Bianca Exklusiv Band 312

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

ANNIES ENTSCHEIDUNG von ALLISON LEIGH
Annie hat es nie überwunden, dass sie ihr Baby weggeben musste. Und nun steht ihre Tochter unerwartet vor ihr. Wer hat Riley die Wahrheit gesagt? Und wie soll Annie es Logan Drake erklären, dem Mann, den sie über alles liebt? Wird er sie verstehen - oder sie verlassen?

KANN ES LIEBE SEIN? von VICTORIA PADE
Die traumhaften Stunden in Michaels Armen hat Josie genossen. Eine Beziehung mit ihm will sie jedoch nicht. Denn sie ist Single aus Überzeugung und möchte ihre Freiheit nicht aufgeben. Doch dann bittet Michael sie, bei ihm einzuziehen und seine Verlobte zu spielen...

MAN NEHME: DICH UND MICH! von JESSICA BIRD
Das ist das Aus für Frankies Pension: Mitten in der Saison hat der Küchenchef gekündigt! Da steht, wie vom Himmel geschickt, der Sternekoch Nate Walker vor ihr. Dass er fantastisch kochen kann, ist eine Sache - dass seine Küsse Appetit auf mehr machen, eine ganz andere …


  • Erscheinungstag 19.07.2019
  • Bandnummer 0312
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737054
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Allison Leigh, Victoria Pade, Jessica Bird

BIANCA EXKLUSIV BAND 312

1. KAPITEL

Das Geräusch war unverkennbar. Splitterndes Glas.

Annie schloss die Augen und befahl sich, tief durchzuatmen.

Sie hätte den Weg nach hinten auch mit geschlossenen Augen gefunden, aber sie öffnete sie trotzdem wieder. Zwar kannte sie jeden Winkel des Ladens, aber seit zwei Tagen war sie so nervös, dass es sie nicht wundern würde, wenn sie selbst gegen eins der Regale aus Chrom und Glas stieß.

Sie betrat den hinteren Raum von Island Botanica und sah mit einem Blick, was geschehen war.

An dem an der Decke befestigten Holzgitter hingen Büschel von Lavendel, Rosmarin und Goldmohn zum Trocknen. Unter der duftenden Farbenpracht stand ein junges Mädchen inmitten dunkelgrüner Scherben. „Hast du dir wehgetan?“, fragte Annie.

Verlegen starrte ihre Nichte zu Boden. „Das ist jetzt schon die dritte Flasche, die ich zerbrochen habe.“ Rileys Stimme klang belegt. Sie schien den Tränen nah zu sein.

Nirgendwo war Blut zu sehen, und Annies Herzklopfen legte sich ein wenig. Achselzuckend nahm sie den Handbesen vom Wandhaken und begann die Scherben zusammenzufegen. „So etwas passiert“, sagte sie so gelassen wie möglich. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten, und packte den Besen noch fester.

Das Dutzend Armbänder an Rileys schmalem Handgelenk klirrte, als sie sich das wellige blonde Haar hinter die Ohren schob. Hastig ging sie zur Seite. „Dad wird alles bezahlen.“

Annies Herz schlug wieder schneller. Seit Riley vor zwei Tagen unangemeldet vor ihrer Tür gestanden hatte, hatte das Mädchen seine Eltern mit keinem Wort erwähnt. Es war Annie gewesen, die darauf bestanden hatte, Will und Noelle anzurufen und ihnen zu sagen, dass ihrer Tochter nichts zugestoßen war.

Sie hörte auf zu fegen und streckte den Arm nach Riley aus, ließ ihn jedoch wieder sinken. Anstatt ihre Nichte zu berühren, fegte sie die Scherben auf das Kehrblech.

„Sei nicht albern. Niemand muss etwas bezahlen.“

„Außer dir und Sara, denn jetzt könnt ihr das nicht mehr verkaufen.“ Das Mädchen zeigte mit dem Kinn auf die grünen Glassplitter, die glitzerten, als Annie sie in den Abfalleimer kippte. „Dad hat erzählt, dass euch das Wasser bis zum Hals steht.“

„Nun ja, eine zerbrochene Flasche mehr oder weniger wird uns schon nicht ruinieren“, erwiderte Annie trocken. „Es ist schon gut, Riley. Wirklich. Ich schlage vor, du packst die restlichen Flaschen aus, dann machen wir Mittagspause.“

Rileys Blick zuckte zur Wanduhr. „So früh?“

Annie hängte Handbesen und Kehrblech wieder an ihren Platz. „Mir gehört der Laden. Ich kann Mittag machen, wann ich will. Wir gehen zu Maisy’s. Dort schmeckt es immer großartig, und wenn es nicht regnet, können wir uns nach draußen setzen.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. Riley den ganzen Vormittag hindurch zu beschäftigen war schwieriger gewesen, als sie erwartet hatte. Aber selbst an einem stürmischen Tag wie diesem musste sie sich um den Laden kümmern, und sie hatte ihre Nichte nicht allein lassen wollen. „Sag mir Bescheid, wenn du mit der Kiste fertig bist.“

Riley nickte und schob die Hände wieder in die Schaumstoffflocken, zwischen denen die Flaschen in der Kiste lagen. Nach einem Moment zwang Annie sich, wieder nach vorn zu gehen. Dass man ihr über die Schulter schaute, war das Letzte, was ihre Nichte jetzt brauchte.

