Zwei einsame Herzen ...

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Lily ist ins wunderschöne Montana zurückgekehrt, um sich um ihre kleine Tochter zu kümmern, und nicht, um mit Haut und Haar einem gewissen Cowboy zu verfallen! Der breitschultrige, muskulöse Jack McKenzie ist unheimlich heiß - und als einsamer Wolf unnahbar…


  • Erscheinungstag 06.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502054
  • Seitenanzahl 146
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Iris erinnerte ihre Mutter an ein Küken, das gerade aus seinem Ei geschlüpft war. Das Mädchen hatte fast die gesamte Fahrt durch das westliche North Dakota verschlafen und dabei nicht mitbekommen, dass sie die Landesgrenze überquert hatten. Gleich würde sie ihr neues Zuhause kennenlernen. Ihr neues Revier sozusagen. Und das war ganz schön weitläufig – immerhin ein Pluspunkt, den Lily Reardon anführen konnte, wenn die nächste vollkommen sinnlose Diskussion mit ihrer Tochter anstand. Wenn sie zum neunundneunzigsten Mal die Frage erörterten, warum sie unbedingt hatten umziehen müssen.

Jedes Mal beklagte sich Iris darüber, dass sie ihre Freunde zurücklassen musste, und jedes Mal führte Lily die vielen Gründe auf, die für den Umzug sprachen. Außerdem brachte es sowieso nichts, darüber zu diskutieren, weil die Entscheidung längst gefallen war.

Iris blinzelte und steckte den Kopf aus der alten weißen Kuscheldecke hervor. Sie wirkte noch immer wie ein frisch geschlüpftes Küken. Erneut blinzelte sie, dann sah sie sich mit großen blauen Augen nach ihrer Mutter um. Meine Iris, dachte Lily. Bis vor einem Jahr war sie noch ihr kleines Mädchen gewesen, und für wenige Sekunden war sie es auch jetzt wieder.

Dann veränderte sich plötzlich ihr Blick. „Wo sind wir hier eigentlich?“

Lily störte sich weniger an der Frage als an dem abfälligen Tonfall ihrer Tochter. Sie ließ den Blick über die monotone Landschaft gleiten, durch die sie gerade ihren kleinen Wagen lenkte. Sie hatte ihn gebraucht gekauft, und die letzte Rate war noch offen.

Lily wusste, dass Iris’ Frage eigentlich eher als Aussage gemeint war. „Wir sind fast da“, erwiderte sie trotzdem.

Iris atmete laut hörbar ein und betrachtete das Weideland links und rechts von der zweispurigen Straße. Der Winter hatte sich inzwischen zurückgezogen und dabei trostlose braungraue Flächen hinterlassen, auf denen noch kein frühlingshaftes Grün sprießte. Die Nächte waren noch sehr kalt, und das Wetter war unbeständig.

Das ändert sich bestimmt bald, dachte Lily. Dann wird es hier wunderschön. Wir müssen nur noch ein bisschen Geduld haben.

Kein Wunder, dass Iris’ erste Reaktion auf diese Gegend so negativ ausfiel. Im Gegensatz zu ihrer Mutter kannte sie Montana nicht. Lily war hier geboren, aber kurz vor Iris’ Geburt weggezogen.

„Aha, wir sind also gleich da“, wiederholte Iris. „Interessant. Dann hoffe ich mal, dass da auch irgendwas ist. Bisher fahren wir ja durch die reinste Einöde.“ Mit einer ausladenden Armbewegung wies sie auf die bräunliche Weiden- und Hügellandschaft. Sie seufzte dramatisch. „Zurück zu meiner ursprünglichen Frage: Wo sind wir hier eigentlich?“

„Wir sind im Westen. Und zwar so weit im Westen, wie du in deinem ganzen dreizehnjährigen Leben noch nie gekommen bist. Gerade eben sind wir an Lowdown, Montana, vorbeigekommen.“

„Das klingt ja unterirdisch. Wer will denn bitte an einem Ort wohnen, der Lowdown heißt? Niemand, aber wir ziehen trotzdem hin.“ Iris rutschte ein Stück auf ihrem Sitz hinunter und schob das Kinn unter die Decke. „Das heißt … wir halten ja noch nicht mal in Lowdown an, sondern fahren noch ein ganzes Stück weiter in die ultimative Trostlosigkeit, bis zur Big Loser Farm.“

„Stimmt nicht, wir fahren zur Rocking R Ranch“, verbesserte Lily ihre Tochter.

