Zurückgeküsst

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Wenn die Antwort auf einen Heiratsantrag Schweigen ist, sollte man die Tiefe der Beziehung vielleicht noch einmal überdenken. Doch dazu kommt Harper gar nicht mehr, denn sie muss dringend zur Hochzeit ihrer Schwester. Und dort überschlagen sich die Ereignisse! Zuerst wird sie von einem Bären überfallen, knutscht als Folge hemmungslos mit ihrem Exmann Nick und muss am nächsten Morgen feststellen, dass alle Flughäfen gesperrt sind und sie nicht nach Hause kommt. Außer... ja, außer sie nimmt Nicks Angebot an, mit ihm in seinem roten Mustang quer durch die USA zu fahren. Eine Fahrt, auf der sie plötzlich sehr viel Zeit hat, nachzudenken. Über nicht beantwortete Heiratsanträge, viel zu anziehende Exmänner und die Frage, ob es wirklich ein Fehler wäre, Nick eine zweite Chance zu geben.


  • Erscheinungstag 10.01.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783862785537
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kristan Higgins

Zurückgeküsst

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Annette Hahn

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerkanischen Originalausgabe:

My One and Only

Copyright © 2011 by Kristan Higgins

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Marie Curtis

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

EPUB-ISBN 978-3-86278-553-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

WIDMUNG

Als ich fünf Jahre alt war, sollten wir Kindergartenkinder unsere frisch gebastelten Kunstwerke zur Schule bringen und den großen Zweitklässlern zeigen. Als ich am Pult meines Bruders vorbeikam, hob ich meine Schildkröte aus Ton hoch, damit sie ihm einen Kuss gab. Er nahm es wie ein Mann, sagte mir, die Schildkröte sei sehr süß, und ignorierte seine Klassenkameraden, die ihn auslachten, weil er eine so komische kleine Schwester hatte. Deshalb und aus tausend anderen Gründen ist dieses Buch dir gewidmet, Mike. Ich hab dich lieb.

1. KAPITEL

Hör auf zu lächeln. Jedes Mal, wenn du lächelst, muss ein Engel sterben.“

„Wow“, erwiderte ich. „Der ist gut.“

Der Mann, der eine derart negative Einstellung hatte, saß an der Bar und sah aus, als würde er einen schlechten Countrysong leben: Frau weg, Hund tot, Truck kaputt. Armer Kerl.

„Ich weiß, es ist traurig“, sagte ich, „aber manchmal ist eine Scheidung einfach so etwas wie die Euthanasie einer langsam sterbenden Beziehung.“ Mitfühlend klopfte ich ihm auf die Schulter und rückte sein Kollar zurecht, das ein wenig verschoben war. „Manchmal braucht unser Herz einfach Zeit zu akzeptieren, was unser Kopf bereits begriffen hat.“

Der Priester seufzte. „Hören Sie sich nur mal ihre albernen Weisheiten an“, wandte er sich an Mick, den Barkeeper.

„Das war nicht albern“, entgegnete Mick. „Das ist ein guter Rat.“

„Nein, das ist destruktiv.“

„Ach herrje“, erwiderte ich. „Das Ganze scheint Sie mehr mitzunehmen, als ich gedacht hatte.“

„Das stimmt. Nach all der harten Arbeit, die ich geleistet habe, kommen Sie einfach angerauscht und machen alles kaputt.“

„Pater Bruce!“, spielte ich die Empörte. „Ich bin nicht angerauscht gekommen! Das ist gemein!“

Der gute Priester und ich saßen im Offshore Ale, der schönsten Bar der Insel Martha’s Vineyard – ein dunkles, nettes kleines Lokal in Oak Bluffs und bei Ortsansässigen und Touristen gleichermaßen beliebt. Pater Bruce, mein langjähriger Freund und äußerst beliebter katholischer Pfarrer der Insel, war hier häufig anzutreffen.

„Nun kommen Sie schon, Pater“, fuhr ich fort, setzte mich auf den Hocker neben ihn und zog gleichzeitig meinen Rock nach unten, um nicht allzu viel nackte Haut zu zeigen und unschicklich zu erscheinen. „Sie und ich sind uns eigentlich sehr ähnlich.“ Als Antwort kam ein Stöhnen, das ich ignorierte.

„Wir begleiten Menschen durch die Schwierigkeiten des Lebens, führen sie durch ein emotionales Minenfeld. Wir sind die Stimme der Vernunft, wenn sie selbst nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht.“

„Das Traurige ist, dass sie daran glaubt, Mick.“

Ich verdrehte die Augen. „Hören Sie auf, so verbittert zu sein, und spendieren Sie mir einen Drink.“

„Die Ehe ist nicht mehr das, was sie mal war“, brummte der Priester. „Mick, einen Bourbon für unseren Hai hier.“

„Tatsächlich möchte ich nur ein Pellegrino, Mick. Und Ihre letzte Bemerkung werde ich aus dem Protokoll streichen.“ Ich lächelte großzügig. Natürlich war ich ein Hai. Alle guten Scheidungsanwälte sind Haie.

„Sehe ich das richtig, dass Sie wieder verloren haben, Pater?“, erkundigte sich Mick und tat eine Zitronenscheibe in mein Mineralwasser.

„Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, Mick. Sie ist auch so schon schadenfroh genug.“

„Ich bin keineswegs schadenfroh“, widersprach ich und schob das Bierglas eines anderen Gasts beiseite, das Pater B. auf den Schoß zu fallen drohte. „Ich habe nichts gegen die Ehe einzuwenden, wie Sie schon sehr bald feststellen werden. Aber im Falle Starling gegen Starling kann ich nur sagen, dass die beiden schon seit dem Tag verdammt waren, da er vor ihr auf die Knie gefallen ist. Was man tatsächlich bei jedem dritten Paar sagen kann …“

Pater Bruce schloss die Augen.

Auch wenn wir beim Thema Scheidung ganz und gar unterschiedlicher Meinung waren, betrachtete ich Pater Bruce als guten alten Freund. Heute war Joe Starling, treues Gemeindemitglied aus Pater Bruce’ Kirchengemeinde, in meine Kanzlei gekommen und hatte mich gebeten, die Scheidung einzureichen. Er war das – lassen Sie mich überlegen – bereits neunte Gemeindemitglied in den letzten zwei Jahren, das die Scheidung wollte, trotz eingehender Bemühungen des guten Pfarrers, die zerschleißenden Bande der Ehe wieder zu erneuern.

„Vielleicht überlegen sie es sich ja noch“, meinte Pater Bruce. Dabei machte er ein so hoffnungsvolles Gesicht, dass ich ihn nicht an die harte Realität erinnern wollte: Keiner meiner Klienten war je von den Scheidungsverhandlungen zurückgetreten.

„Wie geht es denn sonst so, Pater?“, erkundigte ich mich. „Ich habe gehört, dass Sie letzten Sonntag eine Wahnsinnspredigt gehalten haben. Und neulich habe ich Sie power-walken gesehen. Ihre neue Herzklappe muss großartig funktionieren.“

„Ja, so scheint es wohl, Harper.“ Er lächelte – immerhin war er ein Priester und musste mir vergeben. „Und haben Sie heute schon Ihre selbstlose gute Tat des Tages vollbracht?“

Ich schnitt eine Grimasse. „Ich weiß nicht. Es war eine … eher eigennützige gute Tat.“ Pater Bruce, der meine Seelenrettung wohl als persönliche Mission betrachtete, hatte mich wortwörtlich dazu aufgefordert, „das Übel meines Berufsstands zu kompensieren“, indem ich täglich eine selbstlose gute Tat vollbrächte. „Ich habe im Schnellcafé einer sechsköpfigen Familie den Vortritt gelassen. Das Baby hat geschrien. Zählt das?“

„Aber ja“, sagte der Pater gütig. „Sie sehen heute übrigens hübsch aus. Sind Sie mit Dennis verabredet?“

Ich sah mich um. „Es ist mehr als eine Verabredung, Pater“, raunte ich und zuckte zusammen, als John Caruso mir vermutlich nicht versehentlich in den Rücken stieß und eine undeutliche Entschuldigung murmelte. Wenn man so erfolgreich war wie ich, musste man sich an derartige Entgleisungen gewöhnen. (Mrs Caruso hatte die Eigentumswohnung an der Back Bay und das Haus hier im Ort bekommen, nicht zu vergessen die großzügige monatliche Abfindung.) „Heute ist der Tag. Ich werde die Fakten präsentieren, den Fall überzeugend darlegen und auf den Urteilsspruch warten, der sicher ganz zu meinen Gunsten ausfallen wird.“

Pater Bruce hob eine seiner buschigen weißen Augenbrauen. „Wie romantisch.“

„Ich denke, meine Einstellung zu Romantik ist wohl mehr als eindeutig dokumentiert.“

„Man könnte den armen Teufel ja fast bedauern.“

„Man könnte, aber der Junge hat alles, was man sich nur wünschen kann, und das wissen Sie.“

„Ach ja?“

„Bitte.“ Ich stieß mein Glas gegen das von Pater Bruce und trank einen Schluck. „Auf die Ehe! Und wo wir gerade vom Teufel sprechen, da ist er auch schon, vier Minuten zu früh. Es geschehen doch immer wieder Wunder.“

Seit zweieinhalb Jahren war ich mit meinem Freund Dennis Patrick Costello zusammen. Stellen Sie sich den Feuerwehrmann vor, von dem Sie schon immer geträumt haben … Genau so sieht er aus – ein wahrer Augenschmaus: dichtes dunkles Haar, blaue Augen und die gesunden roten Wangen eines typischen Iren. Eins achtundachtzig. Die Schultern so breit, dass sie eine vierköpfige Familie tragen könnten. Das Einzige … hm … beinah sprichwörtliche Haar in der Suppe war ein Zopf – ein langer, dünner geflochtener Rattenschwanz, der Dennis im Nacken baumelte. Und Dennis hing aus unerfindlichen Gründen an ihm. Nun gut, ich versuchte es zu ignorieren, da seine ansonsten sexy Erscheinung und die konstante Leutseligkeit mich mit Stolz erfüllten. Es gab auf der ganzen Insel keinen Menschen, der Dennis nicht mochte, und keine Frau, die nicht mitten im Satz abbrach, wenn er lächelte. Und er gehörte zu mir!