Es war ein ruhiger Tag, wie meistens in der Wochenmitte. Die Touristen kamen erst am Wochenende auf die Insel und in den kleinen Kräuterladen, den Annie zusammen mit ihrer Freundin Sara Drake betrieb.

Zum Glück haben wir auch noch den Versandhandel, dachte sie. Der florierte, und ohne ihn hätten sie den Laden längst schließen müssen. Das war für sie eine unerträgliche Vorstellung.

Sie nahm das Staubtuch und ging zu den Vitrinen, die am Schaufenster standen. Der Laden war klein, aber in ihm herrschte eine luftige und natürliche Atmosphäre, die Annie noch immer so sehr liebte wie vor fünf Jahren, als Sara und sie ihn eröffnet hatten.

In den Glasregalen standen die Flaschen, Gläser und Röhrchen aus dem grünen Glas, das Island Botanicas Markenzeichen war. Im Laden bekam man fast alles, von Kräftigungsmitteln bis zu Parfüms, die sämtlich hier auf Turnabout Island hergestellt wurden. Annie drehte eine Flasche so, dass die silberne Schrift auf dem elfenbeinfarbenen Etikett von draußen zu erkennen war, und wischte mit dem Tuch über einen Fingerabdruck, den jemand auf der Vitrine hinterlassen hatte.

Vor dem Schaufenster war der Bürgersteig noch trocken, aber am Horizont hingen dunkle Wolken und schreckten mögliche Kunden vom Festland ab. Keine Frage, bald würde das Gewitter die Insel erreicht haben.

Auf Turnabout Island nieselte es oft, das ideale Klima für die Felder, auf denen das wuchs, was Island Botanica verarbeitete. Aber so finster wie seit einigen Tagen war der Himmel schon lange nicht mehr gewesen.

Die ersten schwarzen Wolken waren zusammen mit Riley aufgetaucht. Seitdem wurde Annie von einer Mischung aus Angst, Nervosität und Erleichterung beherrscht. Ihre Nichte war von zu Hause weggelaufen, aber anstatt zu verschwinden, war sie zu ihrer Tante gekommen.

Und Annie wusste noch immer nicht, warum das Mädchen hier war.

Sie drehte das Staubtuch, als würde sie es auswringen wollen, und wandte sich zur Tür, als die leise, helle Glocke einen Kunden ankündigte. Kaum hatte ihr Blick die hohe Gestalt mit dem schimmernden braunen Haar erfasst, da kam Riley nach vorn.

„Tante Annie, ich habe die Kiste …“ Das Mädchen verstummte abrupt.

Annie sah über die Schulter. „Toll, Riley. Danke. Warte einen Augenblick, bis ich mich um …“ Auch sie unterbrach sich, als sie sah, um wen es sich handelte. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und stieß gegen eine Vitrine. Flaschen klirrten, aber Annie stand wie gelähmt da. „Logan?“

„Ich habe sie gewarnt“, sagte ihre Nichte. „Ich habe sie davor gewarnt, mir nachzukommen. Also hat er Sie geschickt. Ich bin nicht dumm. Ich kenne Sie. Von den Hochzeitsfotos von Mom und Dad.“

Der Mann zog die Brauen zusammen. „Wie bitte?“

Rileys Miene blieb rebellisch.

Mit offenem Mund starrte Annie den Besucher an. „Logan?“, wiederholte sie. „Logan Drake?“ Es war Jahre her, dass sie ihn zuletzt leibhaftig gesehen hatte. Sie hatte angenommen, dass er den Kontakt mit Will abgebrochen hatte, nachdem Will Noelle geheiratet hatte. Und obwohl Sara ihn von Zeit zu Zeit erwähnte, war sein Anblick wie eine Blitzreise in die Vergangenheit. In ein anderes Leben.

In das einer anderen Annie.

Endlich schaute der Mann von Riley zu ihr. „Hallo, Annie.“ Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, und links und rechts der unglaublich blauen Augen mit den dichten Wimpern bildeten sich unzählige Fältchen.

Ein mulmiges Gefühl stieg in Annie auf. Sie war nicht sicher, wer sie nervöser machte. Riley oder Logan, der offensichtlich nicht überrascht war, sie hier zu treffen. „Es ist lange her“, erwiderte sie leise.

„Sie sind ein Freund meines Dads“, meinte Riley in vorwurfsvollem Ton.

„Wer ist dein Dad?“

Das Mädchen verschränkte die Arme und schob das Kinn vor.

Annie wollte sich das Haar aus dem Gesicht streichen, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie das Staubtuch noch in den Händen hielt. Sie legte es neben die Kasse. „Logan …“ Allein schon seinen Namen auszusprechen fühlte sich eigenartig an. „Dies ist meine Nichte Riley.“

„Wills Tochter?“ Logan musterte den Teenager. „Im Ernst? Ist er auch auf der Insel?“

Riley verdrehte die Augen.