Iris stöhnte. „Klingt nach irgendeinem zweitklassigen Western.“

Lily lachte. „Ach, dein Großvater und du, ihr kommt bestimmt bestens miteinander klar“, sagte sie. „Er ist ein bisschen wie du, er kann sich auch von nichts trennen.“ Nur von mir ist ihm der Abschied überhaupt nicht schwergefallen, fügte sie in Gedanken hinzu.

Aber das war schon sehr lange her, inzwischen dürfte über die Sache Gras gewachsen sein. Zumindest redete sich Lily das ein, während sie sich zwang, weiter Gas zu geben. Wahrscheinlich freute ihr Vater sich wirklich über das Wiedersehen, genau wie er es ihr am Telefon versichert hatte. Ganz ohne zu zögern.

„Meine Güte, was ist das denn?“, rief Iris aus und setzte sich kerzengerade auf.

Lily grinste. Offenbar hatte Iris jetzt erst all die alten Stiefel bemerkt, die Clinton Tyree, der Nachbar ihres Vaters, über seine Zaunpfähle gestülpt hatte. Über eine Strecke von mindestens einem Kilometer streckten die Cowboyboots ihre abgetretenen Absätze gen Himmel. Iris zählte leise mit. Dann lachte sie. „Geht das hier als Recycling durch?“

„Für mich ist das eher eine Art Kunstinstallation, die ständig erweitert wird“, erwiderte Lily. „Angeblich hat es damit angefangen, dass der Ranchbesitzer im Matsch steckengeblieben ist und seine Stiefel ausgezogen und über die Zaunpfähle gestülpt hat, damit der Regen den ganzen Dreck abwäscht.“ Sie setzte den Blinker.

„Ach du Sch…ande. Sind wir jetzt etwa da?“, rief Iris aus. Der letzte alte umgestülpte Stiefel war nur noch als Punkt im Rückspiegel zu sehen. Rechts wurde der Drahtzaun von einem Schotterweg unterbrochen. Ein neues Viehgitter auf dem Boden sollte dafür sorgen, dass die Rinder auf dem dahinter liegenden Grundstück blieben. Auf einem alten Schild war der Name der Ranch zu lesen.

„Oh nein, Mom, du hast das ja eben völlig ernst gemeint! Die Ranch heißt wirklich Rocking R Ranch! Und sie liegt mitten im Nichts!“

„Allerdings“, gab Lily zurück und bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Sie hätte auch nicht gewusst, ob sie über die Bemerkung lachen oder schimpfen sollte. Seit sie diese Ranch vor fast vierzehn Jahren verlassen hatte, hatte sie ihren Vater nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Zweimal, um genau zu sein. Beide Male war die Initiative von ihm ausgegangen, beide Male hatte er sein einziges Kind und sein einziges Enkelkind in Minneapolis besucht und war dafür über tausend Kilometer in Richtung Osten gereist. Der letzte Besuch war inzwischen vier Jahre her. Immer wieder hatte Lily sich vorgenommen, mit Iris auf der Rocking R Ranch vorbeizuschauen, sobald sich eine gute Gelegenheit ergab. Dazu war es allerdings nie gekommen.

Und jetzt? Jetzt waren sie tatsächlich auf dem Weg zur Ranch, aber die Gelegenheit war alles andere als gut. Lily hatte sich den Besuchszeitpunkt weder selbst ausgesucht, noch fühlte sie sich gerade besonders wohl in ihrer Haut. Das machte diese Reise für sie umso schwerer.

Erst hatte sie ihren Job als Lehrerin verloren, und dann war ihr ganzes Leben nach und nach den Bach heruntergegangen. Trotzdem hatte sie sich standhaft dagegen gewehrt, ihren Vater um Hilfe zu bitten – bis sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte. Als sie und Iris völlig ohne Geld und Unterkunft dagestanden hatten, war es so weit gewesen.