Dennis kam mit Chuck, seinem Kumpel aus der Feuerwehrstaffel, der mich mit einem bösen Blick bedachte, bevor er ans andere Ende der Theke marschierte. Chuck hatte seine liebe, gute Ehefrau Constance betrogen, und das nicht nur ein Mal, nein, er hatte den Tiger Woods von Martha’s Vineyard gegeben und letztlich vier Affären in sechs Jahren Ehe gestanden. Als Folge davon bewohnte Chuck jetzt eine schiefe, vierundfünfzig Quadratmeter große „Ein-Zimmer-Hütte“ auf Chappaquiddick und musste jeden Tag mit der Fähre zur Arbeit fahren. Tja, das ist eben der Sünde Lohn.

„Hallo, Chuck! Wie geht es dir?“, erkundigte ich mich. Chuck ignorierte mich, wie immer. Egal. Ich drehte mich zu Dennis um. „Hallo, Liebling! Sieh mal an, vier Minuten zu früh!“ Dennis beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. „Hallo, schöne Frau. Hallo, Pater B.“

„Dennis. Viel Glück, mein Sohn. Ich werde ein Ave-Maria für Sie beten.“

„Danke, Pater.“ Augenscheinlich nicht weiter daran interessiert, warum ein Priester für ihn beten wollte, lächelte Dennis mich an. „Ich bin am Verhungern. Wie steht’s mit dir?“

„Oh ja, ich auch. Bis bald, Pater Bruce.“ Ich glitt vom Hocker, und Dennis musterte mich anerkennend – was genau der Grund für die Wahl meines Kleides und der schmerzhaft und fast schon unanständig hohen Schuhe war. Ich wollte Dennis’ volle Aufmerksamkeit, und da er ein Mann war, konnte ein betontes Dekolleté nicht schaden.

An diesem Abend wollte ich die Frage aller Fragen stellen. Zweieinhalb Jahre mit Dennis hatten mich überzeugt, dass er als guter Ehemann taugen würde. Er war ein anständiger Kerl, hatte ein gutes Herz, eine feste Stellung, eine nette Familie, und er war äußerst attraktiv. Es galt: jetzt oder nie … Mit fast vierunddreißig wollte ich nicht ewig nur als jemandes Freundin herumhängen. Ich war eine Frau, die gern plante und auch die Initiative ergriff, und der gute Dennis konnte ein wenig Führung gebrauchen.

Erster Punkt auf meinem Plan: Essen für Dennis, der häufiger Nahrung brauchte als ein Kleinkind. Ein paar Bier könnten auch nicht schaden, da Dennis, auch wenn er mit unserer Beziehung recht zufrieden wirkte, das Thema Heirat noch nicht angeschnitten hatte. Das Bier würde ihn also williger stimmen.

Und so erzählte Dennis, einen halben Liter Ale und einen großen Cheeseburger mit Speck vor sich, eine halbe Stunde später gut gelaunt von seinem heutigen Einsatz. „Ich versuche also, die Autotür loszukriegen, ja? Und plötzlich reißt die mit einem Ruck heraus und trifft Chuck genau zwischen die Beine, und er sagt: ‚Costello, du Arschloch!‘, und wir können uns nicht mehr halten vor Lachen. Und die alte Dame liegt immer noch in ihrem Wagen! Oh Mann, das war der Hammer!“

Ich lächelte geduldig. Feuerwehrmannhumor – wenn man ihn denn so nennen wollte – war bestenfalls plump. Trotzdem kicherte ich leise und murmelte: „Ach, du meine Güte“, womit ich die alte Dame meinte, die in ihrem Auto feststeckte, während zwei grobschlächtige Feuerwehrkerle sich vor Lachen den Bauch hielten. Was Chuck betraf, so fand ich, dass sein Schicksal nur gerecht gewesen war. „War die Dame schwer verletzt?“

„Nein, die hat keinen Kratzer abbekommen. Wir hätten auch nicht so gelacht, wenn ihr der Kopf abgetrennt worden wäre oder so etwas.“ Er grinste lausbubenhaft, und ich lächelte zurück.

„Das freut mich zu hören. Also, Den, pass auf. Wir müssen reden.“

Die gefürchteten Worte ließen Dennis’ Lächeln augenblicklich verschwinden. Er blinzelte mehrmals, als wollte ich ihn gleich ins Gesicht schlagen, und griff wie zum Schutz nach seinem Riesenburger – die Körpersprache der Defensive, wie ich sie oft bei den Ehepartnern meiner Klienten erlebte. Da kam ich am besten wohl gleich zur Sache. Brav faltete ich die Hände vor dem Körper, neigte leicht den Kopf zur Seite und lächelte.

„Dennis, ich finde, es wird Zeit, dass wir unsere Beziehung auf die nächste Stufe heben. Wir sind nun schon eine ganze Weile zusammen, und ich werde in ein paar Wochen vierunddreißig, womit ich mich schon fast im fortgeschrittenen Alter befinde – zumindest aus medizinischer Sicht –, also lass uns heiraten.“

Dennis fuhr verdutzt zurück. Verdammt. Ich hatte wohl nicht besonders romantisch geklungen, wie? Vielleicht hätte ich das Ganze gefühlvoller vorbringen müssen, anstatt einfach nur Fakten aufzuzählen. Das hatte ich nun davon, dass ich meine Ansprache vor einem Hund geübt hatte anstatt angesichts eines echten Menschen. Andererseits war auch nichts Falsches daran, offen und geradeheraus anzusprechen, was einem auf der Seele lag.

Mein Freund schob sich zur Antwort gut ein Viertel seines gigantischen Burgers in den Mund. „Hmmpf-hmmpf“, sagte er und deutete auf seine vollen Backen.

Nun ja, ein wenig Widerstand hatte ich erwartet. Dennis war ein Mann, und die meisten Männer – mit wenigen Ausnahmen – stellten die bewusste Frage nicht ohne einen kräftigen Schubs. Und geschubst hatte ich … mehrfach. Drei Monate zuvor hatte ich laut den Verlobungsring einer seiner Cousinen bewundert. Ich hatte immer wieder seine Kinderliebe betont und beteuert, was für ein guter Vater er werden würde. Auch den eigenen Kinderwunsch hatte ich mehrfach kundgetan. Nur hatte er bisher nicht reagiert. Ich vermutete also, dass er etwas Deutlicheres als einen Schubs brauchte – vielleicht einen Tritt? Brauchten nicht die meisten Männer einen schwungvollen Tritt?

„Bitte keine Panik, Schatz“, fuhr ich fort, während er unaufhörlich kaute. „Wir verstehen uns doch prima. Wir verbringen die meisten Nächte gemeinsam, wir sind seit über zwei Jahren zusammen, du bist jetzt dreißig, du weißt, dass du Kinder willst … Es wird langsam Zeit, meinst du nicht auch? Also, ich finde das.“ Ich lächelte, um zu zeigen, dass wir im selben Team spielten.

Dennis schluckte. Sein männlich-kantiges Gesicht war blass. „He, Mann, hör mal“, begann er. Ich verzog das Gesicht. Mann? Er schien es zu merken. „Tut mir leid, Mann“, sagte er. „Ich meine, Harper. Entschuldige.“ Dennis machte den Mund zu, dann wieder auf, zögerte … und biss erneut in seinen Burger.

Na schön. Dann würde ich eben weiterreden. War auch besser so. „Lass mich weitermachen, okay? Danach kannst du etwas sagen. Wenn du das noch willst.“ Ich lächelte und sah ihm in die Augen, was ein bisschen schwierig war, da sein Blick nervös hin und her schweifte. Außerdem lief ein Spiel der Red Sox, was ebenfalls eher kontraproduktiv war. „Dennis, wie du weißt, verbringe ich den ganzen Tag mit verkorksten Beziehungen. Ich sehe die Fehler, die andere machen, und ich weiß, was man vermeiden muss. Wir haben keine verkorkste Beziehung. Unsere Partnerschaft läuft super. Wirklich. Und wir können nicht ewig so weitermachen. Du bist sowieso die meisten Nächte bei mir …“

„Dein Bett ist ja auch total bequem“, warf er aufrichtig dazwischen und stopfte sich noch ein paar Pommes frites in den Mund. Er bot mir auch welche an, doch ich schüttelte den Kopf. Selbst meinen Salat hatte ich an diesem Abend noch nicht angerührt.

„Nein danke. Zurück zum Thema …“ Ich lehnte mich ein Stückchen vor, um Dennis eine bessere Aussicht auf mein Dekolleté zu gewähren. Sein Blick fiel etwa in dieselbe Richtung, in die Pawlows Hund gespeichelt hätte, und ich lächelte. „Wir haben guten Sex“, wies ich ihn auf unsere besseren Momente hin. Eine Frau am Nachbartisch, die ihr Kleinkind schon eine Weile lang zu überreden versuchte, eine Muschel zu probieren, sah mich scharf an. Touristen! „Wir finden uns gegenseitig also sehr attraktiv.“

„Ja klar.“ Er schenkte mir sein schönes breites Lächeln, bei dem die meisten Frauen Herzklopfen bekamen. Perfekt. Offenbar dachte er jetzt mit dem kleineren seiner Köpfe, was für mein Anliegen sehr hilfreich war.

„So ist es, Liebling. Und ich verdiene viel Geld, und du … nun, du hast auch ein gutes Einkommen. Wir werden ein bequemes Leben führen können, hübsche Kinder bekommen und so weiter. Lass uns Nägel mit Köpfen machen, ja?“ Ich griff in meine Handtasche und zog eine schwarze Samtschatulle heraus. „Ich habe sogar schon den Ring ausgesucht, damit wir sicher sein können, dass er mir gefällt.“

Beim Anblick des zweikarätigen Diamanten zuckte Dennis zusammen.

Ich schloss kurz die Augen. „Er ist schon bezahlt, also mach dir keine Sorgen. Siehst du? Das ist doch alles gar nicht so schwer, oder?“ Ich setzte mein selbstbewusstes Gerichtssaallächeln auf, das besagte: Euer Ehren, können wir jetzt mit dem Gequatsche aufhören und die Sache beenden?

Pater Bruce und Bob Wickham, der Vorsitzende des Pfarrgemeinderats, verließen die Theke, um die Sitznische neben uns zu belegen. Dabei warf Pater Bruce mir einen vielsagenden Blick zu. Ich beachtete ihn nicht weiter.

In diesem Moment schob Jodi Pickering, Dennis’ Exfreundin aus Highschoolzeiten und Bedienung dieses Lokals, ihre ausladende Oberweite vor Dennis’ Gesicht. „Alles klar, Denny?“, fragte sie, mich ignorierend, und lächelte meinen baldigen Verlobten dümmlich an.

