aber der Rest schon. Als ich nach seinem Tod seine Sachen zusammenpackte, fand ich Fotos und ein paar alte Tagebücher seiner Mutter. Wenn ich nach Seattle zurückkehre, bekommen Sie und Vivian alles zugeschickt.“

Harrison sah sie nachdenklich an. Ein bisschen zu nachdenklich für Gracies Geschmack. Er gab ihr schon wieder das Gefühl, er würde in ihre Seele blicken wollen. Und zwar mit Erfolg. Aber er sagte nur: „Was hat Ihnen mein Vater sonst noch über seine Kindheit erzählt?“

„Dass er nach dem Tod seines Vaters seine bescheidenen Ersparnisse nahm und nach New York ging. Fernseher kamen gerade in Mode, also fing er in einem kleinen Elektrogeschäft an und brachte sich selbst alles Nötige bei. Später eröffnete er in Queens seine eigene Reparaturwerkstatt. Dort lebte und arbeitete er bis zu seiner Rente.“

„Er hat nie erwähnt, dass er verheiratet war – gleich dreimal? Oder eins seiner sieben Kinder?“

Gracie schüttelte den Kopf. „Nein, nie. Ich habe mich das immer gefragt, wollte aber nicht neugierig sein. Er sagte nur, dass er anfing, Cincinnati zu vermissen, nachdem er in Rente gegangen war, und deshalb in seine alte Gegend zurückzog.“

Harrison erwiderte nichts, fuhr aber fort, sie auf eine Art anzusehen, durch die sich ein heißer, zähflüssiger Strudel in ihrem Magen bildete, der nach und nach schmolz, bis ihr ganz warm wurde. Wie konnte er ihr dieses Gefühl vermitteln? Er machte kein Geheimnis daraus, dass er ihr nicht vertraute. Er mochte sie nicht einmal. Mit Ausnahme ihres ersten Zusammentreffens lagen sie sich entweder in den Haaren oder fühlten sich bestenfalls unwohl miteinander. In ihrer Lage sollte sie keine schnulzigen Gefühle für ihn haben.

Aber vielleicht war das genau das Problem – nämlich nicht ihre Unstimmigkeiten, sondern die ersten kurzen Augenblicke in der Bibliothek. Etwas hatte sich definitiv zwischen ihnen entwickelt, und es war alles andere als unangenehm gewesen. Es war vielmehr das Schönste, was Gracie je erlebt hatte. Sie hatte noch nie auf einen Mann so reagiert wie auf Harrison. Warum konnten sie nicht einfach zurückspulen und von vorn anfangen? Mit dem Moment, als ihre Blicke sich das erste Mal trafen und sie sich fühlte, als ob sich ihr Leben, das seit ihrem ersten Treffen mit Mr. Tarrant völlig aus den Fugen geraten war, plötzlich wieder zusammenfügte.

Als Harrison weiter schwieg, fragte sie weich: „Sie wussten nichts über das, was mit seinen Eltern oder seinem Bruder passiert ist, oder?“

Er schüttelte den Kopf.

„Was hat Ihr Vater Ihnen über seine Kindheit erzählt?“

„Nicht viel. Dass er in Cincinnati aufgewachsen ist. Dass seine Mutter als Lehrerin und sein Vater in einer Fabrik arbeitete. Dass er Zeitungen ausgetragen hat, um nach der Highschool nach New York ziehen zu können.“

Sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich grimmig. „Und wie es in New York stetig aufwärts ging. Die Geschichte musste ich mir ständig anhören.“

„Eine Werkstatt kam nicht zufällig darin vor?“

Er lachte unfroh. „Nein. Sie handelte davon, dass er sich vom Laufburschen für eine Maklerfirma in Manhattan hochgearbeitet und alles investiert hat, was er beiseitelegen konnte. Wie er mit fünfundzwanzig seine erste Million machte und mit siebenundzwanzig seine erste Firma kaufte. Wie er schon mit dreißig mehrere zehn Millionen Dollar hatte und mit vierzig hunderte davon. Die Dinge fielen ihm offenbar in den Schoß, und er war klug genug, das Beste daraus zu machen. Verdammt, er hat mir vorgeworfen, dass ich als Kind nicht meinen eigenen Unterhalt verdient habe! Vielleicht ist er jeden Tag ins Büro gefahren, um alles im Blick zu behalten, aber wirklich gearbeitet hat er während seines Erwachsenenlebens nicht einen Tag lang.“

Gracie schnappte ungläubig nach Luft. „Oh, bitte! Ich habe nie jemanden getroffen, der härter gearbeitet hat als Harry Sagalowsky.“

Harrison warf ihr einen weiteren schrägen Blick zu. „Sie sagten, es sei in Rente gewesen, als Sie ihn trafen.“

„Ja, aber er war in der Kirche aktiv, er hat im Veteranen-Krankenhaus gearbeitet, in einem Obdachlosenheim Essen ausgeteilt und an den meisten Wochenenden ehrenamtlich ein Kinder-Basketballteam trainiert.“

Harrison begann, den Kopf zu schütteln, bevor sie aussprechen konnte. „Mein Vater ist nie in die Kirche gegangen, er war nie beim Militär, glaubte, dass Armut eine Masche wäre, und er hasste Kinder.“

„Ihr Vater sang im Kirchenchor“, konterte Gracie. „Und er fühlte sich den Soldaten verpflichtet, weil er in einer Zeit aufgewachsen war, in der viele von ihnen im Krieg blieben. Und wie er über Armut dachte, ist Ihnen mittlerweile sicher klar, jetzt, wo ich sein ganzes Geld für gute Zwecke spenden soll. Und er war nie glücklicher als zusammen mit seinem Team. Sie wussten sicher nicht einmal, dass er ein großer Fan der Reds war, oder?“

Dieses Mal stieß Harrison ein Geräusch der Ungläubigkeit aus. „Das beweist nur, dass ich Ihnen nicht vertrauen kann. Nichts von dem, was Sie über meinen Vater sagen, klingt glaubhaft. Gar nichts.“

„Und nichts, was Sie mir über ihn sagen, erscheint mir überzeugend.“

Gracie konnte immer noch nicht glauben, dass der Harry, den sie gekannt hatte, ein Firmenmogul gewesen war und Frau und Sohn im Stich gelassen hatte. Es musste eine Erklärung dafür geben. In dem Video hatte er gesagt, er wäre in seinem Privatleben unglücklich gewesen, aber das hätte ihn dazu bewegen sollen, zu bleiben und es wieder in Ordnung zu bringen. Er war der beste Mensch gewesen, den Gracie je kennengelernt hatte. Warum nur hatte er dann diese Dinge getan?

