Zum allerersten Mal

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Irgendwie scheinen alle Dorfbewohner von Marigold verrückt geworden zu sein, findet die junge Lehrerin Tess. Nur weil ihr in der Schule schlecht wurde, glauben alle, sie sei schwanger. Hilfsbereit bringen sie ihr Babysachen - ihr Bruder richtet zusammen mit seinem Freund Will, den sie schon lange heimlich liebt, ein Kinderzimmer in ihrem Haus ein. Als Will abends noch etwas länger bleibt, kommen sie sich gefährlich nahe. Wird Tess endlich das erste Mal geliebt werden?


  • Erscheinungstag 26.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759353
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Tess Monahan wurde niemals krank. Niemals.

Das war schon ihr ganzes Leben lang so gewesen, das sie, bis auf ihre Collegezeit, hier in diesem Haus verbracht hatte. Hier in diesem Haus in Marigold, Indiana, in dem sie mit ihren fünf Brüdern aufgewachsen war und in dem nun allein lebte, nachdem ihre Brüder ausgezogen und ihre Eltern nach Florida gegangen waren, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Tess besaß ganze Kartons voller Erinnerungsstücke an ihre Schulzeit, unter anderem dreizehn Zeugnisse, in denen ihr bescheinigt wurde, dass sie keinen einzigen Tag gefehlt hatte.

Sie wurde einfach nicht krank. Niemals.

Selbst in den fünf Jahren ihrer Ausbildung zur Grundschullehrerin hatte sie keine einzige Unterrichtsstunde versäumt. Auch in den letzten vier Jahren, seit sie die Erstklässler der von Nonnen geführten katholischen Grundschule unterrichtete, hatte sie niemals auch nur einen Schnupfen gehabt. Und wenn noch so viele Kinder mit den merkwürdigsten Krankheiten zur Schule kamen, Tess blieb dabei kerngesund.

Sie wurde eben nicht krank. Niemals.

Seit ihrer Geburt war sie immer vollkommen gesund gewesen. Nicht einmal Kinderkrankheiten hatte sie gehabt. Auch keine Gräte verschluckt, keinen Arm gebrochen, keine Allergie bekommen. Tess schien gegen alles immun zu sein.

Bis heute.

Heute fühlte sie sich, als ob alle Krankheitskeime dieser Welt sich auf einmal gegen sie verschworen hätten. Mitten in der Nacht war sie aufgewacht, weil ihr so übel gewesen war, und dann war es immer noch schlimmer geworden. Die letzten drei Stunden hatte sie auf der Toilette verbracht. Inzwischen dämmerte schon der Morgen, und Tess war sicher, dass sie bald sterben würde. Wäre der Tod nicht eine willkommene Erlösung?

Aber, nein. Sie hatte keine Zeit für den Tod. In wenigen Stunden wurde sie zum Brunch erwartet, das alljährlich zur Ehrung des Lehrkörpers veranstaltet wurde. Sie hatte noch nie gefehlt und wollte es auch diesmal nicht. Nicht nur, weil sie sehr pflichtbewusst war, sondern auch weil sie dieses Mal für besondere Verdienste ausgezeichnet werden sollte. Darauf war sie stolz, und sie wollte weder ihre Schüler, noch deren Eltern, noch ihre Kollegen enttäuschen, indem sie der Veranstaltung fernblieb.

Sie würde dort sein. Sie würde die Auszeichnung strahlend in Empfang nehmen und ein paar Worte des Dankes sprechen. Das war sie ihren Schülern schuldig. Auch wenn sie dabei vielleicht aussah – und sich auch so fühlte – wie eine Leiche auf Urlaub.

Stöhnend richtete Tess sich auf und hielt sich am Toilettensitz fest. Sie musste wohl etwas Verdorbenes gegessen haben. Eine Grippe konnte es doch nicht sein, mitten im Mai? Sie legte eine Hand auf die Stirn und schob sich die schweißnassen blonden Ponyfransen aus dem Gesicht. Anschienend hatte sie Fieber. Was immer ihren Körper befallen haben mochte, offenbar hatte er daraufhin sämtliche Abwehrkräfte mobilisiert. Vielleicht ging es ihr bis zum Mittag schon besser.

