Zum ersten Mal verführt…

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DIE LETZTE JUNGFRAU ...

Stolz und bedrohlich stürmt der Piratenabkömmling Sam Beaumont auf die Insel Delacorte Island. Sein Ziel ist es, sich an all denen zu rächen, die ihn vor sieben Jahren vertrieben haben. Und er will seine wunderschöne Ex-Braut Annie zurückerobern. Bei einer Bootsfahrt küsst er sie so wild, dass heiße Sehnsucht sie durchflutet, endlich zu erfahren, was Liebe ist. Doch noch zögert er, seine goldblonde Meerjungfrau zu erobern. Und dann ist es Annie, die ihn in ihrer sturmumtosten Hochzeitsnacht in aller Unschuld verführt und seine sinnlichsten Träume wahr werden lässt!

VERFÜHRERISCHE UNSCHULD

Esme ist bereit, ihre Unschuld zu opfern: Sie bietet dem stadtbekannten Lebemann John Radwell an, seine Mätresse zu werden! Ist ihr Ruf erst ruiniert, dann ist es der Plan ihres hartherzigen Vaters ebenfalls: Er will, dass Esme den alten Earl of Halverston heiratet. Doch ihr unzüchtiges Angebot an John verfehlt seine Wirkung. Stattdessen bringt er die unschuldige Verführerin auf den Landsitz seiner Verwandten. Mit etwas Glück wird sie hier auf einem Ball einen passenden Ehemann finden. Aber zu spät: Esme hat ihre Wahl bereits getroffen ...

ZUM ALLERERSTEN MAL

Irgendwie scheinen alle Dorfbewohner von Marigold verrückt geworden zu sein, findet die junge Lehrerin Tess. Nur weil ihr in der Schule schlecht wurde, glauben alle, sie sei schwanger. Hilfsbereit bringen sie ihr Babysachen - ihr Bruder richtet zusammen mit seinem Freund Will, den sie schon lange heimlich liebt, ein Kinderzimmer in ihrem Haus ein. Als Will abends noch etwas länger bleibt, kommen sie sich gefährlich nahe. Wird Tess endlich das erste Mal geliebt werden?


  • Erscheinungstag 18.07.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747770
  • Seitenanzahl 390
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Day Leclaire, Christine Merrill, Elizabeth Bevarly

Zum ersten Mal verführt…

IMPRESSUM

Die letzte Jungfrau … erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 1999 by Day Totton Smith
Originaltitel: „Shotgun Bridegroom“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 1403 - 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Elke Schuller-Wannagat

Umschlagsmotive: shutterstock_Roman Samborskyi

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733759391

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

PROLOG

Obwohl Sam Beaumont sich sieben Jahre lang von Delacorte Island ferngehalten hatte, wurden die Bewohner dieser kleinen Insel vor der Küste North Carolinas noch immer nervös, wenn sie an ihn dachten. Er beunruhigte sie so wie ein Hurrikan, der sich über dem Meer zusammenbraute, allmählich stärker wurde und unaufhörlich näher rückte. Irgendwann brach, wie man aus Erfahrung wusste, der Sturm los, und es blieb einem nichts anderes übrig, als sich zu verbarrikadieren und abzuwarten, bis er sich gelegt hatte.

Insofern war niemand wirklich überrascht, als Sam an einem schönen Sommertag auf seinem schwarzen Motorrad von der Fähre kommend in die Stadt Beaumont raste, die nach einem seiner Vorfahren benannt worden war, einem Piraten, der dem damaligen Bürgermeister die Pistole auf die Brust gesetzt und somit die Wahl des Ortsnamens entscheidend beeinflusst hatte.

Dass Sam die drei Männer zu sehen verlangte, die ihn sieben Jahre zuvor mit Gewehren in der Hand von der Insel vertrieben hatten, wunderte auch keinen. Die Zeichen standen auf Sturm – und der würde aller Voraussicht nach heftig wüten.

„Sam will uns bestimmt ruinieren. Inzwischen hat er ja ein Vermögen gemacht“, meinte der Bürgermeister Jeffrey Pike bedrückt. „Wir hätten ihn damals nicht aus der Stadt weisen sollen.“

Sheriff Rawling, meist Rolly genannt, machte ein finsteres Gesicht. „Er hätte sich ja nur umzudrehen und zurückzukommen brauchen. Ich hätte den Jungen nicht davon abgehalten. Du etwa?“

„Einen Beaumont stoppen? Das würde mir nicht einfallen“, meldete sich Ben Drake, der Dritte im Bunde, zu Wort. „Ich muss an mein Geschäft denken. Wenn man mir nachsagen würde, dass ich Leute von hier vertreibe, würde doch niemand mehr bei mir einkaufen.“

Rolly lachte. „Hab keine Angst um deinen Ruf, Ben. Alle wissen, dass du jedem deine Freundschaft anbietest, der dir eine traurige Geschichte von seinem Pech auftischt.“

„Jedem außer Sam Beaumont“, berichtigte Ben ihn.

„Das ist etwas anderes. Der Junge war an Freundschaft nicht interessiert.“

„Nicht an unserer jedenfalls“, mischte der Bürgermeister sich ein und lachte ebenfalls. „Wenn es allerdings um hübsche junge Frauen ging …“

„Genau“, unterbrach Ben ihn. „Und da Annie damals als Nächste auf seiner Liste stand, mussten wir doch etwas unternehmen.“

Der Sheriff nickte. „Richtig. Uns blieb keine andere Wahl, nachdem sie uns um Hilfe gebeten hatte. Den Jungen aus der Stadt zu vertreiben, das war das Wenigste, was wir für Annie tun konnten. Und wir haben ja keinen Schaden angerichtet, weil Sam sich seitdem einen Namen als Börsenmakler gemacht hat. Genau genommen haben wir ihm einen Gefallen getan.“

„Stimmt.“ Bürgermeister Pike blickte unbehaglich von einem zum anderen. „Ihr nehmt aber auch an, dass er jetzt zurückgekommen ist, um uns diesen ‚Gefallen‘ zu vergelten?“

Ben Drake sah seine beiden Freunde verdrießlich an. „Weshalb sonst möchte er uns drei sprechen?“

Die Diskussion endete in diesem Moment, weil Sam Beaumont ins Büro des Bürgermeisters kam. Er war groß, muskulös und beneidenswert attraktiv, außerdem wirkte er ausgesprochen energisch und zielstrebig. Ja, er war ein Mann, mit dem man rechnen musste – jetzt noch mehr als früher. Gegen ihn kamen die drei Freunde sogar gemeinsam nur schwer an.

Obwohl er lässige Jeans und ein T-Shirt trug, umgab ihn ein so unverkennbares Flair von Macht und Erfolg, dass ihm sofort ungeteilte Aufmerksamkeit sicher war. „Meine Herren“, begrüßte er sie durchaus verbindlich, während er seine schwarze Lederjacke auf den einen freien Stuhl warf. „Es ist eine Weile her, dass wir uns gesehen haben.“

„Und jetzt sind Sie zu einem kurzen Besuch hier?“, fragte Ben hoffnungsvoll.

Sam lächelte strahlend. Dieses Lächeln war schon vielen Frauen auf der Insel zum Verhängnis geworden. „Ich habe mich noch nicht entschieden, wie lange ich bleibe.“

„Bringen wir’s hinter uns“, sagte der Sheriff unvermittelt. „Es gibt doch nur einen Grund, warum Sie uns drei hier treffen wollten: wegen der Nacht vor sieben Jahren.“

„Richtig“, bestätigte Sam ernst.

Der Bürgermeister rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum, der unter seinem Gewicht ächzte. „Hör mal, Junge …“

Blitzschnell durchquerte Sam den Raum und beugte sich über den Schreibtisch. „Nennen Sie mich Sam – oder Beaumont, wenn Ihnen das lieber ist. Jedenfalls lasse ich mich von Ihnen nicht mehr als ‚Junge‘ bezeichnen, Bürgermeister. Niemals wieder. Ist das klar?“

Beschwichtigend hielt Bürgermeister Pike die Hände hoch. „Ja, sicher. Und bitte, keine Aufregung … Sam. Ich hab’s nicht als Beleidigung gemeint.“

„Gut.“ Sam nickte und richtete sich auf. „Und nun zum Geschäft.“

Ben Drake räusperte sich. „Haben wir denn ein Geschäft zu besprechen, Mr. Beaumont? Oder muss ich Professor Beaumont sagen?“

Sams dunkle Augen blitzten amüsiert. „Nein, Professor bin ich nicht, nur Doktor. Aber die formelle Anrede mit Titel können wir uns sparen, schließlich bin ich kein Arzt, sondern Experte für Finanzen, wie Sie ja sicher gehört haben.“

„Wollen wir nicht zur Sache kommen? Was möchten Sie von uns, Beaumont?“, fragte Rolly.

„Eigentlich nur einige Dinge klären, damit ich meinen Besuch hier genießen kann.“

Der Sheriff funkelte Sam an. „Welche Dinge?“

„Ich wollte Ihnen versichern, dass ich keine Probleme zu verursachen gedenke, während ich hier bin.“

„Das war’s?“, fragte Bürgermeister Pike vorsichtig.

Sam nahm die Lederjacke vom Stuhl, setzte sich und streckte die Beine aus. „Ja, durchaus. Sehen Sie, meine Herren, bei einem Rachefeldzug besteht immer das Risiko, dass Unschuldige davon betroffen werden.“ Er blickte den Bürgermeister an. „Ehefrauen könnten unter einem Skandal leiden – und Wahlen verloren werden.“

Mr. Pike wurde blass. „Das würden Sie nicht wagen, Sam!“

Herablassend zuckte Sam die Schultern. „Ich sagte doch, ich möchte keine Probleme verursachen.“ Dann wandte er die Aufmerksamkeit dem Sheriff zu. „Sonst würde ich mit Mrs. Cross über den Unfall sprechen, der sie für so viele Wochen ins Krankenhaus gebracht hat. Den dafür verantwortlichen Wagenlenker, der Fahrerflucht begangen hat, haben Sie nie versucht zu finden, stimmt’s, Rolly?“

Sheriff Rawling biss kurz die Zähne zusammen. „Nein“, bestätigte er schließlich. „Den habe ich nie gefunden.“

„Seltsam, da die hiesige Gemeinde so klein ist. Ich hätte gedacht, sogar Sie wären in der Lage gewesen, das Problem zu lösen.“ Nun sah Sam zu Ben Drake. „Oder Sie die Probleme Ihrer Tochter.“

Ben verschluckte sich beinahe. „Woher wissen Sie …“

„Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, so etwas zu wissen.“ Ohne dass Sam sich gerührt hätte, wirkte seine Haltung plötzlich drohend. „Mir hat es damals nicht gefallen, mit Waffengewalt vertrieben zu werden, obwohl ich verstanden habe, warum Sie drei eine so drastische Methode wählten. Was anschließend passiert ist, hat mich freilich ein bisschen verärgert“, fügte er ironisch hinzu.

„Und was war das?“, fragte Ben unbehaglich und sah seine Freunde verwirrt an. „Ich verstehe Sie nicht, Sam.“

„Ach nein? Einer von euch ist noch mal zurückgekommen und hat mich zusammengeschlagen, und ich muss zugeben, dass ich demjenigen doch ziemlich böse bin.“ Sams dunkle Augen wirkten jetzt kalt.

