Auf einmal ist es Liebe

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Mit keinem Mann kann Melanie so herzlich lachen wie mit Caleb - und keiner kennt ihre Sorgen so gut wie er. Deshalb möchte sie ihn auch nie als besten Freund verlieren. Doch genau das könnte passieren, denn in ihre Gefühle mischen sich auf einmal Leidenschaft und Begehren …


  • Erscheinungstag 03.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719852
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Der Bogen des Geigers bewegte sich so schnell, dass er unter den bunten chinesischen Lampions, die zwischen dem Haus und der Scheune baumelten, kaum zu erkennen war. Füße stampften, Hände klatschten, und Paare drehten sich auf der provisorisch errichteten Tanzfläche aus Sperrholz. Der Winterweizen war ausgesät, was schon Grund genug für eine Party gewesen wäre. Aber die Leute hatten sich an diesem Abend im frühen Oktober nicht wegen des Weizens auf der Cherokee Rose Ranch versammelt.

Der älteste Enkel von Cherokee Rose Chisholm hatte geheiratet, und Farmer und Rancher, Banker und Cowboys aus Oklahoma und den umliegenden Bundesstaaten waren gekommen, um seine Frau Emily Nelson und ihre beiden jungen Töchter in der Familie willkommen zu heißen.

Es gab das Gerücht, dass sogar ein oder zwei Texaner den weiten Weg auf sich genommen hatten. Aber für die Bewohner von Oklahoma gab es keinen Ort namens Texas, für sie hieß das Land südlich des Red River einfach nur Baja Oklahoma.

Texanern gefiel der Name nicht, denn in ihren Augen war alles, was jenseits des Flusses lag, einfach nur Nordtexas. Die alljährliche Red-River-Rivalität, die der Rest des Landes als das Footballspiel zwischen der Oklahoma University und der University of Texas kannte, würde erst in zwei Wochen stattfinden. Bis dahin tranken die Rivalen friedlich ihr Bier zusammen.

Das Gebräu wurde von Caleb Chisholm gezapft, dem mittleren von Cherokee Roses drei Enkelsöhnen. Die meisten Leute hielten ihn für den ruhigen Chisholm. Sloan, der Älteste, war umgänglich, freundlich und hilfsbereit. Justin, der Jüngste, hatte sich in der High School den Spitznamen Wild Man erworben, denn er war ein Draufgänger, vor allem bei den Frauen.

Caleb dagegen war eher ein Einzelgänger – wenn er nicht gerade einen Streit zwischen seinen Brüdern schlichten musste. Er war ausgeglichen und verlässlich und galt als einer der begehrtesten Junggesellen in der Gegend. Nur selten lächelte der ernste und zurückhaltende Mann.

Aber genau das tat er jetzt, als die direkte Nachbarin der Chisholms sich im Takt der Countryband auf sein Bierfass zubewegte.

Hätte jemand die Brüder gefragt, was für eine Frau Melanie Pruitt ist, hätte er drei verschiedene Antworten bekommen: Sie ist ein süßes Kind, das nicht genau weiß, was es will. Sie trägt ihr – meistens gebrochenes – Herz auf der Zunge. Und sie ist ein echter Kumpel, der für jeden Streich zu haben ist.

Die Chisholm-Brüder kannten sie schon ihr ganzes Leben lang. Sie war die kleine Schwester, die sie nie gehabt hatten. Sie war in Sloan verliebt gewesen, hatte sich an Calebs Schulter ausgeweint und Justin geholfen, das Haus des Schuldirektors an Halloween mit faulen Eiern zu bewerfen.

„Hey, Caleb“, sagte sie. „Tolle Party.“ Ihr Lächeln war nicht so strahlend wie sonst.

Ihr Blick folgte Sloan und Emily, die gerade lachend einen schwungvollen Twostepp tanzten.