Irgendwie brachte sie die Kraft auf, sich auszuziehen und unter die Dusche zu stellen. Bestimmt würde sie sich nach einer Dusche und ein, zwei Alka-Seltzer besser fühlen. Bestimmt hatte sie das Schlimmste schon hinter sich. Bestimmt würde sie sich nachher beim Brunch wieder wie neugeboren fühlen.

Bestimmt.

Erschöpft spülte sie das Shampoo aus ihrem Haar, drehte das Wasser ab und trat aus der Dusche, um sich abzutrocknen. Nichts schien im Augenblick unwichtiger als ihr Aussehen, aber wenigstens bei dem Brunch wollte sie versuchen, so gut auszusehen wie möglich. Sie zog einen bequemen hellblauen Pulli über ihr gelbes T-Shirt, kämmte ihr schulterlanges hellblondes Haar und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Sie spürte nicht die Kraft, auch nur für einige Minuten einen Fön über ihren Kopf zu halten. Also band sie ihr Haar am Hinterkopf mit einem blauen Band zusammen und frottierte nur die Ponyfransen, bis sie einigermaßen trocken waren.

Tess hatte einen hellen Teint, aber heute wirkte sie regelrecht bleich, deshalb verwendete sie etwas mehr Make-up als sonst. Leider konnte sie auch damit nicht die dunklen Schatten unter ihren Augen überdecken. Nun ja, irgendwie wirkte das Blau ihrer Augen dadurch noch intensiver, oder etwas nicht? Schließlich war sie nicht umsonst dafür bekannt, dass sie stets wusste, wie man das Beste aus jeder Situation machte.

Aber auch nachdem sie ihre Morgentoilette beendet hatte, war sie mit ihrem Erscheinungsbild nicht zufrieden. Sie sah – nicht gut aus. Sinnlos, das leugnen zu wollen. Nun, sie konnte nur hoffen, es lange genug in der Senkrechten auszuhalten, um ihre Auszeichnung in Empfang zu nehmen.

Schwankend erreichte sie die Küche und suchte sich etwas Salziges zum Knabbern, weil sie jetzt erst einmal etwas in den Magen bekommen musste. Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche Mineralwasser, und dann ließ sie sich erschöpft am Küchentisch nieder.

Noch einmal befühlte sie ihre Stirn, und diesmal kam sie ihr schon etwas kühler vor. Überraschenderweise behielt sie auch die gesalzenen Cracker im Magen. Es ging ihr wirklich schon ein klein wenig besser. Das Mineralwasser tat ein Übriges. Vielleicht sollte sie etwas davon zum Brunch mitnehmen. Ganz bestimmt würde sie nichts von den wundervollen Sachen zu sich nehmen, die man dort servieren würde – Obstsalat, Heidelbeertörtchen, Crêpes …

Allein der Gedanke versetzte ihren Magen schon wieder in Aufruhr. Nein, sie durfte kein Risiko eingehen.

Sie nahm noch eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und verstaute sie zusammen mit der Crackertüte in einer Nylontasche, auf deren Vorderseite das Bild von Disneys Cinderella prangte – ein Weihnachtsgeschenk von einem ihrer Schüler. Danach ging sie vorsichtig zur Haustür.

Als sie die Hand auf die Klinke legte, überfiel sie von neuem eine Welle heftiger Übelkeit. Oh, oh, es würde wohl ein sehr langer Tag werden.

Tess kam zwar rechtzeitig in der Schule an, musste dort aber als Erstes die Mädchentoilette aufsuchen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, wurde Schwester Angelina auch noch Zeugin ihres Leidens und fing an, auf sie einzureden. Sie solle doch nach Hause gehen und sich hinlegen. Aber Tess beteuerte energisch, ihr ginge es gut und die Übelkeit sei nur vorübergehend. Und tatsächlich, als sie ihren Platz am Tisch unterhalb des Rednerpultes einnahm, fühlte sie sich schon wieder etwas besser.