Tja, und jetzt waren sie hier. Das Ranchhaus hatte sich in den letzten dreizehn Jahren nicht verändert. Es sah aus wie ein überdimensionaler Schuhkarton, aber immerhin hatten sie jetzt ein Dach über dem Kopf. Außerdem Türen, die sie schließen und sogar abschließen konnten, und ruhige Zimmer, in denen sie in Sicherheit waren. Als ihr Zuhause sah Lily diesen Ort allerdings schon lange nicht mehr. Nicht, seit sie hier ausgezogen war, mit Iris im Bauch …

Seit der Räumungsbescheid eingetroffen war, hatten Lily und Iris nur noch sich. Und Lily hatte sich geschworen, dass das Mädchen sich seiner Mutter immer sicher sein sollte. Sie wollte dafür sorgen, dass es ihrer Tochter gut ging. Iris zuliebe war sie sogar bereit, enorme Zugeständnisse zu machen und ihren Stolz zu überwinden. Das war der Preis dafür gewesen, wieder hierher zurückzukehren.

„Hat die Rocking R Ranch wenigstens Internet?“, erkundigte sich das Mädchen leise. Iris klang inzwischen gar nicht mehr sarkastisch, eher resigniert. Offenbar setzte die Dreizehnjährige sich gerade mit den nackten Tatsachen auseinander.

„Keine Ahnung“, erwiderte Lily. Gelogen war das nicht, immerhin war sie sich nicht hundertprozentig sicher. Obwohl sie sich nicht wirklich vorstellen konnte, dass ihr Vater in seinem Haus einen Internetzugang installiert hatte.

Wie gebannt starrte Lily nach vorn, während sie auf das Haus zufuhr. Zuletzt hatte sie es im Rückspiegel des Transporters gesehen, mit dem sie damals das Gelände verlassen hatte. Der Transporter hatte ihrer Freundin Molly Taylor gehört. Sie hatte Lily in den nächstgrößeren Ort gebracht, Glendive. Dort war Lily in einen Greyhound Bus gestiegen und zu ihrer Mutter nach Minneapolis gefahren. Um herauszufinden, dass es in der Großstadt am Mississippi lange nicht so toll und faszinierend war, wie ihre Mutter es ihr geschildert hatte. Aber das kannte Lily von ihr nicht anders. Immerhin hatte Lily in Minneapolis erst mal einen Unterschlupf gehabt, bis sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen konnte. Sie hatte geschuftet wie verrückt, bis sie ihren Studienabschluss in der Tasche hatte, eine eigene Wohnung und eine befristete Stelle als Lehrerin. Fast wäre daraus sogar eine Festanstellung geworden. Fast. Aber dann hatte sie den Job doch wieder verloren und kaum Hoffnung, an einer anderen Schule einen neuen zu finden. Schließlich hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt und ihren Vater angerufen. Für sie war es der allerletzte Ausweg gewesen, und es hatte sie große Überwindung gekostet. Aber es ging nun mal ums nackte Überleben.

Ihre dreizehnjährige Tochter sollte allerdings nicht gleich in vollem Maße mit der harten Realität konfrontiert werden, sondern sich noch ein paar Teenagerträume bewahren. Und wenn sie hier schon keinen Internetanschluss hatten, würde Lily sich eben etwas anderes ausdenken, das ihre Tochter ein bisschen für den Umzug entschädigte. Irgendwas würde sich schon ergeben.

Als sie den Wagen hinterm Haus parkte, hatte sie auch schon eine Idee, was dieses „Irgendwas“ sein könnte. „Guck mal, Iris, wir haben hier Pferde.“ Lily wies mit dem Kopf auf zwei rotbraune Tiere, die auf der Weide außerhalb des Reitplatzes grasten. Auf dem Reitplatz selbst führte ein Mann ein wunderschönes schwarz-weiß geschecktes Pferd an einer Longe. „Du wolltest doch schon immer reiten lernen“, sagte Lily. „Jetzt hast du endlich die Gelegenheit.“

„Oh.“ Iris löste den Gurt und beugte sich zur Windschutzscheibe vor. „Hey, das ist ja gar nicht Grandpa“, bemerkte sie. „Wer ist denn der Cowboy, Mom?“

„Keine Ahnung.“

„Wirklich nicht? Das ist gut.“ Iris stieg aus, warf die Tür schwungvoll ins Schloss und kam um das Auto herum zu ihrer Mutter. Für Lily sah es so aus, als hätte das Mädchen den Reitplatz dabei die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Selbst dann nicht, als ein großer Mischlingshund von der Scheune her knurrend auf sie zugeschossen kam, sich aber auf einen strengen Blick des Cowboys hin sofort wieder zurückzog und brav an den Zaun setzte.