Was immer es auch war, das sie und Harrison einen Moment lang empfunden hatten, löste sich in Luft auf. Aber machte es wirklich einen Unterschied, was sie füreinander empfanden? Sie war daran gebunden, Harrys letzten Wunsch zu erfüllen. Es war ohne Bedeutung, ob Harrison Sage ihr glaubte oder ihr vertraute. Oder sie mochte. Und es war egal, was er für seinen Vater empfand, denn es war zu spät, die Dinge wieder geradezurücken. Durch den Tod seines Vaters würde sein Sohn nie die Möglichkeit haben, den Mann hinter dem Nadelstreifenanzug zu verstehen, der vor fünfzehn Jahren seine Familie verlassen hatte. Für ihre Beziehung konnte es keine Aufarbeitung mehr geben. Niemals.

Oder doch?

Gracie musterte Harrison. Wie sehr hatte er sie in der Bibliothek an seinen Vater erinnert. Er hatte gelächelt wie er, war genauso charmant und gesprächig gewesen. Er hatte nicht nur Harrys blaue Augen, sondern auch seine gerade Nase und das gleiche kantige Kinn. Wäre Harry kein Industriemagnat gewesen, hätte er mehr Zeit mit seiner Familie verbracht und sich ihr mehr geöffnet, würden die Dinge zwischen Vater und Sohn heute vielleicht anders liegen. Vielleicht hätten sie erkannt, dass sie vieles gemeinsam hatten, und sich sogar gut verstanden.

„Sie haben ihn auch nicht richtig gekannt, oder?“, fragte Gracie weich.

„Der Mann, den ich kannte, war überhaupt nicht so, wie Sie ihn beschreiben.“

„Das war er vielleicht nicht, als er Ihr Vater war“, räumte sie ein. „Und das ist eine Schande.“

Er versteifte sich. „Warum ist das eine Schande? Mein Vater war einer der erfolgreichsten Männer seiner Zeit. Was sollte daran verwerflich sein?“

„Weil er auch als Vater erfolgreich gewesen sein könnte. Ich wünschte, Sie hätten ihn so gekannt wie ich. Der Harry, den ich kannte, war ein guter Mensch, Harrison.“

Es war das erste Mal, dass sie ihn mit seinem Vornamen anredete, und es überraschte sie, wie leicht er ihr über die Lippen kam. Und wie gut es sich anfühlte. Auch Harrison war überrascht. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber und sah schließlich weg. Das Licht überschattete seine Augen und verwandelte seinen Ausdruck von Ärger in Melancholie.

Gracie versuchte es erneut. „Wissen Sie, es steckt viel von Ihrem Vater in Ihnen. Bei unserem Gespräch in der Bibliothek habe ich es sofort bemerkt.“

Er sah sie an, dieses Mal etwas nachdenklicher. „Sie haben ihn gemeint, als Sie sagten, ich würde Sie an jemanden erinnern.“

Sie nickte.

„Aber er und ich hatten nichts gemeinsam.“

„Sie sehen genauso aus wie er.“

„Das ist nicht überraschend. Wir stammen aus demselben Genpool.“

„Sie haben mir aus dem Stehgreif einen Witz erzählt. Harry hätte dasselbe getan.“

„Das würden viele Männer tun, wenn sie einer Frau imponie…“ Er brach abrupt ab und sagte schnell: „So etwas würden viele Männer tun.“

„Es hat mich trotzdem an Harry erinnert.“

Harrison wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Börsensaal zu. „Er hat mich einmal hierher mitgenommen, als ich sechs oder sieben war. Er wollte mir zeigen, wie man ein Vermögen verdienen oder es verlieren kann. Er sagte, dass Geld wichtiger wäre als alles andere, weil man sich damit alles kaufen könnte. Nicht nur materielle Dinge, sondern einfach alles. Abenteuer. Kultur. Intelligenz. Man könnte damit Freunde kaufen, Verbündete, sogar Regierungen. Ganz zu schweigen von Dingen wie Respekt, Würde oder Liebe.“

Gracie wollte nicht glauben, dass Harry jemals so zynisch oder kalt gewesen war. Oder so etwas zu seinem Sohn gesagt hatte. Der Mann, den sie kannte, war der Überzeugung gewesen, dass Geld erst die Probleme der Welt verursachte, anstatt sie zu lösen. Und dass ein Mensch sich durch seine Taten anstatt durch sein Einkommen Respekt, Würde und Liebe verdiente.

„Liebe kann man nicht kaufen“, sagte sie leise.

Harrison sah sie an. „Nein?“

Gracie schüttelte den Kopf.

Er redete weiter. „Vielleicht nicht. Aber man kann etwas kaufen, das sich so anfühlt.“

„Nein, kann man nicht“, erwiderte sie. „Vielleicht kann man sich so lange selbst anlügen, bis man es glaubt, aber …“

Dieses Mal wich sie seinem Blick aus.

„Aber was?“, fragte er.

Sie schüttelte wieder den Kopf. „Nichts.“

Er musterte sie so lange, bis sie das Gefühl bekam, er wollte ein kleines Stück von ihm selbst in sie einpflanzen. Merkwürdig war nur, dass es sich nicht anfühlte wie ein Stein in ihrem Schuh, sondern eher wie ein Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht.

„Sie müssen hungrig sein“, sagte er schließlich.

Die Heiserkeit in seiner Stimme setzte etwas in ihrem Innersten in Brand. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aus Angst, dieses Brennen auch in seinen Augen zu sehen. Wie machte er das nur? Wieso fühlte sich jegliche Situation mit ihm so … heiß an? Es war schon in der Bibliothek so gewesen und dann wieder gestern beim Frühstück. Der Mann übte eine merkwürdige sexuelle Macht auf sie aus.