Was sich jedoch von da an ereignete, war geeignet, erneute und noch heftigere Übelkeit zu verursachen. Es begann damit, dass Susan Gibbs erschien und sich an den selben Tisch setzte. Susan unterrichtete ebenfalls Erstklässler und hatte sich schon das ganze Schuljahr darauf gefreut, selbst in den Genuss der Auszeichnung zu kommen. Seit der Ankündigung vor einem Monat, dass statt ihrer Tess sie bekommen sollte, war sie Tess gegenüber deutlich kühler geworden.

Bereits in frühester Kindheit waren Tess und Susan Rivalinnen in so ziemlich in allem gewesen. Äußerlich war die dunkelhaarige Susan sozusagen das Gegenstück zu Tess. Was ihre Gewinne und Verluste betraf, so herrschte ungefähr Gleichstand.

Tess hatte in der sechsten Klasse den Wettbewerb im Lesen gewonnen, aber Susan noch im gleichen Jahr den Geografiewettbewerb. Tess war Herausgeberin des Jahrbuchs in der elften und zwölften Klasse gewesen, Susan jedoch Herausgeberin der Schülerzeitung. Ein Foto von Tess als Miss Junie hatte ein Kalenderblatt des Schulkalenders geziert, eines von Susan den Monat Oktober.

Jetzt würde Tess als Lehrerin für ihre Arbeit ausgezeichnet werden und Susan nicht, aber sie fühlte sich deswegen kein bisschen überlegen. Nein, wirklich nicht. Tess wusste, sie hatte keinen Grund dazu.

„Guten Morgen, Tess“, sagte Susan, als sie sich in den Stuhl neben ihr setzte.

„Hallo, Susan“, erwiderte Tess und schüttelte ein paar Cracker aus der Verpackung. Dann nahm sie die Mineralwasserflasche aus ihrer Tasche und öffnete sie mit einem Zischen.

Susan beobachtete sie neugierig. „Also weißt du, Tess, du siehst irgendwie schlecht aus heute.“

Tess lächelte schwach. „Oh, Mann, Susan. Danke, du sagst immer die richtigen Dinge im richtigen Augenblick.“

„Tut mir leid“, erwiderte Susan trocken. „Aber du siehst nun mal wirklich schlecht aus.“

Tess bedachte sie erneut mit einem schwachen Lächeln.

„Übrigens“, fügte Susan hinzu. „Ich glaube, ich habe dir noch gar nicht zu deiner Auszeichnung gratuliert.“

„Nein, hast du nicht.“ Tess’ Lächeln wurde etwas herzlicher. Vielleicht hatte sie Susan doch falsch eingeschätzt.

Aber Susan sagte nichts weiter zu diesem Thema. Tess wollte ihr gerade ein Kompliment zu ihrem Kleid machen, als eine ältere Schülerin mit einer Kaffeekanne zu ihnen trat. Susan hielt ihre Tasse hoch und ließ sich einschenken. Danach wandte sich das Mädchen an Tess und fragte, ob sie auch Kaffee wolle.

Tess hielt sofort abwehrend eine Hand hoch und legte gleichzeitig die andere auf ihren revoltierenden Magen. „Oh, nein, danke. In meinem Zustand kann man keinen Kaffee trinken.“

Susans Kopf fuhr herum. Ihr Blick richtete sich erst auf Tess’ Wasserflasche, dann auf die Cracker, dann auf die Hand, mit der Tess sich den Bauch hielt, und schließlich auf Tess’ Gesicht. Verblüfft öffnete sie den Mund, doch dann verzogen sich ihre Lippen zu einem boshaften Lächeln.