Die drei älteren Männer blickten Sam fassungslos an. Sheriff Rawling fand als Erster die Sprache wieder. „Wir haben dich … Sie nicht angerührt, Sam!“ Ben und der Bürgermeister nickten bestätigend. „Abgesehen davon, dass wir Sie gefesselt auf der Anlegestelle der Fähre zum Festland abgesetzt haben. Das war alles.“

„Wie interessant, wenn man bedenkt, dass ich am folgenden Tag in der Gosse auf dem besagten Festland aufgewacht bin, und zwar …“ Sam zuckte die Schultern, „in ziemlich beklagenswertem körperlichem Zustand.“

„Wer sagt Ihnen, dass einer von uns dafür verantwortlich war?“

„Es gab nur Sie drei, die mich unbedingt von der Insel entfernen wollten.“ Sam verzog die Lippen. „Und Annie, natürlich. Allerdings glaube ich nicht, dass die mich verprügelt hat, denn das ist nicht ganz ihr Stil, oder?“

„Auf keinen Fall“, stimmte Ben zu. „Sie sind also zurückgekommen, Sam, um sich an demjenigen zu rächen, der Sie zusammengeschlagen hat. Richtig?“

„Nicht ganz.“ Sam stand auf und hängte sich die Lederjacke über die Schulter. „Ich bin Annies wegen hier. Und ich warne Sie drei, sich diesmal nicht wieder einzumischen. Weil ich diesmal gegen Sie kämpfen würde – und dabei könnte jemand zu Schaden kommen.“ Er ging zur Tür, blieb dort stehen und zog die dunklen Brauen hoch. „Ist jetzt alles klar?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus.

Die drei Freunde blieben wie erstarrt schweigend sitzen.

Schließlich fluchte Rolly lautstark. „Und was machen wir jetzt?“

„Warst du es?“, fragte der Bürgermeister. „Du hast die Beaumonts doch nie ausstehen können. Hast du den Jungen zusammengeschlagen, nachdem wir anderen zwei weg waren?“

„Um Himmels willen, nein! Obwohl es mich durchaus in den Fingern gejuckt hat. Aber ich war’s nicht, ehrlich.“

Rasch stand Ben auf. „Ihr könnt doch nicht glauben, dass ich es getan habe!“

„Meine Herren, bitte!“, sagte der Bürgermeister in beschwichtigendem Ton. „So kommen wir doch nicht weiter. Die Frage ist vielmehr, was unternehmen wir jetzt? Soweit es mich betrifft, ist mir völlig klar, warum Sam Beaumont zurückgekommen ist.“

„Ja, um uns zu ruinieren“, erwiderte Ben und wurde rot. „Und Annie auch.“

Rolly seufzte. „Die Frage ist nur … überlassen wir ihm Annie, oder tun wir das einzig Ehrenhafte und retten sie wieder vor ihm?“

Bürgermeister Pike senkte den Kopf. „Ja, das ist die Kernfrage. Wir leben hier auf einer kleinen Insel und … Jungs, ich muss es doch nicht buchstabieren, oder? Hier ist es nicht wie anderswo. Der gute Ruf zählt alles.“

Ben Drake nickte. „Die Delacortes waren immer hoch angesehen. Ganz besonders Annie Delacorte: Sie hat die weißeste Weste von allen Inselbewohnern.“

„Nicht mehr lang, wenn Sam Beaumont hier länger rumhängt“, bemerkte Rolly. „Der stammt doch von Piraten ab, und das merkt man ihm auch an.“

Einen Moment lang schwiegen die drei Männer. Dann richtete der Bürgermeister sich kerzengerade auf und machte eine gewichtige Miene. „Soweit ich es sehe, haben wir keine Wahl, egal, wie die Folgen sind. Annie ist nicht nur unsere Volksschullehrerin und das leuchtende Vorbild für alle Unschuldigen in unserer Gemeinde, nein, meine Herren, sie hat sich auch vor nunmehr sieben Jahren an uns um Hilfe gewandt, und wir sind ehrenhalber verpflichtet, Annie Delacorte auch diesmal beizustehen. Es ist unsere Aufgabe, ihren Ruf zu wahren und zu schützen.“

Der Sheriff nickte niedergeschlagen. „Ja, uns bleibt nicht anderes übrig. Ich wünschte nur, wir wären nicht schon so alt. Es wird allmählich anstrengend, die drei Musketiere zu spielen.“

Ben schloss kurz die Augen. „Und ich wünschte, es würde nicht bedeuten …“

„Unsere Geheimnisse würden ohnehin irgendwann ans Tageslicht kommen“, versuchte Rolly ihn zu trösten. „Da können wir jetzt gleich das Richtige tun.“

„Wir sind uns also einig?“, fragte Bürgermeister Pike. „Alle für einen?“

„Und einer für alle“, erwiderte die beiden anderen wie aus einem Mund.

1. KAPITEL

Annie Delacorte schob den Einkaufswagen durch Drakes Supermarkt, der für einen Mittwoch ungewöhnlich gut besucht war. Überall standen Kunden beisammen, die sich angeregt unterhielten – und ihr seltsame Blicke zuwarfen. Das munterte sie enorm auf. Vielleicht hatte sie ja endlich etwas getan, was ihre Mitbürger schockierte, und genau darauf legte sie es schon seit geraumer Zeit an.

Allerdings wollte sie ihren guten Ruf nicht völlig zerstören. Oh nein! Sie wollte ihn lediglich ein bisschen „ankratzen“, zum Beispiel indem sie sich eine purpurrote Strähne ins blonde Haar gefärbt hatte. Vielleicht würden die anderen dann nicht völlig entsetzt sein, wenn sie eines Tags ihr Geheimnis entdeckten. Nein, dann konnten sie beispielsweise sagen: „Für eine wohlerzogene Delacorte hat sie sich schon immer reichlich seltsam benommen, aber das erklärt alles.“

Rosie Hinkle und ihre Freundinnen, allgemein als der „Gluckenclub“ bekannt, unterhielten sich leise beim Gemüseregal, und unauffällig schob Annie den Wagen näher. Bei den zu einer Pyramide aufgeschichteten Grapefruits blieb sie stehen, aber keineswegs um zu lauschen. Oh nein, Sankt Annie würde so etwas niemals tun! Sie verzog selbstironisch die Lippen. Wenn die anderen nur wüssten!

„… zurück. Mein Bertie hat es mit eigenen Augen gesehen“, sagte Rosie Hinkle gerade. „Und Sheriff Rawling hat es bestätigt.“

„Das gibt’s doch nicht! Nach all den Jahren“, meinte eine der anderen Frauen. „Der Junge hat echt Nerven.“

Welcher Junge? fragte Annie sich. Einer ihrer Schüler? Wenn sie doch nur einige Minuten früher gekommen wäre, wüsste sie es jetzt. Sie seufzte frustriert.

„Er ist zurück, ich schwör’s! Mein Bertie lügt nicht“, bekräftigte Rosie.

„Jedenfalls nicht mehr seit seinem elften Lebensjahr“, bestätigte eine ihrer Freundinnen. „Seit der Sheriff ihm damals ins Gewissen geredet hat, benimmt dein Sohn sich tadellos. Also, wenn Bertie es sagt, ist wohl etwas dran.“

Verflixt, wer war zurück? Annie nahm eine Grapefruit und betrachtete sie genauer – obwohl ja eine wie die andere aussah.

„Und was will er hier?“

Rosie Hinkle blickte verstohlen nach rechts und links, bevor sie antwortete: „Ich sage es euch, aber ihr müsst versprechen, es keinem Menschen zu verraten.“ Die anderen nickten eifrig. „Mein Bertie hat es direkt vom Sheriff, und der hat es von Ihr-wisst-schon-wem. Dieser Mann hat weniger Scham im Leib als der Teufel persönlich.“

Es gab eine bedeutungsschwere Gesprächspause, und Annie rückte vorsichtig noch näher an den „Gluckenclub“ heran.

„Sam Beaumont ist zurückgekommen, um sich zu rächen. Er hat Rolly, Ben und dem Bürgermeister gestanden, dass er Annie zu ruinieren beabsichtigt, weil sie ihm damals den Laufpass gegeben hat. Könnt ihr euch das vorstellen? Es wäre das erste Mal, dass eine Delacorte in schlechten Ruf gerät – und noch dazu wegen eines Beaumonts.“

Überrascht fuhr Annie zusammen und stieß dabei gegen die Früchte. Die Pyramide begann gefährlich zu schwanken, eine Grapefruit fiel herunter, und dann stürzte das ganze kunstvolle Gebilde in sich zusammen. Die Pampelmusen rollten in alle Richtungen davon. Annie blieb wie erstarrt stehen, während alle Anwesenden sie anblickten.

„Ach, du liebes bisschen“, sagte Rosie Hinkle. „Annie, meine Liebe, ich wollte nicht, dass du hörst, was …“

Gelassen bahnte Annie sich einen Weg durch das herumliegende Obst und rief in ihrem besten Lehrerinnenton nach dem Ladengehilfen. „Hier am Obstregal wird ein Aufräumer benötigt, Tommy! Guten Tag, meine Damen.“ Sie nickte den Frauen freundlich zu und eilte an ihnen vorbei zum Ausgang.

Bevor sie jedoch aus dem Laden flüchten konnte, setzte Ben Drake ihr nach. „Miss Annie, warten Sie! Ich muss unbedingt sofort mit Ihnen sprechen.“

„Ich habe schon gehört, dass Sam Beaumont wieder in der Stadt ist“, erwiderte sie ausweichend. „Keine Sorge, Ben. Egal, was manche denken, er ist nicht hinter mir her.“ Sie bedachte die „Glucken“ mit einem einschüchternden Blick, der allerdings nicht besonders Furcht einflößend ausfiel, da sie klein, zierlich und – nach Meinung ihrer Erstklässler – so hübsch wie eine Prinzessin aus einem Disneyfilm war.

„Wir sollten das woanders besprechen“, sagte Ben beharrlich. „Es gibt einige Dinge, die Sie nicht wissen.“

Trotzdem wollte sie nicht über Sam sprechen, sondern möglichst schnell den Laden verlassen, solange sie noch ihre freudige Erregung verbergen konnte.

„Nein, ich muss dringend los“, sagte Annie. „Tante Myrtle wartet schon auf mich.“

„Miss Annie!“

Sie winkte nur und eilte aus dem Geschäft. Auf dem Parkplatz lief sie zu ihrem Motorrad, stieg auf und startete den Motor. Dann ordnete sie ihren Rock um die Knie und setzte den Sturzhelm auf die blonden Locken, denn allzu verwegen wollte sie sich nicht aufführen. Schließlich fuhr sie los.

Und was mache ich jetzt? fragte Annie sich. Sam war zurückgekommen, um mit denen abzurechnen, die ihn sieben Jahre zuvor von hier vertrieben hatten – und sie war damals die Hauptschuldige gewesen.

Auf der Hauptstraße beschleunigte sie weit über die Höchstgeschwindigkeit hinaus, und das lange Haar wehte ihr ums Gesicht. Im Ort fuhr sie an Rosie Hinkles Sohn Bertie vorbei, der Hilfssheriff und ihr Schwager war. Er winkte grüßend, und sie winkte unwillkürlich zurück, ohne das Tempo zu verlangsamen. Bertie würde ihr, wie sie aus Erfahrung wusste, keinen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens verpassen, vielmehr hätte er über ein solches Ansinnen schallend gelacht. In den Augen der Einheimischen konnte Sam Beaumont nichts richtig machen und sie, Annie Delacorte, nichts Falsches tun – egal, wie sehr sie es versuchte.

Sie bog in eine unbefestigte Zufahrt ein und wich gekonnt den Schlaglöchern aus, außerdem einer Schlange, einem erbosten Eichhörnchen sowie zwei balzenden Tauben. Vor dem Haus hielt sie an und bockte das Motorrad auf. Den Helm warf sie einfach auf den Boden, dann lief sie die ausgetretenen Stufen zur Veranda hoch, weil sie es zu eilig hatte, um wie üblich zur Hintertür zu gehen.

„Er ist wieder da“, rief Annie, sobald sie im Haus war. „Die Nachricht hat sich in der Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet. Und rate mal, was das dumme Huhn Rosie Hinkle behauptet, weshalb er zurückgekommen sei.“ Sie lief in die Küche.

„Er möchte sein Motorrad zurückhaben.“

Annie blieb unvermittelt stehen. Verdammt. Das hätte sie sich denken können!

Nicht Myrtle saß am Küchentisch und trank Tee, sondern Sam. „Interessant, dass meine Maschine in deinen Besitz gelangt ist. Wenn ich nächstes Mal von der Insel vertrieben werde, bestehe ich darauf, dass man mir das Motorrad mitgibt.“

„Ich werd’s mir notieren“, erwiderte Annie unüberlegt.