„Verdammt, Melanie“, knurrte Caleb. „Ich dachte, du bist über ihn hinweg.“

Blinzelnd sah sie ihn an. „Was meinst du? Über wen?“

„Sloan. Du hast ihn angestarrt, als hättest du deinen besten Freund verloren.“

Ihre Augen wurden groß. „Ich habe nicht an Sloan gedacht.“

„Woran dann?“

Melanie schüttelte den Kopf. „Es ist nichts.“

„Komm schon, Melanie. Mir kannst du’s sagen.“

„Okay, lass es mich anders formulieren. Es ist nichts, worüber ich reden möchte, aber mit Sloan hat es nichts zu tun.“

Caleb zuckte mit den Schultern. „Sicher?“

„Wenn du so weitermachst, werde ich wütend. Über Sloan bin ich seit Jahren hinweg. Und selbst wenn ich es nicht wäre, sieh dir die beiden an.“ Sie zeigte auf das frisch gebackene Ehepaar. Der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann und die kleine, blonde Frau schauten einander an, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. „Ein Blinder mit Krückstock kann sehen, wie verliebt sie sind.“

„Onkel Caleb! Onkel Caleb, sieh mal!“

Der Ruf kam von Libby, Emilys sechs Jahre alter Tochter. Sie und ihre achtjährige Schwester Janie tanzten mit Justin, Calebs und Sloans jüngstem Bruder.

„Sieh mal, Onkel Caleb!“, rief Janie.

Onkel. Caleb lächelte stolz. „Ihr seht gut aus, Ladies.“

„Du bist gern Onkel, was?“, fragte Melanie.

„Und wie“, erwiderte er. „Die beiden sind Engel.“

„Warum tanzt du nicht?“

„Ich muss Bier zapfen.“

„Unsinn. Wir können uns selbst bedienen.“ Sie senkte die Stimme. „Achtung, Barrakuda auf zwölf Uhr. Mit glänzenden Augen. Du solltest mit mir tanzen. Sofort.“

Caleb wollte sich umdrehen, aber sie packte seinen Arm und zog ihn zur Tanzfläche.

„Sieh nicht hin“, zischte sie. „Es ist Alyshia Campbell.“

Caleb nahm ihre rechte Hand, legte seine andere an ihre Taille und begann mit einem schnellen Twostepp.

Alyshia Campbell, alias Barrakuda, Hai, Piranha und ein halbes Dutzend anderer Namen, die nicht so nett waren. Alyshia kannte jeden davon und genoss ihren üblen Ruf.

Sie war mindestens zehn Jahre älter als Caleb und mit dem örtlichen Gebrauchtwagenhändler verheiratet, der ihre Affären duldete, weil sie die seinen ignorierte. Ganz offensichtlich hatte sie sich Caleb als nächste Eroberung ausgesucht.

„Danke“, sagte er mit Nachdruck. „Ich bin dir einen Gefallen schuldig.“

Lachend warf Melanie ihr schulterlanges Haar nach hinten. „Allerdings.“

„Soll das heißen, mit mir zu tanzen ist ein Opfer?“

„Natürlich nicht. Du weißt, dass du einer der besten Tänzer in dieser Gegend bist. Aber ich habe dich gerettet, Kumpel.“

„Leider nur kurz. Hier kommt sie.“

Alyshia näherte sich ihnen mit einem raubtierhaften Lächeln auf dem chirurgisch verschönerten Gesicht.

„Darf ich abklatschen?“, schnurrte sie.

„Verschwinde, Alyshia“, sagte Melanie. „Der hier ist vergeben.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, legte sie die Hände um Calebs Nacken und küsste ihn auf den Mund.

Caleb zuckte zusammen, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen. Ihm wurde heiß, und die Erregung raubte ihm fast den Atem.

Verblüfft riss er sich von Melanies Mund los.

„Oh.“

Caleb schluckte. „Ja.“ Er schluckte wieder. „Das war …“

Sie schluckte ebenfalls. „Ja.“

„Kommt schon, ihr beiden.“ Alyshia grinste. „Nehmt euch ein Zimmer.“

Caleb und Melanie achteten nicht auf sie.

„Was war das gerade?“, fragte Melanie wie benommen.

„Ich … weiß es nicht. Eine Explosion, glaube ich.“

Um sie herum wirbelten ihre Freunde über die Tanzfläche.

„Ja.“ Melanie wich Calebs Blick aus. „Ja, das würde es erklären.“

Er betrachtete seine Füße. „Jedenfalls … danke, dass du mich vor Alyshia bewahrt hast.“

„Hey.“ Melanie rang sich ein unbeschwertes Lächeln ab. „Wozu hat man Freunde? Oh, sieh mal, da ist Daddy. Bis später.“ Sie eilte davon.

