... Und führe mich nicht in Versuchung

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Noch 55 Stunden: So lange hat die schöne Joey Zeit, mit Sebastian Sex zu haben, seinen Mund, seine Hände und seinen Körper zu spüren. Dann ist er ihr neuer Boss, und die Affäre vorbei! Zu spät erkennt Joey: Ihr Verlangen ist größer als jede Selbstbeherrschung …


  • Erscheinungstag 20.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520409
  • Seitenanzahl 140
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Hallo, Süße, kommst du oft hierher?“

Nur dank des kleinen Restes an Geduld, über den Joey Winfield nach diesem ausgesprochen miesen Tag noch verfügte, widerstand sie dem Drang, dem ungepflegten Biker mit dem lahmen Anmachspruch einen Vogel zu zeigen. Sie war nicht in der Stimmung zu flirten, denn sie war ins Rosalie‘s gekommen, eine Bar am Stadtrand von Boston, um sich zu entspannen. Dafür hatte sie extra einen Ort gesucht, an dem niemand sie kannte und keiner wusste, dass sie eine der Bostoner Winfields war. Einen Ort, an dem der Whiskey nicht verwässert war, wo sie aus der Rolle fallen oder einfach in aller Ruhe einen Bourbon nach dem anderen kippen konnte. Das Rosalie‘s schien für ihre Wünsche perfekt zu sein, denn hier war sie unbeobachtet.

Vielleicht würde sie heute sogar jemanden am Pooltisch herausfordern. Sie war genau in der richtigen Stimmung dazu.

Sie legte ein zuckersüßes Lächeln für den Biker auf. „Nicht so oft, wie du deine Haare kämmst“, antwortete sie frech, während sie sich an dem Hünen vorbei an die Bar zwängte, bevor er überhaupt merkte, dass er gerade beleidigt worden war.

Sie gab dem Barkeeper Mitch ein Zeichen und schlängelte sich zu der langen Mahagonitheke durch. Dort setzte sie sich auf einen schwarzen Plastikbarhocker und hakte ihre abgewetzten Cowboystiefel in die Sprossen. „Whiskey, pur“, bestellte sie, als der Barkeeper, dessen Glatze wie eine Billardkugel glänzte, in Rufweite kam.

Mitch zog die Augenbrauen hoch, stellte dann aber kommentarlos ein Glas vor sie auf die Bar und schenkte zwei großzügige Fingerbreit ein.

Joey fingerte einen Zwanziger aus der vorderen Tasche ihrer eng anliegenden Jeans und klatsche ihn auf die Bar. „Mach lieber einen Doppelten draus. Und wenn du schon dabei bist, gib mir auch noch eine Packung Zigaretten. Lights bitte.“

„Schlechten Tag gehabt?“ Er zog die gewünschte Marke aus dem Ständer neben der Kasse.

Eher ein schlechtes Jahr.

„Das kannst du dir gar nicht vorstellen.“ Sie öffnete die Packung und nahm eine Zigarette heraus. Sie würde morgen einen Hals wie Schmirgelpapier haben, aber das kümmerte sie im Moment wenig.

„Wie geht‘s deiner Schwester?“ Sie hatte Mitch vor einem Jahr über seine Schwester kennengelernt, Lissa, die in dem Rehabilitationszentrum gewohnt hatte, in dem Joey sich um Mädchen kümmerte, die in Schwierigkeiten steckten. Der tätowierte Barkeeper war ein Bär von einem Mann, aber wenn es um seine kleine Schwester ging, wurde er weich wie ein Marshmallow.

„Sie bleibt sauber.“ Er bot Joey Feuer an. „Sie ist bei ihrer Tante in Phoenix gut aufgehoben.“

„Ich bin froh, das zu hören.“

Mitch ging ans andere Ende der Bar, wo zwei müde aussehende Männer eine Bestellung aufgeben wollten. Joey nahm einen Schluck Whiskey, dann ließ sie den Blick über die Tische schweifen. Sie kannte keinen der Gäste, aber sie war auch kein Stammgast im Rosalie‘s.