Seine Augen glitzerten warnend. „Ja, tu das.“

Sam trug ein schwarzes T-Shirt, das sich eng an seine ausgeprägten Muskeln schmiegte, schwarze Jeans, die seine athletischen Schenkel bestens zur Geltung brachten, und schwarze Stiefel. Er sah umwerfend männlich aus – und wie ein Pirat. Das schwarze lockige Haar fiel ihm widerspenstig in die Stirn, und die schwarzen Brauen betonten die dunklen Augen, die so verrucht blicken konnten.

Lieber Himmel, ich habe ihn schrecklich vermisst, dachte Annie und sah sich unbehaglich um. „Wo ist denn Tante Myrtle?“

„Oben. Sie telefoniert. Es geht, wenn mich nicht alles täuscht, um mich“, antwortete Sam und stand auf. „Und was machen ausgerechnet Sie hier, Miss Delacorte?“, erkundigte er sich spöttisch.

„Hat Myrtle es nicht erwähnt? Ich lebe jetzt hier“, erwiderte sie möglichst beiläufig.

„Seit wann?“ Er kam näher.

Wie gebannt blickte sie ihn an. „Kurz nachdem du die Insel verlassen hattest, bin ich eingezogen. Myrtle wünschte sich eine Mitbewohnerin, und ich wollte von zu Hause weg.“

„Es wundert mich, dass dein Vater dich auch nur auf Rufweite an ein Mitglied der Familie Beaumont herangelassen hat.“

„Jetzt übertreib mal nicht“, erwiderte Annie pikiert. „Dad hatte nicht gegen alle Beaumonts etwas.“

„Nein, nur gegen mich“, bestätigte Sam trocken. „Du hast, nebenbei bemerkt, meine Frage noch nicht beantwortet: Was machst du hier?“

Offensichtlich wollte er das Thema nicht fallen lassen. Sam konnte ja so hartnäckig sein! Sie bezweifelte, dass irgendjemand willens – oder fähig – war, ihn zu etwas zu zwingen, was er nicht wollte. „Wie schon gesagt, ich wohne hier. Übrigens hatte ich Dad deswegen nicht um Erlaubnis gebeten, sondern bin einfach zu Myrtle übergesiedelt.“

„Ausgerechnet du hast dich deinem Vater widersetzt, Annie?“

War ich damals wirklich so nachgiebig und schwach? fragte sie sich. „Du brauchst nicht so ungläubig zu klingen. Hier bin ich, und hier bleibe ich!“

Zu ihrer Erleichterung gab Sam sich mit der Antwort zufrieden. „Was ist denn aus eurem Haus geworden?“, erkundigte er sich.

„Pansy und Bertie leben jetzt dort. Sie haben geheiratet und sind kurz nach Dads Tod ins Haus gezogen.“

Er zog eine Braue hoch. „Und warum lebst du nicht in dem Haus, das du von deiner Großmutter geerbt hast, statt dich Myrtle aufzudrängen?“

„Ich dränge mich nicht auf.“ Annie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Und das Haus am Strand … das habe ich verkauft.“

„Verkauft?“, wiederholte Sam erstaunt. „Warum?“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Weißt du was? Ich muss deine Fragen nicht beantworten. Ich muss überhaupt niemands Fragen beantworten. Es war nur ein Haus, und jetzt gehört es jemand anders.“

„Du hast es also verhökert und bist du zu meiner Tante Myrtle gezogen“, fasste er zusammen.

„Sie ist gar nicht deine richtige Tante, sondern nur ganz entfernt mit dir verwandt“, stellte Annie klar. „Du hast nicht das alleinige Anrecht auf sie. Myrtle gehört hier zu uns allen.“

„Aber mich hat sie bei sich aufgenommen, als ich zehn Jahre alt war, und sich seither um mich wie um einen Sohn gekümmert“, erwiderte Sam ungehalten. „Das gibt mir das größte Anrecht auf sie.“

„Nein, das hast du verloren, als du von hier verschwunden bist.“

Sein sarkastisches Lachen verursachte ihr eine Gänsehaut. „Ich bin nicht verschwunden, sondern wurde, wie du dich vielleicht erinnerst, gewaltsam von der Insel vertrieben.“

Am liebsten hätte sich Annie umgedreht und wäre geflüchtet, aber sie hatte im Umgang mit Sam vor allem eins gelernt: Sie musste ihm die Stirn bieten.

„Ich habe gar nichts vergessen“, erwiderte sie bedeutungsvoll.

„Mir geht es genauso.“ Unvermittelt nahm er sie in die Arme. „Willst du mich nicht endlich willkommen heißen, Annie?“

Vergeblich versuchte sie, ihn wegzuschieben. „Abgesehen von Tante Myrtle bin ich bestimmt die Einzige, die das tun wird“, informierte sie ihn kurz angebunden.

„Dieses Willkommen lässt noch ein bisschen zu wünschen übrig. Versuch es noch mal.“

Er ließ ihr keine Zeit, sich etwas Unverfängliches wie beispielsweise eine freundschaftliche Umarmung auszudenken, sondern presste sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich wie noch niemals zuvor.

Überwältigt erwiderte sie den Kuss. Heiße Sehnsucht durchflutete sie, eine Sehnsucht, die Sam vor Jahren in ihr geweckt, aber nie gestillt hatte. Ja, ich begehre und liebe ihn noch immer, dachte Annie. Dass er ebenso erregt war wie sie, war ihr bewusst, aber was wollte er wirklich von ihr? Schon immer war er undurchschaubar gewesen.

Irgendwann würde sie es herausfinden müssen, jetzt aber war es ihr gleichgültig. Sams Kuss weckte bittersüße Erinnerungen und zugleich brennendes Verlangen in ihr, und schweren Herzens gestand sie sich ein, dass sie ihr Glück verspielt hatte, als sie Sam von der Insel vertreiben ließ.

Endlich riss Annie sich zusammen und löste sich aus seinen Armen. Zu ihrer Überraschung und Enttäuschung gab er sie bereitwillig frei.

„Du siehst nicht nur aus wie ein verdammter Pirat, du benimmst dich auch wie einer“, warf sie ihm heftig vor.

Sam lächelte breit. „Eine Lehrerin sollte nicht fluchen.“

„Du hast schon immer meine schlechtesten Seiten zum Vorschein gebracht“, beklagte sie sich.

„Tatsächlich?“ Der wissende Blick seiner dunklen Augen ließ sie erröten. „Ich würde eher sagen, ich habe immer das Beste, was du zu bieten hattest, aus dir hervorgelockt. Und jetzt frage ich mich, was die Leute meinen würden, wenn sie wüssten, dass du mir ein so überschwängliches Willkommen bereitet hast.“

„Dann sag es ihnen doch. Jedem Einzelnen!“ Sie verschränkte die Arme. „Sie würden es dir ohnehin nicht glauben, was wirklich schade ist.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Stimmt, mir glaubt man hier ja überhaupt nichts.“

Da er sich jetzt offensichtlich in ernsthafter Stimmung befand, war der passende Zeitpunkt gekommen, um einige heikle Fragen zu stellen, die dringend geklärt werden mussten. Annie atmete tief durch. „Warum bist du denn wirklich zurückgekommen, Sam?“

„Weißt du das nicht?“

„Nein, ich weiß nur, welche Beweggründe man dir unterstellt.“

Plötzlich wirkte er kalt und schroff. „Und welche sind das?“

„Ach, die Liste ist fast endlos. Mal sehen …“ Sie zählte es an den Fingern ab. „Erstens, du bist gekommen, um das Motorrad abzuholen. Zweitens, du bist auf der Insel, um Schwierigkeiten zu machen. Drittens, du willst dich an mir rächen, indem du meinen guten Ruf ruinierst. Viertens, du möchtest alte Freunde besuchen und dich um deinen Besitz kümmern.“ Gleichmütig zuckte sie die Schultern. „Die üblichen Gründe eben, warum jemand nach Jahren in seine Heimat zurückkehrt.“

Einen Moment lang glaubte sie, er hätte die Erwähnung seines Racheplans bezüglich ihrer Person überhört, aber sie hätte es besser wissen müssen. Sam zog eine Braue hoch. „Was war doch gleich der dritte Grund?“

Sie setzte eine unschuldige Miene auf. „Alte Freunde besuchen.“

„Nein, das war der vierte.“ Nun wirkte er wieder amüsiert.

„Na ja …“ Annie fuhr mit den Zehenspitzen über den Fußboden, was ein Fehler war. Diese Angewohnheit hatte sie schon als Kind verraten, wenn sie es – selten genug – mit der Wahrheit nicht ganz genau nahm. Und das wusste Sam. „Du bist hier, um Schwierigkeiten zu verursachen?“

Noch immer sah Sam belustigt aus. „Nein, der auch nicht.“

„Ach so.“ Sie räusperte sich. „Meinst du den: Du bist hier, um mich und meinen guten Ruf zu ruinieren?“

„Ins Schwarze getroffen!“

Annie machte eine wegwerfende Geste. „Gerüchte sind oft völlig absurd und übertrieben. Niemand glaubt wirklich, dass du deswegen hier bist.“

„Um dich zu ruinieren?“ Fast genüsslich wiederholte er das Wort. „Ich vermute, diesen Ausdruck verwendet man hier noch immer im altmodischen Sinn von moralischem Ruin und nicht finanziellem, stimmt’s? Wer hat dieses spezielle Gerücht eigentlich aufgebracht?“

„Rosie Hinkle hat es von ihrem Sohn Bertie, und der hat es direkt von Sheriff Rolly.“

„Also aus gut informierter Quelle, richtig?“

„Stimmt es denn?“, fragte Annie unwillkürlich und merkte, dass sie direkt hoffnungsvoll klang.

„Was denkst du?“

Sie hatte bisher keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Bis noch vor einer halben Stunde war Sam nur der Mann gewesen, den sie einmal geliebt hatte und an den sie sich manchmal erinnerte, wenn sie nachts schlaflos dalag und die Gedanken an ihn nicht verdrängen konnte.

„Ich denke Folgendes, Sam: Wir haben unsere Beziehung vor sieben Jahren beendet, und …“

„Alle Achtung, wie gut du die Vergangenheit schönst“, unterbrach Sam sie gespielt bewundernd.