Fasziniert betrachtete Lily den Cowboy. Unglaublich, wie er den Hund im Griff hatte!

„Okay, auf einmal gefällt’s mir hier schon viel besser“, raunte Iris ihr zu – obwohl der Cowboy sie nicht weiter zu beachten schien. „Er hat zwar so eine komische enge Hose an, aber das sieht bei ihm gar nicht schlecht aus.“

„Sitzt wie angegossen“, kommentierte Lily und warf ihrer Tochter einen erstaunten Blick zu. „Nicht, dass das irgendwie wichtig wäre …“

Iris kniff die Augen zusammen, dann grinste sie. „Ich habe ihn zuerst entdeckt.“

„Jetzt hör aber auf!“

„Warum denn? Du erzählst mir doch immer, dass ich die Dinge positiv sehen soll. Jetzt habe ich endlich mal einen Anlass dazu gefunden.“ Sie wandte sich wieder zum Reitplatz um. „Komm, wir stellen uns dem Mann mal vor.“

„Ich finde es besser, wenn wir erst ins Haus gehen und deinem Großvater sagen, dass wir da sind.“ Lily legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern und schob sie sanft in Richtung Hintertür.

Sie klopften mehrmals an, aber niemand reagierte.

„Ist überhaupt abgeschlossen?“, erkundigte sich Iris.

„Wir gehen nicht einfach ins Haus, wir warten draußen, bis er uns reinlässt.“

Iris runzelte die Stirn. „Er weiß schon, dass wir heute kommen, oder?“

„Ja, aber … vielleicht hätte ich ihn vorher noch mal anrufen sollen. Um ihm eine genaue Uhrzeit durchzugeben. Ich wollte ihn bloß nicht …“

… betrunken am Telefon haben, ergänzte Lily im Stillen. Schnell wandte sie sich von der Hintertür ab. „Komm, wir fragen mal den Cowboy.“

„Au ja!“

Lily konnte Iris’ Begeisterung nur zu gut nachvollziehen: Von Weitem sah der Mann wirklich vielversprechend aus. Er wusste, was er tat, und machte dabei auch noch eine umwerfende Figur. Ganz ruhig und selbstsicher ging er mit dem Pferd und dem Hund um, und beide Tiere akzeptierten seine Autorität uneingeschränkt. Und je näher Lily ihm kam, desto attraktiver wirkte er auf sie. Der große, schlanke Körper, die kräftigen Hände, das schöne Gesicht …

Obwohl er sie und Iris längst bemerkt haben musste, reagierte er nicht auf sie, sondern konzentrierte sich voll auf das gescheckte junge Pferd an der Longe. Offenbar war er ein Mann, der sich ganz einer Aufgabe widmete und sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ.

Iris meldete sich als Erste zu Wort. „Hi!“, rief sie dem Mann laut zu. Schüchtern war sie wirklich nicht. Aber als der Cowboy darauf nur mit einem kurzen Blick und einem Nicken reagierte, wirkte sie nicht mehr ganz so selbstbewusst. Lily legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie sanft nach vorn.

„Guten Tag, wir suchen Mike Reardon“, rief sie ihm zu, stellte sich auf den untersten Querbalken des Zauns und stützte sich mit den Unterarmen oben auf.

„Ho!“, rief der Cowboy dem Pferd zu, tief und bestimmt. Sofort lockerte sich die Longe. Jetzt sah der Mann die beiden Frauen immerhin kurz an. „Da sind Sie hier schon richtig. Allerdings ist er gerade in die Stadt gefahren.“

„Ich bin Lily Reardon, seine Tochter. Dann ist er jetzt in Lowdown?“

„Und ich bin Iris, seine Enkelin.“ Iris war auf den zweiten Querbalken geklettert und stand dadurch ein Stück höher als ihre Mutter.

„Und ich bin Jack McKenzie.“ Der Cowboy hob eine behandschuhte Hand und berührte seine Hutkrempe zum Gruß. „Ich helfe hier aus.“

„Wow, Grandpa hat sogar eine Hilfskraft.“ Iris grinste ihre Mutter an. „Das ist hier ja wirklich eine richtige Ranch.“

„Wie im Western, was?“, zog Lily ihre Tochter auf. Unglaublich, wie sehr Iris sich auf einmal für ihre neue Unterkunft interessierte. Und das nur, weil auf einmal dieser Mann aufgetaucht war.