„Ein bisschen“, erwiderte sie in der Hoffnung, ihr Magen würde die Aussage nicht gerade jetzt mit einem energischen Knurren unterstreichen.

„Meine Mutter schlug vor, dass wir im Club meines Vaters zu Mittag essen.“

„Mittagessen hört sich toll an.“

Auch wenn ein Mittagessen ihnen nur eine weitere Gelegenheit bot, sich über etwas uneinig zu sein. Zumindest würde Essen das wilde Tier beruhigen, das sich in ihrem Bauch eingenistet hatte.

Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sie die wilden Gedanken zur Räson bringen sollte, die sich in ihrem Kopf eingenistet hatten.

Harrison beobachtete Grace von der anderen Seite des Tischs im Cosmopolitan Club und versuchte, darüber hinwegzusehen, dass sie in dem Art-Deco-Interieur des Clubs wie eine verführerische Film-Noir-Sirene wirkte. Ihr figurbetontes Kostüm in der Farbe der verbotenen Frucht war zwar salonfähig, aber tief genug ausgeschnitten, um einen Mann – Harrison – in Versuchung zu führen, über den Tisch zu greifen und es aufknöpfen zu wollen. Sie trug ihr Haar heute offen in einem Seitenscheitel, was ihr die Ausstrahlung einer Femme fatale wie Veronika Lake verlieh. Es fehlte lediglich der flammend rote Lippenstift, aber wie üblich schien sie gar kein Make-up zu tragen. Was bedeutete, dass sie wieder wie eine Kombination aus Sexbombe und Mädchen von nebenan wirkte, die ihn dazu brachte …

Okay, vielleicht war es keine gute Idee, weiter darüber nachzudenken, wozu ihre Aufmachung ihn verführte. Er sollte sich besser etwas von der Karte aussuchen. Etwas anderes als Grace.

Wie konnte er jemanden wollen, der mit ziemlicher Sicherheit seinen Vater ausgenutzt hatte, um an sein Vermögen zu kommen? Andererseits … was hatten Ethik und Moral mit Sex zu tun? Es war nicht so, dass Harrison nicht schon mit moralisch fragwürdigen Frauen geschlafen hätte.

Moment mal. Stopp. Er überdachte den letzten Satz noch einmal. Dachte er etwa irgendwo in seinem Unterbewusstsein darüber nach, mit Grace zu schlafen? Wann war das denn passiert? Obwohl … warum eigentlich nicht? Warum sollte bei dem ganzen Dilemma nicht auch etwas für ihn herausspringen?

„Was können Sie empfehlen?“, fragte Grace.

„Wenn Sie etwas Leichtes wollen, nehmen Sie den Salat mit Brie. Das Club Sandwich ist auch gut – oder das Shrimps-Curry, wenn es etwas exotischer sein darf.“

„Oh, das hört sich wirklich gut an.“ Sie überflog die Speisekarte. „Oh.“

„Was denn?“

„Es stehen keine Preise auf der Karte.“

Falls sie ihm gerade etwas vorspielte, verdiente sie eine Auszeichnung dafür. Falls nicht, war sie eine Außerirdische. Niemand konnte so naiv sein.

„Sie wissen nicht, was das bedeutet?“, fragte er skeptisch.

„Natürlich weiß ich das. Niemand ist so naiv.“

„Was ist dann das Problem?“

„Ich kann mir kein Restaurant leisten, in dem keine Preise auf der Karte stehen. Das Geld Ihres Vaters gehört mir nicht.“

„Doch – bis Sie es jemand anderem geben.“ Wovon er immer noch nicht überzeugt war.

„Aber …“

„Hören Sie, ich lade Sie ein“, unterbrach er sie. „Ich bin hier Mitglied.“

„Oh.“ Sie hörte sich überrascht an. Als ob sie davon ausgehen würde, dass er sein Geld nicht selbst verdiente.

„Wissen Sie, ich habe einen Job“, informierte er sie, bevor sie fragen konnte.

„Ich meinte nicht …“

„Sie dachten, ich sei ein nichtsnutziger, privilegierter Playboy, der nicht an einem Tag seines Lebens gearbeitet hat, oder?“

„Nein, nein, ich …“

„Ich habe mein eigenes Unternehmen.“ Harrison hoffte, sich nicht zu eingebildet anzuhören, aber ihr Gesichtsausdruck bestätigte ihm das Gegenteil. Egal. „Sage Assets. Wir sind Berater für Finanzrisikomanagement.“

Ihre offensichtliche Ahnungslosigkeit ließ ihn einmal mehr an seiner Überzeugung zweifeln, dass es ihr nur ums Geld ging.

„Was bedeutet das?“, fragte sie.

„Wir beraten Unternehmen und Investoren, wie sie in Zeiten von Finanzkrisen nicht ihr letztes Hemd verlieren. Ich habe die Firma gleich nach meinem Abschluss an der Columbia gegründet. Sie hat sich sofort gut entwickelt“, fügte er bescheiden hinzu. Na ja, halbwegs bescheiden. Okay, überhaupt nicht bescheiden. „Zu der Zeit herrschte gerade eine Finanzkrise. Mein Vater war nicht der Einzige in der Familie, der sich aufs Handeln versteht. Mit dreiundzwanzig habe ich meine erste Million verdient. Mit siebenundzwanzig hatte ich schon mehrere zehn Millionen.“

Womit er den Erfolgszeitplan seines Vaters um Jahre unterbot. Nicht, dass sein Vater jemals davon erfahren hatte. Das war nicht der Punkt. Und es war Harrison auch egal.

Grace schien von Harrisons Errungenschaften nicht halb so beeindruckt zu sein wie er selbst. Aber sie besaß ja selbst vierzehn Milliarden Dollar. Gegen sie war er ein Fliegengewicht in der Finanzwelt.

„Tja, nur so nebenbei …“, sagte sie. „Ich dachte nicht, dass Sie ein nichtsnutziger, privilegierter Playboy sind, der nicht einen Tag seines Leben gearbeitet hat.“

„Nein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte mir schon, dass Sie einen Job haben.“

Erst als sie ihre Aussage mit einem Lächeln unterstrich, verstand er, dass sie ihn auf den Arm nahm. Er weigerte sich, ihrem Charme zu erliegen.