„Tess!“, rief sie schockiert. „Ich glaub’s nicht. Du bist schwanger, nicht wahr?“

Die Schülerin, die bereits am nächsten Tisch Kaffee ausschenkte, drehte sich um. „Sie bekommen ein Baby, Miss Monahan? Das ist ja cool! Wann ist es denn soweit?“

Tess wollte protestieren, doch Susan erklärte: „Nun, danach zu urteilen, wie schlecht es ihr jetzt geht, würde ich schätzen, sie ist höchstens im zweiten Monat. Das würde bedeuten, das Kind kommt … im Dezember oder Januar. Oh, vielleicht wird’s ein Christkind!“ Susan tat entzückt. „Wie schön für dich, Tess.“

Unglücklicherweise hatten die beiden Frauen am Nachbartisch alles mitgehört und drehten sich neugierig um. Tess wusste, sie musste jetzt unbedingt etwas sagen, bevor die Situation außer Kontrolle geriet. Doch einen viel zu langen Augenblick konnte sie nur entsetzt und sprachlos zwischen Susan, der Schülerin und den beiden Frauen am Nebentisch hin und her blicken. Währenddessen nahm Susans Lächeln einen immer bedrohlicheren Ausdruck an.

„Du bist wirklich schwanger, nicht wahr? Tess Monahan schwanger! Und nicht verheiratet! Oh, ich kann es nicht glauben! Schwanger, du!“ Ihr schien ein neuer Gedanke zu kommen – offenbar ein sehr befriedigender, denn ihr Lächeln wurde noch bedrohlicher, um nicht zu sagen, ausgesprochen hämisch. „Du lieber Himmel, wer ist wohl der Vater? Deine Brüder werden ihn umbringen.“

Nur Susan Gibbs war imstande, so unverblümt eine so taktlose Frage zu stellen. Tess hatte immer noch nicht ganz begriffen, welche Tragweite Susans gedankenlose Unterstellungen hatten. Doch als sie sah, dass die beiden Frauen am Nebentisch plötzlich mit zwei weiteren Frauen ein lebhaftes Gespräch anfingen, da endlich hob sie abwehrend die Hände.

„Ich bin nicht schwanger“, versicherte sie Susan und der Schülerin, die immer noch mit der Kaffeekanne in der Hand dastand und sie fragend anstarrte. „Es ist eine Erkältung, ganz bestimmt.“

„Aber ich bitte dich“, sagte Susan betont sanft. „Es ist Mai, Tess. Niemand bekommt im Mai eine Erkältung. Gib es ruhig zu. Du bist schwanger.“

„Dann muss ich gestern etwas Verdorbenes gegessen haben“, erwiderte Tess rasch. „Ich kann unmöglich schwanger sein.“

„Du bist noch nie auch nur einen einzigen Tag in deinem Leben krank gewesen, Tess Monahan“, entgegnete Susan. „Ich weiß noch, wie wir alle einmal am vierten Juli krank wurden, weil wir verdorbenen Kartoffelsalat gegessen hatten. Du warst damals die Einzige, der nicht schlecht war. Du hast eine Pferdenatur. Nichts kann dir etwas anhaben – außer offenbar eine Schwangerschaft. Also, meine Schwester war schon drei Mal schwanger. Ich weiß genau, wie willkürlich und heftig die sogenannte morgendliche Übelkeit zuschlagen kann. Offenbar setzt sie sogar dir zu.“

„Es ist keine sogenannte morgendlich Übelkeit“, widersprach Tess. „Weil ich nämlich nicht schwanger bin.“

Sie wusste zwar nicht, was die Ursache für ihren Zustand war, aber sie wusste mit Sicherheit, was nicht die Ursache war. Man musste etwas ganz Bestimmtes tun, um in diesen Zustand zu geraten, und sie hatte das in letzter Zeit nicht getan. Genau gesagt, hatte sie es noch nie getan. Wenn sie schwanger wäre, dann könnte sie mindestens eine Million Dollar vom „Time Magazine“ kassieren für eine Exklusivstory über unbefleckte Empfängnis. Ja, und eine Audienz beim Papst wäre sicher auch angebracht.

Nein, das machte ihr keine Sorgen.