„Und womit helfen Sie genau aus?“, hakte Iris nach. „Sind Sie ein echter Cowboy?“

„Iris …“

Der Mann lächelte, und sofort verwandelte sich sein markantes Gesicht: Die dunklen Augen funkelten, und seine vollen Lippen wirkten umso attraktiver. Er ließ das Seil locker durch seine Hände gleiten, wandte dem Pferd den Rücken zu und kam zu den beiden Frauen an den Zaun. Das Tier folgte ihm ganz von selbst. „Ich bin so echt, wie ein Cowboy heutzutage echt sein kann. Jedenfalls reite ich praktisch den ganzen Tag den Rindern hinterher.“ Er zog sich den rechten Handschuh aus und reichte Lily die Hand. „Mike hat schon unheimlich viel von Ihnen erzählt. Weiß er überhaupt, dass Sie heute hier sind?“

„Ja, wir haben vor ein paar Tagen erst telefoniert. Da meinte er, wir sollten …“ Sie beobachtete, wie der Mann auch Iris die Hand gab. Dabei kam ihr erstmalig der Gedanke, dass er oder zumindest ein Elternteil wahrscheinlich indianischer Herkunft war.

Sie blickte hoch. „Geht es meinem Vater gut?“, erkundigte sie sich. Plötzlich war sie besorgt.

„Ja, er kommt jetzt gut zurecht.“

„Na ja, Ich wollte mich nur vergewissern, dass wir nicht gerade …“ Lily kniff die Lippen aufeinander. Dass wir ihn nicht gerade mitten im Rausch überraschen, hatte sie sagen wollen, aber das Thema war ihr doch zu intim. Sie hatte sich vorgenommen, mit dem Trinkproblem ihres Vaters erwachsen umzugehen. Deswegen hatte sie selbst schon Treffen für erwachsene Kinder von Alkoholikern besucht. Sie zuckte leicht mit den Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass seine Einladung immer noch gilt“, sagte sie schließlich.

Der Cowboy erwiderte ihr Schulterzucken. „Das kann ich nicht sagen, ich arbeite hier ja nur.“

„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich …“

„Das Pferd ist ja toll!“, rief Iris fröhlich dazwischen. „Gehört das auch Grandpa?“

Jack grinste. „Nein, die Stute gehört mir. Mike hat mir angeboten, dass ich meine Tiere bei ihm unterbringen kann. Sie ist noch ganz jung, ich gewöhne sie hier gerade ein. Ich habe sie aus South Dakota, da gibt es ein Adoptionsprogramm für Wildpferde.“

„Echt, das ist ein Wildpferd? Das hätte ich nicht gedacht.“

Er lachte. „Man sieht ihr das nicht an. Das ist ein bisschen so wie bei Menschen. Die muss man auch erst kennenlernen, um sie einschätzen zu können.“

„Heißt das, dass man nicht auf ihr reiten kann?“

„Jetzt jedenfalls noch nicht.“

„Und wie heißt sie?“

Er drehte sich zu der Stute um und neigte leicht den Kopf, als wartete er darauf, dass sie ihm die Antwort ins Ohr flüsterte. „Tja, das wissen wir zwei noch nicht so genau“, sagte er schließlich.

„Ich bin nach einer Blume benannt“, sagte Iris. „Mom auch.“

„War das etwa seine Idee?“ Mit dem Kopf wies Jack in Richtung Haus. Iris und Lily wandten sich um … und erblickten dort den Mann, den sie eben noch gesucht hatten. „Der Typ ist ein ganz schöner Romantiker“, bemerkte Jack. „Hi Mike, das sind ja tolle Blumen, die da gerade für dich angekommen sind.“

Lily betrachtete ihren Vater lange. Er hatte ziemlich stark abgenommen. Jetzt lächelte er sie freundlich an, und Iris ging sofort auf ihn zu.