Sie hätte genauso gut ins Chassy gehen können, die trendige Bar, die ihrer Halbschwester Lindsay Beckham gehörte, aber sie war absolut nicht in der Stimmung, mit anderen Frauen zu quatschen. Sie wollte heute Abend nicht Josephine Winfield sein, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden war, sondern einfach Joey, ein Mädchen, das einen draufmachen wollte. Sie wollte sie selbst sein, ohne über die Folgen nachzudenken.

Mit einem bitteren Lächeln zog sie an der Zigarette. Wem machte sie etwas vor? Sie war so damit beschäftigt gewesen, die Erwartungen anderer zu erfüllen, dass sie vergessen hatte, wer die wirkliche Joey überhaupt war. Sie wusste nur eines: Sie war es so dermaßen leid, das brave Mädchen zu spielen, dass sie hätte schreien können.

Immerhin gönnte sie sich hin und wieder eine kleine Ungezogenheit, so wie Molly, die sündhaft teure Bengalkatze, die sie gekauft hatte, um Großtante Josephine und deren hochnäsige Tochter Eve auf Abstand zu halten. Da beide auf Katzenhaar schwer allergisch reagierten, blieben ihr unangekündigte Besuche erspart.

Oder ihr schnittiger feuerwehrroter Sportwagen, über den Großmutter Winfield missbilligend die Stirn runzelte, wenn Joey am Haupthaus vorbei zum Kutscherhaus brauste, das auf dem weitläufigen Grund und Boden der Winfields hinter dem Herrenhaus lag.

Aber das waren die einzigen Trotzaktionen, von denen ihre Familie wusste. Die blau getönten Haare ihrer Großmutter und ihrer Großtante würden vor Schreck grellrosa werden, wenn die wüssten, dass Josephine „Joey“ Winfield, ihr kleines Goldkind mit dem Juradiplom von Harvard, durch und durch verdorben war.

Vielleicht sollte sie sich ein Apartment in der Stadt suchen. Doch obwohl es ihr nicht genug Privatsphäre bot, mochte sie das Kutscherhaus, vor allem die Aussicht auf den Park. In der warmen Jahreszeit saß sie gerne sonntagmorgens mit ihrem Kaffee, einem getoasteten Bagel und dem Kreuzworträtsel der Times in dem gepflasterten Innenhof. Auf diese ruhige Auszeit freute sie sich die ganze Woche über.

Heute jedoch brauchte sie keine Ruhe, sondern Krawall, denn sie hatte einen völlig verkorksten Tag hinter sich, den sie nur so abschütteln konnte.

Es hatte damit angefangen, dass sie zu spät zur Arbeit kam, weil sie Molly aus einer misslichen Lage befreien musste, bevor sie das Haus verlassen konnte. Mit einer Laufmasche in der Strumpfhose und einem abgesplitterten Fingernagel war sie wie eine Verrückte ins Büro gerast, wo sie gerade noch rechtzeitig zu einer Besprechung mit den Seniorpartnern kam. Es ging um einen wichtigen Fall, der demnächst verhandelt werden sollte. Sie war entsetzt, als sie erfuhr, dass nicht sie den Fall vor Gericht vertreten würde. Sie sollte nur als Beisitzerin des neuen Anwalts fungieren, einem wahren Teufelskerl, den die Kanzlei an Land gezogen hatte und der in Zukunft die Prozessabteilung leiten würde.

Und was hatte sie getan? Nichts. Sie hatte mit ruhiger Stimme ihrer Enttäuschung Ausdruck gegeben, obwohl sie innerlich vor Wut kochte. Kein Wort hatte sie verloren über die vielen Stunden, die sie damit zugebracht hatte, den Fall vorzubereiten, Anträge zu stellen, Zeugen zu befragen und die Mandantin auf das schwierige Kreuzverhör vorzubereiten.