Was sollte eine Frau sonst tun, nachdem sie gerade das Undenkbare getan und ihren besten Freund geküsst hatte? Und zwar nicht nur geküsst, sondern GEKÜSST.

Es hatte ein Scherz sein sollen. Ein Trick, um Alyshia loszuwerden. Kein … Feuerwerk.

„Was ist los mit dir?“, brummte ihr Vater. „Du siehst aus, als wärst du gerade vom Pferd gefallen.“

Ja, so fühlte sie sich auch. „Nein, nein“, brachte sie heraus. „Ich habe nur zu schnell getanzt.“

Er klopfte ihr auf die Schulter. „Na, dann noch viel Spaß, mein Mädchen. Bis nachher.“

„Daddy?“

Ralph Pruitt blieb stehen. „Ja?“

Melanie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ich finde dich, wenn ich nach Hause will.“

Als er davonging, biss sie sich auf die Zunge. Keine Karten, keine Wetten, hätte sie fast gesagt.

Nicht, dass die Warnung etwas bewirkt hätte. Ihr Vater war spielsüchtig. Früher war er zu einer Selbsthilfegruppe in Oklahoma City gefahren, aber nachdem Melanies Mutter vor zwei Jahren ausgezogen war, hatte er einen Rückfall erlitten.

Es mochte zynisch klingen, aber würde ihr Vater häufiger gewinnen, würde sie sich vielleicht nicht so viele Sorgen machen. Er verspielte immer mehr Geld, und die Ranch begann darunter zu leiden.

Daran hatte sie gedacht, als Caleb sie fragte, ob sie immer noch an Sloan hänge.

Und jetzt kam zu den Sorgen wegen ihrer Eltern auch noch der Kuss hinzu. Sie sollte darüber lachen, aber er ging ihr nicht aus dem Kopf.

Um drei Uhr morgens dachte Melanie noch immer an den verdammten Kuss. Immer wieder lief er vor ihrem geistigen Auge ab und ließ sie nicht schlafen. Als die Sonne endlich aufging, sah ihr zerwühltes Bett aus wie ein Katastrophengebiet. Sie selbst sah allerdings nicht besser aus, wie ihr ein Blick in den Spiegel verriet.

Auch die Dusche und mehr Make-up als sonst konnten nicht verbergen, dass sie eine unruhige Nacht hinter sich hatte. Ihr Vater zog zwar die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts, während sie zusammen zur Kirche fuhren. Seit Melanie denken konnte, ging die Familie am Sonntagmorgen in den Gottesdienst. Nur die Geburt eines Kalbs oder Fohlens hielt ihren Vater davon ab. Noch immer war es ungewohnt, zu zweit im Pick-up zu sitzen. Melanie fand, dass ihre Mutter zu ihnen gehörte. Sie gehörte nach Oklahoma, nicht ins sonnige Arizona, wo sie das Leben genoss und ihre Rechnungen nach Hause schickte, damit die Ranch sie bezahlte. Immer höher werdende Rechnungen.

Die immensen Geldausgaben ihrer Eltern bereiteten Melanie Kopfschmerzen. Sie versuchte, sich auf die Predigt zu konzentrieren, und wartete danach, bis die Chisholms fast aus der Kirche waren. Schließlich verlor ihr Vater die Geduld und zog sie aus der Sitzreihe.

„Was ist heute los mit dir?“, knurrte er.

„Warum die Eile?“, fragte sie.

„Vielleicht bin ich hungrig.“

Das war der zweite Teil ihres sonntäglichen Rituals – das Mittagessen in Lucille’s Café an der Main Street. Ihr Vater nahm immer das Hähnchensteak, weil Melanie sich strikt weigerte, die Legehühner der Ranch zu schlachten.

Sie atmete auf, als sie und ihr Vater ins Freie traten und die Chisholms gerade vom Parkplatz fuhren.

Neben ihr murmelte Ralph Pruitt einen Fluch.

„Was ist heute los mit dir?“, wiederholte sie seine Frage.

„Hab ich doch gesagt“, erwiderte er mürrisch. „Ich bin hungrig.“

„Na, dann füttern wir dich jetzt.“

Da viele Leute nach dem Gottesdienst essen gingen, war es nicht leicht, einen freien Tisch zu finden. Zum Glück entdeckte Melanie einen in sicherer Entfernung von der Mitte des Restaurants, wo die Chisholms drei Tische zusammengeschoben hatten. Leider mussten sie und ihr Vater an ihnen vorbei.