Susan jedoch ließ sich nicht so leicht davon überzeugen, dass das, was in ihren Augen so offensichtlich war, nicht zutreffen sollte.

„Na, komm schon, Tess. Du brauchst dich nicht zu schämen. Das passiert doch heutzutage andauernd – selbst so braven, gut katholischen Mädchen wie dir.“

„Susan, ich bin nicht …“ Tess wandte sich dem Mädchen mit der Kaffeekanne zu, doch zu ihrem Entsetzen war es an den nächsten Tisch gegangen, um weiter Kaffee auszuschenken. Unter anderem. Jetzt plauderte es gerade angeregt mit Ellen Dumont, einer Mathelehrerin, die sich auch prompt umdrehte und ungläubig herüberstarrte.

Oh, nein! Genauso gut hätte man es über einen der landesweiten Fernsehkanäle verkünden können, dass sie schwanger sei. Ellen kannte so ziemlich jeden in Marigold persönlich.

„Tja, dann darf ich dir wohl als Erste gratulieren“, sagte Susan. „Alles, alles, alles Gute zu deiner bevorstehenden Niederkunft.“

Aha, zu einer nicht gegebenen Schwangerschaft konnte Susan also gratulieren, zu einer tatsächlichen Auszeichnung weniger. „Susan, hör auf. Ich bin nicht …“

Aber Susan machte nur eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, Tess, mach dir keine Sorgen. Ich werde keiner Menschenseele etwas davon erzählen.“

Tess war vom Gegenteil überzeugt.

„Ich finde es nur so erstaunlich“, fuhr Susan kopfschüttelnd fort. „Ich meine, du bist so wohlerzogen, so anständig, so brav. So langweilig.“ Sie ließ wirklich nichts aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt einen Mann in deinem Leben gibt. Geschweige denn, Sex …“

„Susan“, fiel Tess ihr rasch ins Wort. „Das tut es nicht. Es gibt keinen Mann in meinem Leben.“

Susans Augen weiteten sich. „Du meinst, es war nur ein Zwischenspiel für eine Nacht?“, rief sie laut.

Jetzt wurde Tess von vier Frauen an zwei Nachbartischen angestarrt. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Mineralwasserflasche und die Tüte mit Crackern. Entnervt schloss Tess die Augen. In Marigold, Indiana, breiteten Gerüchte sich mit Lichtgeschwindigkeit aus. Das wirklich Schlimme daran jedoch war, dass alles, was die Gerüchteküche in Marigold hervorbrachte, auf die eine oder andere Art zumindest ein bisschen der Wahrheit entsprach. Es mochte ein wenig übertrieben sein, aber ein wahrer Kern war immer daran.

Spätestens am Nachmittag würde es sich in der ganzen Stadt herumgesprochen haben, dass Tess schwanger war und dass es mit einem Mann passiert war, mit dem sie keine feste Beziehung hatte.

„Es war kein Zwischenspiel“, sagte Tess zähneknirschend.

„Dann war es also jemand, der dir etwas bedeutet.“

„Nein, war es nicht“, erwiderte Tess hitzig. „Es war niemand. Ich bin nicht schwanger.“

Doch ihre Worte waren an Susan verschwendet. Deren Blick wurde plötzlich träumerisch. „Hm, mal sehen, wer könnte es sein?“, murmelte sie. „Das letzte Mal, dass ich dich mit einem Mann sah, das war beim Weihnachtsbasar. Du warst mit Donnie Reesor da.“

„Donnie ist einfach nur ein Freund“, erklärte Tess. „Das weißt du genau. Und jeder weiß, dass er Sandy Mackin heiraten wird.“

Susan lächelte verräterisch sanft. „Tja, da hat er sich wohl selbst einen Strich durch die Rechnung gemacht, was?“

„Susan, bitte …“

„Na schön, Tess. Wie schon gesagt, von mir wird niemand etwas erfahren. Lass dir ruhig Zeit damit, die Neuigkeit zu verbreiten. Na ja, allzu viel Zeit wirst du dir wohl nicht lassen können“, fügte sie mit einem wissenden Lächeln hinzu. „Manche Dinge zeigen sich mit der Zeit sozusagen von selbst.“