Annie ließ sich nicht ablenken. „… und inzwischen hattest du genug Zeit und Gelegenheit, deinen gekränkten Stolz zu überwinden und dir einen Namen als Börsenmakler zu machen. Wie nennt man dich doch gleich? Den Beaumont-Bullen?“

„Du schweifst vom Thema ab, Annie.“

„Na gut: Ich bin mir sicher, du bist hergekommen, um auf deinem Besitz nach dem Rechten zu sehen.“

„Falsch.“

Am liebsten hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. „Verflixt, Sam, nun sag mir schon, warum du zurückgekommen bist! Und wieso ausgerechnet jetzt?“

„Ich möchte mich um bislang unerledigte Geschäfte kümmern. Ist das so seltsam?“

Unerledigtes? Außer Vergeltung an ihr und den Männern zu üben, die ihn damals vertrieben hatten, gab es nur eins. „Oh nein!“, rief Annie heftig und fühlte sich wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt. „Du kannst sie nicht haben. Sie gehört jetzt zu mir.“

„Worüber redest du?“

„Myrtle natürlich. Du kannst nicht einfach herkommen und sie mir wegnehmen.“

„Ich plane keineswegs, Myrtle von hier fortzuholen“, erwiderte Sam gelassen. „Obwohl ich sie dir jederzeit gern abnehme. Du brauchst es nur zu sagen.“

„Nein! Du bist abgehauen, und ich behalte sie.“

„Abgehauen?“

Oje, da hatte sie sich verplappert. Sie wich vor ihm zurück. „Du weißt schon.“

„Durchaus.“ Seine Stimme klang zornig und feindselig. „Ich weiß, dass du behauptet hattest, mich zu lieben. Ich weiß, du hattest mir versprochen, an deinem achtzehnten Geburtstag mit mir die Insel zu verlassen und mich zu heiraten. Und ich weiß, was dann passierte – am Tag, der eigentlich mein Hochzeitstag hätte werden sollen.“

Seine Worte verursachten ihr Seelenqualen. „Nicht, Sam …“

„Was ist denn, Annie? Ist das zu viel für deine empfindsamen Ohren? Dein Pech! Was glaubst du, was ich damals alles zu erdulden hatte – deinetwegen.“

„Ich habe niemals beabsichtigt, dass …“

Mit einer schroffen Geste brachte er sie zum Schweigen. „Was nicht? Dass die Honoratioren der Stadt mit den Gewehren im Anschlag mein Haus stürmten, durchaus bereit, mir eins auf den Pelz zu brennen? Allerdings haben sie es sich anders überlegt, nachdem ich ihnen meine Einwände gegen diesen Plan klargemacht hatte.“

Annie brauchte einen Moment, um den Sinn des Gesagten richtig zu erfassen. „Du meinst, du hast dich gewehrt? Gegen Männer mit Flinten?“

„Ich habe meine Einwände klargemacht“, wiederholte Sam. „Mit so viel körperlichem Nachdruck, wie man mir gestattete. Jedenfalls genügte es, die Männer von ihren Mordgelüsten abzubringen. Statt mich zu erschießen, haben sie mich bloß gefesselt, auf die Ladefläche eines Lastwagens gestoßen und zum Fährhafen gebracht.“ An seinem Kinn zuckte ein Nerv. „Du hast also einiges verpasst, weil du nicht mit von der Partie warst.“

„Es tut mir leid, Sam …“

„Leid?“, unterbrach er sie leise, aber man merkte ihm an, wie aufgewühlt er war. „Das ist alles? Tut mir leid, Sam, aber ich hatte es mir mit dem Heiraten anders überlegt und war nur zu feige, es dir zu sagen?“

„Ich gebe zu, dass ich feig war. Möchtest du das hören?“ Sie zuckte zusammen, als er heftig einen Stuhl beiseiteschob, der ihm im Weg stand, und unerbittlich auf sie zukam. Sie wich bis zum Küchenschrank zurück.

„Es ist immerhin ein Anfang. Mal sehen, welche Geständnisse ich dir noch entlocken kann, Annie. Du hast mir also aus Feigheit eine Horde Männer auf den Hals gehetzt, statt mit mir zu reden. Aber warum nur? Hattest du Angst vor mir?“

„Nein! Vor dir doch nicht. Ich wollte nur eine Auseinandersetzung vermeiden. Zufrieden?“

„Nicht annähernd.“ Dicht vor ihr blieb Sam stehen. Er atmete stoßweise. „Du hast also Ben Drake, Rolly und Bürgermeister Pike aus den Betten geholt und ihnen lediglich den Auftrag gegeben, mir deinen Sinneswandel mitzuteilen“, fasste er zusammen. „War es so?“

Annie schluckte trocken. „So ähnlich.“

„Lass mich raten: Die Gewehre haben sie nur mitgenommen, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, richtig?“

Nein, ich werde jetzt nicht weinen, sagte Annie sich und blickte starr auf die Wand. Dort hingen zwei Gipsabdrücke von Kinderhänden: Den einen hatte sie im Kindergarten fabriziert, den anderen Sam einige Jahre vor ihr. Man sah, dass er seine Hand mit viel Kraft in die Gipsmasse gedrückt hatte. Ja, schon als Fünfjähriger hatte er sich energisch den Weg durchs Leben gebahnt.

„Annie?“, fragte Sam. „Träumst du?“

Vor sieben Jahren hatte sie davon geträumt, Sam zu heiraten und mit ihm Kinder zu haben, deren Handabdrücke einmal neben denen der Eltern hängen würden – aber dieser Traum würde nun nie mehr in Erfüllung gehen. Schlagartig kam Annie in die Wirklichkeit zurück.

„Was hast du gefragt, Sam?“

„Ob du träumst. So leicht entkommst du meinen Fragen aber nicht“, antwortete er. „Ich habe noch viele, die du mir alle irgendwann beantworten wirst.“

„Welchen Sinn hätte das? Was passiert ist, ist passiert. Es ist vorbei. Darüber zu reden ändert gar nichts.“

„Ich wollte meine Zeit ohnehin nicht ständig mit Reden verschwenden. Du weißt doch, dass ich schon immer ein Mann der Tat war.“

„Ich lasse es nicht zu“, rief sie heftig.

„Was? Dass ich Vergeltung übe?“

„Das auch nicht, aber ich meinte, dass du mir Tante Myrtle wegnimmst.“

„Wie kommst du jetzt auf Myrtle?“

„Weil ich nicht eine Sekunde lang glaube, dass du meinetwegen zurückgekommen bist und dich an mir dafür rächen willst, dass ich dich von der Insel habe verweisen lassen.“

„Verweisen lassen?“, wiederholte er, und sie wusste, sie hatte mal wieder das Falsche gesagt. „Deine Wortwahl ist schon bemerkenswert, mein Schatz. Daran müssen wir noch etwas arbeiten.“

„Kinder, Kinder!“, sagte Myrtle tadelnd von der Tür her. „Ihr streitet doch nicht, oder?“

„Nein“, erwiderte Annie sofort.

Myrtle war sechzig, sah aber älter aus, da das Leben hart mit ihr umgesprungen war. Sie hatte eine schwere Jugend verlebt und mit Mitte dreißig einen schweren Autounfall überstanden, nach dem sie allerdings gehbehindert geblieben war. Trotzdem hatte sie sich ihren Sinn für Humor bewahrt und war so herzensgut, dass sie von jedermann geschätzt und geliebt wurde.

Sie hinkte in die Küche, gestützt auf den Stock mit einem Paradiesvogel als Knauf, den Annie ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. „Ist es nicht eine wunderbare Überraschung, dass Sam zurückgekommen ist, Annie?“

„Ja, ich finde es auch herrlich.“ Das war nicht einmal gelogen, denn Annie hatte ihn zwar damals abgewiesen, aber an ihren Gefühlen für ihn hatte sich nichts geändert.

„Du wirst natürlich bei mir wohnen“, lud Myrtle ihn ein, umarmte ihn fest und küsste ihn auf die Wangen.

Er nickte und führte sie zu einem Stuhl. „Danke, das tue ich gern. Ich möchte auf dem Familiensitz nach dem Rechten sehen und feststellen, wie baufällig das Haus inzwischen ist.“

„Es ist in einem fürchterlichen Zustand“, mischte Annie sich ungefragt ein. „Die Stürme haben ihm ziemlich zugesetzt.“

„Annie geht gelegentlich hinüber und kümmert sich darum, dass wenigstens gelüftet wird und die schlimmsten Schäden repariert werden“, erklärte Myrtle.

Annie zuckte die Schultern. „Ich dachte mir, dass du eines Tags zurückkommen würdest. Außerdem schulde ich dir doch etwas.“

„Und jetzt ist Zahltag.“

„Aber Sam, das klingt ja richtig drohend“, tadelte Myrtle ihn. „Wenn du dauernd so etwas sagst, werden die Leute zu tratschen anfangen.“

„Das ist schon passiert“, informierte Annie sie.

„Sie haben ja auch keine andere Zerstreuung“, erwiderte Myrtle heiter. „Und Sam tut nichts, um die fehlgeleiteten Ansichten über ihn zu entkräften. Das wird sich aber schon noch ändern, wenn er eine Weile hier bleibt.“

„Erwarte nicht zu viel, meine Liebe.“ Er strich ihr über die Wange und lächelte mutwillig. „Über mich hat man schon immer gern geklatscht.“

„Du warst tatsächlich seit jeher ein bisschen ungebärdig“, bestätigte Myrtle und erwiderte sein Lächeln. „Das liegt an deiner Abstammung.“

„Na schön, da ich also sozusagen verpflichtet bin, den Leuten Anlass für Tratsch zu liefern, fange ich am besten sofort damit an.“ Er wandte sich Annie zu. „Ich fahre jetzt zu meinem Besitz. Kommst du mit? Du kannst mir zeigen, was du alles an dem alten Haus hast machen lassen, während ich weg war.“

Sie lächelte ihn herausfordernd an. „Fahren wir mit deinem Motorrad oder meinem?“

„Das ist gehupft wie gesprungen, da beide mir gehören.“ Er runzelte die Stirn. „Dabei fällt mir auf, dass du ganz schön besitzergreifend bist. Du hast dir mein Motorrad angeeignet, dazu meine Tante und mein Haus. Warum eigentlich?“

„Ja, das ist die Frage. Die Antwort darauf musst du selber finden“, mischte Myrtle sich ein, bevor Annie etwas sagen konnte.

„Das werde ich bestimmt.“ Er sah Annie an. „Also, kommst du?“

„Hast du vor, mir zu nahe zu treten, während wir in deinem Haus sind?“, erkundigte sie sich.

„Ich werde mir jedenfalls alle Mühe geben.“

„Aber Sam, ich habe dir doch immer eingeschärft, dass es nicht genügt, guten Willen zu zeigen, sondern dass man ihn auch in die Tat umsetzen muss“, ermahnte Myrtle ihn streng.

Das klingt ja, als wollte sie ihn ermutigen, dachte Annie ungläubig.

Sam lachte leise. „Ich möchte dich um nichts in der Welt enttäuschen, Tante Myrtle.“

„Genau darauf baue ich“, sagte Myrtle halblaut, nachdem Sam mit Annie die Küche verlassen hatte.

2. KAPITEL

Sam fuhr den schmalen Waldweg entlang, der von Myrtles Haus zu seinem Besitz namens „Soundings“ führte. Annie war, ohne zu protestieren, aufs Motorrad gestiegen, hatte Sam die Arme um die Taille gelegt und sich an ihn geschmiegt.

Ganz wie in alten Zeiten, dachte er. Nur dass er es jetzt nicht genoss, wie sie sich an ihn presste, denn es weckte unbändiges Verlangen in ihm.

Was Annie wohl tun würde, wenn er einfach anhielt, sie vom Motorrad hob und sich mit ihr auf den weichen Boden legte? Würde sie mich hingebungsvoll umarmen oder empört schreien? überlegte Sam. Er nahm sich nicht die Zeit, es herauszufinden, sondern gab Gas und fuhr weiter. Nur Besonnenheit würde ihn letztlich ans Ziel bringen und ihn davor bewahren, den Verstand völlig zu verlieren.

Das Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte, stand am Sund, der die Insel vom Festland trennte. Es war umgeben von Marschland und bot einen herrlichen Ausblick auf die Meerenge, der bei Sonnenuntergang noch spektakulärer wurde. Früher hatte er, Sam, oft mit Annie auf der Terrasse gesessen und in den Abendhimmel geblickt – das hieß, falls sie ihrem Vater hatten entwischen können.

„Tut mir leid, dass der Rasen so ungepflegt ist“, entschuldigte Annie sich, während sie vom Motorrad abstiegen. „Ich hätte ihn schon längst mähen lassen sollen.“

Sam ließ sich nicht anmerken, wie stark die erotische Wirkung war, die sie auf ihn ausübte – jetzt sogar noch mehr als damals, und früher war er ein äußerst heißblütiger junger Spund gewesen. Dass er seine Empfindungen noch immer nicht unterdrücken konnte, fand er ausgesprochen grotesk.

„Warum kümmerst du dich überhaupt darum, Annie?“

„Ich bin nun mal dazu erzogen worden, mich auch um die Belange meiner Mitmenschen zu kümmern.“

Diese Feststellung machte ihn ärgerlich. „Richtig. Du bist ja eine Delacorte.“ Er zögerte kurz und fügte hinzu: „Die Mitglieder dieser Familie waren schon immer äußerst selbstherrlich. Allerdings bist du ja jetzt die Letzte, die diesen Namen trägt.“

„Musst du mir immer wieder vorhalten, dass ich eine Delacorte bin?“, erwiderte Annie heftig.