Wütend drückte sie die Zigarette aus und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink. Immerhin hatte man sie nicht gänzlich von dem wichtigen Fall Gilson versus Pierce abgezogen. Da die Verhandlungen in einer Woche beginnen sollten, hatte Lionel Kane III Salz in ihre Wunde gerieben und sie damit beauftragt, den Neuen auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen.

Um den Tag noch schlimmer zu machen, war ihr Antrag auf Kaution für Ginny Karnes abgelehnt worden. Das Mädchen aus dem Rehabilitationszentrum würde das Wochenende im Gefängnis verbringen müssen. Dazu kam, dass die Neunzehnjährige, die auf Bewährung draußen gewesen war, jetzt womöglich ihre gesamte fünfjährige Haftstrafe absitzen musste.

Noch chaotischer war alles geworden, als ihre Sekretärin mit Grippesymptomen nach Hause gegangen war. Anschließend war ein Treffen mit einem Mandanten alles andere als zufriedenstellend verlaufen. Und zu guter Letzt hatte ihre jüngste Schwester Katie bei einer spontanen Einladung zum Abendessen verkündet, dass sie und Liam James, Bostons bis dato begehrtester Junggeselle, sich verlobt hatten.

Joey nahm einen tiefen Schluck Whiskey. Nicht, dass sie einer ihrer Schwestern je missgönnt hätte, glücklich zu werden. Sie freute sich für Katie. Aber die Verlobung erinnerte sie daran, dass sie immer noch Single war ohne Aussicht auf Veränderung. Für Brooke und David würden sicher auch bald die Hochzeitsglocken läuten.

Des Selbstmitleids müde, nahm sie etwas von dem Wechselgeld, das Mitch ihr hingelegt hatte, und arbeitete sich durch die wachsende Freitagabendmenge zur Jukebox vor, die gerade eine Country-Ballade spielte. Ihr war nach Rockmusik zumute, je wilder, desto besser. Sie wählte den aktuellen Titel von Korn und noch ein paar Stücke ihrer anderen Lieblingsbands.

„Verzeihung, aber ich glaube, das ist Ihnen heruntergefallen“, sagte plötzlich eine männliche Stimme neben ihr.

Joey seufzte und wollte „Verdünnisier dich“ sagen, weil sie glaubte, dass es wieder der Biker war. Doch als sie sich umdrehte, fand sie sich einem gut aussehenden Fremden gegenüber, der eine Fünfdollarnote in den langen, schlanken Fingern hielt.

Schlafzimmeraugen, war ihr erster Gedanke. Tief, wie weiche, dunkle Schokolade. Augen, die Wollust und Sünde verhießen, ihre beiden Lieblingshobbys. Sofort verschwand „Verdünnisier dich“ aus ihrem Wortschatz.

Er hatte außerdem einen unwiderstehlichen Körper mit breiten Schultern und schlanken Hüften. Sein freches Grinsen ließ ihre schlechte Laune umgehend dahinschmelzen. Sie lächelte und rechnete nach, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte. Es musste mehr als sechs Monate her sein. Das war ein neuer Enthaltsamkeitsrekord für sie.

Wenn man bedachte, was sich in ihrem Privat- und Berufsleben abgespielt hatte, war das kein Wunder. Im Juli war ihre Mutter nach einem aussichtslosen Kampf gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Danach hatten sie, Brooke und Katie herausgefunden, dass sie eine Halbschwester hatten, von der sie nie etwas wussten, da ihre Mutter sie zur Adoption freigegeben hatte. Der nächste Schock folgte: Auch ihre älteste Schwester Brooke war nur ihre Halbschwester. Nicht, dass es für sie oder Katie den kleinsten Unterschied gemacht hätte, aber die Entdeckung hatte sie doch erschüttert, vor allem Brooke. Die Winfields, allen voran ihre Mutter, schienen eine Menge Leichen im Keller zu haben. Joey schauderte bei der Vorstellung, was sie noch alles ausgraben würden.