„Es gibt keine Neuigkeit zu verbreiten, und es wird sich nichts zeigen. Ich bin nicht …“

„Oh, aber wie deine Brüder darauf reagieren werden, das kann ich kaum erwarten zu sehen. Die Monahan-Brüder waren ja schon immer zu einem Kräftevergleich bereit – jederzeit und überall. Sie werden es den Vater deines Babys spüren lassen, wenn sie es erfahren.“

Obwohl ihr langsam klar wurde, dass all ihre Versuche vergebens waren, versuchte Tess es ein letztes Mal. „Susan, es gibt keinen Vater“, sagte sie so ruhig und so energisch wie möglich. „Es gibt nämlich kein Baby. Ich bin einfach nur krank, das ist alles. Eine Erkältung, ein verdorbener Magen oder was auch immer. Keine Schwangerschaft, bestimmt nicht.“

Susan beugte sich vertraulich vor und tätschelte ihr übertrieben die Hand. „Mach dir keine Sorgen, Tess. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Oh, sieh nur, da ist Schwester Maria. Ich habe etwas überaus Wichtiges mit ihr zu besprechen.“

Und bevor Tess etwas dagegen unternehmen konnte, war Susan Gibbs schon aufgestanden und auf dem Weg zu einer Gruppe von Nonnen. Tess vergrub das Gesicht in den Händen und hätte am liebsten losgeheult. Dieser Tag hielt mehr für sie bereit als die Auszeichnung „Lehrerin des Jahres“. Bevor der Abend dämmerte, würde sie für ganz Marigold die „Mutter des Jahres“ sein.

2. KAPITEL

In Will Darrows Autowerkstatt herrschte wie immer eine entspannte Atmosphäre. Seit über einer Stunde hatte Will offiziell geschlossen, und jetzt genoss er den Ausklang eines arbeitsreichen, erfolgreichen Tages. Nichts auf der Welt fand Will befriedigender. Cool Jazz klang von dem tragbaren CD-Spieler, der auf dem mit Papieren übersäten Tisch im Büro stand. Will lag rücklings unter der 68er Corvette, die er stolz sein Eigen nannte, und sein bester Freund Finn Monahan saß lässig zurückgelehnt in dem Lehnstuhl, den er sich aus dem Büro in den Werkstattbereich geschoben hatte, und nippte genüsslich an einer Bierflasche.

Das Leben konnte eigentlich nicht besser sein.

Will besaß sein eigenes Geschäft, das sehr gut florierte, und sein bester Freund war schon in seiner Kindheit sein bester Freund gewesen, so wie er überhaupt der ganzen Monahan-Familie schon immer sehr nahe stand. Seit dem Tod seines Vaters vor zehn Jahren sogar noch mehr. Sein alter Herr hatte nie wieder geheiratet gehabt nach dem Tod seiner Frau. Will war damals erst vier gewesen, und so hatten sie danach nie eine richtige Familie gehabt. Die Monahans hatten das jedoch wettgemacht, indem sie Will stets mit offenen Armen aufnahmen. Sie alle hatten ihm seine Familie ersetzt, einschließlich der kleinen Tess.

Natürlich war die kleine Tess inzwischen nicht mehr klein, und das war etwas, das Will mit aller Kraft zu ignorieren versuchte, jedes Mal, wenn sie sich begegneten. Oder jedes Mal, wenn er an sie dachte. Oder jedes Mal, wenn er von ihr träumte.

Aber, nein, er träumte doch nicht von Tess. Jedenfalls nicht dauernd. Nur ganz selten. Nur wenn er sie zufällig irgendwo traf und dann wirklich versuchte, nicht zu sehen, dass sie überhaupt kein kleines Mädchen mehr war. Das Dumme daran war nur, so wie sie jetzt aussah, war es eigentlich unmöglich, nicht zu sehen, dass sie kein kleines Mädchen mehr war, denn sie war so verdammt …

Nein, nein, besser, er dachte an etwas anderes. Denn immer wenn er in letzter Zeit an Tess dachte, stellte er sie sich in gar nicht kleinmädchenhaftem Outfit vor, zum Beispiel in glänzendem Satin und solchen hochhackigen …

Oh, Mann. Nicht schon wieder.