Sam seufzte. „Tut mir leid, ich wusste ja nicht, dass es dich kränkt.“

„Vergiss es. Wir sollten lieber zur Sache kommen, sonst fragt Myrtle sich, was uns so lange aufhält. Wir beide haben ohnehin schon genug Anlass für wilde Spekulationen gegeben, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wies sie auf eine Stelle im Dach an der Nordseite. „Da hat ein Baum beim Umstürzen ein Loch hineingeschlagen.“

Sam überspielte seine Verärgerung und sagte ruhig: „Okay, gehen wir auf den Dachboden, und sehen wir uns den Schaden genauer an.“

„Die Türen und die Fensterrahmen haben sich im Lauf der Jahre alle verzogen“, warnte Annie ihn. „Sie müssen unbedingt repariert werden, was du wahrscheinlich übernehmen kannst, während du hier bist. Natürlich müssen auch Strom und Wasser eingeschaltet werden. Beides braucht vermutlich nur ein, zwei Tage.“

Er erwiderte etwas Unverbindliches, während er die Haustür aufstieß, obwohl ihm klar war, dass Annie indirekt herauszufinden versuchte, wie lange er auf Delacorte Island zu bleiben gedachte. Da er es selbst nicht wusste, war es allerdings etwas schwierig, ihre Wissbegier zu befriedigen.

In der Eingangshalle blieb er kurz stehen, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, dann sah er sich erstaunt um. „Hier sieht es ja sauber und ordentlich aus.“

„Ich raffe mich gelegentlich dazu auf, Staub zu wischen und zu lüften“, erklärte Annie.

„Und was sagen die Leute dazu?“, fragte Sam und sah sie amüsiert an. „Oder erwartet man solche guten Taten von Sankt Annie?“

Sie ballte die Hände zu Fäusten und schob sie rasch in die Rocktaschen, aber er hatte noch gesehen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Er fand es interessant, dass sie auf den durchaus anerkennend gemeinten Beinamen, den die Inselbewohner ihr gegeben hatten, so heftig reagierte.

„Ich kann nichts dafür, was die anderen über mich denken und wie sie mich nennen“, informierte sie ihn. „Jedenfalls komme ich nicht hierher, um ihnen eine Freude zu machen.“

Und weshalb kam sie wirklich in sein Haus? „Wir haben hier gemeinsam schöne Stunden verlebt, Annie. Denkst du manchmal daran, wenn du herkommst?“

Offensichtlich hatte er schon wieder einen wunden Punkt berührt. Sie wandte sich ab und ging energisch zur Treppe. „Also, wir gehen zuerst auf den Speicher, um den Schaden am Dach zu begutachten, richtig?“, fragte Annie und blickte kurz zurück.

Als Sam nickte, stieg sie anmutig die Stufen hinauf. Er folgte ihr und bewunderte dabei ihren schönen, geraden Rücken und die taillenlangen blonden Locken. Ihr wadenlanger Rock schmiegte sich bei jedem Schritt an ihre schlanken Beine, und diesen Anblick fand Sam seltsamerweise erotisch aufreizender, als wenn sie einen so knappen Mini getragen hätte wie die Frauen, mit denen er in New York gelegentlich ausging.

Auf dem Dachboden war es beinah unerträglich heiß und stickig. An einem Ende des Raums waren Bretter von unten angenagelt worden, und das eine winzige Fenster war mit einer Plastikplane verhüllt. Annie eilte zum gegenüberliegenden Giebel und versuchte, das dort befindliche Fenster aufzustoßen, aber es gelang ihr nicht.

Sam ging ebenfalls hin und blieb hinter ihr stehen. Anscheinend fühlte sie sich dadurch bedrängt, denn sie verkrampfte sich sichtlich. „Lass mich mal ran“, sagte er sachlich.

Sie wich so weit wie möglich beiseite, aber das schräge Dach ließ ihr nicht viel Spielraum, weit weniger vermutlich, als ihr lieb gewesen wäre. Sam bemerkte die Schweißperlen auf ihrer Stirn und nahm den zarten Duft ihrer Haut wahr – einen Duft wie von Sommerblumen und einer frischen Meeresbrise. Ja, an dieses Parfüm erinnerte er, Sam, sich noch genau.

Er gab dem Fensterrahmen einen kräftigen Stoß, und es öffnete sich. Feucht-milde Luft strömte in den stickigen Raum. Annie schloss die Augen und zerrte am Oberteil des Kleids, das ihr auf der Haut klebte. Im Gegenlicht war der dünne Stoff so transparent, dass Sam Annies rosige Brustknospen sah. Er konnte den Blick nicht von diesem verführerischen Bild wenden und war sich sicher, diesen Moment sein Leben lang nicht zu vergessen.

Langsam öffnete Annie die Augen wieder, die nun ganz dunkel wirkten – wie von bittersüßen Erinnerungen umschattet. Unwillkürlich öffnete sie leicht die Lippen, ganz so, als sehnte sie sich nach einem Kuss. Sam musste sich zusammenreißen, um sie nicht in die Arme zu nehmen, sie an sich zu pressen und ihr die sinnlichen Freuden zu schenken, nach denen es sie offensichtlich verlangte. So einfach wollte er sie allerdings nicht für sich gewinnen, denn er wünschte sich nicht lediglich erotische Befriedigung, sondern wahre Liebe. Ja, nur mit zugleich körperlicher und seelischer Hingabe würde er sich jemals zufriedengeben.

„Was genau wolltest du mir zeigen, Annie?“, fragte er rau.

Anscheinend wurde ihr plötzlich bewusst, welchen aufreizenden Anblick sie bot, denn sie legte sich die Hände schützend über die Brust.

„Du hast vermutlich jemand bestellt, der das Loch im Dach zugenagelt hat“, fügte Sam hinzu.

Beeindruckend schnell gewann Annie ihre übliche Gelassenheit zurück. „Ja, aber das ist natürlich nur eine provisorische Reparatur.“ Energisch ging sie an ihm vorbei zur anderen Seite des Speichers. „Hörst du mir überhaupt zu, Sam?“

„Ich hänge förmlich an deinen Lippen“, versicherte er ihr ernst.

Zufrieden machte sie eine weit ausholende Geste mit dem Arm. „Dieser Bereich muss wahrscheinlich völlig erneuert werden. Dabei kannst du gleich überprüfen, ob sich Trockenfäule oder Termiten eingenistet haben. Die Eichhörnchen und Fledermäuse habe ich schon vertrieben.“ Annie lachte fröhlich. „Meine Güte, die hatten vielleicht einen Saustall hinterlassen!“

Ihr Lachen war ansteckend. „Das kann ich mir vorstellen.“ Während er den Schaden am Dach genauer inspizierte, achtete er darauf, Annie nicht mehr zu nahe zu kommen. Sie zu verärgern gehörte nicht zu seinem Plan. „Danke, dass du dich so sorgfältig um alles gekümmert hast, mein Schatz“, sagte Sam schließlich.

„Hier oben sind die schlimmsten Schäden angerichtet worden“, erklärte sie ungerührt weiter. „Die Küche ist einmal bei Hochwasser überflutet worden, deshalb habe ich das Linoleum entfernt, damit sich kein Schimmel darunter bildet.“

„Sollte ich die Bodenbretter trotzdem ersetzen?“

„Die haben sich jedenfalls ziemlich verzogen“, gab sie zu. „Allerdings könntest du behaupten, das würde dem Haus einen besonderen Charakter verleihen – falls du dir die Reparaturkosten ersparen möchtest.“

„Das ist ein wirklich raffinierter Vorschlag. Dürfte ich auch sagen, von wem er stammt?“

„Meinetwegen“, erlaubte sie ihm großzügig. „Das wird die Leute sicher überzeugen.“

„Weil Sankt Annie es geäußert hat?“

Sie lächelte zögernd. „Ja, mein Wort zählt, und das ist manchmal ganz nützlich.“

Aber nicht immer, hörte er zwischen den Zeilen heraus. Annie zerrte wieder an ihrem Ausschnitt und fächelte sich Luft zu.

„Lass uns jetzt wieder nach unten gehen“, schlug Sam vor. „Du vergehst ja sonst noch vor Hitze.“

Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, kletterten sie vorsichtig die steile Bodentreppe hinunter. Im Flur des ersten Stocks blieb Annie stehen. „Mir ist gerade eingefallen, dass du hier noch etwas sehen solltest.“ Sie betrat das Zimmer, das direkt unter dem kaputten Teil des Dachs lag. Große Brocken Verputz waren von der Decke gefallen, und die Tapete hatte sich in langen Streifen von der Wand gelöst. „Darum muss man sich auch möglichst bald kümmern.“

Sie ging zum Fenster und öffnete es ohne Schwierigkeiten. Eine frische Brise strömte ins Zimmer, und Annie setzte sich, erfreut seufzend, aufs breite Fensterbrett.

„Diese Aussicht habe ich schon immer besonders gemocht.“

Früher hatte Sam sich oft ausgemalt, er und Annie würden hier ihr Leben gemeinsam verbringen, doch dieser Traum war ja vor sieben Jahren unvermittelt zunichtegeworden.

„Wahrscheinlich hättest du sie noch mehr genossen, wenn nicht immer die Gefahr bestanden hätte, dass dein Vater dir hierher nachkommt und dich gewaltsam nach Haus zurückbringt“, meinte Sam nachdenklich. „Er hatte ‚Soundings‘ doch förmlich zu einem Tabu erklärt.“

Ihre Augen glitzerten schalkhaft. „Richtig, und das hat mich erst recht dazu angespornt, hier bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erscheinen.“

Sam biss kurz die Zähne zusammen. „Ich hätte dir das nicht erlauben sollen. Du warst wirklich viel zu jung.“

„Und bei dir in sicheren Händen.“ Bestürzt sah sie ihn an, als ihr klar wurde, dass sie wieder einmal das Falsche gesagt hatte.

Ein heftiger Luftzug durchfuhr plötzlich das Zimmer und warf krachend die Tür zu. Einen Moment lang rührten sie beide sich nicht. Dann stand Annie auf, eilte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen.

„Das darf doch nicht wahr sein“, sagte Annie halblaut.

Seufzend ging Sam zu ihr. „Was stimmt denn nicht?“

Sie rüttelte an der Klinke. „Die Tür geht nicht auf.“

„Wahrscheinlich klemmt sie wie alle Fenster und Türen in diesem Haus. Lass es mich mal versuchen.“

„Nein, ich schaffe das schon.“ Heftig zog sie an der Klinke und verharrte plötzlich in der Bewegung. „Verflixt und zugenäht!“

„Was ist?“

Langsam wandte Annie sich ihm zu und hielt ihm die Klinke hin. „Ich fürchte, ich habe sie kaputtgemacht.“

„Und ich fürchte, du hast recht.“ Er nahm ihr den Griff ab und begutachtete den Schaden. Wenn ich ganz vorsichtig bin, kann ich die beiden Teile vielleicht wieder zusammenstecken, ohne dass das Gegenstück draußen herunterfällt, überlegte Sam. Also vorsichtig, ganz behutsam … Ein dumpfer Laut erklang im Flur.

„Was ist? Kannst du die Klinke nicht reparieren, Sam?“ Annie klang besorgt. „Du bist doch sehr geschickt in solchen Sachen, oder?“

„Ich bin genial, wenn es um Aktien geht, und brauchbar für einfache Reparaturen, aber es ist mir absolut unmöglich, durch ein zwei Zentimeter großes Loch in der Tür zu fassen und eine Klinke aufzuheben, die auf der anderen Seite heruntergefallen ist.“

„Kannst du die Tür nicht aufbrechen?“ Annie klang verzweifelt.

„Nur falls sie halb morsch ist.“ Er untersuchte das Holz. „Und diese hier ist es nicht.“

„Und was machen wir jetzt, Sam?“

„Ich jedenfalls mache es mir bequem, bis die Rettungsmannschaften eintreffen.“

Sam setzte sich, den Rücken ans Kopfteil gelehnt und die Beine ausgestreckt, aufs Bett – das einzige Möbelstück außer einem ziemlich wackeligen Stuhl.

Annie blieb zuerst an der Tür, blickte durchs Loch, schlug gegen das Holz und erkannte schließlich, wie vergeblich ihre Bemühungen waren. Sie ging zum Stuhl und setzte sich vorsichtig.