„Ich glaube, das ist nicht meiner“, sagte sie schließlich. Sie hatte ein paar zusammengefaltete Zwanziger in der Vordertasche ihrer Jeans, eine Kreditkarte in der Hüfttasche und ein Handy sowie ihre Hausschlüssel in der Innentasche ihrer Bomberjacke aus Wildleder. „Netter Versuch.“

Sein Lächeln wurde breiter und offenbarte ein Netz von Fältchen um seine braunen Augen. „Schade, dass es nicht geklappt hat.“

„Mit einem Hunderter vielleicht“, erwiderte sie. Sein Lachen klang noch in ihren Ohren, als sie an die Bar zurückkehrte. Es war ein charmantes Lachen, frei und offen. Sexy bis zum Gehtnichtmehr.

Sie bedeutete Mitch, ihr Glas nachzufüllen, und war ein wenig enttäuscht, dass der sympathische Kerl ihr nicht gefolgt war, um sie weiter anzubaggern. Aber vielleicht war es besser, denn so rücksichtslos war sie nun auch wieder nicht, dass sie sich nach einem harten Tag abreagierte, indem sie mit einem Fremden schlief, egal, wie gut er aussah.

Andererseits – warum eigentlich nicht?

Im Spiegel hinter der Bar hielt sie nach dem Typen Ausschau und entdeckte ihn am hinteren Ende der Bar in der Nähe der Pooltische. Himmel, was für ein Sahneschnittchen!

Mitch schenkte nach, und sie leerte das halbe Glas in einem Zug. „Gib mir ein paar Vierteldollar für den Pooltisch“, bat sie und zog einen weiteren Zwanziger aus der Tasche. Mitch tat es, wenn auch widerstrebend, wenn sie den warnenden Blick richtig deutete. „Mach keinen Ärger heute Abend, Joey.“

„Was denn für Ärger?“

Sein Augenbrauen schossen in die Höhe. „Das letzte Mal, als du Pool gespielt hast, hast du eine Schlägerei ausgelöst.“

„Als ob es mein Fehler war, dass diese beiden Rowdys dachten, sie könnten um mich spielen.“

„Tu mir einen Gefallen, und mach die Männer nicht wieder fertig, sonst befördere ich dich achtkantig auf die Straße.“

„Ich mache niemanden fertig“, sagte sie so distinguiert wie möglich, als sie vom Barhocker sprang. Sie nahm ihren Drink, steckte die Zigaretten und ein Streichholzbriefchen in die Jackentasche und zwinkerte Mitch zu. „Ich spiele nur, um zu gewinnen. Das ist alles.“

Ihr Hintern war der beste, den er seit Langem gesehen hatte. Nachdem er einige Jahre in Miami gelebt hatte, betrachtete Sebastian Stanhope sich auf diesem Gebiet als Experte.

Die Blondine beugte sich über den Pooltisch und versuchte, mit einem schwierigen Stoß eine Kugel zu versenken. Kurvenreich, dachte er, den Blick immer noch auf ihr üppiges Hinterteil geheftet. Er hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass ihr süßer, runder, fester Po perfekt in seine Hände passte.

Sebastian stürzte das restliche Bier hinunter, mit dem er sich den größten Teil des Abends über abzukühlen versucht hatte. Unmöglich, ihm wurde sofort wieder heiß, als die vorlaute Blondine sich nach vorn beugte und zielte, um die letzte Kugel ins Loch zu befördern. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn sie die schwarze Kugel nicht wie ein Profi in der Ecke versenken und dabei auch noch zum Anbeißen aussehen würde.

„Jetzt schuldest du mir noch einen Fünfziger, Bose“, sagte sie zu einem grobschlächtigen Biker.