„Hey, Jodi, wie geht’s?“ Grinsend sah Dennis über ihre 75D hinweg in ihr Gesicht. „Wie geht’s dem Kleinen?“

„Oh, ganz prima, Denny. Das war ja so nett von dir, dass du neulich nach dem Spiel noch vorbeigekommen bist. Er vergöttert dich! Und weißt du, so ganz ohne Vater, glaube ich, dass T. J. dich wirklich gut …“

„Schon gut, wir haben’s verstanden, Jodi mit i“, unterbrach ich sie lächelnd. „Du hast einen süßen Sohn und bist noch nicht vergeben. Dennis allerdings ist mit mir zusammen. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du jetzt deine Brüste aus dem Gesicht meines Freundes nehmen könntest.“

Wütend kniff sie die Augen zusammen und schwebte davon. Dennis sah ihr nach, so wie die Opfer der Titanic den davonpaddelnden Rettungsbooten nachgesehen haben mochten. Dann schluckte er und sah mich an. „Harp, hör zu“, begann er. „Du bist … du weißt schon … toll und alles, aber, äh … na ja, was nicht kaputt ist, muss man doch auch nicht reparieren, oder? Ich meine, warum etwas ändern, was gut läuft? Können wir nicht einfach weiter so zusammen sein?“

Auch diese Äußerung traf mich nicht unvorbereitet. Ich setzte mich gerade hin und neigte den Kopf noch ein Stück weiter zur Seite. „Dennis“, sagte ich mit fester Stimme, da ich wusste, dass dieses Gespräch sich sonst ewig im Kreis drehen würde, „wir sind nicht mehr auf der Highschool. Wir sind keine Kinder mehr. Wir sind seit zweieinhalb Jahren zusammen. Ich werde nächsten Monat vierunddreißig. Ich will nicht ewig nur ‚zusammen sein‘. Wenn wir nicht heiraten, müssen wir uns trennen. Also hopp oder topp, Liebling.“

„Das klang nett“, murmelte Pater Bruce, während er die Speisekarte aufklappte.

Ich zog eine Grimasse und widmete mich wieder meinem Feuerwehrmann. „Dennis? Lass es uns tun.“

Lautes Gegröle von der Theke her bescherte Dennis einen Moment Aufschub. Wir blickten hinüber. Im Fernseher waren diverse Spieler der Red Sox zu sehen, die wild durch die Gegend spuckten und sich die Genitalien kratzten. Du meine Güte, hatten die keine PR-Abteilung? Und diese Art von Ablenkung war jetzt denkbar schlecht für meinen Dennis.

Offenbar war es ein taktischer Fehler gewesen, einen öffentlichen Ort für meinen Antrag zu wählen. Zuerst hatte ich nur an die Vorteile gedacht … ich hatte sogar schon die Szene vor Augen gehabt, wie Dennis laut „Hey, Leute, wir werden heiraten!“ durchs Lokal brüllte und alle Gäste (auch die, dich mich hassen) applaudierten.

Doch danach sah es im Moment nicht aus. „Dennis?“ Ich spürte kurz einen leichten Druck im Brustkorb. „Könnte ich bitte eine Antwort bekommen?“

Dennis nahm seine Serviette und fing an, sie in kleine Schnipsel zu zerreißen.

Nun wurde ich doch ein wenig unsicher. Dennis war sonst immer so … lieb, wenn ich irgendwelche Pläne schmiedete. Ja, ich war diejenige, die in unserer Beziehung die Dinge in die Hand nahm, aber war das nicht normal? Männer planten doch selten etwas. Sie schlugen keine Picknicks oder Stadtbummel vor oder sonst etwas. Und selbst wenn er an diesem Tag mit klaren Worten geizte, so sprachen seine bisherigen Taten eine deutliche Sprache. Wir führten seit zweieinhalb Jahren – Jahren! – eine befriedigende Beziehung und hatten nie ernsthaft gestritten. Natürlich musste das zu einer Heirat führen! Dennis wies alle erforderlichen Qualitäten eines Ehemanns auf … Er musste nur noch ein wenig zu erwachsenerem Verhalten gebracht werden.

Tatsächlich lag gleich hier neben meinem Teller eine Liste mit Vorschlägen, um Dennis in dieser Hinsicht zu helfen. Punkt eins: ein zweiter Job, da er als Feuerwehrmann zu viel freie Zeit hatte und als erwachsener Mann nicht so viel X-Box spielen sollte, wie ich beobachtet hatte (oder Pornos herunterladen, wie ich vermutete). Punkt zwei: den 1988er El Camino loswerden, mit dem er augenblicklich herumfuhr (eine Tür war grün, alle anderen Teile verrostet), und sich ein Auto besorgen, in dem er nicht wie ein verarmter Zuhälter wirkte. Punkt drei: den Zopf abschneiden, weil er, bitte schön, wie ein Rattenschwanz aussah! Und letzter Punkt: bei mir einziehen. Trotz der vier oder fünf Nächte die Woche, die wir gemeinsam bei mir verbrachten, wohnte Dennis noch immer in dem Garagenapartment, das sein Bruder ihm vermietete. Ich dagegen hatte ein Haus mit zwei Schlafzimmern und Meerblick.

Mein Plan war es gewesen, abzuwarten, bis er mein Angebot akzeptierte. Dann wollte ich die Liste hinüberschieben und besprechen.

Doch er akzeptierte nicht.

Ich gestehe, dass ich ein wenig verwirrt war. Ich bat Dennis selten um etwas und nahm ihn als das, was er war – ein netter Kerl. Gut, in mancher Hinsicht benahm er sich noch wie ein kleiner Junge, aber das war in Ordnung. Und obwohl ich es nicht alle naselang sagte, liebte ich ihn. Wer tat das nicht? Dennis war hier auf der Insel geboren und hatte oder machte sich überall Freunde, wohin er auch ging.

Zugegeben, er war nicht der … hm, Intellektuellste, aber er hatte das Herz am rechten Fleck und war sehr tapfer. Tatsächlich hatte er vor ein paar Jahren in seiner zweiten Woche als Feuerwehrmann drei Kinder aus einem brennenden Haus gerettet und war hier am Ort so etwas wie ein Held. Und da wir gerade von Kindern sprechen: Dennis kam gut mit Kindern zurecht und ging sehr natürlich mit ihnen um – ganz im Gegensatz zu mir, die ich trotzdem hoffte, eines Tages eigene Kinder zu haben. Dennis jedoch … Der warf sich einfach auf den Boden und rollte und tollte mit seinen sieben Nichten und Neffen herum, die ihn abgöttisch liebten.

Umgekehrt konnte man auch davon ausgehen, dass Dennis mich mochte. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Männer diesen verkniffenen Blick bekamen, wenn sie erfuhren, wie viel ich verdiente. Frauen übrigens auch – als wäre ich so was wie die Pest, nur weil ich manchen Leuten das Ende ihrer unglücklichen Ehe erleichterte. Es gab nicht wenige Menschen, die mir liebend gern die Reifen zerstochen hätten, nachdem ich die Vertretung ihrer jeweiligen Ehepartner übernommen hatte.

Ich war schon als Schlampe bezeichnet worden (und Schlimmeres), hatte Kaffee ins Gesicht geschüttet bekommen, war bespuckt, verflucht und verdammt worden.

Ich sah es als Kompliment an. Ja, ich war eine sehr gute Scheidungsanwältin. Wenn das bedeutete, dass ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Leuten eine Voodoo-Puppe mit roten Haaren und engem grauen Kostüm besaß, dann sei’s drum. Tatsächlich hatte ich Dennis kennengelernt, nachdem mein Auto von einer verärgerten Ehefrau gerammt worden war und die Feuerwehr mich hatte aus dem Wagen schneiden müssen. (Ich hatte keine weiteren Verletzungen davongetragen und den Zuspruch einer netten Schadensersatzzahlung durch Richter Burgess eingestrichen, bei dem ich einen Stein im Brett hatte.) „Wollen Sie ein Bier mit mir trinken?“, hatte Dennis damals gefragt. „In einer halben Stunde hab ich Feierabend.“ Und da ich weitaus mehr unter Schock stand, als ich zugeben wollte, hatte ich eingewilligt.

Er schien weder durch meinen Ruf als „Eierquetscherin“ noch durch mein üppiges Einkommen eingeschüchtert zu sein. Gut. Dennis konnte mich gut leiden. Und ich mochte vielleicht keine Bilderbuchschönheit sein, aber ich wusste, dass ich attraktiv war (sehr sogar, wie manch einer sagen würde), geschmackvoll und gut gekleidet, strebsam, erfolgreich, klug und loyal. Und auch lustig. Na ja … manchmal zumindest. Okay, es gab sicher Leute, die dem nicht zugestimmt hätten, aber ich war lustig genug.

Alles in allem, fand ich, konnten wir sehr zufrieden sein. Und zufrieden wurde viel zu oft unterschätzt.

Wie ich nur zu gut wusste, waren Ehen zerbrechliche Pflänzlein der Hoffnung, und eine von dreien endete als ein Haufen verdorrter Blätter. In meiner Erfahrung zählten die meisten davon zu der Sorte: „Oh, mein Liebling, mit dir fange ich erst wirklich zu leben an!“ … eben der Sorte, die auf einem Scheiterhaufen aus Hass und Bitterkeit endete. Bequemlichkeit, Kameradschaft und realistische Erwartungen klangen natürlich nicht annähernd so verlockend wie unvergängliche Leidenschaft, waren aber weitaus mehr wert, als die meisten Menschen dachten.

Doch es gab einen weiteren Grund, weshalb ich Dennis dazu bringen wollte, mich zu heiraten. Bald würde ich vierunddreißig werden und damit so alt wie meine Mutter, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Aus irgendeinem Grund empfand ich die Vorstellung, in diesem Alter alleinstehend zu sein, als massives Versagen. Seit einigen Monaten schon hatte der Gedanke einen dunklen Schatten auf mein Leben geworfen. Genauso alt wie sie. Genauso alt wie sie.

Dennis schwieg noch immer. Seine Serviette hatte er mittlerweile zu Konfetti verarbeitet. „Du, hör mal“, meinte er schließlich. „Harp. Äh, Harper, meine ich. Also, Schatz … es ist so …“

In diesem Moment begann Audrey Hepburn in meiner Handtasche zu trällern. „Moon River“, das Lied, das einen Anruf meiner Schwester anzeigte. Wie Audrey war auch meine Schwester süß, lieb und schutzbedürftig. Sie war vor Kurzem nach New York gezogen, und ich hatte schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört.