„Nein.“ Rasch machte Annie einen Schritt auf ihre Nichte zu, denn Riley war ein Fluchtversuch durchaus zuzutrauen. Natürlich gab es hier keinen Überlandbus, mit dem sie einfach verschwinden konnte. Um aufs Festland zu gelangen, würde sie auf die Fähre warten müssen. Trotzdem wollte Annie kein Risiko eingehen. Sie wollte, dass Riley nach Hause zurückkehrte. „Er und Noelle leben noch in Washington State.“

Dann sah sie Riley an. „Das ist Logan Drake. Er mag ein alter Freund deines Dads sein, aber er ist auch Saras Bruder. Ich … bin sicher, er ist hier, um sie und Dr. Hugo zu besuchen. Er stammt von Turnabout. Das ist doch richtig, Logan?“

Sein Lächeln verblasste kein bisschen. „Ich bin hier aufgewachsen“, bestätigte er.

„Wette, Sie konnten es kaum abwarten, von hier wegzukommen. Hier ist absolut nichts los. Man glaubt kaum, dass die Insel zu Kalifornien gehört. Ich meine, es gibt nur fünf Autos. Man stirbt vor Langeweile.“

„Riley!“ Entschuldigend lächelte Annie Logan zu. Es stimmte, Turnabout war keine große Insel. Weit vor der kalifornischen Küste gelegen, war sie kaum elf Meilen lang und weniger als eine halbe breit, mit einer einzigen Straße, die sie der Länge nach in zwei fast gleich große Hälften teilte. Annie besaß keinen Wagen. Die meisten Bewohner gingen entweder zu Fuß, fuhren Rad oder sausten in Elektromobilen umher.

„Sara verbringt diese Woche in San Diego, fürchte ich“, fuhr Annie fort. „Sie … hat mir nicht erzählt, dass du nach Hause kommst.“ Die Wahrheit war, dass Sara so gut wie nie von Logan sprach. Und wenn sie es tat, fragte sie sich, woher das Geld stammte, von dem er offenbar eine Menge hatte. Jedenfalls ließen die großzügigen Schecks, die er ihr hin und wieder schickte, vermuten, dass er kein armer Mann war.

Er lächelte auch jetzt noch. „Sie wusste nicht, dass ich zu Besuch komme.“

Annie verstand. Er kam nicht nach Hause, sondern zu Besuch. Er hatte nicht vor, hier zu bleiben. Aber warum erzählte er ihr das? Schließlich war er nicht auf der Insel, um sie zu sehen. Sie wusste nur zu gut, was er früher von ihr gehalten hatte.

Bevor sie sich daran hindern konnte, strich sie nervös über ihr Haar. „Nun ja, wie gesagt, Sara ist nicht hier. Riley und ich wollten gerade im Maisy’s etwas essen. Du kannst dich gern anschließen.“

Er betrachtete sie nachdenklich, und sie schluckte. Was fiel ihr ein? Sie lud keine Männer zum Mittagessen ein. Und auch zu sonst nichts. Nicht mehr. Nicht einmal den, in den sie einst hoffnungslos verliebt gewesen war. Nicht einmal den, der der beste Freund ihres Bruders war.

„Oh.“ Mit einiger Verzögerung lieferte ihr Verstand ihr eine Erklärung dafür, warum er sie so ansah. „Natürlich. Du willst sicher deinen Dad besuchen. Ich bin Dr. Hugo heute Morgen begegnet, als ich ins Geschäft kam. Seine Praxis … Na ja, du weißt natürlich, wo seine Praxis ist.“ Sie kam sich plötzlich albern vor.

„Mittagessen klingt gut.“

Einen Augenblick lang schien ihr Herz still zu stehen. So war es in Logans Nähe immer gewesen. Selbst damals, als sie erst siebzehn und er dreiundzwanzig gewesen war. „Okay“, erwiderte sie matt.

Riley gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Aufstöhnen lag. Annie ignorierte es. Sie war nur Rileys Tante, und sich das Recht herauszunehmen, ihr unmögliches Benehmen zu kritisieren, wäre …

Sie brach den Gedanken ab, als sie daran dachte, was Lucia ihr so oft vorgeworfen hatte.

Riley ist ein gutes Mädchen, sagte Annie sich streng. Ein Teenager, verstört genug, um zu einer Tante zu flüchten, die sie kaum kannte. Alles, was sie für Riley tun konnte, war, sie davon zu überzeugen, dass sie zu ihren Eltern zurückkehren musste. Freiwillig. So schnell wie möglich. Riley hatte selbst gesagt, dass es auf der Insel langweilig war, also …

Erst jetzt bemerkte Annie, dass Riley und Logan sie anstarrten. Sie lächelte matt. „Richtig. Mittagessen.“ Sie eilte nach hinten, schnappte sich ihre Handtasche und nahm auf dem Rückweg die Schlüssel mit.

Logan und Riley wechselten misstrauische Blicke. Und weil Annie den Mund nicht hatte halten können, würden die beiden auch noch an einem Tisch sitzen müssen. Großartig. Sie tastete nach dem Türgriff und stellte fest, dass Logan ihr zuvorgekommen war. Sie zuckte zusammen und fühlte, wie sie errötete.