Will presste die Lider aufeinander und bemühte sich mit aller Kraft, an etwas anderes zu denken – an irgendetwas, nur nicht an Tess Monahan. Die Hauptstadt von Vermont ist Montpelier, dachte er fieberhaft. Das spezifische Gewicht von Bor ist 10,81 …

Will seufzte resigniert und zwang sich, daran zu denken, dass Tess’ ältester Bruder bei ihm war.

Seit seinem siebten Lebensjahr war Marigold, Indiana, seine Heimat und Finn Monahan sein bester Freund. Verflixt, er erinnerte sich noch genau, wie Mr. und Mrs. Monahan die kleine Tess aus der Klinik nach Hause gebracht hatten. Ein winziges Bündel in rosa Satin … Flanell … um das sich fünf neugierige, wilde Jungen scharten, sechs, wenn man ihn mitrechnete, und das hatten Mr. und Mrs. Monahan stets getan.

Nein, nein, sagte sich Will, während er an einer Schraube drehte, denn schon wieder drängte sich ein Bild von Tess, diesmal in rosa Spitze, in seine Gedanken. Das Schicksal hatte es bis jetzt gut mit ihm gemeint, und er sollte nicht noch mehr erwarten.

„Hallo? Jemand zu Hause?“

Als ob es nicht schon ausreichte, dass er sich selbst ständig aus der Fassung brachte, indem er an Tess dachte – na schön, von ihr träumte –, jetzt tauchte sie auch noch in Fleisch und Blut hier in seiner Werkstatt auf.

„Hi, Tess!“, hörte er Finn rufen. „Wie war’s in der Schule?“

Wie war’s in der Schule … Ihm war, als sei es erst gestern gewesen, dass Finn diese Frage einem kleinen Mädchen mit endlos langen, dünnen Beinen und halb aufgelösten Zöpfen stellte. Will legte sein Werkzeug beiseite und kroch unter der Corvette hervor.

„Hallo, Kleine“, sagte er, doch „Kleine“ blieb ihm fast im Hals stecken, als er Tess ansah.

Dieser Körper, diese Lippen. Nichts an Tess erinnerte noch an das kleine, dünne Mädchen von damals. Trotzdem, und um sich selbst einmal mehr zu beweisen, in welchem Verhältnis er und Tess zueinanderstanden, ging er auf sie zu und tat das, was er sich seit vierundzwanzig Jahren zur Gewohnheit gemacht hatte: Er fuhr ihr freundschaftlich mit der Hand durchs Haar.

Idiotisch, dachte er. Wie jedes Mal, wenn er das tat. Nicht nur, weil er dafür einen mordlustigen Blick von ihr erntete, sondern vor allem, weil sich ihr Haar so wundervoll anfühlte, wie Seide. Unwillkürlich fragte sich Will, wie es wohl wäre, wenn er sich eine Strähne davon um den Finger wickelte und Tess zu sich heranzog. Nah genug, um ihre Lippen mit seinen zu bedecken ….

Nichts da. Er würde nichts dergleichen mit Tess Monahan tun. Sie war ja ein Kind im Vergleich zu ihm – auch wenn sie nicht so aussah. Und sie war die kleine Schwester seines besten Freundes.

Außerdem war da noch etwas, was dagegen sprach. Jeder in Marigold wusste, dass Tess ihn seit ihrem zehnten Lebensjahr anhimmelte. So etwas durfte man nicht ausnutzen. Und das würde er auch nicht tun, auch wenn er oft an sie dachte, regelrecht von ihr fantasierte. Es würde zu nichts führen.