„Willst du rangehen?“, fragte Dennis eifrig.

„Äh … macht es dir was aus?“, fragte ich zurück. „Es ist meine Schwester.“

„Nein, gar nicht“, erwiderte er sichtbar erleichtert. „Lass dir Zeit.“ Er leerte die verbliebene Hälfte seines Biers und widmete sich wieder dem Spiel der Bostoner Red Sox.

„Hallo, Willa!“

„Harper? Ich bin’s, Willa!“ Obwohl meine Stiefschwester schon siebenundzwanzig war, klang ihre Stimme immer noch ein wenig kindlich, und ich musste jedes Mal lächeln, wenn ich sie hörte.

„Hallo, Süße! Wie läuft’s im Big Apple? Geht es dir gut?“

„Es ist alles ganz toll. Und, Harper, ich habe Neuigkeiten.

Großartige Neuigkeiten!“

„Wirklich? Hast du einen Job?“

„Ja, ich bin, äh … Bürofachkraft. Aber das ist nicht die Neuigkeit. Bist du bereit? Sitzt du?“ Ich bekam eine düstere Vorahnung und sah zu Dennis hinüber, der konzentriert das Baseballspiel verfolgte. „Okay … was ist es?“

„Ich werde heiraten!“

Ich schlug die freie Hand vor den Mund. „Willa!“

„Ich weiß, ich weiß, du kriegst die Krise, und ja, wir haben uns erst vor ein paar Wochen kennengelernt. Aber es ist wie Kismet – ist das das richtige Wort? Absolut fantastisch. Ich meine … so etwas habe ich noch nie empfunden. Ehrlich!“

Verdammt. Ich atmete tief ein und hielt für ein paar Sekunden die Luft an, dann atmete ich langsam aus. „Ich will ja kein Spielverderber sein, aber das hast du beim ersten Mal auch gesagt, Schätzchen. Und auch beim zweiten.“

„Ach, sei still!“, erwiderte sie lachend. „Du bist tatsächlich ein Spielverderber! Ich wusste, dass du ausflippst, aber bitte tu’s nicht. Ich bin siebenundzwanzig, ich weiß also, was ich tue. Ich habe auch nur angerufen, weil … ach, Harper, ich bin ja so glücklich! Unendlich glücklich! Ich liebe ihn so sehr. Und er vergöttert mich!“

Ich schloss die Augen. Ihren ersten Ehemann Raoul hatte Willa mit zweiundzwanzig geheiratet, drei Wochen nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war; die Scheidung erfolgte einen Monat später, nachdem er ein Glasperlengeschäft überfallen hatte. Ehemann Nummer zwei, den meine Schwester mit fünfundzwanzig geheiratet hatte, hatte sieben Wochen nach der Hochzeit sein Coming-out. Und nur Willa hatte es überrascht.

„Das klingt toll, Süße. Er ist bestimmt … super. Aber … heiraten? Jetzt schon?“

„Ich weiß, ich weiß. Aber ich bin eben total verliebt!“

So viel zum Thema: aus Fehlern lernen. „Es hat noch niemandem geschadet, es langsam angehen zu lassen. Mehr sage ich ja nicht.“

„Sag lieber, dass du dich für mich freust, Harper. Komm schon. Mama ist überglücklich.“

Das war keine Überraschung. Meine Stiefmutter, die monsterblonde BeverLee, schwärmte für Hochzeiten jeglicher Art, ob sie in der eigenen Familie, in Illustrierten oder in einer der drei Seifenopern stattfanden, die sie täglich sah.

„Es scheint mir nur sehr schnell zu gehen, das ist alles, Willa.“ Willa seufzte. „Ich weiß. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist es der Richtige.“

„Du bist doch gerade erst vor zwei Monaten umgezogen, Schätzchen. Willst du nicht erst einmal das Leben in der Stadt genießen und herausfinden, welche Arbeit zu dir passt?“

„Das kann ich doch immer noch tun. Ich heirate ja nur – ich werde nicht sterben.“

Meine Schwester klang jetzt nicht mehr so entspannt, und ich wusste, ich sollte ein Friedensangebot machen. „Du hast recht. Tja, das ist dann ja sehr aufregend. Meinen Glückwunsch, Süße! Hey! Ich würde euch gern hier auf der Insel eine tolle Hochzeitsparty schmeißen. Für diesen Herbst sind alle guten Lokale sicher schon ausgebucht, aber im nächsten Sommer …“

„Vielen Dank, Harper, das ist wirklich lieb von dir, aber wir haben schon etwas gefunden, und du wirst niemals raten, wo!“

„Wo?“

„Im Glacier-Nationalpark in Montana!“

„Wow.“ Ich sah zu Dennis, doch dessen Aufmerksamkeit war noch immer auf den Bildschirm über der Theke gerichtet. „Also, äh … an welches Datum hattet ihr denn gedacht?“ Bitte, lass es noch nicht so bald sein.

„Oh, schon sehr bald“, erwiderte sie aufgeregt. „Am elften September! Du wirst doch meine erste Brautjungfer sein, oder? Bitte!“

„Am elften September, Willa?“

„Ach, komm schon! An dem Tag kann man doch gut ein bisschen Aufmunterung gebrauchen, oder nicht?“

„Das ist in zwei Wochen.“

„Na und? Wenn es passt, dann passt es. Willst du nun meine Brautjungfer sein oder nicht?“

Ich machte den Mund auf, schloss ihn wieder und biss mir auf die Zunge. In zwei Wochen? Vermaledeiter Freitag! Nur zwei Wochen, um Willa eine weitere katastrophale Ehe auszureden oder sie zumindest zu bremsen, damit sie ihren zukünftigen Ehemann erst einmal besser kennenlernte. Ich konnte es schaffen. Ich musste nur erst einmal mitspielen. „Aber klar. Natürlich will ich deine erste Brautjungfer sein.“

„Hurra! Danke, Harper! Das wird einfach bombastisch! Aber, hör zu. Das Beste hab ich dir noch gar nicht erzählt.“

Mir wurde übel. „Bist du schwanger?“, fragte ich ruhig. Das wäre in Ordnung. Das Kind würde ich natürlich unterstützen. Das Studium bezahlen. Sicherstellen, dass das Kind zur Schule ging …

„Nein, ich bin nicht schwanger. Was denkst du denn von mir! Nein, du kennst den Bräutigam.“

„Ach ja?“

„Ja. Die Welt ist klein. Willst du raten?“

„Nein. Sag mir einfach, wer es ist.“

„Sein Vorname beginnt mit C.“

Männer mit C in Manhattan? „Ich … ich hab keine Ahnung.

Ich gebe auf.“

„Christopher.“ Willas Stimme klang zärtlich. „Christopher wer?“

„Christopher Lowery!“

Ich zuckte zusammen, und der Pinot Noir in meinem Glas schwappte gefährlich. „Lowery?“, wiederholte ich krächzend.

„Ich weiß! Ist das nicht ulkig? Ich heirate tatsächlich den Bruder deines Exmannes!“

2. KAPITEL

Als ich kurz darauf das Gespräch beendete, merkte ich, dass meine Hände zitterten. „Dennis?“, sagte ich. Meine Stimme klang eigenartig, und Pater Bruce sah besorgt zu uns herüber. Ich lächelte ihn an – nun gut, ich versuchte es zumindest. „Den?“

Mein Freund fuhr zusammen. „Alles okay, Liebling? Du siehst … komisch aus.“

„Es ist etwas passiert. Willa hat … äh … könnten wir unser Gespräch wohl auf später vertagen? In ein paar Wochen?“

Man konnte ihm die immense Erleichterung sofort ansehen. „Oh … ja, sicher! Natürlich! Geht es deiner Schwester gut?“

„Ja … na ja, also … Sie wird heiraten.“

„Cool.“ Er runzelte die Stirn. „Oder nicht?“

„Es ist … nicht cool. Ich muss jetzt los, Dennis. Tut mir leid.“

„Nein, nein, ist schon gut“, sagte er. „Soll ich dich nach Hause fahren? Oder bei dir bleiben?“

„Heute Nacht nicht, Dennis, aber danke.“

Ich muss seltsam geklungen haben, denn Dennis zog die Augenbrauen zusammen. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“ Über den Tisch hinweg griff er nach meiner Hand, und ich drückte seine dankbar. Wenn man die harte Schale erst einmal durchdrungen hatte, war Dennis ein wirklich lieber, guter Kerl.

„Alles in Ordnung. Danke. Es ist nur … tja, die Hochzeit soll schon in zwei Wochen stattfinden. Das war dann doch ein kleiner Schock.“

„Oh, absolut.“ Er lächelte und küsste mir die Hand. „Ich ruf dich später an.“

Ich fuhr nach Hause, ohne die Straße oder den Verkehr richtig wahrzunehmen, aber offenbar schaffte ich es, keine Fußgänger oder Bäume anzufahren. Da wir uns mitten in der Hochsaison befanden, wählte ich den Weg durch das Hinterland, fuhr nach Westen in einen beinahe brutalen Sonnenuntergang aus großen roten und violetten Flecken, blickte gebannt auf die endlosen Felswände, die Kiefern und Eichen und die mit grauen Schindeln gedeckten Häuser. Die Zeit, die ich außerhalb dieser Insel verbracht hatte – der Besuch auf dem College, der kurze Abstecher nach New York und dann das Jurastudium in Boston –, hatte mich in dem Glauben bestärkt, dass dies der schönste Ort der Welt war.

Auf Martha’s Vineyard gab es acht Ortschaften. Ich arbeitete in Edgartown mit seinen weißen Kapitänshäusern, den Vorzeigegärten und natürlich dem schönen Gerichtsgebäude aus roten Ziegeln. Dennis wohnte im malerischen Oak Bluffs, das für seine bunten „Zuckerbäckerhäuschen“ im viktorianischen Stil berühmt war, die die Methodisten im 19. Jahrhundert für ihre gut besuchten jährlichen Treffen bauen ließen. Und ich wohnte in Menemsha, einem kleinen Stadtteil von Chilmark.