Riley funkelte sie an.

Logan wirkte belustigt.

Rasch schloss sie die Ladentür ab und überquerte die holprige Straße. Sie wünschte, sie wäre wieder das freche, respektlose Mädchen, das sie einst gewesen war. Dann wäre sie mit Riley mühelos fertig geworden und hätte Logan in seine sündhaft blauen Augen schauen können, ohne weiche Knie zu bekommen.

Verstohlen musterte sie ihn.

Er sah ihr direkt ins Gesicht. Ihr Herz zog sich zusammen, und sie eilte weiter. Wem wollte sie etwas vormachen? Schon mit siebzehn war sie dahingeschmolzen, wenn er in ihrer Nähe war.

Riley war schon fast so groß wie Annie und holte sie mit wenigen Schritten ein. „Mir ist egal, wessen Bruder er ist“, flüsterte sie. „Ich wette eine Million Dollar, dass mein Dad ihn geschickt hat, um mich nach Hause zu schleifen.“ Ein Donnergrollen unterstrich ihre Worte.

Annie schaute zum Himmel und rechnete halb damit, dass ein Blitz aus den dunklen Wolken schoss und vor ihr in den Boden einschlug. Die Wahrscheinlichkeit, dass das geschah, war in etwa so groß wie die, dass erst Riley und dann auch noch Logan auf Turnabout erschienen. Sie hörte ihn näher kommen und fröstelte.

„Du hast keine Million.“

Wieder gab Riley einen verärgerten Laut von sich.

„Na ja, vielleicht ist er wirklich hier, weil dein Dad ihn darum gebeten hat“, gab Annie nach. Solche Zufälle gab es im Leben. Aber dass er ausgerechnet jetzt wieder auftauchte, konnte keiner sein.

„Ich werde nicht mitgehen“, verkündete Riley trotzig.

Doch, das wirst du, antwortete Annie stumm. Erneut krachte der Donner. Danach herrschte absolute Stille, und die Luft war wie aufgeladen.

„Das Gewitter kommt“, sagte Logan hinter ihnen.

Annie ging schneller und steuerte Maisy Fieldings Gasthof an. In ihrem Inneren war das Unwetter längst da.

2. KAPITEL

„So wahr ich lebe und atme, wenn das nicht mein Neffe Logan Drake ist!“, rief Maisy Fielding. Ein Meter fünfundfünfzig groß, stand sie vor ihnen, die Hände in die Seiten gestemmt, mitten im Eingang ihres Lokals.

Gegen seinen Willen musste Logan lächeln. Maisy Fieldings verstorbener Mann war der Cousin seiner Mom gewesen. Und sie sah genau so aus, wie er sie in Erinnerung hatte – rote Korkenzieherlocken, so bunt gekleidet, dass man davon Kopfschmerzen bekam, und von ansteckender Lebenslust.

„Das steht jedenfalls in meinem Führerschein“, erwiderte er.

Sie lachte herzhaft und zog an seinen Schultern, bis er sich hinabbeugte. Dann schlang sie die dünnen Arme um ihn und drückte ihn überraschend kräftig an sich. „Noch immer so frech, was?“, sagte sie und klopfte ihm auf den Rücken. „Daran hat sich nichts geändert, seit du aus Turnabout weggelaufen bist.“ Sie ließ ihn los und schaute ihm neugierig ins Gesicht.

Er fragte sich, was sie darin sah. Was immer es war, sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das satte Grün, das das Hauptgebäude des Gasthofs umgab. „Wundert mich, dass du den Führerschein noch hast. Die Bäume dort drüben haben zehn Jahre gebraucht, um sich zu erholen, nachdem du sie mit deinem dämlichen Wagen fast umgepflügt hattest.“

Logan hörte, wie Riley hinter ihm ein verächtliches Schnauben unterdrückte. „Ich konnte nichts dafür, dass die Bremse versagte, Maisy“, antwortete er. „Wenigstens habe ich es gerade noch geschafft, nicht ins Haus zu rasen.“

Maisy lachte, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Zeit manche Wunden heilte. Damals vor dreiundzwanzig Jahren, als er mit sechzehn seine trotz des väterlichen Verbots gekaufte Klapperkiste in ihren geliebten Garten gesteuert hatte, war sie fuchsteufelswild gewesen. Sie hatte es ihm heimgezahlt. Den ganzen Sommer hindurch hatte er für sie schuften müssen, um den Schaden wieder gutzumachen. Er hatte die Farbe von den alten Küchenschränken gekratzt und auf ihre Tochter aufgepasst. Schon nach einer Stunde mit der frühreifen Tessa hatte er sich nach dem Spachtel zurückgesehnt.

Und trotzdem bereitete es ihm noch jetzt ein schlechtes Gewissen, dass er Jahre später nicht da gewesen war, als sie starb. Von ihrem Tod hatte er erst durch einen der seltenen Briefe von Sara erfahren.