Enttäuscht stellte Sam fest, dass der Stuhl nicht zusammenbrach. Andernfalls hätte er sie vielleicht überreden können, zu ihm aufs Bett zu kommen.

„Was glaubst du, wie lange es dauert, bis jemand uns hier sucht, Sam?“

„Das hängt von Tante Myrtle ab. Wann wird sie sich, deiner Meinung nach, Sorgen um uns machen?“

„Erst in einigen Tagen.“

Er lachte, weil sie so verzweifelt klang. „In dem Fall haben wir Zeit genug, das Bett zu teilen.“

Die scherzhafte Bemerkung verstörte sie zutiefst. Sie eilte wieder zur Tür und versuchte erneut, diese zu öffnen.

„Beruhige dich, Annie. Ich habe nur Spaß gemacht. Lass uns einfach ein bisschen plaudern.“

„Worüber?“, fragte sie befangen.

„Erzähl mir von deinen Schwestern. Pansy hat also Bertie Hinkle geheiratet?“

Die Frage beruhigte Annie. Sie setzte sich wieder hin, die Hände im Schoß gefaltet. „Myrtle hat dich wahrscheinlich über alle hier auf dem Laufenden gehalten, stimmt’s?“

„Offen gesagt: Wir vermeiden tunlichst die Erwähnung der Delacortes.“

Sie fuhr zusammen. „Natürlich … Also, Pansy hat Bertie in dem Jahr geheiratet, als Dad starb.“

„Das war kurz nachdem ich die Insel verlassen hatte, oder? Ging Pansy da nicht noch zur High School?“

„Sie hat am Tag nach ihrem Abschluss geheiratet. An ihrem achtzehnten Geburtstag.“ Ihre Lippen bebten leicht.

Oder habe ich mir das nur eingebildet? fragte Sam sich, als er Annie anblickte, die nun den Kopf gehoben hatte und völlig ungerührt wirkte.

„Sie haben einen kleinen Jungen, der in zwei Jahren in meine Klasse kommt. Das wird ein Vergnügen“, meinte sie ironisch. „Er wird wahrscheinlich mal genauso ein Raufbold wie sein Vater. Pansy ist übrigens wieder schwanger.“

„Und was macht Trish?“

„Sie lebt mit ihrem Mann, den sie während des Studiums kennengelernt hat, in Raleigh. Sie ist auch Lehrerin.“ Annie lächelte strahlend. „Und sie erwartet ebenfalls ein Baby. Es soll im Dezember auf die Welt kommen.“

„Du bist also tatsächlich die Letzte der Delacortes“, bemerkte Sam.

„Pansy und Trish sind nach wie vor Delacortes und werden es immer bleiben“, erwiderte sie heftig.

„Aber ihre Kinder nicht.“

„Meine auch nicht.“ Da waren sie wieder bei einem Tabuthema angelangt. Annie stand rasch auf. „Das ist doch absurd! Irgendwie müssen wir es schaffen, hier herauszukommen.“

„Erträgst du es nicht, mit mir allein zu sein?“

Sie war offensichtlich bestürzt, gab aber noch immer nicht klein bei. „Niemand wird es wissen, außer du verrätst es. Und sogar dann wird dir vermutlich niemand glauben.“

Sam lachte laut. „Du giltst also noch immer als das tugendhafteste Geschöpf der Stadt, die Frau ohne jeden Makel, kurz gesagt: Sankt Annie?“

Bedrückt sah sie ihn an. „Die Leute werden ihre Meinung schon noch ändern.“

„Wieso das?“

Annie zuckte die Schultern und wandte den Kopf zur Seite. Ihr klares, feines Profil war, wie Sam fand, wirklich bezaubernd. „Irgendwann werden sie feststellen, dass ich wie jeder Mensch fehlerhaft bin.“

„Und inzwischen tust du alles, um sie vorzuwarnen?“

„So ähnlich“, gab sie zu.

Was, zur Hölle, steckt hinter all dem? fragte Sam sich. Irgendetwas machte Annie sichtlich schwer zu schaffen, aber was? Und warum? Myrtle hatte ihm mitgeteilt, dass Annie sich schon seit einiger Zeit seltsam aufführe, und nun fand er es bestätigt. Er stand auf und ging zu ihr. „Du bist also felsenfest entschlossen, Aufsehen zu erregen, indem du beispielsweise mit meinem Motorrad durch den Ort rast. Und was sagen die ehrbaren Bürger der Stadt dazu?“

„Ist es nicht nett von ihr, das alte Motorrad des bösen Beaumont in Gang zu halten?“, sagte sie und ahmte den Tonfall der anderen genau nach.

Sam berührte die purpurrot gefärbte Haarsträhne. „Und dazu?“

„Seht mal, wie gut das ihre Augenfarbe zur Geltung bringt.“

Er nickte. „Sie haben völlig recht.“

„Fang du nicht auch noch an!“ Annie ging ruhelos hin und her. „Rate mal, was der Schuldirektor gesagt hat.“

„Gehen Sie nach Hause, und waschen Sie sich den Traubensaft aus dem Haar?“

„Nein. Er fragte, ob ich nicht Lust hätte, einen Tag lang mit den Kindern Friseur zu spielen und ihnen allen die Haare bunt zu färben.“

„Und was hast du daraufhin getan?“

Verlegen spielte sie mit den Knöpfen ihres Kleids, und Sam dachte schon, sie würde nicht antworten. Schließlich flüsterte sie: „Mir den Bauchnabel piercen lassen.“

Sam lachte unwillkürlich. „Das muss wehgetan haben.“

„Tatsächlich bin ich in Ohnmacht gefallen, bevor der Ring drin war. Deshalb habe ich jetzt eine Narbe am Nabel statt eines Rings.“

Er versuchte, mitfühlend auszusehen, konnte aber ein breites Lächeln nicht unterdrücken. „Und daraufhin hast du das Schild vor Tante Myrtles Haus aufgestellt, das verkündet: ‚Hier wohnt die letzte Jungfrau über achtzehn‘?“

„Man sagt nicht mehr ‚Jungfrau‘, weil das nach Ansicht der Damen vom ‚Gluckenclub‘ vulgär klingt. Rolly hat die Aufschrift übermalt und ‚eine unbescholtene junge Frau‘ daraus gemacht, dann haben die Glucken es nochmals geändert zu: ‚eine der letzten Unschuldigen über achtzehn‘. Wahrscheinlich glauben sie irrigerweise, ihre Töchter wären noch …“

„Warum hast du dich genötigt gefühlt, deine Un…bescholtenheit öffentlich bekannt zu geben?“

„Mein guter Ruf liegt jedem dermaßen am Herzen, dass ich sie in dem Punkt wenigstens beruhigen wollte.“ Das klang rätselhaft, aber bevor er nachhaken konnte, fügte sie hinzu: „Natürlich wäre ich nicht in dieser Klemme, wenn ich mich vor sieben Jahren von dir hätte verführen lassen.“

„Ich bin gern bereit, das Versehen zu korrigieren.“

„Das hat man mir gesagt, Sam. Trotzdem: nein, danke!“

„Du kannst versuchen, mich abzuhalten, aber es wird dir nicht gelingen.“ Mit dem leidenschaftlichen Kuss zur Begrüßung hatte sie unwissentlich ihr Schicksal besiegelt. Seither hatte er keine Bedenken mehr zu versuchen, sie zu verführen.

Misstrauisch sah Annie ihn an. „Was willst du damit genau sagen?“

Er machte es sich wieder auf dem Bett bequem. „Dass ich beabsichtige, mit dir zu schlafen, bevor ich die Stadt verlasse.“

„Hör auf, ständig Witze zu machen. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür oder der richtige Ort.“

„Oh doch! Wir haben alles, was wir brauchen: Wir sind allein, werden mindestens zwei Stunden lang nicht gestört werden – und wir haben ein Bett zur Verfügung.“

„Das kannst du nicht ernst meinen, Sam!“

Anscheinend lag ihr doch nicht so viel daran, ihren guten Ruf zu verlieren. Sam sah sie nachdenklich an. „War es nicht der Sinn und Zweck deiner Possen, das Bild, das sich die Leute von dir machen, infrage zu stellen? Ich schlage ja nur vor, dass du endlich ernst damit machst.“

„Es gibt Grenzen …“

„Aber Schatz, ich biete dir die perfekte Lösung für dein Problem an. Wenn du wirklich möchtest, dass die Leute dich anders behandeln, verbring die Nacht in meinen Armen. Dann kannst du das Schild vor deinem Haus abmontieren, mir mein Motorrad zurückgeben, dir die Farbe aus dem Haar waschen und glücklich als entehrte Frau leben.“

Sie hob das Kinn und ging zum Fenster. „Nein, danke!“

Wie höflich und wohlerzogen sie doch war, eben eine richtige Delacorte! „Sind die Retter schon in Sicht, Annie?“

„Nein.“ Sie straffte die Schultern. „Außerdem brauche ich keine Retter. Ich kann mir selbst helfen.“

Blitzschnell stand er vom Bett auf. „Geh vom Fenster weg!“

„Keine unnötige Aufregung, Sam! Früher bin ich ständig auf Bäume geklettert.“

„Du bist ständig von Bäumen gefallen! Und der vor dem Fenster hat so dünne Äste, dass sogar ein Eichhörnchen abstürzen würde.“

Sie lehnte sich hinaus und packte einen Ast. „Unsinn, sie werden mich tragen.“

„Nein.“ Ohne weitere Diskussion umfasste er sie, als sie eine Handvoll bleistiftdünner Zweige ergriff. „Lass los, damit ich dich reinziehen kann.“

„Nein, lass du mich los.“

„Dann fällst du.“

„Tue ich nicht. Vielmehr klettere ich nach unten, dann komme ich zurück und mach die Zimmertür von außen auf.“

„Ich lass dich nicht los, Annie.“

„Sam Beaumont, ich warne dich zum letzten Mal: Nimm deine Hände weg, oder ich trete dich an einer Stelle, wo es sehr wehtut.“

„Schreien ändert auch nichts, Schatz.“

„Vielleicht nicht, aber ich fühle mich dabei … Oje. Lass lieber los, weil …“

Jetzt hörte er es auch: wütendes Rufen, dann ein Krachen, als die Haustür gegen die Wand geschmettert wurde. Offensichtlich waren die Retter eingetroffen – und zogen völlig falsche Schlüsse aus dem Geschehen. Kein Wunder, wenn Annie schreiend halb aus dem Fenster hängt und scheinbar von mir bedrängt wird, dachte Sam.

Die Schritte mehrerer Menschen erklangen auf der Treppe. Offensichtlich war die Bürgerwehr im Anmarsch, um Annie notfalls gewaltsam zu befreien.

Sie räusperte sich. „Du kannst mich jetzt reinholen.“

„Ich vermute, wir werden jeden Augenblick gerettet?“

„Einer von uns beiden jedenfalls.“ Sie sah ihn kurz an. „Und sie scheinen nicht sehr glücklich darüber zu sein.“

Sekunden später hämmerte jemand an die Tür. „Sofort aufmachen!“, rief Sheriff Rawling.

Sam zog Annie durchs Fenster. „Das ist leichter gesagt als getan, Sheriff.“

Dann hörte man Ben Drake. „Wo ist die Klinke? Was hat er mit der Tür angestellt?“

„Ich warne Sie, Beaumont!“ Das war wieder Rolly. „Entweder Sie öffnen und geben das Mädchen frei, oder ich verhafte Sie wegen … wegen …“

„Wegen Küssens der Lehrerin?“, beendete Sam den Satz.