„Also dachten Sie wirklich, ich sei ein privilegierter Playboy.“

Anstatt einer Antwort wandte sie sich wieder der Karte zu. „Wissen Sie, das Club Sandwich hört sich wirklich gut an …“

Der Kellner kam, nahm ihre Bestellung auf und kehrte mit den Getränken zurück. Grace griff nach der Zuckerdose und pickte mit der Zange zwei Stück Zucker für ihren Tee heraus. Nachdem sie umgerührt und einen Schluck getrunken hatte, fügte sie zwei weitere Zuckerstücke hinzu. Als ob man Grace Sumner noch nachsüßen müsste.

Es half auch nicht, dass sie sich immer wieder im Raum umsah, als wäre sie gerade vom Rübentrecker gefallen. Natürlich war der Cosmopolitan Club ziemlich eindrucksvoll. Eine Gruppe Industrieller und ihre ebenso reichen Freunde hatten ihn in den Zwanzigerjahren als opulenten Zufluchtsort gebaut, um dem leidigen Unrat von New York entfliehen zu können. Der jetzige Besitzer des Clubs scheute keine Kosten und Mühen, um die Aura einer vergangenen Ära zu erhalten.

„Ich glaube nicht, dass ich jemals in etwas Ähnlichem gewesen bin.“ Gracie grinste. „Abgesehen von dem Spukhaus in Disney World.“

Harrison lächelte … überraschend aufrichtig. Ohne zu wissen, warum, spielte er mit. „Das zählt nicht. Dort lassen sie jede Art von Gesindel rein, und die Kleiderordnung ist viel zu lax.“

Sie sah sich noch einmal um und seufzte. „Ich kann mir Harry hier nicht vorstellen. Er hat am liebsten in einem Bistro zu Mittag gegessen. Und ich habe ihn nie im Anzug gesehen.“

„Ich glaube, ich habe ihn nie in etwas anderem gesehen“, erwiderte Harrison. „Er war immer schon für die Arbeit angezogen, wenn ich aufstand, und kam erst nach Hause, wenn ich schon im Bett war.“

„Und am Wochenende? Oder im Urlaub? Oder wenn er sich zu Hause entspannt hat?“

„Mein Vater hat sich nie entspannt. Am Wochenende hat er meistens gearbeitet. Und die Ferien verbrachte ich mit meiner Mutter.“

Gracie schüttelte den Kopf. „Alles, was Sie mir über Harry erzählen, ist so untypisch für ihn. Was ist nur mit ihm passiert, dass er so lange von Arbeit und Geld getrieben war und sich dann plötzlich von allem abgewendet hat?“

Harrison wünschte, er hätte eine Antwort darauf. Verdammt, er wünschte sich, dass alles, was sie über seinen Vater sagte, wahr wäre. Aber nichts davon passte zu ihm. War sie tatsächlich eine Betrügerin, oder war sie ebenso seiner Launenhaftigkeit zum Opfer gefallen wie sie alle?

„Wenn das, was Sie über die Kindheit meines Vaters gesagt haben, wahr ist …“

„Das glauben Sie mir auch nicht?“ Gracie blickte ihn fassungslos an. Sie schien sehr verletzt zu sein.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, erwiderte er aufrichtig.

War sie wirklich so selbstlos, wie sie behauptete? Das Haus seiner Mutter und das Penthouse in Manhattan waren nur zwei Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Auch nach deren Rückgabe verfügte sie noch über Milliarden von Dollar. Und davon hatte sie bisher nichts verschenkt.

„Aber wenn es wahr ist“, fuhr er fort, „dann ist es doch offensichtlich, warum er so auf Geld fixiert war. Jeder, der arm aufgewachsen ist, will natürlich reich sein.“

„Warum ist das natürlich?“

Die Frage verstand Harrison nicht. „Was meinen Sie damit?“

„Warum glauben Sie, dass das Bedürfnis, reich zu sein, natürlich ist?“

Er war verwirrt. „Glauben Sie das denn nicht?“

„Nein. Es könnte Harry motiviert haben, aber nicht, weil es natürlich ist. Viele Menschen sind zufrieden mit dem, was sie haben, auch wenn sie nicht reich sind. Es gibt so etwas wie genug.“

„Ich kann Ihnen nicht folgen.“

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte mit unverkennbarer Enttäuschung. „Ja, ich weiß.“

Gerade wollte er sie fragen, was sie damit nun wieder meinte, als der Kellner mit ihrem Essen kam. Er brauchte eine Weile, bis er alles zu seiner Zufriedenheit auf dem Tisch arrangiert hatte. Danach geriet Grace über ihr Club Sandwich ins Schwärmen, und Harrison ließ ihr den Kommentar durchgehen. Vorerst.

„Wo sollen Sie mich heute noch hinbringen?“, fragte sie.

„In eines der Unternehmen meines Vaters und in eine Privatschule, in deren Vorstand mein Vater saß. Und heute Abend findet bei einem seiner alten Kollegen eine Cocktailparty statt. Ich wollte absagen, aber meine Mutter geht hin und besteht auf unserem Erscheinen.“

Ein Anflug von Panik erschien auf Gracies Gesicht. „Cocktailparty?“

„Ist das ein Problem?“

„Irgendwie schon. Ich habe nichts Passendes für eine Cocktailparty dabei.“

„Die Fifth Avenue ist gleich um die Ecke.“

Ihre Panik nahm zu. „Aber die Fifth Avenue ist so …“

„So …?“

Sie sah nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand lauschte, und lehnte sich über den Tisch. „Ich kann mir die Fifth Avenue nicht leisten“, flüsterte sie.

Harrison lehnte sich ebenfalls vor und flüsterte im selben Tonfall: „Sie haben vierzehn Milliarden Dollar.“

„Ich sagte Ihnen doch, die gehören mir nicht.“

Herrgott noch mal, wollte sie ihm wirklich weismachen, sie könnte sich kein Kleid leisten? „Mein Vater wollte, dass Sie etwas von dem Geld behalten“, erinnerte er sie.