Es war albern, Caleb aus dem Weg zu gehen, schließlich sahen sie sich jeden Sonntag und auch ein oder zwei Mal unter der Woche. Sie brauchte nur zu lächeln und zu winken. Ganz einfach. Kein Problem.

Sie schaffte es, doch ihr Vater legte eine Hand auf ihren Arm. „Warte.“

Er blieb am Tisch der Chisholms stehen und begrüßte sie.

„Rose“, sagte er zur Matriarchin des Clans. „Du weißt, wie man eine Party gibt.“

„Danke, Ralph.“ Cherokee Rose Chisholm lächelte. „Es passiert nicht jeden Tag, dass einer meiner Enkel heiratet.“

Ihr Vater warf Melanie einen finsteren Blick zu. „Manche von uns warten noch immer darauf, dass die Kinder heiraten und uns Enkelkinder schenken.“

Ohne Caleb anzusehen, beugte Melanie sich zu Justin. „Hast du heute Abend schon etwas vor? Mein Daddy will, dass ich heirate und Kinder bekomme.“

Justin machte erst ein nachdenkliches Gesicht, dann lächelte er. „Heute Abend habe ich ein Date, aber morgen Abend feiert Billy Ray Geburtstag, und ich soll dich um sieben Uhr abholen. Heiraten können wir nicht, weil wir keine Lizenz haben, aber wir könnten gleich nach der Party mit dem Kinderkriegen anfangen.“

Die Erwachsenen am Tisch lachten. Emily, Justins neue Schwägerin, runzelte die Stirn. „Justin, schäm dich.“

Melanie kniff ihm in die Nase. „Nur in deinen Träumen, Junge.“

Justin seufzte dramatisch. „Ja, du hast recht. Außerdem wäre es, als würde ich meine Schwester küssen.“

Achselzuckend sah Melanie ihren Vater an. „Tut mir leid, Daddy. Sieht aus, als müsste ich noch eine Weile Single bleiben.“

Ralph Pruitt schnaubte. „Na ja, dann kann er dich wenigstens nach Hause fahren. Ich habe noch etwas zu erledigen und muss jetzt los. Ich hoffe, es macht euch nichts aus.“ Seinen Hunger hatte er offensichtlich vergessen.

„Augenblick“, griff Melanie ein.

Rose kam ihrem Protest zuvor. „Natürlich nicht. Du weißt, dass du nicht unsere Erlaubnis brauchst.“

„Genau“, sagte Sloan. „Komm, Mel, hol dir einen Stuhl und setz dich zu uns.“

Melanie starrte ihren Vater an. „Daddy …“

Er küsste sie auf die Wange. „Mach schon, Mädchen. Ich komme erst spät nach Hause, also warte nicht auf mich. Schönen Tag noch.“ Er tippte sich an den Hut und ging davon.

„Daddy“, rief Melanie ihm nach, aber er ignorierte sie.

In ihr brodelte eine Mischung aus Zorn und Empörung. Sie wusste, dass er wieder nach Oklahoma City wollte, wo es ein halbes Dutzend Kasinos gab.

„Setz dich, Mel“, forderte Caleb sie auf.

„Danke“, sagte sie zu der Runde. „Es ist nett, dass ich in euer Sonntagsessen platzen darf.“

„Unsinn“, entgegnete Rose. „Du könntest mitten in der Nacht auftauchen und wärst uns willkommen. Hallo, Donna“, begrüßte sie die Kellnerin, die an den Tisch trat. „Melanie isst mit uns. Sie wird etwas zu trinken brauchen.“

Melanies Unbehagen legte sich nach und nach, denn die Chisholms behandelten sie wie immer – als würde sie zur Familie gehören. Niemand nahm am Verhalten ihres Vaters Anstoß. Und niemand, auch Caleb nicht, ließ sich anmerken, dass am Abend zuvor auf der Tanzfläche etwas Unerhörtes geschehen war.

Irgendwann gelang es Melanie sogar, sich ein wenig zu entspannen. Vielleicht hatte sie einfach nur überreagiert. Sie hatte einen Freund geküsst, um ihn vor einer peinlichen Situation zu bewahren, das war alles. Den Rest hatte sie sich ganz offenbar nur eingebildet.