„Wunderbar“, bemerkte Annie halblaut. „Das musstest du ja unbedingt sagen.“

„Es ist die Wahrheit, oder?“

„Hier hast du mich nicht geküsst, sondern vorhin bei Tante Myrtle.“

„Ach ja. Dann muss ich das richtigstellen. Sonst wirft man mir vor, ich würde mich nicht nur an jungen Frauen vergreifen, sondern auch noch lügen.“

„Du hast dich nicht an mir vergriffen.“

„Habt ihr das gehört?“, brüllte Rolly draußen. „Er hat sich an ihr vergriffen. Geht beiseite, Freunde! Ich werde den Mistkerl erschießen.“

3. KAPITEL

Annie blickte starr auf die Tür. „Hat er wirklich gedroht … Sheriff Rawling! Sie wollen doch nicht wirklich schießen?“

Sam war offensichtlich anderer Meinung. Er riss Annie von der Tür weg. „Machen Sie keine Dummheiten, Sheriff.“

„Dummheiten? Sie zu erschießen wäre die klügste Tat meines Lebens. Hab ich recht, Freunde?“

„Rolly, du kannst doch nicht einfach auf Leute ballern“, versuchte Ben ihn zu beschwichtigen.

„Du könntest Annie treffen“, warnte Mr. Pike.

„Hören Sie auf den Bürgermeister“, warf Sam in die Diskussion ein. „Es könnte tatsächlich jemand verletzt werden.“

„Genau darauf zähle ich.“ Rolly lachte.

Annie versuchte, sich von Sam zu befreien, aber er ließ sie nicht los, deshalb gab sie nach. „Bürgermeister Pike? Sind Sie auch da?“

„Darauf kannst du wetten, Annie.“ Mr. Pike war hörbar außer Atem. „Puh, ist das heiß heute. Ich dachte schon, die vielen Stufen bringen mich um.“

Annie seufzte entnervt. „Würde jetzt bitte jemand endlich die Tür öffnen? Der Griff ist heruntergefallen, deshalb sitzen wir hier fest.“

„Wie hat Sam denn das bewerkstelligt?“, wollte der Sheriff wissen.

„Er hat gar nichts gemacht. Ich war’s – vielmehr ein Windstoß, der die Tür zugeworfen hat. Helfen Sie mir doch, sie zu öffnen.“

Draußen wurde geflüstert, dann meldete Ben sich. „Miss Annie, wenn Sie den einen Teil des Griffs durchs Loch schieben, versuchen wir, die andere Hälfte dranzustecken. Falls das nicht klappt, muss ich Werkzeug aus meinem Wagen holen.“ Er räusperte sich. „Das könnte allerdings etwas dauern.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagte Sam und zwinkerte Annie zu. „Wir können uns durchaus angenehm beschäftigen.“

„Lass das!“, befahl sie ihm wütend. „Du bringst sie auf völlig falsche Gedanken, und die drei sind aufgebracht genug. Oder willst du sie glauben machen, du würdest mich …“

„Verführen“, beendete er den Satz und nahm sie in die Arme. „Jetzt haben wir die ideale Gelegenheit, deinen Ruf zu ruinieren – vor Zeugen. Na, was meinst du? Sollen wir zur Sache kommen?“

„Miss Annie! Haben Sie die Klinke gefunden?“

„Noch nicht.“ Leise fügte sie hinzu: „Lass mich los, Sam! Du hast deinen Spaß gehabt. Wir sollten lieber von hier verschwinden, bevor es ernst wird.“

„Zu spät. Es ist bereits ernst – und zwar seit langer Zeit. Außerdem muss ich noch etwas nachholen, damit ich nicht der Falschaussage beschuldigt werde.“

„Was denn?“, fragte sie, obwohl sie es wusste. Sams Behauptung, er habe sie geküsst, hatte immerhin den Sheriff erst richtig in Rage gebracht.

„Das“, sagte Sam und presste sie eng an sich. Dann küsste er sie fordernd.

Ich sollte eigentlich protestieren, dachte Annie, fand aber nicht die nötige Kraft dazu. Weshalb tat Sam ihr das an? Und weshalb reagierte sie darauf, als wäre es das Einzige, was sie sich ersehnte? Weil es vermutlich stimmte. In den vergangenen Jahren war ihr Verlangen nach Sam eher gewachsen, als dass es sich mit der Zeit abgeschwächt hätte.

Er schob ihr die Finger ins Haar und spielte mit ihren Locken. Nun war sie wie an ihn gefesselt, aber sie wollte ohnehin nirgendwo anders sein als in seinen Armen und nichts anderes tun, als ihn zu küssen.

Leise stöhnend ließ er die Lippen über ihren Hals gleiten.

„Gib mir noch eine Sekunde“, bat Annie. „Und dann – oh, ja, das ist schön, Sam …“

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und ließ sie dann ganz langsam zu ihrer Brust gleiten. „Lass dir ruhig Zeit, Liebling. Ich hab’s nicht eilig“, meinte er. „Aber wenn du mich stoppst, tu es leise – oder sei bereit, fliegendem Blei auszuweichen.“

„Blei?“

„Kugeln. Ich traue unserem Sheriff nicht über den Weg, wenn er eine geladene Waffe gezückt hat.“ Er küsste ihren Hals. „Und um eine gängige Redewendung in leichter Abwandlung zu gebrauchen: Allmählich kommt mir der Verdacht, der gute Rolly hat nicht alle Kugeln im Magazin.“

Annie wollte etwas erwidern, seufzte aber nur erfreut. Sie musste sich zusammenreißen! Eigentlich eine höchst einfache Sache, wenn nicht Sams erregende Liebkosungen sie unfähig gemacht hätten, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wollte, dass er sie weiter erregend streichelte und küsste, aber plötzlich protestierte eine innere Stimme dagegen. „Nicht“, bat Annie heiser.

„Nicht aufhören?“, fragte Sam hoffnungsvoll und sah sie verführerisch an.

„Nein. Ja.“

„Verstanden. Ich bin einer Dame stets gern zu Diensten.“

Rolly hämmerte gegen die Tür. „Annie? Was, zum Teufel, geht da drinnen vor?“

Meine Verführung, hätte sie am liebsten geantwortet, aber dann wären Kugeln geflogen, und es wäre viel Schaden angerichtet worden.

„Hör auf, Sam! Unsere Gäste werden ungeduldig.“

„Ihr Pech. Sie sind zu dieser ganz besonderen Party nicht eingeladen worden und können im Flur bleiben, bis wir beide fertig sind.“

Sie versuchte, nicht zu lachen, aber es gelang ihr nicht. „Ich meine es ernst, Sam. Du musst jetzt aufhören.“ Langsam trat sie einen Schritt zurück und atmete scharf ein, als ein Schmerz sie daran erinnerte, dass Sam noch immer ihre Haare festhielt.

Behutsam löste er die Finger aus ihren Locken. Dann bückte er sich, hob den Griff auf und reichte ihn ihr.

„Ich habe ihn gefunden“, verkündete sie.

„Braves Mädchen“, rief der Sheriff. „Und jetzt schieb ihn durchs Loch.“

„Oh nein, Sheriff, Annie bleibt außerhalb der Schusslinie, bis Sie Ihre Waffe abgelegt haben.“

„Aber Sam, ich will doch Annie nicht erschießen.“ Nach einer kurzen, bedeutungsvollen Pause fügte Rolly munter hinzu: „Nur Sie.“

Annie verschränkte die Arme und funkelte die Tür an, was natürlich völlig sinnlos war, da die drei Männer draußen nicht sehen konnten, wie erbost sie war. „In dem Fall komme ich auch nicht heraus“, verkündete sie in einem Ton, dessen unterschwellige Botschaft ihre Schüler sofort richtig gedeutet hätten als: Entweder ihr benehmt euch, oder es setzt was.

„Ach Annie, ich habe doch nur Spaß gemacht.“

„Sheriff Rawling, ich möchte, dass Sie mir versprechen, Sam nicht ein Haar zu krümmen. Keine Fäuste, keine Festnahme, keine gezückte Waffe und ganz besonders keine Kugeln.“

Rolly seufzte enttäuscht. „Na schön, ich verspreche es. Jetzt nehme ich den Pistolengurt ab. Du kannst ja durchs Loch schauen und dich versichern, dass ich ihn auf den Boden gelegt habe.“

Sie kniete sich hin und überprüfte es. Schließlich wollte sie nichts Heldenhaftes tun und sich möglicherweise noch zwischen Sam und eine für ihn gemeinte Kugel werfen müssen. Der Sheriff hatte die Waffe tatsächlich beiseitegelegt. Annie schob den Griff durchs Loch und hielt ihn fest. „Okay, meine Hälfte ist drin.“ Einen Moment später bewegte er sich.

„Geh beiseite“, rief der Bürgermeister warnend, dann flog auch schon die Tür auf, und der Sheriff stürzte ins Zimmer, dicht gefolgt von Ben und Mr. Pike.

„Alles in Ordnung?“, fragte Ben besorgt.

Sie lächelte ihn beruhigend an. „Mir geht es gut, danke. Wollen wir jetzt das Haus verlassen?“

Bürgermeister Pike ging zum Bett und betrachtete es stirnrunzelnd. Dann musterte er Annie sorgfältig, besonders ihr Kleid, das wahrscheinlich ebenso in Unordnung war wie die Bettdecke. Pike warf seinen Freunden einen bedeutsamen Blick zu und wies mit dem Kopf aufs Bett. Dann wandte er sich wieder Annie zu. „Geh jetzt nach Hause, meine Liebe. Wir möchten allein mit Beaumont sprechen.“

Das wäre ja, als würde man vier Kampfhunde in einem Zimmer einsperren, dachte Annie. „Da ich mit Sam hierher gekommen bin, werde ich wohl warten müssen, bis er bereit ist, mich nach Hause zu fahren.“ Sie ging zu dem wackligen Stuhl und setzte sich. Glücklicherweise brach er auch jetzt nicht zusammen. Es hätte doch zu lächerlich gewirkt, wenn sie unsanft auf dem Boden gelandet wäre. „Alles, was Sie mit Sam zu besprechen haben, können Sie in meiner Gegenwart sagen.“

Nun ergriff Sam wieder das Wort. „Meine Herren, ich schlage vor, wir führen die Diskussion draußen weiter.“

„Damit Sie Gelegenheit haben, auf Ihr Motorrad zu steigen und zu verschwinden?“, hielt Rolly dagegen. „Das wird nicht passieren.“

„Nein, ich mache mir eher Sorgen darüber, dass …“

Ein lautes Krachen ertönte hinter ihnen, gefolgt von einem gedämpften Geräusch, als die beiden Hälften der Türklinke auf den Boden fielen.

„… die Tür wieder zuschlagen könnte“, beendete Sam den Satz.

Annie fluchte. „Jetzt ist alles im Eimer“, bemerkte sie.

„Bitte, Miss Annie, das ist kein Grund zum Aufruhr“, versuchte Ben sie zu beruhigen.

„Zu spät.“ Zumindest ihre Sinne waren in Aufruhr, was wahrscheinlich an Sams erregenden Liebkosungen lag, aber das brauchten die drei Honoratioren nicht zu wissen. „Und wie wollen Sie uns jetzt aus diesem Schlamassel befreien?“, fragte sie.