„Nun ja, wenn ihr zum Essen hier seid, kommt herein“, sagte Maisy. Falls sie es ungewöhnlich fand, dass er Annie und Riley begleitete, so ließ sie es sich nicht anmerken. Logan war ihr dankbar dafür. Maisy war dafür bekannt, dass sie sich gern in Dinge einmischte, die sie überhaupt nichts angingen. „Unsere Gerüchteküche scheint nicht mehr das zu sein, was sie mal war. Sonst hätte ich längst gehört, dass du hier bist.“ Sie drehte sich um. „Hugo hat nicht erwähnt, dass du kommst.“

Logan ignorierte Maisys Anspielung auf seinen Vater und hielt Annie und ihrer Nichte die Tür auf. „Das Geschäft scheint gut zu laufen. Früher hast du nur Frühstück serviert.“

„Turnabout zieht immer mehr Touristen an, und irgendwo müssen die ja essen.“ Sie steuerte ein Restaurant unter freiem Himmel an, in dem mindestens zwei Dutzend Gäste schon an den runden Tischen saßen. „Setzt euch, wohin ihr wollt. Wenn es zu regnen beginnt, besorge ich euch einen Platz im Haus.“ Sie tätschelte Logans Arm und eilte wieder hinein.

„Habt ihr einen Lieblingstisch?“ Er sah erst Riley an, die ihn ignorierte, dann Annie, die nur den Kopf schüttelte. Daraufhin ging er zu dem Tisch, der am weitesten von denen der anderen Gäste entfernt stand. Maisy zu begegnen war eine Sache, aber er hatte keine Lust, noch jemandem, den er kannte, über den Weg zu laufen. Er war hier, um sein Gewissen zu beruhigen, nicht um alte Bekanntschaften aufzufrischen.

Logan zog Annies Stuhl hervor, bevor er sich aus Gewohnheit mit dem Rücken zur Wand hinsetzte – obwohl die Wand nur ein mit Bougainvilleen bewachsenes Spalier war. Ein junges Mädchen brachte ihnen Mineralwasser mit Zitronenscheiben und erzählte ihnen, was es heute gab.

Nachdem sie bestellt hatten und der als Kellnerin jobbende Teenager wieder verschwunden war, herrschte am Tisch angespanntes Schweigen. Logan sah sich um. Ein Paar mittleren Alters mit Sonnenbrand im Gesicht und nagelneuer Freizeitkleidung stritt sich leise. Rechts von ihnen saß eine junge Frau. Sie las ein Taschenbuch und hob hin und wieder den Kopf, um die anderen Gäste zu betrachten, während sie in ihrer Suppe rührte. Logan sah ihr an, dass sie sich mehr für die Menschen um sie herum als für das Essen interessierte. Hinter ihr konnte ein Pärchen kaum lange genug die Hände voneinander lassen, um in seine Sandwichs zu beißen. Die sind auf Hochzeitsreise, dachte Logan und beobachtete, wie die Frau einen Schuh abstreifte und mit den Zehen über die Wade des Mannes strich.

Logan unterdrückte ein Lächeln, bevor er zurück zu Annie schaute. Ihre Miene war verschlossen. Riley studierte ihre Fingernägel – sie waren pechschwarz lackiert und sahen aus, als hätte sie mit bloßen Händen Kohlen geschaufelt.

Will hatte ihm ein Schulfoto gezeigt und angedeutet, wie ähnlich sie ihm sah. Aber jetzt, da er sie vor sich sah, erschien ihm das übertrieben. Ihre Miene verhärtete sich, als sie seinen forschenden Blick bemerkte. Sie rutschte auf dem Stuhl herum und verschränkte wieder die Arme.

Klassische Abwehrhaltung.

„Ich schätze, ich brauche dich gar nicht erst zu fragen, ob du und Sara nach eurem Abschluss in Bendlemaier in Verbindung geblieben seid“, wandte er sich an Annie. Ihm entging nicht, dass Rileys Gesicht sich noch mehr verfinsterte, als sie den Namen hörte. Auch darauf hatte sein Freund ihn vorbereitet.

Will und Noelle wollten ihre Tochter auf das exklusive Internat schicken. Aber offenbar war Riley davon ebenso wenig begeistert wie Annie damals.

Annies Lächeln wirkte gezwungen. „Ich … habe keinen Abschluss in Bendlemaier gemacht. Aber wir sind in Kontakt geblieben, als sie aufs College ging. Wir hatten schon lange davon gesprochen, unser eigenes Geschäft aufzumachen, und als sich die Gelegenheit ergab, haben wir zugegriffen.“

Aus irgendeinem Grund hatte Logan angenommen, dass Annie mit Sara auf dem College gewesen war. Das bewies, wie wenig er über seine Schwester wusste. Er fragte sich, ob Sara sich auch so sehr verändert hatte wie Annie. Obwohl er geplant hatte, nur zu tun, was getan werden musste, und sofort wieder zu verschwinden, stieg ihm plötzlich der Wunsch auf, seine kleine Schwester wiederzusehen.