Nachdem ich geduldig gewartet hatte, bis eine Gruppe Touristen die Straße überquert hatte, bog ich in die mit zerstoßenen Muscheln bestreute Auffahrt zu meinem Haus ein. Es war recht klein und unauffällig von außen, von innen aber war es perfekt. Und die Aussicht … die Aussicht war unbezahlbar! Wenn es auf Martha’s Vineyard ein Arbeiterviertel gab, dann war es hier, am „Dutcher’s Dock“ von Menemsha, wo noch immer die Hummerfischer ihren Fang einbrachten und immer noch Schiffe ausfuhren, um Schwertfisch zu fangen. Der Vater meines Vaters war ein solcher Fischer gewesen, und ich wohnte in seinem früheren Haus.

Durch das Wohnzimmerfenster sah ich immer wieder Cocos weiß-braunen Kopf auftauchen, während mein Hund auf und ab sprang, um sich zu vergewissern, dass ich tatsächlich nach Hause gekommen war. Im Maul trug sie ihr Lieblingsknuddeltier, einen weißen Stoffhasen, der fast größer war als sie selbst. Coco war eine Mischung aus Jack Russell und Chihuahua und vermutlich leicht schizophren, da sie, je nachdem, wie sie es brauchte, vom überschwänglichen, anhänglichen Jack Russell zum schüchternen, verletzlichen Chihuahua wechselte. Im Moment war sie ausgelassen und fröhlich, aber wenn es darum ging, dass sie ins Körbchen sollte, würde sie sich wieder in ein armes zitterndes Hündchen verwandeln, das unbedingt mit dem Kopf auf meinem Kissen schlafen musste.

Ich schloss die Tür auf und trat ins Haus. „Hallo, Coco“, begrüßte ich meinen Hund, der mir mit einem einzigen Satz auf die Arme sprang und mir das Kinn leckte. „Hallo, mein Baby! Wie geht’s meinem Mädchen, hmm? Hattest du einen schönen Tag? Hast du den Roman fertiggeschrieben, an dem du gerade arbeitest? Ja? Oh, braves Mädchen!“ Ich gab ihr einen Kuss auf den braun-weißen Kopf und hielt sie ein oder zwei Minuten lang ganz fest.

Als Pops noch gelebt hatte, war dieses Haus ein typisches Standardgebäude gewesen. Drei kleine Schlafzimmer, ein großes und ein kleines Bad, Wohnzimmer, Küche. Er starb während meines Jurastudiums und vererbte das Haus mir, seinem einzigen Enkelkind (also, seinem einzigen biologischen Enkelkind … Willa hatte er auch sehr gern gemocht, aber ich war nun mal sein spezieller Liebling gewesen). Was auch immer ich als Scheidungsanwältin verdiente – diesen Blick hätte ich niemals mit eigenem Geld bezahlen können. Dank Pops durfte ich ihn genießen. Ich hätte das Haus locker für mehrere Millionen Dollar an einen Immobilienentwickler verkaufen können, der es abgerissen und dort in null Komma nichts ein Ferienhaus hingeklatscht hätte. Aber das hatte ich nicht getan. Stattdessen hatte ich meinen Vater, einen Bauunternehmer, beauftragt, es zu renovieren.

Wir rissen also ein paar Wände ein, verlegten die Küche, machten aus drei Schlafzimmern zwei, bauten überall, wo es ging, Glasschiebetüren ein, und das Ergebnis war ein schmuckes kleines, luftiges Heim – gekauft durch die harte, schweißtreibende Arbeit meines Seemannsgroßvaters, renoviert durch die Hände meines Vaters, finanziert durch mein Gehalt als Anwältin. Eines Tages, so stellte ich mir vor, würde ich ein zweites Stockwerk anbauen lassen, um meine zukünftigen hübschen und wohlerzogenen Kinder unterzubringen, aber so, wie es war, reichte es für Coco und mich mit Dennis als regelmäßigem Gast aus. Sandfarbene Wände, weiße Decken, wenige weiße Möbel, hin und wieder ein Farbtupfer – ein grüner Ruderriemen von einem Flohmarkt in Tisbury lehnte geschmackvoll in einer Ecke, ein weicher blauer Sessel stand vor dem Fenster zum Meer. An den Schiebetüren, die zur Terrasse hinausführten, hing ein orangefarbener Rettungsring mit abblätternden Buchstaben, die Pops Schiff und Heimathafen angaben: Pegasus, Chilmark.

Ich dachte an die Neuigkeiten meiner Schwester und seufzte.

Ich heirate tatsächlich den Bruder deines Exmannes!

Vermaledeiter Freitag!

Zeit für etwas Vino-Therapie. Ich setzte Coco ab, holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und schenkte mir ein Glas gut voll, oh ja! Ich trank die Hälfte in einem Zug, schnappte mir eine Tüte Balsamico-Kartoffelchips, nahm die Flasche und das Glas und ging auf die Terrasse hinaus, während Coco auf ihren kleinen süßen Beinchen neben mir hertrottete.

Meine Schwester heiratete also Christopher Lowery, einen Mann, den ich zuletzt auf meiner eigenen Hochzeit dreizehn Jahre zuvor gesehen hatte. Wie alt war er da gewesen? Sechzehn? Achtzehn?

Ich trank einen kleinen Schluck, genüsslicher diesmal, und zwang mich, die salzige, feuchte Luft tief einzuatmen, die nach Tang und Fischen duftete (oh ja, ich bin hier geboren). Ich lauschte dem Klang des unablässigen Inselwindes, der mein Haus an diesem Abend von zwei Seiten umwehte, sodass ich Fetzen von Musik und Gelächter von anderen Orten hörte. Beruhige dich, Harper, ermahnte ich mich. Krieg bloß keine Panik. Zumindest jetzt noch nicht.

„Ich hole mir auch ein Glas“, ertönte da plötzlich eine Stimme. Kim, meine Nachbarin und beste Freundin. „Und dann will ich alles haarklein hören.“

„Na klar“, sagte ich. „Wer kümmert sich um die Kinder?“

„Ihr missratener Vater.“

Wie aufs Stichwort brüllte Lou in diesem Moment aus dem Nachbarhaus durch die relative Stille zu uns herüber: „Schatz, wo ist denn die Schachtel mit den Höschenwindeln?“

„Such sie doch, verdammt noch mal! Das sind auch deine Kinder!“, brüllte Kim zurück.

Es folgte das Kreischen und Jaulen eines von Kims vier Söhnen. Ich unterdrückte ein Schaudern. Unsere Häuser standen nur wenige Meter voneinander entfernt, aber glücklicherweise ein Stück versetzt, sodass ich nicht alle Facetten ihren Eheglücks belauschen musste.

„Das Haus ist ein Saustall!“, brüllte Lou.

„Dann räum auf!“, konterte seine Gattin.

„Wie bewahrt ihr euch eigentlich den Zauber eurer Ehe?“, erkundigte ich mich und nippte an meinem Glas. Kim lächelte und ließ sich in den Sessel neben mir fallen.

„Du wirst es nicht glauben, aber letzte Nacht haben wir es getrieben wie die Affen“, antwortete sie und schenkte sich Wein ein.

„Und wie treiben es Affen?“, wollte ich wissen und hob eine Augenbraue.

„Schnell und wild“, meinte sie lachend und stieß mit mir an. Kim und Lou waren glücklich verheiratet. Sie waren nicht gerade meine Vorbilder, aber dennoch ermutigend. Kurz nach ihrem Einzug ein paar Jahre zuvor hatte Kim plötzlich mit einer Schachtel Donuts und einer Flasche Wein vor meiner Tür gestanden und mir ihre Freundschaft angeboten. So was gefiel mir.

„Mommy!“, rief einer der Zwillinge.

„Ich bin beschäftigt!“, rief sie zurück. „Frag deinen Vater! Also ehrlich, Harper, es ist ein Wunder, dass ich die vier noch nicht in die Sklaverei verkauft habe.“ Kim gab oft vor, mich um meinen Singlestatus und meinen Job zu beneiden, aber in Wahrheit beneidete ich sie. Zumindest in mancher Hinsicht. Sie und Lou waren treu, beständig und liebevoll und fühlten sich mit ihrem derben und scherzhaft nörgelnden Umgangston wohl und geborgen. (Sehen Sie? Ich habe absolut nichts gegen die Ehe, wenn sie richtig läuft.) Griffin, ihr ältester Sohn, war sieben, hatte aber die Seele eines Sechzigjährigen. Hin und wieder kam er zu mir herüber, um Scrabble zu spielen oder um Coco zu streicheln. Ich mochte ihn gern – lieber als die vierjährigen Zwillinge Gus und Harry, die überall Chaos und Dreck verbreiteten. Der zweijährige Desmond hatte mich in der vergangenen Woche gebissen, wenige Sekunden später jedoch sein feuchtes, pausbäckiges Gesicht gegen mein Knie gedrückt, was sich seltsam nett angefühlt hatte, deshalb war das Urteil über ihn noch nicht endgültig gefällt.

„Und? Bist du jetzt verlobt?“, wollte Kim wissen. „Sag’s bitte gleich, damit ich mit meiner Diät anfangen kann. So, wie ich jetzt aussehe, will ich bestimmt keine Brautjungfer sein.“

„Ich bin nicht verlobt“, erwiderte ich ruhig.

„Heiliger Scheiterhaufen!“ Kim, die versuchte, in Gegenwart ihrer Kinder nicht zu fluchen, hatte eine ganz eigene Art von Kraftausdrücken erfunden, die ich gelegentlich imitierte. „Er hat dir einen Korb gegeben?“

„Na ja, nicht wirklich. Meine Schwester rief an, während ich mit ihm gesprochen habe, und – rate mal! – sie wird heiraten!“

„Schon wieder?“

„Genau. Aber es kommt noch besser. Sie hat ihn vor einem Monat erst kennengelernt, und …“ Ich hielt inne und trank noch einen Schluck Wein. „… er ist mein ehemaliger Schwager, der Bruder meines Exmannes. Halbbruder, um genau zu sein.“

Kim verschluckte sich und hustete. „Du hast einen Exmann, Harper? Wieso wusste ich nichts davon?“

Betreten sah ich sie an. „Ich schätze, es hat sich nie ergeben, dass ich es erwähne. Es ist lange her, eine Jugendsünde und so weiter, bla, bla, bla.“ Ich fragte mich, ob sie mir das wohl abkaufte. Wir versuchten, die Schreie aus dem Nachbarhaus nicht weiter zu beachten, allerdings sprang Coco, ganz Chihuahua, auf meinen Schoß und zitterte. Ein Kartoffelchip kurierte ihre Angst sofort.

