Zwei im silbernen Mondlicht

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„Küss mich“, seufzt Lily sehnsüchtig. Sobald Prinz Marco di Lucchesi sie nur ansieht, spürt sie ein nie gekanntes Verlangen. Und als er seine Lippen auf ihre presst, wünscht sie sich, dass diese Nacht am Comer See ewig währt. Doch da stößt er sie schon wieder von sich …


  • Erscheinungstag 22.01.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513555
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Lily hob den Kopf und schaute über die Kamera hinweg auf die Szene, die sich ihr bot.

Überall spärlich bekleidete Models, sowohl männliche als auch weibliche – die jungen Frauen mit überschlanken langen Gliedmaßen, die Männer mit perfekt trainierten Körpern. Manche posierten, andere unterhielten sich, wieder andere hörten über Kopfhörer Musik aus ihren iPods. Flinke Finger schrieben SMS, Wasser wurde mit dem Strohhalm getrunken, um das perfekt aufgetragene Make-up nicht zu ruinieren. Visagisten und Coiffeure düsten herum, besserten hier aus, legten da Make-up nach. Laute Musik füllte den Raum.

Mit anderen Worten – es war das typische Chaos eines Unterwäsche-Fotoshootings für einen Versandhauskatalog.

„Ist das fehlende männliche Model endlich da?“, fragte Lily. Eine Coiffeurin schüttelte den Kopf. „Dann müssen wir einen von den anderen Jungs noch einmal einsetzen. Das Studio steht uns nur heute zur Verfügung.“

„Ich könnte dem Blonden die Haare dunkler sprayen“, schlug die Coiffeurin vor und griff blitzschnell nach einer vollen Kleiderstange, die umzukippen drohte, als eines der Models sich daran vorbeischob.

Lily seufzte leise. In dieser Welt war sie aufgewachsen – und hatte ihr den Rücken gekehrt. Sie verabscheute alles, was diese Welt repräsentierte. Hätte sie die Wahl, wäre das kleine Studio, in dem der typische Geruch von Schweiß, Make-up, Zigaretten und wahrscheinlich auch illegalen Substanzen in der Luft hing, der letzte Ort, an dem man sie finden würde.

Die meisten der jungen Leute hier würden wahrscheinlich bald die Schattenseiten des Modelns kennenlernen und ihre Hoffnungen auf eine große Karriere schnell begraben müssen. Ein Shooting wie dieses war die unterste Stufe des Business’ und Lichtjahre entfernt von der Glitzerwelt der Topmodels auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine.

Lily hatte das Shooting gar nicht übernehmen wollen. Sie war schließlich aus einem ganz anderen Grund nach Mailand gekommen. Aber sie hatte eben auch noch nie Nein sagen können, wenn ihr Halbbruder sie um Hilfe bat – und er nutzte das weidlich aus.

Ricks Mutter, die zweite Ehefrau ihres Vaters, war immer herzlich und liebevoll zu ihr gewesen, und Lily fühlte sich verpflichtet, sich dankbar dafür zu erweisen.

Sie hatte alles versucht, um Rick davon abzubringen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der bis zu seinem Tod ein weltberühmter Modefotograf gewesen war. Ohne Erfolg. Rick war absolut entschlossen, diesen Berufsweg einzuschlagen.

Sie ging zu einem hübschen jungen Model mit großen grauen Augen und korrigierte die Pose des Mädchens, dann kehrte sie hinter ihre Kamera zurück … nur, um frustriert festzustellen, dass sie erst einen Schatten im Bildausschnitt und dann einen Anzug vor der Linse sah. Das letzte männliche Model war wohl aufgetaucht.

„Sie sind zu spät. Und Sie stehen vor meiner Kamera“, sagte sie entnervt, ohne aufzusehen.

Es war die jähe Stille im Raum, die sie alarmierte. Lily hob den Kopf – und begegnete dem kalten Blick eines großen, dunkelhaarigen und breitschultrigen Mannes in einem teuren Maßanzug. Seine ganze Haltung strahlte Feindseligkeit aus. Wer immer dieser Mann war … er war mit Sicherheit nicht das fehlende Model.