„Das ist mein heutiges Highlight!“ Genau wie sein Körper war auch seine Stimme längst nicht mehr so kräftig wie früher, sie klang etwas rau. Dafür funkelten seine blauen Augen umso lebhafter. So wach und präsent, wie er jetzt wirkte, hatte sie ihn noch nie erlebt. „Und außerdem eine tolle Überraschung.“ Iris umarmte ihn fest, und er drückte sie vorsichtig zurück – ganz als würde er etwas üben, das er noch nicht oft getan hatte.

„Überraschung? Wie meinst du das?“ Lily wich ein Stück zurück.

„Na ja, ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob ihr wirklich …“ Er klopfte Iris sanft auf den Rücken. „Auf jeden Fall freue ich mich richtig, dass ihr hier seid. Unglaublich“, er schob Iris ein Stück von sich und betrachtete sie von oben bis unten. „Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du nicht mal halb so groß. So kommt’s mir jedenfalls vor. Du schießt ja in den Himmel wie Bambus.“

„Sie ist aber eine Blume“, bemerkte Jack und wandte sich an Iris. „Welche noch mal genau?“

„Ich heiße Iris.“

„Iris und Lily.“ Er berührte seine Hutkrempe. „Angenehm.“

„Was ist angenehm?“, flüsterte Iris.

„Uns kennenzulernen“, erklärte Lily und blickte dabei dem Cowboy Jack hinterher, der gerade auf die andere Seite des Reitplatzes ging. Die gefleckte Stute folgte ihm dabei wie ein treuer Hund. „Typisch Mann. Bloß nicht zu viele Worte verlieren“, kommentierte sie. „Das gilt besonders hier im Westen, stimmt’s, Dad?“

„Wir sind eben sparsame Menschen. Und außerdem ziemlich altmodisch. Wir möchten, dass uns die Dinge lange erhalten bleiben. Oder dass sie wieder so werden, wie sie früher mal waren.“

Lily zuckte mit den Schultern. Wollte ihr Vater ihr damit etwas Bestimmtes sagen? Auf Gefühlsduseleien war sie jetzt jedenfalls nicht eingestellt. „Tut mir leid, vielleicht hätte ich heute doch noch mal anrufen und dir sagen sollen, dass wir unterwegs sind. Aber ich dachte, wir hätten schon alles geklärt.“

„Ich wollte gerade eure beiden Zimmer fertig machen“, erklärte ihr Vater. „Deins ist immer noch genauso wie damals, als du ausgezogen bist.“ Er legte seiner Enkelin eine wettergegerbte Hand auf die Schulter. „Willst du das Zimmer haben, in dem deine Mama früher geschlafen hat, Mädel? Es ist zwar ziemlich klein, aber …“

„Sie heißt Iris, Dad“, unterbrach Lilly ihn. „Ich bin das Mädel.“ Sie suchte Blickkontakt mit ihrer Tochter, aber die schien den Cowboy und sein Wildpferd viel interessanter zu finden.

„Ich hatte schon ewig keine Frau mehr hier“, erklärte Mike. „Die letzte warst du. Und jetzt seid ihr gleich zu zweit, daran muss ich mich erst mal gewöhnen.“

„Keine Angst, Dad, du brauchst dich nicht groß auf uns einzustellen. Und ich traue mir immer noch zu, einen Traktor zu fahren.“

„Was, du kannst Traktor fahren?“ Jetzt beteiligte sich auch Iris wieder an der Diskussion.

„Das kann sie allerdings, aber das muss sie hier nicht“, erwiderte Mike und wandte sich an Lily. „Weil ich nämlich in letzter Zeit nichts anderes mache. Die ganzen anstrengenden Arbeiten erledigt Jack für mich. Wenn du mir ab und zu diesen tollen Rhabarberkuchen backst, den du früher immer gemacht hast, bin ich vollauf zufrieden.“ Er blinzelte seiner Enkelin zu.

„Wohnt Jack eigentlich auch im Ranchhaus?“, erkundigte Iris sich und fuhr sich über den rotblonden Bob.

„Nein.“ Mike sah zu der verwitterten Scheune hinüber, in dem der Cowboy und sein Fohlen eben verschwunden waren. Auch der Hund war nirgends mehr zu sehen. „Jack hilft hier regelmäßig aus, aber ich kann ihn mir nicht als Vollzeitkraft leisten. Außerdem ist er sehr gefragt, weil er Toparbeit leistet. Ich habe ihm angeboten, seine Pferde hier unterzubringen. Er selbst wohnt da drüben.“ Mike wies auf einen sehr langen weißen Anhänger, der an einen roten Transporter gekoppelt war und neben der Scheune stand.