Den ganzen Abend schon hatte Sebastian sie dabei beobachtet, wie sie jeden fertigmachte, der leichtsinnig genug war, ihre Herausforderung anzunehmen. Die Frau wusste gar nicht, wie man verliert. Das gefiel ihm.

„Verdammt, Joey“, beschwerte sich der große Kerl gutmütig. Er zog zwei Zwanziger und einen Zehner aus der Brieftasche, die er mit einer Kette an seiner verdreckten Jeans festgemacht hatte. „Wo hat eine Braut wie du gelernt, so gut Pool zu spielen?“

„Im College habe ich viel gespielt.“ Sie steckte ihren Gewinn ein. „Aber, hey, keine Sorge.“ Sie rieb Kreide auf die Spitze ihres Queues. „Ich gebe dir eine Chance, das Geld zurückzugewinnen.“

Bose schüttelte den Kopf und legte seinen Queue über den Tisch. „Nee“, sagte er. „Das ist mir ein zu teures Vergnügen.“

Sebastian konnte das nur zu gut nachvollziehen. Er trug vielleicht den Namen der Stanhopes, aber das Familienvermögen würde nie ihm gehören. Was er an Geld besaß, hatte er sich auf altmodische Weise selbst verdient, indem er Knochenarbeit geleistet und doppelt so viele Überstunden gemacht hatte wie die anderen Mitarbeiter der Anwaltsfirma in Miami, der er direkt nach seinem Abschluss an der juristischen Fakultät beigetreten war. Außerdem hatte er einen guten Börsenmakler damit beauftragt, sein Geld zu vermehren. Er war nicht so reich wie die alteingesessenen Bostoner Familien, aber er musste seinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Pool verdienen.

Er stellte das leere Bierglas ab, stand auf, schlenderte zum Pooltisch und legte einen Dollar in Vierteldollarstücken auf die polierte Umrandung.

Bose neigte den Kopf in Sebastians Richtung. „Sieht aus, als hättest du ein neues Opferlamm gefunden, das du zur Schlachtbank führen kannst.“

Die Blondine sah ihn über die Schulter an, zweifelsohne um ihn als Gegner einzuschätzen. Ihr blauen Augen funkelten aufgeregt, während sich langsam ein entspanntes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht ausbreitete.

„Spielst du?“, fragte sie.

Sie würde bald herausfinden, dass er kein Opferlamm war. „Ein bisschen.“ Nicht direkt eine Lüge, aber doch weit von der Wahrheit entfernt. Er hatte in letzter Zeit nur noch wenig gespielt, weil er sein Geld jetzt anders verdiente. Es war erst wenige Jahre her, da hatte ein gewonnenes Spiel für ihn bedeutet, dass er nicht in seinem Auto übernachten musste.

Jetzt glitzerten ihre Augen regelrecht. „Wollen wir den Einsatz erhöhen?“

Genau das hatte er erwartet. Die Frau war ein Hai am Pooltisch. Nicht, dass sie das Geld bräuchte, wenn man ihren teuren Haarschnitt und die hochwertigen, wenn auch abgenutzten Stiefel in Betracht zog. Dafür hatte er einen Blick.

„An was hattest du gedacht?“, fragte er.

Sie fasste in ihre Hüfttasche und holte fünf Zwanziger heraus, die sie auf den Tisch warf. „Hoch genug für dich?“

Er nahm den Queue auf und wog ihn in der Hand. „Nicht ganz das, woran ich gedacht hatte.“ Er umrundete den Tisch, bis er auf ihrer Seite stand.

Joey strich sich eine Strähne ihres honigblonden Haars hinters Ohr. „Ich kenne dich doch gar nicht.“

Nun beugte Sebastian sich ein wenig vor und atmete ihren Duft ein, eine leichte, blumige Note, die er trotz des kalten Rauchs und des abgestandenen Biers im Raum wahrnahm. Ein teurer Duft. Er hätte an ihr eher etwas Würzigeres, Exotischeres erwartet. „Ich wette, du würdest mich gern besser kennen.“

Die blaue Iris ihrer Augen verdunkelte sich, was für ihn Antwort genug war.