„Ich werde mein Geld nicht in der Fifth Avenue verjubeln, wenn ich ein Kleid für fast hundert Prozent weniger in einem Second-Hand-Laden kaufen kann.“

Harrison verdrehte die Augen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das fantastische Schwertfischsteak vor ihm. „Tja, ich laufe nicht noch mal kreuz und quer durch Brooklyn, also vergessen Sie’s, dass ich dort mit Ihnen einkaufen gehe.“

Die Pause, die folgte, war so unheilschwanger, dass er wieder hochblickte. Grace sah aus, als ob sie ihn gleich mit dem Buttermesser erdolchen wollte.

„Woher wissen Sie, dass ich gestern in Brooklyn war?“

Verdammt. Erwischt.

Er rang um eine glaubwürdige Ausrede.

Es gab keine.

„Ich bin Ihnen gefolgt.“

„Warum?“

Da sie die Art Frau zu sein schien, die eine Lüge zehn Meilen gegen den Wind roch, blieb ihm nichts anderes übrig, als bei der Wahrheit zu bleiben. „Weil ich wissen wollte, ob Sie anfangen, das Geld meines Vaters zu verbraten. Zum Beispiel in der Fifth Avenue.“

„Warum glauben Sie mir nicht, dass ich sein Geld so verwenden will, wie er es von mir verlangt hat?“

„Weil niemand vierzehn Milliarden Dollar verschenkt.“

„Ich schon.“

Nun, das blieb abzuwarten. Harrison hielt es für besser, zum vorherigen Thema zurückzurudern. „Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Kleides. Wir finden sicher ein Geschäft für Sie. Ich frage nachher den Concierge.“

Was zweifellos dessen Highlight des Monats werden würde. Jemand im Cosmopolitan fragte ihn, wo der nächste Second-Hand-Laden sei. Darüber würde man sich im Club noch eine Woche lang das Maul zerreißen.

5. KAPITEL

Gracie konnte kaum glauben, dass sie vor einem Penthouse in der Upper East Side stand. Warum hatte sie darauf bestanden, Harrison vorgehen zu lassen, damit sie sich etwas zum Anziehen kaufen konnte? Ohne ihn würde man sie niemals hineinlassen. Es fiel ihr ebenso schwer zu glauben, dass der Portier ihr die Eingangstür aufgehalten und sich zum Gruß sogar an die Mütze getippt hatte. Auch der Concierge hatte nicht versucht, sie am Betreten des Fahrstuhls zu hindern, und der Aufzugführer versicherte ihr, sie bräuchte ihm die Einladung nicht zu zeigen, die Harrison ihr für den Eintritt in diese Welt gegeben und nach der sie erfolglos in ihrer Handtasche gekramt hatte. Er hatte einfach die Türen geschlossen und sie durch einen Knopfdruck bis ganz nach oben katapultiert, als ob sie genau dort hingehörte.

Dies war ein Ort, an dem Menschen wie sie eigentlich keinen Zutritt hatten. Normale, arbeitende Menschen, die bis vor ein paar Stunden noch nicht einmal die passende Kleidung dafür besaßen – und die in ihrem Fall aus einem Second-Hand-Laden stammte.

Gracie konnte sie nicht erinnern, jemals so nervös gewesen zu sein. Wie sollte sie sich verhalten, und worüber sollte sie reden? Wie hatte sie sich nur in diese Situation gebracht, in der sie nicht auf einen einzigen Fürsprecher hoffen konnte, der ihr den Rücken stärkte? Da half auch nicht, dass sie schon den ganzen Tag über mit ähnlichen Situationen konfrontiert worden war.

Nach dem Mittagessen hatte Harrison sie zu besagter Privatschule gefahren. Interessanterweise war es dieselbe Schule, die er selbst vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse besucht hatte – für schlappe dreiundsechzigtausend Dollar im Jahr. Die Schüler trugen marineblaue Uniformen und liefen gemessenen Schrittes durch die Flure. Ihr Mittagessen bestand ausschließlich aus gesunden Zutaten, und ihre Stundenpläne waren auf Naturwissenschaften, Mathematik und klassische Literatur ausgerichtet. Kunst und Musik traten bestenfalls als Nebenfächer auf, die zugunsten der Mitarbeit in Juniorfirmen oder den Future Business Leaders of America vernachlässigt wurden.

Stärker hätte der Kontrast zu Gracies Unterricht an einer öffentlichen Schule nicht sein können, wo man praktisch alles anziehen konnte, was nicht unanständig wirkte. Auf den Fluren war es laut und chaotisch zugegangen, das Mittagessen kam aus der Fabrik, und der Stundenplan war ebenso chaotisch wie die Flure – auf eine gute Weise – mit täglichem Kunst- und Musikunterricht.

Harry hatte seinem Sohn nicht nur beigebracht, dass Geld das Wichtigste auf der Welt war, sondern ihn darüber hinaus auf eine Schule geschickt, die ihre Studenten zu Drohnen der Geschäftswelt formte, anstatt sie auf ein erfülltes Leben vorzubereiten. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Im Hauptquartier von Sage Holdings Inc. war es nicht besser gewesen. Überall saßen Angestellte in kleinen Arbeitsnischen vor ihren Computern und sprachen kein Wort miteinander, sondern tippten mit der Beflissenheit von Arbeitsbienen auf ihren Tastaturen herum. Wie konnte Harry seine Mitarbeiter nur in solch einem seelenlosen Umfeld arbeiten lassen?

Würde die Party heute Abend noch zu ihren unbehaglichen Gefühlen beitragen, die sie anfing, für Harry Sagalowsky zu empfinden?

Gracie atmete tief durch. Alles würde gut gehen. Zumindest sah sie gut aus. Sie hatte sich beim ersten Anblick in ihr Kleid verliebt, eine Seidenkreation in blassem Mint mit bauschigem Unterrock, gerüschtem Ausschnitt und schulterfreien Flügelärmeln. Im selben Laden hatte sie auch Accessoires gefunden: schlichte perlmuttfarbene Pumps, ein Abendtäschchen, eine Halskette und Ohrringe aus Kristall sowie ein Paar weiße Handschuhe, die zwischen Handgelenk und Ellbogen endeten. Sie hatte es sogar geschafft, ihr Haar zu einem anständigen Dutt zu frisieren, und gerade genug Rouge und Lippenstift aufgelegt, um nicht allzu blass zu wirken – vor Angst.