„Das ist doch ein Pferdeanhänger.“

„Ja, Pferde transportiert er damit auch.“ Mike verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. „Und er wohnt darin. Jack ist so eine Art Nomade, er bleibt nicht lange an einem Ort.“

Iris lächelte sehnsüchtig zur offenen Scheunentür hinüber.

„Jack ist zur Hälfte Chippewa oder Cree, einer von den Indianerstämmen hier im Norden, ich kenne mich da nicht so gut aus. Und er ist ein erstklassiger Cowboy. Keine Ahnung, was ich diesen Winter ohne ihn gemacht hätte.“

„Ist er verheiratet oder so?“, hakte Iris nach.

„Nein, verheiratet ist er nicht. Aber er hat zwei Kinder, die leben in der Nähe von Wolf Point. Er fährt ziemlich oft hin, um sie zu besuchen.“ Mike grinste. „Willst du einen Roman über ihn schreiben, oder warum fragst du so genau nach?“

„Weil er ein scharfer Typ ist. Das ist doch wohl offensichtlich, oder hast du keine Augen im Kopf?“

„Iris!“, ermahnte Lily sie.

„Tut mir leid.“ Iris senkte den Kopf, ihre Wangen glühten. So etwas kam in letzter Zeit nur noch selten vor.

„Aha, ein scharfer Typ also“, wiederholte Mike lachend. „Wie gesagt, ich muss mich erst mal daran gewöhnen, dass hier auf einmal zwei Mädels auf der Ranch sind.“

Er half den beiden dabei, ihr Gepäck durch die Hintertür ins Haus zu tragen und dann die Treppe hochzubringen. Weil nicht alles ins Auto gepasst hatte, sollte der Rest nachgeliefert werden. Allerdings hatte Lily so viel wie möglich verkauft, unter anderem Iris’ Fahrrad. Wie ihre Tochter wohl reagieren würde, wenn sie beim Auspacken merkte, was alles fehlte? Bei der Vorstellung war Lily gar nicht wohl.

Jetzt fühlte es sich erst mal nur komisch an, ihre Koffer in ihr altes Zimmer zu bringen. Als Teenager hatte sie die Wände rosa und grün angestrichen, und sie waren seitdem nicht überstrichen worden. Überhaupt hatte sich nichts verändert, genau wie ihr Vater gesagt hatte: Die Musikposter von damals hingen immer noch, und am Fenster befanden sich immer noch dieselben Rüschengardinen wie an dem Tag, als sie hochschwanger zu Molly in den Transporter gestiegen war.

„Wow, Mom, bist du das?“

Als Lily sich zu ihrer Tochter umdrehte, hielt Iris gerade einen silbernen Bilderrahmen in der Hand. Auf der Kommode neben ihr standen noch weitere Fotos, die zu Lilys Teenagerzeiten noch nicht hier gewesen waren. Also hatte sich in ihrem Jugendzimmer doch etwas getan! Lily ging einen Schritt auf die Fotos zu. Als Erstes entdeckte sie ein Portrait aus der Highschool – obwohl es ihr schwerfiel, sich in dem sorglos lächelnden Mädchen auf dem Bild wiederzuerkennen. Wie musste sie sich damals gefühlt haben, um so lächeln zu können?

„Wow, Mom. Du sahst ja richtig scharf aus damals!“

Lily lachte. „Danke, finde ich auch.“

„Mom! Du bist ja schon genauso schlimm wie ich!“ Iris stellte den Bilderrahmen zurück auf die Kommode und nahm sich einen anderen. Auch auf dem nächsten Foto war wieder Lily zu sehen, sie stand neben ihrer Stute Juniper. „Wow, wem gehört das Pferd?“, wollte Iris wissen.

Autor

Kathleen Eagle
Kathleen Eagle wurde in Virginia als ein “Air Force Balg” geboren. Nach ihrer Schulausbildung machte sie einen Abschluss auf dem Mount Holyoke College und der Northern State University und wurde Lehrerin. Über 17 Jahre unterrichtete sie an einer High School in North Dakota. Auch nach diesen 17 Jahren blieb sie...
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