Dieser Mann war … die Verkörperung maskuliner Perfektion und Anziehungskraft. Mutter Natur erschuf solche Männer, um den Fortbestand der menschlichen Spezies zu garantieren. Lilys Überzeugung nach hielt man sich von solchen Männern am besten fern. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass Schönheit und gutes Aussehen oft skrupellos für eigennützige Zwecke eingesetzt und missbraucht wurden. Deshalb spielte sie ihr eigenes Aussehen auch immer herunter.

„Ja bitte?“ Sie achtete darauf, kühl und streng zu klingen. Doch statt zu erklären, wer er war und weshalb er gekommen war, musterte er sie nur kalt von Kopf bis Fuß.

Neben ihm wirkten die jungen männlichen Models wie das, was sie trotz ihrer perfekten Körper in Wirklichkeit waren – Jungen. Dieser Mann sah extrem gut aus. Eine Aura von männlichem Stolz und sinnlicher Macht umgab ihn. Seine grimmige Miene ließ allerdings erkennen, dass es keine guten Nachrichten waren, die ihn herführten – für wen auch immer. Ihretwegen konnte er nicht hier sein, dessen war Lily sicher.

Und warum schrillten dann sämtliche Alarmglocken in ihr?

Weil sie Kind ihrer Eltern war, deshalb. Auf irgendeiner Ebene musste sie wohl empfänglich für diese überwältigende männliche Ausstrahlung sein, so wie ihre Mutter es gewesen war. Aber sie war nicht ihre Mutter. Anders als sie war es nicht Lilys Sache, sich mit ihrem Aussehen irgendwelche Vorteile zu verschaffen.

Lily verdrängte den Schauer, der sie überfallen wollte. Nein, die Fehler ihrer Mutter würde sie nie wiederholen. Sie war hier, um einen Job zu erledigen, nicht, um über ihre persönlichen Probleme nachzudenken.

Sie holte tief Luft. „Nun?“ Würde er endlich etwas sagen, um die angespannte Atmosphäre, die seit seiner Ankunft im Raum herrschte, zu lockern?

„Sind Sie hier verantwortlich?“

Seine Stimme war leiser, als sie erwartet hatte, dennoch schwang Selbstbewusstsein darin mit – und unüberhörbarer Zorn. Offensichtlich war er hier, um sich über etwas zu beschweren, und da sie für ihren Halbbruder eingesprungen war, blieb ihr wohl nichts anderes, als sich ihm zu stellen. „Ja.“

„Dann möchte ich mit Ihnen reden. Unter vier Augen.“

In die erstarrte Szene im Raum kam wieder Bewegung. Lily wollte schon erwidern, dass er unmöglich etwas mit ihr zu besprechen haben konnte, schon gar nicht unter vier Augen. Aber sie hatte einen leisen Verdacht, dass Rick vielleicht etwas angestellt haben könnte, um den Ärger des Mannes zu provozieren. „Nun gut. Sie werden sich kurzfassen müssen. Wie Sie sehen, stecke ich mitten in der Arbeit.“

Die Verachtung in seinem Blick ließ sie zurückweichen, und nur zögernd ging sie durch die Tür, die er für sie offen hielt. Waren es gute Manieren? Oder wollte er nur sichergehen, dass sein Opfer ihm nicht entkam?

Das Studio lag in einem alten Gebäude, die Tür war solide genug, um die neugierigen Fragen, die jetzt mit Sicherheit durch das Studio schwirrten, nicht bis auf den Treppenabsatz dringen zu lassen. Lily hielt sich so nah wie möglich bei der Tür auf, während der Mann direkt vor der Treppe stand und ihr damit den Weg nach draußen versperrte.

„Nennen Sie mich altmodisch und meinetwegen auch sexistisch, aber die Vorstellung, dass eine Frau junges Fleisch für Profit vermarktet, scheint mir noch abstoßender, als wenn ein Mann es tut. Sie sind eine solche Frau. Eine Frau, die von der Eitelkeit und Naivität anderer lebt und jungen Menschen wertlose Träume und falsche Hoffnungen verkauft.“

Fassungslos starrte Lily den Mann an. Sie war schockiert, dass er eine solche Anschuldigung vorbrachte. Einen Augenblick lang vermutete sie, einem Verrückten gegenüberzustehen, doch sie spürte, dass er durchaus alle Sinne beisammenhatte.