„So, so“, meinte Kim, als ich nichts weiter sagte.

„Ja.“

„Dann ist Willa … deinem Exschwager also einfach über den Weg gelaufen?“, erkundigte sie sich. „Sicher, die Welt ist klein, aber … komm schon. In New York City?“

Darüber hatte ich noch gar nicht weiter nachgedacht, da mich die Erwähnung … seines Namens … bereits zu sehr schockiert hatte. Nach all den Jahren, die ich nicht an ihn gedacht hatte, blinkte sein Name nun vor meinem geistigen Auge auf. Ich zuckte mit den Schultern, nahm noch einen Schluck Wein und lehnte meinen Kopf gegen den Sessel. Der Himmel war jetzt lavendelfarben mit einem dünnen Streifen matten Rots am Horizont, wo die Sonne verschwunden war. Die Touristen, die den Sonnenuntergang am Meer beobachtet hatten, stiegen wieder in ihre Autos und fuhren für einen abendlichen Drink nach Oak Bluffs oder Edgartown. In Chilmark wurde – wie in den vier anderen Orten auf Martha’s Vineyard – kein Alkohol ausgeschenkt. Ah, Neu-England!

„Dann wirst du ihn also wiedersehen, deinen Ex, oder? Wie heißt er?“

„Wenn sie das tatsächlich durchziehen, werde ich ihn wohl sehen, ja. Die Hochzeit soll in zwei Wochen stattfinden. In Montana.“ Ich nahm einen weiteren Schluck. „Er heißt Nick.“ Es fühlte sich eigenartig an, den Namen auszusprechen. „Nick Lowery.“

„Huhu! Harper-Schätzchen! Wo bist du? Hast du mit deiner Schwester gesprochen? Das ist ja so aufregend! Und so romantisch! Ich hab mir fast ins Höschen gepinkelt, als sie es mir erzählte!“

Meine Stiefmutter kam ins Haus gestürmt – sie klopfte niemals an. „Wir sind hier draußen, BeverLee“, rief ich und stand auf, um sie zu begrüßen. Ihr hochtoupiertes buttergelbes Haar stand ihr zwölf Zentimeter vom Kopf ab („Je höher das Haar, desto näher zu Gott“, sagte sie oft), ihr Make-up konnte das eines Provinztransvestiten ausstechen, und das heruntergezogene T-Shirt entblößte ihr üppiges Dekolleté. Die Vorzeigefrau meines Vaters seit nunmehr fünfzehn Jahren … fünfzehn Jahre jünger als er, blond und Texanerin. Hinter ihr war mein großer, schlanker Vater kaum zu sehen.

„Hallo, Dad.“ Mein Vater, der nur sprach, wenn man ihm eine Pistole auf die Brust setzte, nickte und kniete sich hin, um Coco zu streicheln. Sie wedelte dabei so heftig mit dem Schwanz, dass man dachte, gleich müsse ihr das Rückgrat brechen. „Hallo, Bev. Ja, ich habe mit ihr gesprochen.“ Ich hielt inne. „Was für eine Überraschung!“

„Hallo, Kimmy! Wie geht’s? Hat Harper Ihnen die frohe Nachricht schon erzählt?“

„Oh ja, das hat sie. Wie aufregend.“ Sie sah mich an und zwinkerte.

„Ich weiß!“ BeverLee gluckste. „Und dann noch in Montana! Das ist ja so romantisch! Wahrscheinlich hat Chris dort einen Sommer trainiert oder so etwas … Wie auch immer, ich kann es kaum erwarten! Welche Farbe wird dein Kleid haben, Schätzchen? Jimmy, was meinst du?“

Ich sah zu meinem Vater. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und nickte. Dies würde, wie ich aus Erfahrung wusste, sein einziger Beitrag zu diesem Gespräch bleiben. Dad war so schweigsam, dass man ihn oft schon im Koma wähnte. Doch BeverLee brauchte keine weitere Person, um eine Unterhaltung zu führen.

„Ich denke da an Lavendel, was meint ihr? Also für dich, Harper, nicht für mich. Ich denke, ich bestelle dieses süße orangefarbene Kleid, das ich im Internet entdeckt habe. ‚Melonorange‘ hieß die Farbe, ganz entzückend. Ihr wisst ja, wie sehr ich Orange liebe!“

„Ich muss gehen“, sagte Kim unvermittelt. „Ich glaube, nebenan ist gerade etwas zerbrochen. Wir sprechen uns, Harper. Tschüss, Mr James, Mrs James.“

„Ach Liebes, Sie müssen mich nicht Mrs James nennen, das habe ich doch schon hundertmal gesagt!“

„Tschüss, BeverLee“, erwiderte Kim freundlich. Sie kippte den Rest ihres Weins hinunter und winkte mir zu.

„Bis bald“, sagte ich und drehte mich wieder zu meiner Stiefmutter und meinem Vater um. „Also. Bevor wir die Kleider aussuchen, sollten wir vielleicht erst mal darüber reden, wie … äh, vernünftig dieser Schritt wohl ist.“

„Vernünftig? Nun hör dich nur an!“, rief BeverLee. „Jimmy, setz dich da in den Sessel. Deine Tochter will reden!“ Sie kam zu mir, zog ein paar Haarsträhnen aus meinem Pferdeschwanz und fing an, sie hochzubauschen. „Also wirklich, Harper, der Mann weiß gar nicht, was er davon halten soll! Sein kleines Mädchen heiratet den Exmann seines anderen kleinen Mädchens! Das ist einfach verrückt.“ Mit diesen Worten zog sie die Reisegröße ihres superstarken Haarlacks aus der Tasche und sprühte meinen Kopf ein.

„Schon gut, BeverLee, das reicht“, sagte ich und versuchte, nicht einzuatmen. „Wunderbar. Danke.“ Sie steckte ihre Waffe weg, und ich räusperte mich. „Also, zunächst einmal heiratet Willa nicht meinen Exmann“, sagte ich mit meiner Gerichtssaalstimme. „Nur, um das klarzustellen. Sie heiratet Christopher. Christopher ist Nicks Halbbruder. Ich war mit Nick verheiratet.“

„Ach Schätzchen, das weiß ich doch.“ BeverLee wühlte in ihrer Handtasche und zog ein Päckchen Virginia Slims hervor. „Ich war bei deiner Hochzeit anwesend, oder nicht? Ich habe mich nur versprochen, da musst du mir nicht gleich den Kopf abreißen, okay? Nur weil du Muffensausen kriegst, weil du Nick wiedersehen wirst, heißt das noch nicht, dass du …“

„Ich kriege kein Muffensausen“, murmelte ich.

„… die Hand beißen solltest, die dich füttert. Das ist ein glücklicher Tag, hörst du?“ Die Königin der Katachresen nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch aus dem Mundwinkel wieder aus.

„Du fütterst mich nicht.“

„Würde ich aber gern. Du siehst ganz schön verhungert aus. Jedenfalls liebt Willard Violett, also wäre Lavendel die richtige Farbe, mein Schatz. Du willst Willard doch glücklich machen, oder?“

Ich öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Wenn ich einen schwachen Punkt hatte, dann war es Willa. Oder genauer: Willard Krystal Lupinski James.

Im Sommer, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, war mein Vater auf einen zweiwöchigen Kongress über Biobaumaterial nach Las Vegas geflogen (zumindest hatte er das gesagt). Ich verbrachte die vierzehn Tage bei meiner Freundin Heather, nannte ihre Mutter „Mom“ und tat so, als wäre es ein Witz und kein Wunschtraum. Dad kehrte mit BeverLee Roberta Dupres McKnight Lupinski und ihrer Tochter Willard zurück.

Ich war schockiert, entsetzt und wütend. Als mein Vater gesagt hatte, er fliege in den Westen, hatte ich mir insgeheim ausgemalt, dass er Mom finden und sie um Verzeihung bitten würde (für das, was auch immer er getan haben mochte) und dass sie dann wieder nach Hause käme und wir alle glücklich wären. Der rationale Teil meines Gehirns wusste natürlich, dass das nicht geschehen würde … aber das!? Das hatte ich wirklich nicht vorausgesehen. Dad hatte geheiratet? Diese … Barbie aus dem Wohnwagenpark? Waren das echte Brüste? Musste man so viel davon sehen? Und musste ich mein Zimmer jetzt mit ihrem Gör teilen? Hatte er den Verstand verloren? Doch in typischer Dad-Manier war seine Antwort kurz und bündig ausgefallen: „Es ist passiert, Harper. Mach es uns nicht schwerer als nötig.“

„Willard, geh, und gib deiner neuen Schwester einen Kuss, Schätzchen. Na, geh schon!“ Willard klammerte sich stärker an der Hand ihrer Mutter fest und weigerte sich aufzusehen. Sie war blass und dünn, mit strähnigem Haar und aufgeschürften Knien. Herrje. Mein Herz blutete noch, weil meine Mutter uns verlassen hatte, und nun sollte ich mit denen da zusammenwohnen? Ich hatte eine Stiefmutter? Eine Stiefschwester? Mein Vater war ein Blödmann, und ich würde es ihm auf gar keinen Fall leicht machen. Ich würde die beiden hassen. Vor allem das Mädchen. Das … (na, traute ich mich?) … doofe Mädchen.

Mein Vorsatz hielt etwa acht Stunden. Ich ging in mein Zimmer, um an den heißen, bitteren Tränen zu ersticken, die ich nicht einmal damals weinen konnte. Ich verfluchte meinen schweigsamen Vater und wetterte gegen die Ungerechtigkeit des Lebens, insbesondere meines Lebens. Natürlich ging ich nicht zum Abendessen. Lieber wäre ich in meinem Zimmer verhungert, als da unten mit denen zu essen. Ich schmiedete Pläne, wie ich weglaufen/meine Mutter finden/berühmt werden/bei einem schrecklichen Unfall verunglücken könnte, damit sie ja merkten, was sie mir angetan hatten, und sich elendig schlecht fühlten, weil es nun zu spät wäre. Das hätten sie dann davon! Mein Vater war ein Arschloch. Meine Mutter … meine Mutter hatte mich verlassen, mein Vater sprach kaum ein Wort, ich hatte keine Geschwister. Diese komische BeverLee war einfach nur lächerlich. Ihre Tochter … Herrgott noch mal! Sie war auf keinen Fall meine neue Schwester, nur weil eine dahergelaufene Fremde meinen Vater geheiratet hatte, der immerhin anrufen und mich hätte warnen können.