Nach einem letzten tiefen Durchatmen drückte Gracie auf den Klingelknopf. Sofort wurde ihr die Tür von einem Butler geöffnet. Sein leicht gekünsteltes Lächeln wirkte, als ob er dafür bezahlt wurde.

Wow. Harry hatte recht gehabt. Mit Geld konnte man alles kaufen.

Nein, konnte man nicht! Gracie hatte man nicht mit Geld kaufen können. Nicht, dass Devon Braun und sein Vater es nicht versucht hätten.

Wow. Wo kam denn die Erinnerung plötzlich her? An diese beiden Mistkerle hatte sie ewig nicht mehr gedacht. Und heute Abend würde sie schon gar nicht an sie denken. Diese Party würde ganz anders laufen als jene, die die unseligen Ereignisse damals ins Rollen gebracht hatte.

Sie öffnete ihr Täschchen, um die Einladung herauszuholen, da der Butler offensichtlich viel zu clever war, um jeden hereinzulassen, nur weil er die billige Kopie eines Vintage-Kleides von Dior und eine brauchbare Hochsteckfrisur trug. Aber obwohl ihre Tasche die Größe eines Kanapees hatte, konnte sie die Einladung nicht finden. Alles war da: Make-up, Ausweis, EC-Karte, falls Harrison sie in irgendeinem zwielichtigen Viertel der Stadt aus dem Wagen schubsen würde und sie ein Taxi bräuchte. Aber keine Einladung.

Sie musste sie verloren haben, als sie im Fahrstuhl danach gekramt hatte. Gerade wollte sie sich umdrehen und sie suchen gehen, als dieselbe dunkle, samtige Stimme, die sie vor der Menge in der Bibliothek gerettet hatte, ihr erneut zu Hilfe kam.

„Ist in Ordnung, Ballantine.“ Harrison stand plötzlich hinter dem Butler. „Sie gehört zu mir.“

Sie gehört zu mir. Wow, Harrison hörte sich so an, als ob sie wirklich zu ihm gehörte. Auf eine romantische, intime Weise. Ein Freudenschauer durchlief sie.

Auch wenn Gracie Freunde gehabt hatte, seit sie alt genug war, um welche haben zu wollen, war es ihr mit keinem wirklich ernst gewesen. Bis sie Devon Braun auf einer Party kennenlernte. Durch ihn war sie auf vielen Partys wie dieser gewesen, denn seine Familie war reich. Aber Devon war liebenswerter und nicht so widerwärtig gewesen wie die meisten Typen aus seinem Umfeld. Zumindest hatte sie das eine Weile lang geglaubt.

Seit ihrem Wegzug aus Cincinnati hatte sie die Gedanken an ihn ziemlich gut verdrängt, und die heutige Party wollte sie sich nicht von ihm verderben lassen. Heute Abend gehörte sie zu Harrison. Das hatte er selbst gesagt. Auch wenn sie morgen wieder misstrauisch umeinander herumschleichen sollten – heute würde sie sich keinen Fehltritt leisten.

Doch ihre Überzeugung schien verfrüht gewesen zu sein, denn als sie an Ballantine vorbeilief und Harrison sie näher ins Auge fasste, verschwand sein Lächeln. Irgendwie sah er so aus, als ob er nicht fassen konnte, in welchem Aufzug sie hier erschienen war.

Als Gracie einen Blick in den Raum warf, wurde ihr klar, warum. Obwohl alle Männer wie er gekleidet waren – in dunklen Anzügen –, war keine der Frauen so angezogen wie sie. Fast alle trugen Schwarz, und auch wenn es hier und da einen Tupfer Taupe gab, trug niemand etwas Farbiges. Oder Bauschiges. Oder sah aus wie eine Praline. Außer ihr, der Frau, die aussah – und sich auch so fühlte –, als sei sie völlig fehl am Platz.

Sie zwang sich, weiterzugehen und Ballantine ein Lächeln zu schenken, das nicht weniger gekünstelt war als seines. Auf ihrem Weg zu ihm ließ Harrison sie nicht aus den Augen.

Auch wenn sie die Antwort zu wissen glaubte, fragte sie ihn: „Stimmt etwas nicht?“

Er musterte sie kurz, wirkte aber nicht mehr ganz so fassungslos. Sie entschloss sich, es als Kompliment aufzufassen.

„Warum fragen Sie das?“

Sie zuckte mit der Schulter. „Weil Sie so aussehen, als ob etwas nicht stimmt.“

Er starrte in ihr Gesicht. „Sie sehen …“

Jetzt kommt’s! Gracie wappnete sich innerlich.

„… anders aus.“

Nicht ganz, was sie erwartet hatte. Schließlich hatte sie im Vergleich zu den letzten Tagen nichts anderes gemacht, als ein bisschen mehr Make-up aufzulegen und sich ein bisschen mehr Mühe mit ihrer Frisur zu geben. Aber was machte das schon für einen Unterschied?

„Gut oder schlecht anders?“

Er zögerte und schüttelte dann langsam den Kopf. „Nur … anders.“

„Oh. Soll ich wieder gehen?“

Jetzt sah er ehrlich überrascht aus. „Nein, natürlich nicht. Warum fragen Sie so etwas?“

„Weil Sie zu denken scheinen …“

„Gracie, Darling!“

Vivian Sages Ausruf kam gerade rechtzeitig, um Harrison daran zu hindern, etwas zu sagen, das vermutlich besser ungesagt bleiben sollte. Vivian sah umwerfend aus. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Kleid mit V-Ausschnitt, das aus kostspieligem Material und von schlichter Eleganz war. In der einen Hand hielt sie eine mit Kristallen verzierte Clutch, in der anderen einen Cocktail. Sie lehnte sich vor, um Gracie einen Hollywood-Luftkuss auf die Wange zu hauchen.