Es war eine typische Geste der Unsicherheit, als sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber ich denke, Sie sind einem Irrtum aufgesessen.“

„Sie arbeiten als Fotografin in einer Sparte, die jungen Menschen vorgaukelt, man könne ein glamouröses Model werden, obwohl Sie genau wissen, dass dieser Wunsch sie höchstwahrscheinlich zerstören wird.“

„Das stimmt nicht“, verteidigte sie sich, doch ihre Stimme zitterte leicht. Sprach dieser Mann nicht genau das aus, was sie selbst dachte?

Sie wollte es ihm gerade erklären, da fuhr er unerbittlich fort: „Schämen Sie sich nicht? Verspüren Sie nicht die geringsten Schuldgefühle deswegen?“

Schuldgefühle. Das Wort löste eine Lawine von düsteren Erinnerungen aus. Jähe Panik stieg in Lily auf … sie musste weg von diesem Mann. In ihrer Fantasie malte sie sich aus, wie sie wegrannte, sich in einem stillen Eckchen zusammenrollte und so klein machte, bis niemand sie mehr sehen konnte. Bis niemand sie mehr anfassen konnte. In der Realität jedoch war sie hier auf dem schmalen Treppenabsatz mit ihm gefangen.

„Die Welt, in die Sie meinen Neffen Pietro ziehen wollen, wird von Skrupellosigkeit und Korruption beherrscht, von jenen, die Schönheit und junges Fleisch für eigene Bedürfnisse missbrauchen.“

Sein Neffe? Mit jeder Silbe durchstach er den dünnen Schutzschild, den sie um ihre Emotionen errichtet hatte, und brachte ihr eine neue Wunde bei.

„Ich weiß nicht, wie viele Menschen Ihnen bereits zum Opfer gefallen sind, aber ich kann Ihnen versichern, dass mein Neffe nicht dazugehören wird. Zum Glück hat er genug Verstand besessen, seiner Familie zu erzählen, mit welchen Versprechungen von Ruhm und Reichtum man an ihn herangetreten ist.“

Lilys Puls raste, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Diesen Aspekt der Arbeit hatte sie selbst immer gehasst. Sie hatte mit ansehen müssen, wie viele junge Models durch die Hölle gegangen waren, gewissenlos verleitet und verführt.

„Hier haben Sie Ihr Geld zurück.“ Er warf ihr ein Bündel Geldscheine vor die Füße. „Blutgeld … Auf der Party, zu der Sie Pietro nach dem Fotoshooting eingeladen haben, wie vielen skrupellosen Geschäftemachern wollten Sie ihn da vorstellen? So vielen wie möglich, nicht wahr? Denn darum geht es doch in diesem Business.“

Rick hatte den jungen Mann also eingeladen, ihn zu einer Party zu begleiten? Ihr Halbbruder war ein geselliger Typ, es war durchaus üblich für ihn, dass er nach dem Shooting noch auf einen Drink ging. Zudem fand gerade die Mailänder Modewoche statt, alles, was in der Modewelt Rang und Namen hatte, war in der Stadt. Aber auch die schwarzen Schafe der Branche …

„Leute wie Sie widern mich an. Ihr Äußeres mag vielleicht Aufsehen erregen, aber Ihre Schönheit ist nur der Deckmantel, unter dem Sie Ihre innere Verderbtheit und Ihr korruptes Wesen verstecken.“

Lily brauchte dringend frische Luft. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihr Herz hämmerte wild. Wenn sie nicht an die Luft kam, würde sie in Ohnmacht fallen … Konzentrier dich auf etwas anderes, ermahnte sie sich verzweifelt. Denk an die Zukunft, nicht an die Vergangenheit.

Sie schwankte. Sofort griff er nach ihrem Ellbogen, um sie zu stützen. Ihr Verstand wusste, dass er ihr nur helfen wollte, doch ihr Körper reagierte instinktiv.

„Fassen Sie mich nicht an!“ Es war ein Aufschrei, der tief aus ihrem Innern kam. Mit der freien Hand versuchte sie, seine Finger von sich zu schieben, aber er zog sie nur noch näher an sich.

Sie wartete darauf, dass die Welle von Übelkeit und Angst über ihr zusammenschlug. Zu ihrem Erstaunen jedoch blieb sie aus. Stattdessen spürte sie die Präsenz dieses Mannes. Das Gefühl war Lily so fremd, dass sie stocksteif stehen blieb.