„Na ja, ich bin mir sicher, über kurz oder lang wird jemand vorbeikommen“, erwiderte der Sheriff. „Bertie wird ja irgendwann merken, dass ich verschwunden bin.“

Sam machte es sich wieder auf dem Bett bequem. „Warum funken Sie ihn nicht an?“

Rolly griff nach seinem Gürtel, und da erst fiel ihm ein, dass er den ja draußen abgelegt hatte. Er fluchte herzhaft. Plötzlich verstummte er und blickte Annie zerknirscht an. „Entschuldige bitte.“

„Ich glaube, sie hat die Worte schon mal gehört“, meinte Sam und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sie hat sie sogar schon verwendet – erst vor Kurzem in diesem Raum.“

Annie hielt eine Standpauke für angebracht. Vielleicht würde das die Männer von ihrem Verstoß gegen die guten Manieren ablenken. „Wenn Sie auf Sam gehört hätten, statt sich wie die drei Musketiere aufzuführen …“ Aus einem ihr unerfindlichen Grund wurden die Angesprochenen rot. „… dann würden wir jetzt nicht in der Klemme stecken.“

„Ja, Miss Annie“, stimmte Ben ihr zu. „Es war nur wegen Sam hier … und dem Bett.“ Seine Röte vertiefte sich. „Und Ihrem Kleid.“

Sie blickte die Männer kühl an. „Ach so. Es gibt dafür eine stichhaltige Erklärung.“ Alle wirkten gespannt, und sie fand, es wäre die richtige Zeit für einen starken Abgang gekommen. „Allerdings verdient ihr keine Erklärungen. Und jetzt tue ich das, wozu ihr offensichtlich nicht fähig seid, nämlich uns aus der misslichen Lage zu befreien.“

Rasch setzte Sam sich auf. „Annie …“

„Und dass diesmal niemand versucht, mich aufzuhalten!“

Er sprang blitzschnell vom Bett auf, aber zu spät: Elegant hechtete Annie durchs offene Fenster.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Annie?“ Großzügig tupfte Myrtle Desinfektionstinktur auf Annies Wunden. „Du hättest dir sämtliche Knochen brechen können.“

Annie verzog das Gesicht. „Ach was, ich habe nur einige Kratzer abbekommen.“ Vielleicht auch ein Dutzend, die alle ziemlich bluten, fügte sie im Stillen hinzu. Genau hinsehen wollte sie lieber nicht, sonst würde sie womöglich in Ohnmacht fallen. Wer hätte gedacht, dass diese mickerigen Zweige so viel Schaden anrichten konnten? Das hieß: wer außer Sam?

„Du hättest dir doch denken können, dass der Baum dein Gewicht nicht aushält“, tadelte Myrtle sie.

„Ich habe sie jedenfalls gewarnt“, mischte Sam sich ein.

„Das glaube ich gern. Du warst schon immer ein guter Junge.“

Er lächelte selbstgefällig. „Ja, Tante Myrtle.“

Annie konnte sich nicht länger beherrschen. „Aus dem Fenster zu steigen war die einzige Möglichkeit, uns alle aus dem Zimmer zu befreien. Wenn ich nicht den Baum hinuntergeklettert wäre …“

„Hinuntergefallen“, verbesserte Sam sie.

„Jedenfalls nach unten gelangt wäre, dann würdet ihr Männer noch immer im Schlafzimmer euren Streit austragen.“

„Was hattest du überhaupt in Sams Schlafzimmer zu suchen?“ Myrtle kümmerte sich um Annies aufgeschürfte Knie.

Wahrscheinlich wäre es einfacher, wenn ich ein Bad in Jodtinktur nehme, dachte Annie.

„Ja, das ist die Kernfrage.“ Sam nickte zustimmend. „Bestimmt hatte Annie nichts Gutes im Sinn.“

„Du musst es ja wissen, weil du auch da warst“, erwiderte sie aufgebracht.

„Genau. Ich wiederhole: nichts Gutes im Sinn.“

„Hör nicht auf ihn, Tante Myrtle. Ich habe Sam die Schäden am Haus gezeigt, und als wir im Schlafzimmer waren, hat ein Windstoß die Tür zugeschlagen, und die Klinke ist herausgefallen.“

„Das ist unsere Version der Ereignisse, und daran halten wir unerschütterlich fest.“ Sam zwinkerte Annie zu. „Stimmt’s, Schatz?“

„Ach, hör doch auf! Sonst glaubt noch jemand, du meinst es ernst.“

„Jeder weiß, dass ich es ernst meine. Ich wette, man wird dir zum ersten Mal nicht glauben und stattdessen vermuten, dass du verharmlost, was wirklich in diesem Zimmer passiert ist, weil du Angst um deinen makellosen Ruf hast. Vielleicht sollten wir dein Schild vor dem Haus abnehmen. Dann haben die Leute wirklich etwas zu tratschen.“

Am liebsten hätte Annie ihn geohrfeigt. „Es ist wirklich nichts passiert, Tante Myrtle.“

Sam schüttelte den Kopf. „Lässt du jetzt nicht ein oder zwei Einzelheiten aus?“

Natürlich tat sie das. „Nein“, log sie bedenkenlos. „Fast sofort, nachdem die Tür zugeschlagen war, erschienen Ben Drake, Sheriff Rolly und der Bürgermeister zu meiner Rettung – als wären sie die drei Musketiere.“ Als Sam und Myrtle schallend lachten, blickte sie die beiden verwirrt an. „Was ist denn daran so komisch?“

„So nennen die drei sich“, erklärte Myrtle.

„Du machst Witze, oder?“

Myrtle versuchte, wieder ernst zu werden, aber es gelang ihr nicht. „Sie sind sich natürlich nicht klar darüber, dass jeder hier es weiß. Wir tun ganz ahnungslos, um die armen Männer nicht in Verlegenheit zu bringen.“ Sie lachte erneut. „Aber was sollen wir denn eigentlich denken, wenn sie herumlaufen und rufen: ‚Einer für alle und alle für einen‘?“

Fasziniert sah Annie sie an. „Das tun sie? Im Ernst?“

„Na ja.“ Myrtle lächelte schalkhaft. „Sie rufen es nicht direkt in der Öffentlichkeit, aber wenn sie mal wieder eine ihrer hirnrissigen Ideen haben, sagen sie es als Zeichen der Einstimmigkeit. Dann ziehen sie los und richten ein Durcheinander an, alles im Namen der Ehre oder so.“

Annie runzelte die Stirn. „Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Was hatten die drei denn auf Sams Besitz zu suchen?“

„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte Sam. „Sie wollten dich retten.“

„Ja schon … nur, woher wussten sie, dass ich in Schwierigkeiten war?“

Myrtle lachte glucksend. „Als Musketiere haben sie wahrscheinlich einen sechsten Sinn, der sie alarmiert, wenn Gefahr im Verzug ist.“

Sams gute Laune verschwand plötzlich. „Sie brauchen Schwierigkeiten allerdings nicht mühsam aufzuspüren. Die kommen früh genug auf sie zu. Darum werde ich mich persönlich kümmern.“

„Fang nicht schon wieder damit an!“, bat Annie ihn eindringlich. „Sie wollten mir doch lediglich helfen.“

„Nein, sie wollten mich erschießen.“

„Nur der Sheriff. Ben Drake und Bürgermeister Pike waren sehr verständnisvoll.“

„Ja, so sehr, dass wir dann alle im Zimmer gefangen saßen. Wenn der Bürgermeister mir nicht hätte die Leviten lesen wollen – und Rolly mich verprügeln –, wäre das nicht passiert.“

„Männer können sich ziemlich albern aufführen“, bemerkte Myrtle. „Aber Ende gut, alles gut.“

„Ja, weil ich sie gerettet habe“, sagte Annie halblaut. „Wenn ich klüger gewesen wäre, hätte ich sie da eine Zeit lang schmoren lassen und wäre in einigen Tagen hingegangen, um die Reste wegzuräumen.“

„Das hätte dir jedenfalls einigen Klatsch erspart“, meinte Sam.

„Welchen Klatsch?“, hakte sie alarmiert nach. „Ich habe noch nichts gehört, weil ich ja noch nicht wieder im Supermarkt war, seit wir von ‚Soundings‘ zurück sind.“

„Alle reden darüber, dass du dich lieber aus dem Fenster gestürzt hast, als ein ‚Schicksal schlimmer als der Tod‘ zu erdulden.“ Er schüttelte angewidert den Kopf. „Nichts kann die Legende von Sankt Annie zunichtemachen.“

„Ach, halt den Mund!“

„Nur: Halt den Mund? Du kannst doch auch richtig fluchen. Ich weiß das.“ Sam lächelte breit. „Rolly, Ben und der Bürgermeister wissen es ebenfalls.“

„Allerdings bezweifle ich, dass sie mich verpetzen werden“, erwiderte Annie missmutig.

„Wie wahr! Es würde ihnen ohnehin niemand glauben. Nicht jetzt, da dein Heiligenschein heller strahlt denn je.“

„Das ist lachhaft.“ Sie zuckte zusammen, als Myrtle ihr einen Splitter aus dem Knie zog. „Wie hast du den Ruf, eine Heilige zu sein, nur all die Jahre ausgehalten, Tante Myrtle?“

„Ich galt nie als Heilige, sondern war immer nur die gute alte Myrtle.“

„Du konntest nach Ansicht der anderen aber nichts falsch machen. Hast du dich nie gefragt, was passieren würde, wenn sie herausfinden sollten, dass du auch nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen bist?“

Annie wusste, dass alle in der Stadt Sams Mutter geächtet hatten, nur weil sie unehelich geboren worden war, wofür sie ja nichts konnte. Sam war als Kind deswegen ständig gehänselt worden, und das hatte ihn verbittert.

„Jeder hier weiß, dass ich meine Fehler habe“, antwortete Myrtle.

„Trotzdem: Du bist gut und lieb. Was, wenn die Leute eines Morgens aufwachen und beschließen würden, dich nicht länger für gut und lieb zu halten?“

Myrtles dunkle Augen glitzerten amüsiert. „Das würde bezüglich meiner Person nichts ändern, Dummerchen. Es würde nur die Meinung der anderen über mich ändern. Ist dir das noch nicht klar geworden?“

„Worum geht es hier eigentlich?“, fragte Sam unvermittelt.

„Nichts.“ Annie zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich bin ich nur einfach meinen Heiligenschein leid.“

„Dann spring nächstes Mal nicht aus dem Fenster, um mir und meinen bösen Absichten zu entrinnen. Vielleicht nennt man dich anschließend ‚die verruchte Delacorte‘. Würde dir das besser gefallen?“

Ja, antwortete sie im Stillen. Laut sagte sie: „Ich möchte die Leute nicht enttäuschen.“ Die würden allerdings enttäuscht sein, wenn sie die Wahrheit über sie entdeckten. Das konnte sie Sam aber nicht erzählen – obwohl er es wahrscheinlich schon bald herausfinden würde.

Sam betrat vorsichtig Myrtles Haus und ging leise durch die dunkle Diele. Es war weit nach Mitternacht, und die beiden Frauen schliefen längst. Er wäre auch schon früher ins Bett gegangen, wenn er nicht eine geschäftliche Angelegenheit zu regeln gehabt hätte. Als die drei „Musketiere“ auf seinem Besitz erschienen waren, um Annie zu „retten“, war er sehr überrascht gewesen. Seine Drohung, ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, wenn sie sich einmischten, hatte sie offensichtlich nicht eingeschüchtert. Er hatte nicht bedacht, dass sie drei anständige, wohlmeinende Männer waren, die für Annie echte Zuneigung empfanden und um ihr Wohlergehen besorgt waren.

Das konnte er ihnen nicht zum Vorwurf machen. Auch er hegte tiefe Gefühle für Annie.

Eine interessante Frage blieb allerdings noch offen, und er war fest entschlossen, das Rätsel demnächst zu lösen: Als er die drei gefragt hatte, woher sie gewusst hätten, dass er mit Annie allein auf „Soundings“ war, waren ihre Lippen wie versiegelt gewesen. Anscheinend verlangte es ihr Ehrgefühl, dass sie ihren Informanten nicht verrieten. Das war Sam jedoch egal, denn ihm würden sich in den kommenden Wochen viele Gelegenheiten bieten, den Schuldigen herauszufinden – und alte Rechnungen mit ihm zu begleichen.

Autor

Elizabeth Bevarly
<p>Elizabeth Bevarly stammt aus Louisville, Kentucky, und machte dort auch an der Universität 1983 mit summa cum laude ihren Abschluss in Englisch. Obwohl sie niemals etwas anderes als Romanschriftstellerin werden wollte, jobbte sie in Kinos, Restaurants, Boutiquen und Kaufhäusern, bis ihre Karriere als Autorin so richtig in Schwung kam. Sie...
Mehr erfahren
Christine Merrill
<p>Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
Mehr erfahren
Day Leclaire
<p>Day Leclaire lebt auf der Insel Hatteras Island vor der Küste North Carolinas. Zwar toben alljährlich heftige Stürme über die Insel, sodass für Stunden die Stromzufuhr unterbrochen ist, aber das ansonsten sehr milde Klima, der Fischreichtum und der wundervolle Seeblick entschädigen sie dafür mehr als genug. Day interessiert sich seit...
Mehr erfahren