In den letzten zehn Jahren hatte er ein paar Mal telefoniert, mehr nicht. Er erinnerte sich noch daran, wie sie ihn bei ihrer letzten Begegnung angesehen hatte. Verwirrt. Verletzt. Er hatte sich schrecklich gefühlt, denn er hatte gewusst, dass er niemals nach Turnabout zurückkehren würde, um ihr ein richtiger Bruder zu sein. Stattdessen hatte er sie angerufen und ihr Geld geschickt, um sein Gewissen zu beruhigen. Nach einigen Jahren hatte er es geschafft, sich einzureden, dass es gut so war.

Aber er war nicht hier, um seine eigenen familiären Probleme zu lösen. Also betrachtete er Annie einen Moment lang. Will hatte ihm erzählt, dass seine Tochter bei ihr wohnte, also hatte er damit gerechnet, sie zu sehen. Aber nicht mit den Gefühlen, die es in ihm auslöste. „Dein Haar war mal länger, nicht wahr?“ Er wusste genau, wie lang es gewesen war. Schimmernde, wilde hellblonde Locken, die bis zur Taille reichten. Und vor all den Jahren hatte sie diese Mähne wie einen Schild gegen jeden Mann eingesetzt, der in ihre Nähe kam.

„Ja.“ Sie steckte die Gabel in ihr Wasserglas, spießte die Zitronenscheibe auf und drückte sie aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet. „Du hast dich kaum verändert.“ Sie warf Riley einen Blick zu. „Du bist älter geworden, aber sind wir das nicht alle?“

„Ich finde diese Nostalgie zum Kotzen“, sagte das Mädchen.

„Dann dreh dich weg, sonst verdirbst du uns noch den Appetit“, erwiderte Logan sanft.

Sie funkelte ihn an, und fast hätte er gelächelt. So war ihre Tante auch gewesen. Trotzig. Widerspenstig. Vor fünfzehn Jahren war die Mode anders gewesen, aber Riley trug ihre Sachen genauso eng und provozierend wie Annie damals.

Er starrte auf Annies gesenkten Kopf. Jetzt war an ihrer Erscheinung nichts Aufreizendes mehr. Das Kleid unter dem langen khakifarbenen Pullover war weit, der Kragen so hochgeschlossen, dass er selbst den Ansatz ihres schlanken Halses verdeckte.

Am linken Handgelenk trug sie eine schlichte Uhr mit einem schmalen schwarzen Armband. Sonst war kein Schmuck zu sehen. Verschwunden waren die klirrenden Halsketten und baumelnden Ohrringe. Die langen braunen Wimpern wirkten sanft, und wenn sie Make-up aufgelegt hatte, dann so dezent, dass er es nicht erkennen konnte. Mit siebzehn hatte sie ausgesehen, als hätte sie das Zeug mit einer Kelle aufgetragen.

„Mach ein Foto von ihr, okay?“ Riley verdrehte die Augen und schüttelte angewidert den Kopf. „Das ist ja nicht mehr auszuhalten.“

Annie hob den Kopf. Ihr Blick zuckte von ihrer Nichte zu Logan, und sie errötete noch stärker. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schien etwas sagen zu wollen, doch dann kam die Kellnerin mit dem Essen. Logan fragte sich, warum sie errötete und ob es mit der Vergangenheit zu tun hatte.

Sie war nie der Typ gewesen, der zum Erröten neigte.

Das letzte Mal hatte er sie auf dem stattlichen Anwesen ihrer Eltern in Seattle gesehen, wo sie – zusammen mit den anderen Hochzeitsgästen – den Abend nach Wills Trauung verbracht hatte. Er war verdammt wütend auf sie gewesen.

Aber noch wütender auf sich selbst. Sie war noch so jung gewesen. Er hatte keine solche Entschuldigung gehabt.

„Kann ich den Ketchup haben, bitte?“

Er gab Riley die Flasche. Ihre plötzliche Höflichkeit überraschte ihn. Aber trotzig oder nicht, sie war eben Wills und Noelles Tochter. Er beobachtete, wie sie ihn über die Pommes frites kippte. „Isst du gern Pommes frites zu deinem Ketchup?“

Sie verzog das Gesicht, dann nickte sie. Er griff nach der Flasche und goss eine kräftige Ladung auf seinen Teller. „Ich auch.“

Mehr als einen betont gelangweilten Blick brachte es ihm nicht ein.

Annie hatte einen Salat bestellt. Sie schob das Gemüse hin und her, aß jedoch kaum davon.

„Warum hast du in Bendlemaier keinen Abschluss gemacht?“, fragte er sie.

Sie sah nicht auf. „Ich war nicht lange genug da.“

„Wieso lebst du nicht mehr auf Turnabout, wenn du doch von hier stammst?“ Riley tauchte ein Kartoffelstäbchen in ihren Ketchupsee.

„Ich musste aus beruflichen Gründen fort“, erwiderte Logan. Das stimmte, war aber nicht die ganze Wahrheit. Er ahnte, dass Riley ihn nur gefragt hatte, um von ihrer Tante abzulenken. Ihre Fürsorglichkeit verblüffte ihn.

„Was war das für ein Beruf?“

„Riley, das geht dich nichts an“, mischte Annie sich ein.