Woran lag es nur, dass sein Duft, eine Mischung aus dezentem Aftershave und Mann, sie so erregte? Sie aufforderte, sich enger an ihn zu schmiegen, statt vor ihm zu fliehen? Wie konnte es sein, dass sich sein Körper, an ihren gepresst, so gut und richtig anfühlte? Sie kam sich vor, als wäre sie in eine fremde Welt getreten, in der alles kopfstand und nichts mehr so war, wie sie es kannte – wie Alice im Wunderland. Verwirrt starrte sie auf ihre Hand, die sich wie von allein auf seine Brust gelegt hatte. Ihre Haut stach hell von dem dunklen Anzugstoff ab.

Nur Sekunden waren vergangen, doch sie empfand es als Ewigkeit. Zu ihrer Verwirrung kam das drängende Bedürfnis nach Abstand. Sie konnte diesen engen Kontakt zu ihm, konnte seinen Griff nicht mehr ertragen. Nicht, weil sie Angst vor ihm hatte, sondern vor dem Gefühlschaos, das er in ihr auslöste.

In seinem Blick lag der Ausdruck wütenden Unglaubens, als würde er nicht verstehen, was hier vor sich ging.

„Lassen Sie mich los.“

Bei ihren Worten wich der verwirrte Ausdruck von seinem Gesicht, stattdessen zeigte es nun blanke Verärgerung. Ärger war viel besser. Ärger bedeutete, dass sie Gegner waren. Allerdings vermutete Lily, dass er, wer immer er auch sein mochte, nur selten negative Reaktionen von Frauen erhielt. Seine Augen glühten wie flüssiges Gold, und mit seinem durchdringenden Blick setzte er ein verräterisches Beben in Lily in Gang. War das etwa körperliches Verlangen? Bei ihr? Ausgelöst durch einen Fremden, der seine Verachtung für sie bereits überdeutlich gemacht hatte? Wie konnte er eine solch intensive Wirkung auf sie haben, dass sie sogar vergaß, ihm zu sagen, wie falsch er mit seinem Urteil über sie lag?

Abrupt ließ er sie los, drehte sich um und eilte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Lily rang um Luft. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Tür und trat zurück ins Studio.

Sie war in Sicherheit. Nur … sie fühlte sich nicht sicher, ganz im Gegenteil. Innerhalb von Sekunden hatte dieser Mann die Barrieren eingerissen, die sie um sich aufgebaut hatte. Wie hatte das passieren können? So abrupt? Mit solcher Wucht? So … völlig inakzeptabel?

Sie wusste es nicht, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Am besten ignorierte sie es einfach.

Benommen machte sie sich wieder an ihre Arbeit. Eine neugierige Frage der Visagistin wehrte sie mit einer unverbindlichen Antwort ab. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Kamera neu einstellte.

Eine ihrer ersten Erinnerungen war das Gefühl von Sicherheit, das eine Kamera ihr verliehen hatte, als sie im Studio ihres Vaters spielte. Weil die Eltern zu sehr mit dem eigenen Leben beschäftigt gewesen waren, war Lily als Kind oft sich selbst überlassen gewesen. Die Kamera war immer ihr Zaubermantel gewesen, hinter dem sie sich verstecken konnte und der sie beschützte. Doch heute funktionierte der Zauber nicht. Sie hielt das Auge an die Linse, aber sie sah nicht das Model, sondern das attraktive Gesicht des Mannes, der ihre Schutzbarrieren eingerissen hatte.

Sie blinzelte. Im Grunde war nichts Weltbewegendes passiert. Sie mochte sich fühlen, als wäre sie in ein Gewitter geraten, doch das hatte sich jetzt verzogen. Sie war in Sicherheit.

War sie das wirklich? Oder wollte sie es nur unbedingt glauben?

Ihr Handy piepte und sagte ihr, dass sie eine SMS erhalten hatte. Automatisch griff sie nach dem kleinen Gerät. Die Nachricht stammte von Rick. Angeblich hatte sich eine großartige Möglichkeit ergeben, er war auf dem Weg nach New York. Und dann hatte er noch angefügt: Hab Studio in deinem Namen gebucht. Übernimmst du die Rechnung?