Und die verstohlenen Blicke, die Sloan und Justin immerzu wechselten, hatten bestimmt nichts mit ihr zu tun. Ihre Fantasie ging mal wieder mit ihr durch.

Doch dann stand sie plötzlich allein mit Caleb neben seinem Pick-up, während alle anderen sich in Roses Geländewagen quetschten und davonfuhren. Und das aufmunternde Lächeln, das seine Brüder ihm zuwarfen, war nicht zu übersehen.

„Na ja“, meinte Caleb. „Das war subtil, oder?“

„Wie eine Dampfwalze. Tut mir leid, dass du Taxi spielen musst.“

„Hey, vergiss es.“ Er ging zur Beifahrertür und öffnete sie. „Wozu sind Freunde da?“

Kaum hatte er es ausgesprochen, wünschten sie beide, er hätte es nicht getan. Beide taten so, als hätte er geschwiegen. Als hätte Melanie nicht genau die Worte gesagt, gestern Abend, auf der Tanzfläche, nachdem … nach der großen Katastrophe.

Sie senkte den Blick und stieg ein.

Caleb ging um den Wagen herum und verfluchte seine Brüder. Er verfluchte Ralph Pruitt. Er verfluchte Alyshia Campbell.

Aber vor allem verfluchte er sich selbst dafür, dass er sie beide an etwas erinnert hatte, an das sie eigentlich keinen Gedanken mehr verschwenden sollten. Aber irgendwie hatte es seine Welt aus den Fugen geraten lassen.

Der Auftritt ihres Vaters war ihr unangenehm gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie wieder lächeln konnte. Hin und wieder hatte sie ihn sogar angesehen. Aus den Augenwinkeln. Wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerkte.

Jetzt war ihr Gesicht wieder verschlossen.

Seufzend startete Caleb den Motor. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, aber die Fahrt zu ihrem Haus dauerte zwanzig Minuten, und irgendwann würde ihm schon etwas einfallen. Etwas, das nichts damit zu tun hatte, dass er die ganze Nacht wach gelegen und sich vorgestellt hatte, wie er sie wieder küsste.

Allein die Vorstellung erschreckte ihn. Die Freundschaft mit Melanie hatte ihm stets sehr viel bedeutet, und er hatte nicht vor, sie zu ruinieren, nur weil seine Hormone verrückt spielten. Echte Freunde fürs Leben sind schwer zu finden.

Für Melanie dagegen war der Kuss nur ein Streich gewesen. Sie hatten Alyshia Campbell einen Streich gespielt, und Mel liebte so etwas.

Es war zu still im Wagen. Caleb tastete nach dem Radio.

Melanie musste dieselbe Idee gehabt haben, denn ihre Hände stießen vor dem Knopf zusammen, und eine Sekunde lang schoben sich die Finger ineinander. Caleb fühlte es im ganzen Arm und zuckte zurück.

Genau wie Melanie.

„Entschuldigung“, murmelte sie und rieb sich den Arm, als hätte auch sie das Kribbeln gespürt.

Wenigstens bin ich nicht der Einzige, dachte Caleb. Und gestern Abend war er es auch nicht gewesen. Doch das verriet ihm nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sollte er sie ignorieren? So tun, als wäre nichts passiert? Es ansprechen? Sie wieder küssen?

„Melanie“, begann er.

„Ich dachte, du wolltest das Radio einschalten.“ Ihre Stimme war scharf. Sie verschränkte die Arme und starrte nach vorn.

„Ja. Sicher.“ Okay, dachte er. Sie wollte nicht reden. Er stellte das Radio an.

Als er vom Highway auf den langen Weg zum Haus einbog, musste er langsam fahren. Der Schotter war längst verschwunden, der lehmige Boden in der Sonne Oklahomas hart wie Granit. Manche Furchen waren so tief, dass er ausweichen musste, um nicht mit dem Unterboden aufzusetzen.

Was war mit ihr und ihrem Vater los? Sie hätten die Zufahrt gleich nach dem letzten Regen planieren und eine Ladung Schotter darauf verteilen sollen.

Er warf Melanie einen Blick zu, aber sie saß so reglos und verkrampft da, dass seine Stimme vermutlich nicht zu ihr durchdringen würde. Also hielt er den Mund und manövrierte den Wagen über die Buckelpiste.