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin Spion geworden.“

„Ja, sicher.“ Das Mädchen schob sich das triefende Kartoffelstückchen in den Mund und leckte sich die Finger ab.

„Okay, ich bin Berater“, sagte er trocken. Für die meisten Leute war diese Lüge immer verdaulicher gewesen als die nackte Wahrheit. Selbst für seine Kollegen. Für Coleman Black, den Chef von Hollins-Winword, arbeiteten viele Agenten. Auf vielen Gebieten. Aber man brauchte nur einen, der … aufräumte.

„Berater für was? Für wen?“

„Hast du die Verhörtechnik bei deinem Dad aufgeschnappt? Ich fand schon immer, wenn er nicht Anwalt geworden wäre, hätte er einen guten Polizisten abgegeben.“

Der Teenager ließ sich nicht beirren. „Das ist keine Antwort.“

„Was ist aus deinem eigenen Abschluss in Jura geworden?“, wollte Annie wissen.

„Ich habe die Urkunde in einen Schrank gelegt, wo sie Staub sammelt.“ Er lächelte grimmig. Er war kein Anwalt, aber auch er sorgte dafür, dass das Recht sich durchsetzte. Nur auf eine Art, von der die meisten Leute nichts wissen wollten. Bis vor kurzem hatte er es immer geschafft, das zu verdrängen und einfach nur seinen Job zu erledigen.

Eine junge Frau mit langer weißer Schürze trat an den Tisch. „Kann ich euch noch etwas bringen?“

Logan schüttelte den Kopf. Riley lehnte sich mit gekreuzten Armen zurück. Sie hatte ihre in Ketchup getränkten Pommes frites und den halben Hamburger gegessen. Annie, auf deren Teller noch der Großteil ihres Salats lag, lächelte der Kellnerin zu. „Nein danke, Janie.“

Die junge Frau ging davon.

„Wer ist sie?“, fragte Logan. „Sie kommt mir bekannt vor.“

Annie folgte seinem Blick. „Janie Vega. Sie hilft manchmal bei Maisy aus. Eigentlich ist sie Glaskünstlerin und hat ein eigenes Studio auf der Insel.“

„Vega?“

Annie nickte. „Ich nehme an, du kanntest Sam Vega. Sie ist seine jüngere Schwester.“

„Ich bin mit Sam zur Schule gegangen.“ Damals war Janie noch ein Baby gewesen.

„Er ist jetzt unser Sheriff.“

Überrascht schüttelte Logan den Kopf. „Als wir jung waren, wollte er unbedingt von hier weg, genau wie ich.“

Annie drehte ihr Glas zwischen den Händen. „Wenn du dich öfter bei Sara gemeldet hättest, hätte sie es dir bestimmt erzählt.“

Riley schnaubte. „Das ist ja nicht auszuhalten. Ich verschwinde.“

„Wohin willst du?“

„Zurück ins Haus oder so.“

Logan beobachtete Annies Mienenspiel. Auf Angst folgte erst Zögern, dann Resignation. Sie gab ihrer Nichte die Schlüssel. „Du kannst auf den Laden aufpassen, bis ich komme.“

„Du vertraust mir?“, fragte ihre Nichte.

„Du willst doch nicht anderswohin?“

Weg von der Insel, übersetzte Logan.

„Nein.“ Das Mädchen stand auf, drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon. Logan sah ihr nach. Er hatte bereits mit Diego Montoya gesprochen, der die einzige Fähre zum Festland betrieb, und erfahren, dass der alte Mann bereits die Augen nach Riley Hess offen hielt. Falls sie die Insel verlassen wollte, würde sie es nicht mit Diegos Hilfe tun können. Die anderen Bewohner besaßen höchstens ein kleines Segelboot. Nur ein Idiot würde versuchen, damit das Festland zu erreichen.

Annie schob ihren Salat von sich. „Riley hat recht. Will hat dich hergeschickt. Ich wusste gar nicht, dass ihr zwei überhaupt noch Kontakt habt.“

„Ich war zufällig in Olympia und habe ihn besucht. Er hat mir erzählt, dass Riley weggelaufen ist.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Zufällig, ja? Und wie praktisch, dass dein Beraterjob dir erlaubt, auf eine kaum bekannte kleine Insel zu kommen, wenn dir der Sinn danach steht.“

„Ich bin gerade zwischen zwei Einsätzen.“ Das war nicht gelogen. Obwohl er nicht wusste, wie er einen weiteren Einsatz wie den letzten verkraften würde. Er hatte Cole erklärt, dass er eine Pause brauchte – und genau deshalb war er jetzt hier. Aber es war nicht Will gewesen, der ihn darum gebeten hatte, nach Turnabout zu fahren, sondern Cole. Offenbar hatten sein Chef und Will irgendwelche gemeinsamen Interessen, von denen er bisher nichts gewusst hatte.