„Darling, du siehst absolut hinreißend aus. Du könntest ich sein, als ich jung war. Ich glaube, ich hatte genauso ein Kleid.“

Natürlich hatte sie das. Außer dass in Vivians Kleid sicher ein „Christian Dior, Paris“-Etikett genäht war, während auf ihrem – bei genauerem Hinsehen – „Christina Diaz, Paramus“ stand. Aber Vivians Kompliment hatte ehrlich geklungen. Vielleicht würde der Abend doch nicht so schlimm werden.

Und dann ruinierte sie alles, indem sie ihren Sohn fragte: „Sieht sie nicht wunderschön aus, Harrison?“

Zu Gracies Überraschung antwortete er: „Äh, ja. Wunderschön.“

Unglücklicherweise sah er dabei auf den Boden. Es war also möglich, dass er stattdessen den Teppich ihrer Gastgeber meinte, der in der Tat wunderschön war.

Vivian beugte sich zu ihrem Sohn. „Dann sag es ihr, Darling. Eine Frau möchte sichergehen, dass sie die schönste Frau im Raum ist, insbesondere auf einer der Partys von Bunny und Peter. Bunny Dewitt ist eine der Modeikonen von New York“, fügte sie als Erklärung für Gracie hinzu. „Sie taucht regelmäßig in den Modekolumnen auf. Jede Frau hier ist besorgt, under- oder overdressed zu sein oder etwas zu tragen, das seit fünf Minuten out ist.“

Dann musste Gracie sich ja keine Sorgen machen. Ihr Kleid war nicht erst seit fünf Minuten out, sondern seit mindestens fünf Jahrzehnten! Schon fühlte sie sich besser.

Harrison warf seiner Mutter aufgrund ihrer Ermahnung einen strafenden Blick zu, sagte aber: „Sie sehen wunderschön aus, Grace.“

Dieses Mal sah er sie direkt an, und ausnahmsweise war sein Blick nicht undurchschaubar. Tatsächlich war er, äh, total durchschaubar. Seine blauen Augen glühten vor Bewunderung, und er trug dieses halbseitige Lächeln, das Männer überkam, wenn sie sich an etwas Grandiosem erfreuten. Wie einem perfekt ausgeführten Spielzug beim Football. Oder einem auf den Punkt gegrillten Rib-Eye-Steak. Oder einer wirklich schönen Frau.

Dann fiel ihr das „Grace“ am Ende seines Satzes ein.

Niemand hatte sie je Grace genannt. Mit Ausnahme von Devon, der behauptete, sie sei viel zu würdevoll, um Gracie genannt zu werden – um dann selbst zur würdelosesten Person auf dem Planeten zu werden. Aber an ihn wollte sie heute nicht denken.

Selbst wenn Harrison sie nicht für schön oder würdevoll hielt, war die Tatsache, dass er sich bemühte … tja, worum auch immer … eine willkommene Abwechslung.

„Danke“, erwiderte sie daher. „Und nennen Sie mich Gracie. Niemand nennt mich Grace.“ Na ja, mit Ausnahme von …

Verdammt, warum kam ihr heute Abend ständig Devon in den Sinn?

Harrison sah aus, als wollte er etwas einwenden, deutete aber zur Bestätigung ein Nicken an.

„Ms. Sumner!“

Gracie war überrascht – und hocherfreut –, eine weitere bekannte Stimme zu hören. Sie drehte sich lächelnd um und begrüßte Gus Fiver von Tarrant, Fiver & Twigg. Wie alle hier war er konservativ gekleidet, wirkte aber aufgrund seiner blonden Haare und seinem guten Aussehen um einiges entspannter. „Mr. Fiver“, begrüßte sie ihn. „Was machen Sie denn hier?“

„Mr. und Mrs. Dewitts Sohn Elliot ist einer meiner besten Freunde. Unsere Familien kennen sich schon ewig. Und bitte nennen Sie mich Gus.“

„Ich bin sicher, Sie erinnern sich an die Sages“, erwiderte Gracie in dem Versuch, Harrison und Vivian in die Unterhaltung miteinzubeziehen. Auch wenn sie sich kannten, waren sie schließlich nicht gerade die besten Freunde.

Trotz des plötzlich auftretenden leichten Temperaturabfalls – nicht unähnlich dem in der Bibliothek vor ein paar Tagen – begrüßten Harrison und Gus sich höflich. Vivian verhielt sich etwas freundlicher, blieb aber ebenfalls reserviert. Wahrscheinlich konnte man auch nicht mehr erwarten angesichts der Tatsache, dass beide Parteien seit zwei Jahren auf unterschiedlichen Seiten eines strittigen Falls standen.

„Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen“, sagte Gus. Unterschwellig meinte Gracie so etwas herauszuhören wie: Ich dachte, dass die Sages Sie mittlerweile im Schlaf erstickt hätten. „Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt in den Hamptons.“

„Das tue ich.“ Überrascht stellte sie fest, dass es stimmte. Trotz der widrigen Umstände und der brüchigen Waffenruhe zwischen Harrison und ihr war ihr Aufenthalt bisher halbwegs angenehm und äußerst aufschlussreich gewesen. „Long Island ist wunderschön, und ich erfahre alles Mögliche über Harry, was ich noch nicht wusste. Vivian und Harrison sind sehr entgegenkommend.“

„Vivian und Harrison.“ Gus wiederholte ihre Namen in einem Tonfall, als würde er gerade über die Identität von Jack the Ripper spekulieren. „Aha.“

Gracie konnte seine Skepsis nachvollziehen. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte Harrison ihr schließlich unterstellt, seinen Vater mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt und bis aufs letzte Hemd ausgezogen zu haben. Merkwürdig … warum war sie selbst nicht mehr böse auf ihn?

„Das freut mich zu hören. Und es wird Sie freuen – Sie auch, Mrs. Sage –, dass die Unterlagen für das Haus in Long Island und das Penthouse in Manhattan in Arbeit sind. Wir werden sie Ihnen wie geplant am Donnerstag oder Freitag nach Amagansett schicken können.“

„Das ist wunderbar“, stimmte Vivian zu. „Vielen Dank noch mal, Gracie.“

„Dafür nicht, Vivian. Ich bin sicher, dass Harry es so gewollt hätte.“

„Da sind wir schon zwei, Darling. Oh, seht nur, da ist Bunny.“ Vivian winkte ihrer Gastgeberin zu. „Entschuldigt mich bitte.“

Sie verschwand und überließ Gracie die Rolle des Puffers zwischen ihrem Sohn und der Anwaltsfirma, die sein größter Widersacher war.