Ja, er wusste, dass Tess etwas für ihn empfand, und vielleicht empfand er ja auch ähnlich für sie, ganz vielleicht, ein kleines bisschen. Aber das alles hatte nichts zu bedeuten. Was Tess betraf, so waren ihre Gefühle einfach nur jugendliche Schwärmerei, sozusagen eine Gewohnheit aus ihrer Teenagerzeit. Sie hatte nichts mit der reifen Liebe einer erwachsenen Frau zu tun. Es wäre nicht anständig, das auszunutzen, und es würde nur eine Menge Ärger und Verdruss bringen.

Deshalb hielt er stets Abstand zu Tess. Alles andere wäre falsch. Zwischen ihm und Tess könnte es höchstens ein kurzes Strohfeuer geben, und danach könnten sie nicht mehr unbefangen Freunde sein. Darüber hinaus würde er vielleicht Finn als besten Freund verlieren.

„Hi, Will.“ Nervös strich Tess durch ihre weichen, seidigen, glänzenden Ponyfransen und tat, was sie immer tat, wenn sie ihm begegnete: Sie machte mehrere Schritte rückwärts.

Er fand es schrecklich, dass er offenbar so einschüchternd auf sie wirkte. Aber er war nun einmal gut einen Kopf größer, an die dreißig Kilo schwerer und zehn Jahre älter als sie. Was sollte er tun? Außerdem wusste er, dass ihr die Sache von damals immer noch peinlich war. Vier Jahre war es inzwischen her, da war sie tatsächlich so weit gegangen, ihm zu gesehen, wie sehr sie schon ihr ganzes Leben in ihn verliebt sei.

Will musste zugeben, dass ihm die Sache auch peinlich war. Dass Tess ihn anhimmelte, war ihnen beiden zwar schon immer bewusst gewesen, aber weder er noch sie hatten jemals die stillschweigend akzeptierte Grenze überschritten und darüber gesprochen. Nicht bis zu dem Augenblick, als Tess es dann einfach doch getan hatte.

Aber Will war einfach darüber hinweggegangen und hatte so getan, als sei nichts gewesen. Er wollte nicht mehr daran denken, die Sache vergessen und verdrängen, total. Oder wenigstens fast. Nun ja, dass er es seitdem nicht schaffte, Tess in die Augen zu sehen, was hatte das schon zu bedeuten?

„Prima“, antwortete Tess ihrem Bruder. Aber es klang merkwürdig angestrengt.

„Hast du deinen Preis bekommen?“, fragte Finn. Er war aufgestanden, um seiner Schwester kurz die Wange zu tätscheln und hatte sich wieder gesetzt.

Alle Monahans sahen sich verblüffend ähnlich. Sie hatten alle strahlend blaue Augen, alle waren unglaublich gut aussehend, und alle, zumindest die Brüder, waren sehr groß und schlank. Tess war auch schlank und gut gewachsen, aber bei einem Meter achtundfünfzig konnte man sie nicht unbedingt als groß bezeichnen.

Irgendwie sah sie heute aber weniger gut aus als sonst. Selbst im schwachen Licht der Abendsonne, deren Strahlen durch die offene Hintertür der Werkstatt fielen, konnte man erkennen, dass sie blass war und müde wirkte. War sie womöglich krank? Aber das konnte nicht sein. Tess Monahan wurde niemals krank.

„Ja, Finn, hab ich.“

„Glückwunsch, Tess“, sagte Will – und wich ihrem Blick aus.

„Danke, Will“; erwiderte sie leise – und wich seinem Blick ebenfalls aus.

Es folgte ein Moment unbehaglichen Schweigens. Will hatte das Gefühl, als wollte Tess etwas sagen, wusste aber nicht, wie sie damit anfangen sollte. Auch Finn schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, denn er legte den Kopf schief und musterte seine Schwester aufmerksam.

„Alles in Ordnung, Tess?“

Sie nickte rasch. Ein wenig zu rasch, fand Will. „Ja, Finn, alles in Ordnung. Alles bestens. Warum? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
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