„Ganz schön arrogant, hm?“ Sie steckte die Vierteldollarstücke in den Schlitz und wartete darauf, dass die Kugeln ausgegeben wurden.

„Siehst du, schon kennst du mich ein bisschen besser“, stellte er fest, während er das Rack auf den Tisch legte.

Sie kicherte leise, dann legte sie die Kugeln in das Rack. „Bekenne Farbe, oder halt den Mund.“

Unbeeindruckt zog er die Brieftasche aus seiner Hüfttasche und entnahm einen neuen Hundertdollarschein, um bei ihrem Einsatz mitzuhalten. „Zufrieden?“

Sie sammelte ihre Scheine ein und legte sie zusammen mit seinem auf den Rand des Tisches. Anschließend hob sie das Rack und griff zu ihrem Queue. „Dein Anstoß“, sagte sie, wie es üblich war.

Er zielte und schoss die weiße Kugel über den Tisch. „Du kommst also oft hierher?“, fragte er, ohne den Blick vom Tisch zu nehmen. Die Kugeln stoben auseinander, die Vier rollte ins Eckloch.

„Junge, Junge, wenn ich jedes Mal einen Dollar bekäme, wenn ich diesen Spruch höre.“ Sie trat einen Schritt zurück, als er um den Tisch herumging, um den nächsten Stoß zu überlegen. Er zielte auf die Zwei, versenkte sie aber nicht, da der unterschwellige Duft ihres Parfums ihn ablenkte. „Immer noch besser als: ‚Was für ein Sternzeichen bist du?‘“ Wenn er hätte raten müssen, hätte er auf Stier oder Skorpion getippt. Ihre Kinnpartie und der Glanz ihrer Augen zeugten von Sturheit. Nicht, dass er ernsthaft an Astrologie glaubte, aber seine Mutter hatte nie das Haus verlassen, ohne vorher die Todesanzeigen und das Horoskop im Boston Globe studiert zu haben.

„Zugegeben.“ Sie zielte und versenkte problemlos die Elf. „Und, nein, ich komme nicht allzu oft hierher. Und du?“

Sie wirkte auf ihn nicht wie eine typische Kneipengängerin. Was machte eine Frau wie sie an einem Ort wie Rosalie‘s?

„Ich bin neu in der Stadt“, antwortete er, auch wenn das eine weitere Halbwahrheit war.

„Wo kommst du her?“ Sie versenkte die Neun mit einem schwierigen Bandenstoß.

„Miami.“ Er deutete mit dem Kinn auf den Tisch. „Guter Stoß.“

„Danke.“

Während sie die ganze Zeit zu ihm Augenkontakt hielt, bewegte sie sich langsam auf ihn zu. Beinahe vergaß er, wie man atmet. Langsam beugte sie sich vor und zielte. Ihre schlanken Finger schlossen sich um den Queue, den sie langsam vor- und zurückgleiten ließ. Seine Vorstellungskraft verlagerte sich in tiefere Körperregionen, und er räusperte sich.

Joey verfehlte den Stoß. „Dann spürst du also ein plötzliches Verlangen nach einem langen, kalten Winter?“

Schulterzuckend meinte er: „An der Sonne sieht man sich irgendwann satt.“ Er hatte nicht geplant, nach Boston zurückzukehren, aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, das Angebot von Samuel, Cyrus & Kane auszuschlagen. Ab Montag würde er der jüngste Partner auf dem Briefkopf einer der ältesten und angesehensten Kanzleien sein und die Prozessabteilung leiten.

„Dann wird Boston dich bestimmt nicht enttäuschen.“

Er beugte sich vor, zielte und sah kurz zu ihr auf. „Das hat es bis jetzt nicht getan.“ Als er stieß, kratzte er über den Filz.