„Also, Gus“, begann sie, nach einem unverfänglichen Thema suchend. „Wie sind Sie dazu gekommen, nach verschollenen Angehörigen zu suchen?“

„Tarrant & Twigg haben mich angeworben, als ich noch an der juristischen Fakultät von Georgetown Erbrecht studierte. Ich schrieb in meinem letzten Jahr einen Aufsatz über eine bessere Nutzung des Internets bei der Erbensuche, den mein Professor, ein Freund von Bennett, an ihn weiterleitete. Danach hat Bennett mir eine Partnerschaft angeboten.“

„Haben Sie schon viele Familien wieder zusammengeführt?“, fragte Gracie.

„Oder auseinandergebracht?“, warf Harrison ein.

Sie warf ihm einen irritierten Blick zu, aber Gus lachte nur.

„Doch, die Frage ist berechtigt. Familiennachlässe können oft zu Streitigkeiten führen, insbesondere ab einer bestimmten Größe. Glücklicherweise gibt es in den meisten unserer Fälle nur einen Erben, sodass es selten zum Streit kommt.“

„Tja“, sagte Harrison, „dann können meine Mutter und ich ja stolz sein, zu den wenigen glücklichen Streithähnen zu gehören.“

Gus lächelte. „Nun, in letzter Zeit scheinen wir ungewöhnlich viele Mandanten zu haben, die sich in einen potenziellen Konflikt begeben. Sofern wir sie finden.“

„Ich bin sicher, das tun Sie“, sagte Gracie.

„Das tun wir immer“, versicherte Gus ihr. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Tja, bis auf das eine Mal.“

Gracie hätte gern mehr darüber erfahren, aber ein anderer Gast winkte Gus zu, und er verabschiedete sich eilig. Womit sie wieder mit Harrison allein war. Und obwohl sie fast den ganzen Tag lang mit ihm allein gewesen war, fühlte sie sich plötzlich ziemlich unbehaglich.

Harrison schien ihr Unbehagen zu teilen. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, wandte er sich ab und sah nach rechts – woraufhin Gracie sich zur anderen Seite wandte. Dann sahen sie sich wieder an und drehten sich langsam zueinander, bis sie sich schließlich wieder gegenüberstanden. Eine Weile verharrten sie so, starrten sich an und schwiegen. Aber dann passierte etwas Seltsames.

Es war, als ob sich plötzlich ein hauchdünner Vorhang um sie legen und von allen anderen im Raum, ja, von der ganzen Welt abschirmen würde. Das Geschnatter der anderen Gäste wurde zu einem schwachen und fast melodischen Gemurmel. Der Schein des Kronleuchters verwandelte sich in einen rosigen Schimmer. Die Kühle der Klimaanlage war nur noch ein kaum wahrnehmbares Streicheln auf ihrer Haut. Und alles andere schien zu verschwimmen, bis nichts übrigblieb als Schatten und ein weit entferntes Raunen.

Gracie hatte keine Ahnung, ob Harrison dasselbe fühlte, aber er blieb ebenso still und bewegungslos wie sie, als ob auch er den Moment nicht zerstören wollte. Die Zeit schien stillzustehen, und nichts anderes zählte als dieser Moment. Dann lachte eine Frau irgendwo im Raum laut auf, und der wundersame Eindruck wich der Realität.

Wodurch sich Gracie – und Harrison möglicherweise auch – noch unbehaglicher fühlte.

„Ich hole uns etwas zu trinken“, sagte er plötzlich mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Jep, er hatte es auch gefühlt. „Was hätten Sie gern?“

Was sollte sie darauf antworten? Sie war so durcheinander, dass sie kaum ihren eigenen Namen wusste, und er fragte sie, was sie wollte? Sie hatte vielleicht eine vage Idee, was sie in diesem Moment wollte, aber das konnte sie Harrison doch nicht sagen. Und schon gar nicht, dass sie es von ihm wollte! Erstens kannte sie ihn erst seit ein paar Tagen, und zweitens war sie sich nicht sicher, ob sie ihn dafür gern genug hatte. Außerdem mochte er sie gar nicht – auch wenn er gerade dieselbe unheimliche Erfahrung mit dem Vorhang, dem Gemurmel und den Schatten gemacht hatte.

„Äh, das, was Sie nehmen“, antwortete sie. „Das wäre schön. Sehr schön.“

Mehr konnte sie nicht tun, um sich nicht noch die Hand vor den Mund halten zu müssen. Eine Schrecksekunde lang war sie ernsthaft versucht, ihm zu sagen, dass er es war, den sie wollte. Und in einer weiteren Schrecksekunde dachte sie, dass er ihren Wunsch gutheißen würde, weil er sie auch wollte. Da war etwas in seinem Gesichtsausdruck …

Dankenswerterweise verabschiedete er sich nach einem weiteren panischen Blick überstürzt Richtung Bar und ließ Gracie die Möglichkeit, ihre Gedanken zu ordnen. Leider hatten sich ihre Gedanken so weit in alle Himmelsrichtungen verstreut, dass sie ein intergalaktisches Transportmittel brauchen würde, um sie wieder einzusammeln.

Als Harrison mit den Drinks zurückkehrte, hatte Gracie ihr Gehirn und andere Körperteile wieder halbwegs zur Räson gebracht. Zumindest bis sie ihren rechten Handschuh auszog, um den Cocktail entgegenzunehmen. Plötzlich schien sie nicht mehr Herrin ihrer Hände zu sein – was möglicherweise etwas damit zu tun hatte, dass Harrison den Blick nicht von ihr und ihren ungeschickten Fingern abwenden konnte. Als sie schließlich aus dem Handschuh heraus war, machte sie schnell eine Faust. Doch ihre Hand zitterte immer noch, als sie den Drink annahm, und zwar so sehr, dass er seine Hand einen Moment lang über ihre legte, um sicherzugehen, dass sie das Glas nicht fallen ließ.

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
Mehr erfahren