Irgendwann schlief ich zusammengerollt ein, das Gesicht zur Wand gedreht, mit vom Zusammenpressen schmerzendem Kiefer und eiskaltem Herzen.

Gegen elf Uhr nachts wachte ich auf und hoffte, dass ich alles nur geträumt hätte. Aber nein. Vom anderen Ende des Flurs hörte ich … Geräusche … aus dem Schlafzimmer meines Vaters. Na toll! Nicht nur, dass er eine großbusige Blondinen-Barbie geheiratet hatte – jetzt hatte er auch noch Sex mit ihr! Das war mehr als ekelerregend! Ich tastete nach meiner alten Stoffpuppe, um sie mir gegen die Ohren zu drücken.

Willard – blöder Name! – raschelte in dem zweiten Bett in meinem Zimmer und schien etwas darunter verstecken zu wollen.

„Was machst du da?“, fragte ich mit der typischen Geringschätzung einer pubertierenden Jugendlichen.

Sie antwortete nicht. Das musste sie auch nicht.

„Hast du etwa ins Bett gemacht?“

Sie raschelte nur weiter. Na toll! Jetzt würde es auch noch nach Pipi riechen, als ob alles andere nicht schon schlimm genug war!

„Versteck das nicht“, murmelte ich und schob meine Decke beiseite. „Das müssen wir waschen, sonst stinkt es. Zieh dir einen neuen Schlafanzug an.“

Schweigend gehorchte sie. Ich ging mit der schmutzigen Wäsche nach unten, ohne auf die ekligen Geräusche aus dem Schlafzimmer zu hören. Willard schlich wie ein blasses, dünnes Gespenst hinter mir her. Ich stopfte die Laken in die Waschmaschine, füllte Waschmittel und etwas Bleiche ein – während des letzten Jahres hatte ich in Haushaltsdingen viel gelernt. Dann drehte ich mich um und wollte etwas Gemeines und Herrisches sagen, damit sie wüsste, wo ihr Platz wäre, und mich in Ruhe ließe …

Aber sie weinte.

„Möchtest du Eiscreme?“, fragte ich also, und ohne eine Antwort abzuwarten, hob ich sie hoch – sie war klein und knochig wie ein unterernährtes Küken, und ihr kurzes blondes Haar stand in alle Richtungen ab wie Federn. Ich trug sie in die Küche, setzte sie an den Tisch und holte zwei Becher Eis aus dem Gefrierschrank. „Ich glaube, ich werde dich Willa nennen“, sagte ich und gab ihr einen Löffel. „Wo du doch so hübsch bist, solltest du einen Mädchennamen haben, findest du nicht?“

Sie sagte nichts. Aß auch kein Eis.

„Willa? Ist das in Ordnung?“

„Es tut mir leid“, flüsterte sie, die Augen auf den Tisch gerichtet, und ich spürte eine heiße Welle aus Scham und Reue, aus Sehnsucht, Trauer und Hölle, alles zusammen.

Ich schluckte schwer, schob die schrecklichen Gefühle beiseite und löffelte mein Eis. „Klingt gut, findest du nicht? Willa und Harper. Willa Cather und Harper Lee sind zwei tolle amerikanische Schriftstellerinnen, wusstest du das?“

Natürlich wusste sie das nicht. Ich selbst hatte es erst in jenem Sommer gelernt, in dem ich jede freie Minute in der kleinen Bücherei verbracht hatte, um die grässliche Leere zu füllen, die meine Mutter hinterlassen hatte. Den ganzen Sommer über hatte ich mich vor den mitleidigen Blicken des überfreundlichen Personals zwischen den Regalen versteckt, darum gebetet, unsichtbar zu sein, und war in die Welt der Bücher eingetaucht. Und obwohl ich kaum vier Sätze mit BeverLee gewechselt hatte, ahnte ich (zu Recht, wie sich herausstellte), dass ihre intellektuell stimulierendste Literatur aus der Glamour-Wochenzeitschrift Us Weekly bestand.

„Ich finde, das klingt gut. Willa und Harper, Harper und Willa.“ Ich schwieg kurz. „Ich schätze, wir sind jetzt Schwestern.“

Da sah sie mich zum ersten Mal an. In ihren Augen schimmerte Hoffnung. Und von da an liebte ich sie, einfach so. Und kümmerte mich um sie.

Ich schüttelte die Erinnerung ab. BeverLee redete davon, wann sie nach Montana fliegen würden, welche Aussteuer sie innerhalb dieser kurzen Zeit für ihr Schätzelchen zusammenstellen konnte, und Dad starrte auf die Schiffe im Hafen.

Ich räusperte mich. „Macht sich denn sonst keiner Sorgen darüber, dass Willa jetzt zum dritten Mal heiratet?“

„Tja, also, dein Vater ist auch mein dritter Mann, oder etwa nicht, mein Bärchen? Ich schätze also mal, dass daran nichts verkehrt sein kann. Aller guten Dinge sind drei!“

„Sie hat den Mann gerade erst kennengelernt“, erinnerte ich sie.

„Na ja, sie haben sich doch auch auf deiner Hochzeit gesehen.“

„Ja, etwa sechs Stunden“, bemerkte ich.

„Und Christopher muss ein guter Mann sein, wenn er Nicks Bruder ist.“ Ich unterdrückte den stechenden Schmerz, den diese Bemerkung in mir hervorrief. Mein unreifes Ich hätte am liebsten gehört: Wenn er mit deinem dämlichen Exmann verwandt ist, Harper, dann muss er ein richtiges Arschloch sein!

Aber nein, BeverLee machte ungebremst weiter. „Christopher hörte sich am Telefon sehr nett an! Er hat wirklich gute Manieren, und ich finde, das sagt etwas über einen Mann aus. Meinst du nicht auch, Jimmy-Bärchen?“

Mein Vater antwortete nicht.

„Dad? Hast du irgendwas dazu zu sagen?“

Er sah mich an. „Willa ist erwachsen, Harper. Sie ist fast dreißig.“

„Sie hat bisher einen Verbrecher und einen Schwulen geheiratet. Vielleicht sollte man in Erwägung ziehen, dass sie, was das Einschätzen von Männern angeht, nicht unbedingt ein Genie ist“, gab ich ruhig und freundlich zurück.

„Ach Harper, was redest du da? Glaubst du denn nicht an die wahre Liebe?“

„Äh, nein … nicht in dem Sinn, wie du es meinst, BeverLee.“

„Mein armes Kind, du machst mir nichts vor. Ich wette, dein guter alter Dennis hat zum Thema wahre Liebe auch etwas zu sagen. Du weichst doch nur aus. Ich glaube, insgeheim bist auch du eine große Romantikerin. Du tust nur so zynisch wegen deiner Arbeit. Lavendel ist dann also in Ordnung? Und natürlich mache ich dein Haar. Du weißt, wie sehr ich das liebe.“

Es hatte wirklich keinen Sinn, mit BeverLee zu diskutieren. Oder mit Dad, der bekanntermaßen nie eine eigene Meinung vertrat. „Ja, Lavendel passt wunderbar.“ Ich seufzte. Hoffentlich würde Willa bis dahin Vernunft annehmen.

„Sollen wir alle zusammen reisen? Willard und Christopher fliegen Mittwoch in einer Woche, und dein Daddy und ich wollen auch so früh wie möglich vor Ort sein. Er kann es kaum erwarten, seine kleine Willard zu sehen, oder, Jimmy?“

„Sicher.“ Was vermutlich stimmte. Dad war mit Willa immer besser klargekommen als mit mir.

„Dann können wir für dich und Dennis doch auch gleich reservieren, wie wäre das? Wir könnten alle zusammen sitzen.“

Auch wenn ich meinen Vater und BeverLee wirklich lieb hatte, war die Vorstellung, mit ihnen gemeinsam fünf oder sechs Stunden eingezwängt in einem Flugzeug zu sitzen, so verlockend wie … ein Saunagang in Skiklamotten. Außerdem: Falls alles nach Plan liefe, würde sich der Flug ohnehin erübrigen. „Die Hochzeit ist an einem Samstag?“, fragte ich nach. BeverLee nickte. „Dann werden Dennis und ich wohl am Donnerstag oder Freitag fliegen, denke ich.“

„Komm schon, Harper-Schätzchen, es ist deine Schwester!“

„Und ich bin schon auf zwei ihrer Hochzeiten gewesen“, erwiderte ich lächelnd. „Ich komme, sobald ich kann, wie wäre das? Und ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss noch arbeiten“, sagte ich und stand auf.

„Aber sicher, du bist ja ein 1-a-Workaholic! Wir können einen dezenten Hinweis sehr wohl verstehen und müssen nicht zweimal aufgefordert werden.“ BeverLee drückte mich gegen ihre Brüste, die so groß und so fest waren wie Bowlingkugeln, küsste mich auf jede Wange, hinterließ dabei bestimmt eine Spur rosa Lippenstift, wuschelte mir noch mal durchs Haar und schaffte es sogar, erneut etwas Haarspray aufzusprühen. „Lass uns diese Woche mal Mittag essen gehen, ja? Dann können wir die Details besprechen. Sollen wir für ihre Junggesellinnenparty einen Stripper bestellen? Gibt es die Chippendales da in … Wo heiraten sie gleich noch mal?“

„Im Glacier-Nationalpark.“

„Ich würde wirklich gern wissen, ob es da männliche Stripper gibt.“ Bev schürzte nachdenklich die Lippen.

„Im Park selbst wohl eher nicht“, sagte ich. „Was würde Teddy Roosevelt als Vater aller Nationalparks wohl dazu sagen?“

„Dann kümmere ich mich besser darum“, meinte sie und ging, meinen Vater sowie eine Wolke ihres Parfüms im Schlepptau.

Drei Sekunden später war sie wieder da. „Ach Schätzchen, das ist jetzt vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, aber ich muss dich etwas fragen.“ Verstohlen sah sie sich um.

„Äh … Okay.“

„Ich muss dir etwas anvertrauen über … jemand Bestimmtes.“

„Sicher.“ Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.