Lily strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es war Zeit, sich wieder auf die Wirklichkeit zu konzentrieren. Ihr Leben, ihr Job – ihre richtige Arbeit, nicht der Auftrag, den sie hier für Rick erledigte. Der Grund für ihren Aufenthalt in Mailand hatte nichts mit Mode zu tun. Das war die Welt ihres Vaters gewesen. Sie hatte ihren eigenen Platz in einer anderen Welt. Einer sicheren Welt. Und in dieser Welt gab es keine Männer, die sie so sehr verwirrten, dass sie ihre Sinne gefangen nehmen konnten.

Marco reichte seinem Sekretär die unterschriebenen Unterlagen zurück. Mit den Gedanken war er jedoch bei dem anstrengenden Anruf, den er von seiner Schwester erhalten hatte. Er wusste, dass sie darauf hoffte, er würde ihren Sohn Pietro nach dem Studium in seinen persönlichen Stab aufnehmen. Irgendwann sollte Pietro dann einen Sitz im Vorstand des Familienunternehmens erhalten – in einem aus den verschiedensten Branchen bestehenden Wirtschaftsimperium, das Generationen lombardischer Kaufmänner und Edelleute aufgebaut hatten.

Marco hatte dem Portfolio eine Privatbank hinzugefügt, was ihn im Alter von dreißig Jahren zum Milliardär gemacht hatte. Heute, mit dreiunddreißig, setzte er seinen messerscharfen Verstand nicht mehr ausschließlich mit Blick auf die Zukunft ein, sondern beschäftigte sich ebenfalls mit der Vergangenheit. Um genau zu sein, galt seine Aufmerksamkeit dem künstlerischen Erbe der Familie.

Marco hatte nie verstanden, warum seine ältere Schwester ein derart emotionaler Mensch war. Ihre Eltern waren kühle Aristokraten gewesen, die es Kinderfrauen und Internaten überlassen hatten, sich um die Sprösslinge zu kümmern. Seine Mutter war das genaue Gegenteil des Klischees der italienischen Mutter gewesen. Natürlich war sie stolz auf ihre Kinder gewesen, doch herzliche Liebesbezeugungen hatte es von ihr nie gegeben. Nicht, dass Marco deshalb mit Schwermut auf seine Kindheit zurückblicken würde. Sein persönlicher Freiraum und Distanz zu anderen waren ihm sehr wichtig.

Die Sorge seiner Schwester um ihren einzigen Sohn konnte er natürlich verstehen, auch wenn er ihre Argumentation, weshalb Pietro diesen Modeljob angenommen hatte, nicht nachvollziehen konnte: Würde Marco dem Neffen eine großzügigere monatliche Unterstützung zukommen lassen, dann wäre der arme Junge nicht so empfänglich für dubiose Angebote. Natürlich hatte sie erklärt, wie dankbar sie ihm war, dass er sich der Sache angenommen und die schreckliche Person, die ihren Sohn ködern wollte, zurechtgewiesen hatte. Schließlich war ihnen beiden klar, was mit unschuldigen Jugendlichen passieren konnte, die auf der Suche nach einer Modelkarriere an zwielichtige Gestalten gerieten.

Marcos Blick ging zu dem silbergerahmten Foto auf seinem Schreibtisch. Olivia war gerade sechzehn gewesen, als dieses Foto aufgenommen worden war. Mit schüchternem Lächeln schaute sie in die Kamera. Sie sah jung und unschuldig aus, unfähig, irgendjemanden zu täuschen oder zu betrügen. Ihre Schönheit glich der einer zarten Rosenknospe – zu erahnen, aber noch nicht voll erblüht. Nun, Olivia hatte nie die Gelegenheit erhalten, aufzublühen.

Wut flackerte in Marco auf, gesteigert noch durch die Erinnerung an den Stromstoß sexueller Erregung, der ihn heute Morgen durchzuckt hatte – für eine Frau, die eine solche Reaktion in ihm niemals hätte hervorrufen dürfen. Eine kurze Verirrung, mehr nicht, versicherte er sich, vermutlich darauf zurückzuführen, dass er schon seit Längerem mit keiner Frau mehr das Bett geteilt hatte.

Er stand auf und ging zum Fenster. Er war nicht unbedingt ein Stadtmensch, auch Mailand sagte ihm nicht übermäßig zu, aber aus geschäftlichen Gründen war es sinnvoll, sich hier ein Apartment und ein Büro zu halten. Er besaß mehrere Immobilien, manche gekauft, andere geerbt.