Sie lachte und versenkte eine Kugel nach der anderen, bis nur noch zwei seiner Kugeln und die Weiße übrig waren. „In die Ecke.“ Prompt ließ sie der Ankündigung die Tat folgen.

„Danke.“ Sie steckte den Gewinn mit einem breiten Grinsen ein. „Hallo, Manolo. Worthingtons hat Schlussverkauf.“

„Noch ein Spiel?“, fragte er.

„Danke, aber, nein danke.“ Ihr Grinsen wurde unsicher. „Ich sollte wirklich nach Hause gehen. Vielleicht beim nächsten Mal.“

Sie drehte sich um und ging zur Bar. Ihre Hüften wiegten sanft in den engen Jeans. Er konnte sich daran nicht sattsehen und sie vor allem nicht einfach gehen lassen, ohne ihren Namen zu erfahren.

Als sie an der Bar angelangt war, holte er sie ein. „Glaubst du, du kannst fahren?“ Sie hatte seit anderthalb Stunden nichts getrunken, aber etwas Besseres war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.

„Wie bitte?“

Er schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln. „Darf ich dich zum Frühstück einladen?“

„Danke nein“, antwortete sie kopfschüttelnd.

„Gegenüber ist ein Diner, der rund um die Uhr geöffnet hat. Nur ein Frühstück.“

Ihr Zögern konnte nur ein gutes Zeichen sein. „Kaffee?“

„Ja, einen Kaffee könnte ich vielleicht gebrauchen. Hey, Mitch“, rief sie dem Barkeeper zu. „Kann ich dir aus dem Diner etwas mitbringen?“

Kluges Mädchen, dachte Sebastian.

„Danke, ich brauche nichts.“ Der Barkeeper sah Sebastian von oben bis unten an und warf ihm dann einen Blick zu, der klipp und klar sagte, dass er ihn windelweich schlagen würde, falls der Blondine etwas zustoßen sollte.

„Zwei gewendete Spiegeleier, gebratener Speck und Roggentoast“, sagte Joey der Kellnerin.

„Für mich bitte Pfannkuchen und Eier“, bestellte ihr Begleiter. „Und als Beilage Würstchen im Schlafrock.“ Er reichte der Kellnerin die Speisekarte zurück.

Joey bewunderte seine feingliedrigen Finger, während sie einen Schluck heißen Kaffee nahm. „Und, hast du auch einen Namen?“

Er rührte Sahne und Zucker in seine Tasse. „Sebastian. Und du?“

„Joey.“

„Ich muss es einfach fragen. Was treibt ein anständiges Mädchen wie du in einer Kneipe wie Rosalie‘s?“

Sie versteckte ihr Lächeln hinter der Tasse. „Wie kommst du darauf, dass ich ein anständiges Mädchen bin?“

„Du hast den Barkeeper wissen lassen, dass du mit mir weggehst.“ Er trank.

„Nur weil man vorsichtig ist, heißt das noch lange nicht, dass man anständig ist.“

„Versuchst du gerade, mich davon zu überzeugen, dass du ein unanständiges Mädchen bist?“

Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht.“ Vielleicht würde sie ihn mit nach Hause nehmen und es mit ihm treiben, bis ihm Hören und Sehen verging. Eine reizvolle Vorstellung. Es gab nichts an ihm, was sie nicht anziehend fand. Sogar seine arrogante Art wirkte sexy auf sie.

Er gluckste. „Das glaube ich eher nicht.“

Sie versuchte, nicht eingeschnappt zu sein. „Du kennst mich doch gar nicht.“

„Das würde ich aber gern“, sagte er. „Dich kennenlernen, meine ich.“

Und sie würde ihn gern kennenlernen. Aber was dann?