Und das Schlimmste kam. BeverLee rang die Hände, und ihre orange lackierten Fingernägel glitzerten im schwachen Licht. „Dein Daddy und ich … wir hatten schon ein ganze Weile keinen Sex mehr. Seit sieben Wochen, um genau zu sein.“

Ich zuckte zusammen. „Oh Gott!“

„Du sagst es! Ich wollte nur wissen … Hast du vielleicht eine Ahnung, wieso?“

Ich musste husten. „BeverLee, weißt du … na ja, Dad und ich sprechen nicht über … solche Dinge. Oder überhaupt irgendetwas. Vielleicht solltest du …“

„Was soll ich tun? Ich meine, normalerweise kann er davon gar nicht genug bekommen …“

„Okay … das reicht. Ich denke, du solltest mit einer deiner Freundinnen darüber sprechen. Oder mit Dad selbst. Oder … äh, mit deinem Priester. Vielleicht Pater Bruce?“ Verzeihen Sie, Pater. „Jedenfalls nicht mit mir. Ihr seid meine … du weißt schon, Familie.“

Bev dachte kurz nach, dann seufzte sie. „Tja, ich glaube, du hast recht, Schätzchen. Also gut. Aber wenn er mal etwas in der Richtung erwähnt …“

„Ich bin sicher, das wird er nicht.“

„… wie du meinst. Okay, dann tschü-hüss!“

Die Stille brauchte einige Minuten, um wieder vollständig in mein kleines Stückchen Paradies einzukehren, so als fürchtete sie, dass BeverLee erneut zurückkäme. Eine Drossel trillerte aus einem Busch, und der Ostwind trug die Klänge eines entfernten Radios heran. Unten am Berg lachte jemand, und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich … einsam. Coco kam, legte sich neben mich auf den Boden und schob ihren Kopf auf meinen nackten Fuß. „Danke, du Süße“, sagte ich.

Ich starrte eine Weile auf den Hafen hinaus. Der Spätsommer hier war eine besonders schöne und gleichzeitig wehmütige Zeit. Der Herbst schlich sich auf Zehenspitzen an, die Insel wurde langsam ruhiger, die Kinder würden bald in die Schule zurückkehren. Nächte, die man auf der Terrasse oder auf dem Boot verbringen konnte, gab es allmählich seltener. Es wurde immer früher dunkel, und nach und nach verloren die Blätter ihr sattes Sommergrün. An diesem Abend jedoch nahm ich den wunderbaren Ausblick, der mich nach einem langen harten Tag oftmals beruhigen konnte, kaum richtig wahr.

Hör auf zu grübeln, befahl ich mir. Ich hatte tatsächlich noch etwas zu tun. Als ich ins Haus ging, bemerkte ich das Blinken meines Anrufbeantworters.

Nachricht eins. Heute, achtzehn Uhr vier. „Harper? Hier ist Tommy.“ Ich hörte ein tiefes Seufzen. „Hör zu, ich hab’s mir noch mal überlegt. Ich liebe sie nämlich, weißt du, und vielleicht war dieser FedEx nur ein Ausrutscher, und wir können mit ein bisschen Eheberatung alles wieder hinkriegen. Mit mehr Eheberatung, meine ich. Ich weiß nicht. Tut mir leid, dass ich dich zu Hause anrufe. Bis morgen.“

„Du Armer“, murmelte ich automatisch. Die Frau meines Rechtsanwaltsfachangestellten hatte ihn mit dem FedEx-Mann betrogen, und Tommy hatte überlegt, sich scheiden zu lassen. Ich würde ihn zwar nicht vertreten – es war niemals klug, einen Freund zu vertreten, wie ich gelernt hatte –, aber Tommy hatte beschlossen, sich an meiner Schulter auszuweinen, auch wenn ich trotz meiner guten Absichten nicht viel Trost zu bieten hatte.

Nachricht zwei. Heute, achtzehn Uhr siebenundzwanzig. „Harper? Ich bin’s, Willa! Ich versuche nachher, dich auf dem Handy zu erreichen. Warte mal, habe ich jetzt gerade deine Handynummer gewählt? Oder ist es dein Festnetzanschluss? Moment … okay, es ist das Festnetz. Tja, dann also bis später! Ich hab dich lieb!“ Trotz meiner Befürchtungen wegen ihrer geplanten Hochzeit musste ich lächeln. Süßes kleines Mädchen! Fehlgeleitet, okay. Aber ein fröhlicher, unbeschwerter Mensch!

Nachricht drei. Heute, neunzehn Uhr eins. Da hatte ich Dennis gerade den Heiratsantrag gestellt, was mir jetzt so vorkam, als wäre es vor mindestens einem Jahr geschehen.

Nachricht drei war … einfach nur Schweigen. Niemand sagte etwas … aber die Person hatte auch nicht sofort aufgelegt. Eine Sekunde lang bebte mein Herz, und ich stand wie angewurzelt da.

Würde Nick mich anrufen, jetzt, da unsere Geschwister heirateten?

Nein, er hatte meine Nummer ja gar nicht – sie war nicht offiziell gelistet. Und selbst wenn er sie hätte, würde er mich niemals anrufen. Dann piepste die Maschine und erlöste mich aus meiner Starre. Sie haben keine weiteren Nachrichten.

Ich überprüfte die Nummer auf dem Telefon. Es war eine Festnetznummer.

Wahrscheinlich ein Telefonverkäufer.

Fast ohne nachzudenken, tapste ich barfuß in mein Schlafzimmer. Ich zog den Stuhl meines Schminktischchens an meinen Wandschrank, stellte mich darauf, tastete auf dem obersten Regal und holte eine große Hutschachtel herunter. Dann setzte ich mich aufs Bett und hob … ganz langsam … den Deckel. Da war der Seidenschal, den Willa mir vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, in verschiedenen Grüntönen, sodass ich mit meinen rot gelockten Haaren und den grünen Augen damit ausgesehen hatte wie aus einer Anzeige für das irische Fremdenverkehrsamt. Die schwarze Wollmütze, die meine Großmutter gestrickt hatte, als ich nach Amherst gefahren war, kurz bevor sie starb. Meine zerlesene Ausgabe von Wer die Nachtigall stört. Ich hatte immer gedacht, dass ich nach Harper Lee benannt worden war – wie viele Harpers gab es denn schon? –, und in dem Jahr, als meine Mutter uns verließ, hatte ich das Buch neunmal gelesen und nach einem Hinweis gesucht, wie meine Mutter dieses Buch über den wohl aufrechtesten Helden der Literaturgeschichte so sehr lieben und dennoch ihr einziges Kind verlassen konnte.

Unter alledem lag das, was ich gesucht hatte.

Ein Foto. Ich nahm es auf. Meine Hände schienen ein wenig zu zittern, und mein Atem stockte, als ich es ansah.

Gott, was waren wir jung gewesen!

Das Foto war am Morgen unserer Hochzeit aufgenommen worden; Dad wollte seine Kamera für die Zeremonie am Nachmittag testen. Nick und ich hatten uns nicht an dieses „Ich seh dich erst am Altar wieder“-Ding gehalten, da wir von solchen abergläubischen Ritualen überhaupt nichts hielten (obwohl, im Nachhinein …). An jenem Morgen war es kühl und bedeckt gewesen, und Nick und ich hatten uns draußen auf Dads Verandatreppe gesetzt, Kaffeebecher in der Hand, ich in einem Morgenmantel aus Flanell, Nick als New Yorker in einem ausgeblichenen Yankees-Shirt und kurzer Hose, das dunkle Haar zerzaust. Er sah mich an, lächelte kaum merklich, und seine dunklen Augen, die so tragisch und verletzlich und hoffnungsvoll zugleich aussehen konnten, strahlten vor Glück.

Man konnte es bereits an unseren Gesichtern ablesen … Nick: zuversichtlich, glücklich, beinahe selbstgefällig. Ich: insgeheim ein totales Nervenbündel.

Denn natürlich hatte ich Zweifel gehabt. Ich war einundzwanzig gewesen, um Himmels willen! Hatte gerade das College abgeschlossen. Heiraten? Wir mussten verrückt sein! Aber Nick war sich sicher genug für uns beide gewesen, und an jenem Tag – am 21. Juni, dem ersten Tag des Sommers – hatte ich ihm geglaubt. Wir liebten uns, und wir würden glücklich bis ans Ende unserer Tage zusammenleben.

Tja, man lernt nie aus.

„Du bist kein dummes Kind mehr“, sagte ich laut, während ich auf mein jüngeres Ich starrte. Jetzt war ich jemand. Ich hatte einen Beruf, ein Haus, einen Hund, einen Mann … nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber Sie wissen, was ich meine.

Ich legte das Foto beiseite, atmete tief durch, setzte mich gerade hin und strich mein von BeverLee bearbeitetes Haar wieder glatt. Ich würde Nick also wiedersehen. Das Zittern, das dieser Gedanke vorhin noch ausgelöst hatte, war verschwunden. Ich hatte nichts zu befürchten. Nick war ein Fehler meiner Jugend gewesen. Wir waren einander in die Falle gegangen … und ja, wir waren auch verliebt gewesen. Doch man brauchte mehr als Liebe. Acht Jahre als Scheidungsanwältin hatten mir das klar und deutlich gezeigt.

Früher allerdings hatte Nick mich mit einem Blick zum Schmelzen gebracht. Schon ein Lächeln von ihm hatte mich dermaßen mit Glück erfüllt, dass ich zu schweben glaubte. Nach einem Tag ohne ihn war ich nicht mehr ich selbst gewesen, und nur in seiner Gegenwart fühlte ich mich wieder vollständig.

Kein Wunder, dass es nicht funktioniert hatte. Diese Art von Gefühl … konnte nicht andauern.

Ich hatte Jahre gebraucht, um über Nick hinwegzukommen. Und ich war über ihn hinweg. Wenn ich ihn sähe – falls ich ihn sähe –, könnte ich ganz ruhig sein. Dennis und ich waren fest zusammen … zwar nicht verlobt, aber es war fest genug. Jegliches Gefühl, das ich für Nick empfunden haben mochte … na ja, es war tot.

Zumindest schien es so.

3. KAPITEL

E lf Tage später stand ich kurz davor, zu testen, ob meine Gefühle für Nick wirklich tot waren. Unnötig zu erwähnen, dass ich nicht gerade bester Laune war.

„Tommy, hör zu. Manchmal braucht unser Herz einfach Zeit, zu akzeptieren, was unser Kopf bereits begriffen hat.“ Ich unterdrückte ein Seufzen; Tommy saß in meinem Büro – das elfte Mal in dieser Woche – und überlegte erneut, ob der Seitensprung seiner Frau tatsächlich so schlimm gewesen war.

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