2. KAPITEL

Es war die längste Autofahrt in Melanies Leben gewesen. Caleb hatte den Kuss nicht angesprochen, und sie wusste nicht, ob sie dankbar oder zornig sein sollte. Vielleicht ein wenig von beidem, dachte sie, während seine Schlussleuchten in einer Staubwolke langsam kleiner wurden.

Kopfschüttelnd ging sie in ihr Schlafzimmer, um sich für die Arbeit umzuziehen. Da ihr Vater nicht zu Hause war, würde sie sich allein um alles kümmern müssen. Aber es machte ihr nichts aus. Im Gegenteil, sie liebte die Arbeit. Na ja, vielleicht nicht alles, aber es gab nichts, das ihr wirklich zuwider war. Außer wenn ein Tier eingeschläfert werden musste. Und Hausarbeit. Sie hasste alles, was irgendwie nach Hausarbeit roch.

Sie würde mit dem Wichtigsten beginnen, mit den Stuten. Es waren drei, und sie waren ihre wertvollsten Pensionsgäste.

Nun ja, dachte Melanie schmunzelnd, es sind die einzigen Gäste. Ihre Besitzer bezahlten einen Aufschlag dafür, dass sie besonders gut betreut wurden. Dazu gehörte, dass Melanie sie jeden Abend in den Stall holte, damit sie die Nacht nicht im Freien verbringen mussten.

Die eigenen Pferde der Pruitt Ranch blieben selbst in einem Schneesturm draußen, bis sich an ihren Nüstern Eiszapfen bildeten. Erst dann würden sie widerwillig einen Huf in den Stall setzen.

In der Küche zog Melanie die Stiefel an und machte sich ans Werk. Eigentlich war es unfair, die Stuten mitten am Tag einzusperren, nur damit sie selbst ihre Aufgaben in einer bestimmten Reihenfolge erledigen konnte. Aber dazu musste sie erst die Boxen ausmisten, also fing sie damit an. Danach entleerte sie den Wassertrog im Pferch und säuberte ihn gründlich. Seit der West-Nil-Virus in Oklahoma aufgetaucht war, ließ sie das Wasser nie länger als zwei Tage stehen. Es gab auch so schon genug Brutplätze für Moskitos.

Als sie vom Vieh auf der hinteren Weide zurückkehrte und die Stuten in den Stall brachte, war es fast dunkel. Sie striegelte gerade den letzten Vierbeiner, da hörte sie einen Wagen auf den Hof fahren.

Es war ihr Dad. Sie erkannte den alten Pick-up am Motorengeräusch und ließ sich viel Zeit.

Schließlich ließ es sich nicht länger hinauszögern, also ging sie zur Hintertür und betrat das Haus.

Ihr Vater war am Telefon. „Ich habe gesagt, ich besorge das Geld“, sagte er.

In Melanie zog sich etwas zusammen, und sie blieb wie erstarrt stehen.

Ralph Pruitt legte auf. „Was gibt es zu essen?“

Melanie starrte ihn nur an. Als sie nicht antwortete, drehte er sich zu ihr um.

„Wenn du nach der Kirche etwas gegessen hättest, wärst du nicht hungrig“, sagte sie scharf.

Er schnaubte. „Du hast gegessen, und ich wette, du hast trotzdem Hunger.“

„Wetten?“ Sie musste sich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien. „Hast du für heute noch nicht genug gewettet?“

Seine Wangen röteten sich. Er riss den Kühlschrank auf. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Nein?“ Sie zog einen Stiefel aus. „Was war das für Geld, von dem du am Telefon gesprochen hast?“

„Das geht dich nichts an.“

„Doch, es geht mich etwas an.“ Sie zog den zweiten Stiefel aus, ging zu ihm und zog ihn am Arm herum. „Du hebst seit Monaten Geld vom Konto der Ranch ab, als könnten wir es selbst drucken.“

Melanie atmete tief durch. Dies war der Mann, der sie auf den Schultern getragen hatte. Der ihr beigebracht hatte, auf einem richtigen Pferd zu reiten, ihr das erste Pony geschenkt und ihr gezeigt hatte, wie man einen Stier mit dem Lasso einfing.