Müsste er aus diesen Immobilien ein Zuhause für sich wählen, fiele seine Entscheidung auf ein Schloss, das ein Vorfahr erbaut hatte, der Kunstsammler gewesen war, so wie Marco auch.

Zuerst war er argwöhnisch gewesen, als sich die britische Historische Gesellschaft mit der Bitte um Hilfe bei einer Ausstellung über italienische Malerei und Architektur an ihn gewandt hatte. Doch die Ausführungen waren überzeugend gewesen, so überzeugend, dass er sich bereit erklärt hatte, die Archivarin, die im Auftrag der Gesellschaft nach Italien reiste, auf ihrer Tour zu begleiten. Anfangen würden sie bei Marcos Besitztümern in Mailand und am Comer See, als letztes Ziel dieser Rundreise würden sie dann das Castello di Lucchesi in der Lombardei ansteuern.

Über Dr. Wrightington wusste Marco nur, dass sie ihre Doktorarbeit über die Verbindungen zwischen der italienischen Kunst- und Architekturwelt und britischen Mäzenen geschrieben hatte. Zur Begrüßung der Archivarin hatte er einen Empfang in einem Schloss organisiert, in dem einst die Sforzadynastie, die Herzöge von Mailand, gewohnt hatten und das jetzt ihm gehörte. Marco hatte das Schloss in ein öffentliches Museum umgewandelt.

Er sah auf seine Armbanduhr. Bis zum Empfang blieb ihm noch eine Stunde.

2. KAPITEL

Lily sah sich ein letztes Mal in dem unpersönlichen kleinen Hotelzimmer um. Ihr Koffer war gepackt, jetzt wartete sie nur noch auf das Taxi.

Ihr Blick fiel auf die Tasche mit ihrem Laptop. Dr. Lillian Wrightington, besagte der Aufkleber. Als sie achtzehn wurde, hatte sie den Mädchennamen ihrer Großmutter angenommen, um nicht mit ihren berühmten Eltern in Verbindung gebracht zu werden. Aber selbst heute noch, ein Jahr, nachdem man ihr den Doktortitel verliehen hatte, überkam sie jedes Mal ein enormes Glücksgefühl, wenn sie das „Dr.“ vor ihrem Namen stehen sah.

Rick konnte nicht verstehen, warum sie dieses Leben gewählt hatte. Wie auch? Seine Erinnerungen an den Vater waren schließlich ganz andere.

Heute Nacht hatte Lily wieder diesen Traum gehabt, zum ersten Mal seit Jahren. Er verlief immer gleich: Ihr Vater rief sie ins Studio, weil sie für ein Model einspringen sollte. Der Gedanke, fotografiert zu werden, machte ihr Angst. Verzweifelt suchte sie nach der eigenen Kamera, um sich dahinter zu verstecken. Dann trat ein Mann durch die Tür, sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber Lily wusste dennoch, wer er war – und sie fürchtete sich vor ihm. Sie floh vor ihm, rief nach dem Vater, doch der war zu beschäftigt und hörte sie nicht. Der Mann griff nach ihr, Panik und Abscheu stiegen in ihr auf …

Schon tausendmal hatte sie diesen Traum geträumt, doch heute Nacht hatte er anders geendet als früher: Die Tür hatte sich ein weiteres Mal geöffnet, und voller Erleichterung war sie auf den Neuankömmling zugeeilt und hatte sich in seine Arme geworfen. Denn trotz des Ärgers, der von ihm ausging, wusste sie, dass er sie beschützen würde …

Wieso tauchte ausgerechnet der Mann, der sie heute beim Fotoshooting so zusammengestutzt hatte, als Retter in ihrem Traum auf? Wahrscheinlich, weil er die gleiche Verachtung für die Schattenseiten der Modefotografie empfand wie sie. Damit musste ihr Unterbewusstsein ihn als sicheren Hafen vor jenen begriffen haben, vor denen sie sich schon in jungen Jahren zu fürchten gelernt hatte. Aber … war das der einzige Grund?

Lily schüttelte sich leicht. Welchen anderen Grund sollte es geben? Manchmal tat es nicht gut, wenn man Dinge übertrieben genau analysierte.

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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