Die Kellnerin brachte das Frühstück, was Joey ersparte, darauf antworten zu müssen. Sie fragte sich, wie lange sie sein Interesse an ihr aufrechterhalten konnte. Bis er entdeckte, wo sie herkam, und vom Namen Winfield und allem, was damit zusammenhing, so eingeschüchtert war, dass er ihr den Laufpass gab. Er wäre nicht der Erste, den der Reichtum und der Ruf ihrer Familie in die Flucht schlugen.

Oder vielleicht, bis ihm klar wurde, dass sie nicht besonders anhänglich war und prima alleine zurechtkam? Oder bis er herausfand, dass ihre Karriere neben ihrer Familie die höchste Priorität in ihrem Leben einnahm?

„Bist du gegen Katzen allergisch?“, fragte sie plötzlich.

Er bestrich die Pfannkuchen dick mit Butter. „Nein. Magst du Hunde?“

„Sehr sogar.“ Brooke war gegen Katzen allergisch, aber Katie hatte seit Kurzem einen Cockerspaniel, den Joey gern verwöhnte, wenn sie ihre Schwester besuchte.

„Ich weiß, dass du Hardrock magst.“ Er goss großzügig Sirup über die Pfannkuchen.

Sie pfefferte und salzte die Eier. „Das ist ganz verschieden“, räumte sie ein. Sie mochte alles von Hardrock über Hip-Hop bis zu den Titeln aus den Sechzigern und Siebzigern, die ihre Mutter so oft gehört hatte. Außerdem Klassik und Opern. Am kommenden Sonntagnachmittag würde sie ihre Großmutter zu einem Kammermusik-Konzert begleiten. „Lass mich raten. Du bist durch und durch Country-Fan.“

Er schüttelte verlegen grinsend den Kopf. „Motown. Und zwar nur die Originale. Vinyl oder gar nichts.“

„Die Temptations oder die Four Tops?“, fragte sie.

„Die Temptations. Besonders die frühen Titel, bevor sie sich von David Ruffin getrennt haben.“ Er schnitt ein Würstchen im Schlafrock auf und zog es durch den Sirup. „Und bevor du fragst, Smokey Robinson ist ein genialer Songschreiber.“

„Wenn wir über die alte Garde reden, dann bevorzuge ich Lennon und McCartney. Oder Elton John und Bernie Taupin.“ Sie gabelte etwas Speck auf. „Und was führt dich nach Boston, Sebastian? Läufst du vor einer gescheiterten Beziehung davon?“

Sein schiefes Lächeln beschleunigte auf angenehme Art ihren Puls. „Ist das deine Art zu fragen, ob ich Single bin?“

Kauend nickte sie.

„Ich bin Single. War nie verheiratet. Und du?“

„Ebenso.“ Obwohl sie einmal nah dran gewesen war. Gefährlich nah. Vor zweieinhalb Jahren, nur vierundzwanzig Stunden bevor sie vor den Traualtar treten sollte, fand sie heraus, dass ihr Verlobter immer noch andere Frauen traf. Dieser Mistkerl.

„Und was bringt dich nach Boston?“

„Der Beruf“, sagte er und machte sich über seine Pfannkuchen her. „Ich bin Anwalt.“

Auch das noch! Joey konnte nicht anders als lachen.

Er grinste. „He, gibt dir keine Mühe. Ich kenne sämtliche Juristenwitze.“

„Das ist es nicht“, meinte sie. Immerhin würde er die Anforderungen ihres Berufs verstehen, auch wenn sie an diesem Abend eigentlich „einfach nur Joey“ hatte sein wollen.

Autor

Jamie Denton
<p>Jamie Denton schmiss ihre lange Karriere als Rechtsanwaltsfachangestellte hin, um ihrer Leidenschaft fürs Schreiben nachzugehen. Der Impuls dazu war, dass ihr allererster Versuch sofort fruchtete: Harlequin Books kaufte Jamies Manuskript vier Tage vor Weihnachten 1994. Seitdem war Jamie Denton nicht mehr zu stoppen: Sie schrieb weiter, mit großem Erfolg und...
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