„Daddy, ich liebe dich, aber das hier muss aufhören, bevor du uns in den Bankrott treibst.“

„Ach, hör auf“, sagte er gequält. „So schlimm ist es nicht.“

„Nein?“ Sie zeigte nach draußen. „Sieh dich doch um. Meinst du, wir haben die Cowboys vor drei Wochen gehen lassen, weil wir sie nicht mehr brauchen? Weil wir uns lieber zu Tode schuften?“

„Ich weiß, du hast gesagt, dass wir knapp bei Kasse sind“, erwiderte Ralph. „Aber das war, bevor wir die Kälber verkauft haben. Jetzt ist alles wieder okay.“

„Das wäre es vielleicht, wenn wir davor nicht dank deiner Spielschulden und Moms Kreditkartenabrechnungen in den roten Zahlen gewesen wären.“

Fayrene und Ralph Pruitt waren seit fast zwei Jahren getrennt. Nicht auf dem Papier, aber räumlich. Eines Tages war Fayrene es leid gewesen, dass Ralph sich mehr für sein Vieh und die Pferde – und sogar den Pick-up – als für sie interessierte. Sie hatte eine Tasche gepackt und sich zu ihrer Schwester in Phoenix abgesetzt. Alle zwei Wochen rief sie an, um mit Melanie zu reden, aber mit Ralph sprach sie nie.

Fayrene hatte ihre Kreditkarte behalten, und die war auf die Ranch ausgestellt. Ralph hatte sie nie gebeten, sie zurückzugeben oder nicht mehr zu benutzen. Solange sie seine Frau sei, habe sie das Recht dazu, sagte er.

Aber Melanie musste dafür sorgen, dass die Rechnungen bezahlt wurden.

„Ich sage dir, Daddy, so werden wir es nicht über den Winter schaffen. Was sollen wir denn tun? Land verkaufen? Oder Big Angus?“

Big Angus war ihr Zuchtstier, einer der wertvollsten im ganzen Bundesstaat.

„Du klingst wie deine Mutter. Dauernd übertreibst du und machst alles schlimmer, als es ist.“

„Daddy …“

„Ich habe Hunger. Haben wir noch Roastbeef? Wir könnten Sandwiches machen.“

Und damit war für ihn das Thema Geld erledigt.

Melanies Vater hatte sich zwei dicke Sandwiches mit Roastbeef gemacht, sie verschlungen, seine Tochter auf den Kopf geküsst und war zu Bett gegangen.

Am Montagmorgen fand sie auf dem Küchentisch eine Nachricht.

Bin in die Stadt gefahren. Warte nicht auf mich.

Er meinte Oklahoma City. Vielleicht wollte er das dringend benötigte Ersatzteil für den Traktor besorgen. Aber meistens bestellte er solche Sachen bei der Werkstatt in Rose Rock.

Er spielte oder wettete wieder. Es gab keine andere logische Erklärung.

Melanie war so wütend, dass sie wünschte, sie hätte einen Sandsack. Oder einen Stapel Brennholz, auf den sie mit der Axt losgehen konnte. Leider hatte sie beides nicht, also beherrschte sie sich, ließ die Stuten ins Freie und mistete die Boxen aus.

Als sie Futter holen wollte, fluchte sie. Ihr Vater hatte vergessen, Nachschub zu besorgen.

Eigentlich sollte sie den Futterkauf auf später verschieben, aber vielleicht würde ein Ausflug in den Ort sie ein wenig ablenken.

Auf dem Rückweg stoppte sie am Briefkasten, der wie üblich nichts Erfreuliches enthielt. Kein Lotteriegewinn. Nur eine Rechnung vom Stromversorger. Von der Versicherung. Von der Kreditkartengesellschaft.

Sie öffnete sie nicht sofort, sondern lud das Futter ab. Stapelte die Säcke ordentlich auf. Räumte die Futterkammer auf. Ging ins Haus und machte sich ein Sandwich.

Erst danach ging sie mit der Post zu dem kleinen Schreibtisch im Arbeitszimmer und griff nach dem Brieföffner. Mit angehaltenem Atem schlitzte sie den Umschlag mit der Kreditkartenabrechnung auf.

Und fiel fast hintenüber. Du meine Güte! Erst im letzten Monat hatte sie alles bezahlt, aber jetzt war der Kreditrahmen schon wieder ausgeschöpft. Bis auf den letzten Cent. Was zum … In einem Monat?

„Mom, was hast du getan?“, murmelte sie.

Die Liste war fast zwei Seiten lang. Kein Betrag war geringer als fünfhundert Dollar. Kaufhäuser – der Nobelklasse. Victoria’s Secret? Dessous für sechshundertfünfundsiebzig Dollar?

Aber der Posten, bei dem Melanie fast das Herz stehen blieb, stammte von einer Klinik in Scottsdale und betrug über zehntausend Dollar.

Oh Gott. Eine Klinik? Ihre Mutter war krank. Wie ernst? Es musste schlimm sein, wenn es so viel kostete. Warum hatte Mom nichts davon erzählt?

Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer ihrer Mutter in Arizona. Sie erreichte nur den verdammten Anrufbeantworter.

„Mom, hier ist Melanie“, begann sie. „Bist du zu Hause? Wenn du da bist, nimm ab. Ich habe gerade die Kreditkartenabrechnung bekommen. Mom, was ist los? Bist du krank? Verletzt? Was ist passiert? All das Geld für die Klinik. Warum hast du nicht die Versicherung in Anspruch genommen? Bitte ruf an. Ich mache mir Sorgen. Ruf an. Und beeil dich, Mom.“

Melanie war fast übel. Ihre Mutter war krank, und die Ranch steckte in finanziellen Schwierigkeiten. Dieses Mal konnte sie das Konto unmöglich ausgleichen. Und angesichts von Überziehungszinsen, die an Wucher grenzten, würde sie Jahre brauchen, um alles zurückzuzahlen.

Aber wie konnte sie an eine solche Nebensächlichkeit denken, wenn ihre Mutter vielleicht im Sterben lag?

Melanie setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Was sollte sie tun? Wie sollte sie ihrer Mutter helfen? Sie musste annehmen, dass es ihr sehr schlecht ging, sonst hätte sie angerufen. Oder Tante Karen. Aber niemand bezahlte einer Klinik zehntausend Dollar wegen eines verstauchten Knöchels oder einer verschleppten Grippe.

Und warum hatte sie die Rechnung nicht bei der Versicherung eingereicht? Hatte ihre Mutter den Verstand verloren?

Offenbar fühlte sie sich gut genug, um in den besseren Geschäften von Phoenix einzukaufen, denn deren Rechnungen waren jüngeren Datums als die der Klinik.

Und als wäre der Gesundheitszustand ihrer Mutter nicht genug, lastete auch noch das Überleben der Ranch auf Melanies Schultern. Ihre Eltern waren keine Hilfe. Im Gegenteil, sie waren das Problem. Alle beide.

Melanie liebte ihre Eltern von ganzem Herzen, aber in diesem Moment hätte sie sie gern mit den Köpfen aneinander geschlagen. Das hier musste aufhören. Irgendwie musste sie sie zur Vernunft bringen.

Aber wie? Sie hatte es mit Reden versucht. Mit Betteln. Mit Fordern. Nichts hatte gewirkt. Was konnte sie sonst noch tun? Seit dem Auszug ihrer Mom benahmen die beiden sich verantwortungslos.

Als sie sich getrennt hatten, war die Ranch aufgeteilt worden. Fünfzig Prozent waren an Melanie gegangen, je fünfundzwanzig Prozent an ihre Eltern. Solange die beiden sich nicht zusammentaten, und danach sah es im Moment nicht aus, hatte Melanie das Recht, allein über die Ranch zu verfügen. Es war höchste Zeit, dass sie ihr Recht nutzte.

Sie griff nach dem Telefonhörer.

Eine halbe Stunde später war es geschafft. Sie waren nicht schuldenfrei und würden es so schnell auch nicht werden, aber wenigstens konnten ihre Eltern die Situation nicht weiter verschlimmern. Melanie hatte die Kreditkarte gekündigt und das Konto der Ranch gesperrt. Niemand konnte es belasten, außer in der Futterhandlung in Rose Rock, und niemand konnte Geld abheben, ohne einen Scheck auszuschreiben. Und sie hatte das einzige Scheckbuch.

Ihr Vater und ihre Mutter würden an die Decke gehen, wenn sie es erfuhren.

Die beiden waren ihre Eltern, und sie behandelte sie wie Kinder.

Billy Rays Geburtstagsparty im Road Hog Saloon war ein voller Erfolg.

Autor

Janis Reams Hudson
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Die Chisholm Brüder