Annies Lippen waren schmal. „Dein Job – was immer er ist – spielt eigentlich keine Rolle. Will hätte selbst herkommen müssen.“

Logan war ganz ihrer Meinung und hatte genau darüber mit Cole und Will diskutiert. „Dein Bruder wollte verhindern, dass Riley eine noch größere Dummheit begeht.“

„Sie hat gedroht, wieder wegzulaufen, falls er ihr folgt.“

„Das habe ich gehört.“

„Aber sie muss wieder nach Hause.“

Annie wirkte angespannt, aber entschlossen. So hatte er sie sich nicht vorgestellt. „Macht sie dir Schwierigkeiten?“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie schien mehr sagen zu wollen, tat es jedoch nicht.

„Hat sie dir erzählt, warum sie ausgerissen ist?“

„Riley vertraut sich mir nicht an.“

Er runzelte die Stirn. „Annie, Riley ist nicht einfach abgehauen und untergetaucht. Sie ist zu dir gekommen.“

Annie schüttelte den Kopf. „Sie war einfach nur neugierig auf das schwarze Schaf der Familie, das es unverständlicherweise vorzieht, auf einer kleinen Insel zu leben.“

Schwarzes Schaf? Eher ein Lamm, das sich verlaufen hatte. „Will und Noelle wollen Riley nach Bendlemaier schicken.“

„Es ist eine gute Schule.“

Logan musterte sie. „Du hast es dort gehasst.“

„Der Lehrplan ist …“

„Du hast es als Gefängnis bezeichnet.“

„Ausgezeichnet. Riley ist sehr …“

„Du hast alles getan, um von dort wegzukommen.“

„Intelligent. Sie wird einen hervorragenden Abschluss machen.“

„Offenbar hast du es geschafft. Schließlich hast du selbst zugegeben, dass du dort keinen Abschluss gemacht hast.“ Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Aber die Ähnlichkeit mit der alten Annie war gleich null. „Das haben deine Eltern vermutlich auch gesagt, als sie dich nach Bendlemaier geschickt haben. Dass du einen hervorragenden Abschluss machen würdest.“

Sie straffte die Schultern. „Du hast nie viel von mir gehalten, Logan. Aber willst du mich wirklich mit George und Lucia Hess in einen Topf werfen?“

Verärgert beugte er sich vor. „Was zum Teufel ist mit dir passiert, Annie?“

„Ich bin erwachsen geworden“, erwiderte sie gleichmütig. „Und was ist mit dir passiert? Du bist doch derjenige, der nach Wills und Noelles Hochzeit wie vom Erdboden verschwunden ist.“

Wenn sie es wüsste, würde sie ihn nie wieder in Rileys Nähe lassen. „Um mich geht es hier nicht.“

„Um mich auch nicht. Es geht um Riley und die Tatsache, dass du sie nach Hause bringen sollst, weil ihr Vater, mein Bruder, keine Zeit dafür hat.“

„Du kennst seine Gründe. Er und Noelle sind nur vorsichtig.“

„Auch wenn Riley das Gegenteil behauptet, glaubst du wirklich, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht will?“ Als ihr bewusst wurde, dass sie laut geworden war, lehnte sie sich zurück. „Also gut. Du tust deinem alten Freund einen Gefallen, indem du seine Tochter zurückholst. Ehrlich gesagt, es wundert mich, dass Will damit auch nur einen Tag gewartet hat. Sicher ist er der Ansicht, dass ich keinen guten Einfluss auf sie habe.“

Sie klang weder enttäuscht noch sarkastisch, sondern sachlich und ohne jedes Gefühl.

„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, fragte Logan. Will hatte ihm erzählt, dass Annie in den letzten fünfzehn Jahren höchstens zu einem kurzen Weihnachtsbesuch zu ihnen gekommen war.

Sie hob eine Schulter. „Was spielt das für eine Rolle?“

Bevor er antworten konnte, sah er, dass jemand das Restaurant betrat.

Er erstarrte. Verdammt.

„Maisy hat mir erzählt, dass du hier bist“, sagte Hugo Drake und blieb vor ihrem Tisch stehen. „Aber das musste ich erst mit eigenen Augen sehen. Ich schätze, inzwischen baut der Teufel Iglus. Was hast du damals lauthals verkündet? Eher friert die Hölle zu, als dass du je wieder einen Fuß auf diese Insel setzt.“

Logan sah zu seinem Vater hinauf. Er hatte diesen Mann so lange verachtet, dass er sich an kein anderes Gefühl erinnern konnte. Hugo Drakes Haar und Augen war das Alter anzusehen, aber er war noch immer eine imposante Erscheinung. Und wie immer steckte in seiner Hemdtasche eine Zigarre.

Annie war aufgestanden und warf ein paar Geldscheine auf den Tisch.

„Wohin willst du?“, fragte Logan und ignorierte seinen Vater.

„Zurück in den Laden.“

Ihr Blick zuckte zwischen ihm und Hugo hin und her. Er fragte sich, was sie dachte. Und warum es ihn interessierte. Was seinen Vater anging, war es ihm egal, wer von seinen Gefühlen wusste. Der Typ hatte seine Mutter in den Selbstmord getrieben. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten und eine ganze Packung Tabletten geschluckt – anstatt lange genug zu bleiben, um ihren Sohn und ihre Tochter großzuziehen.

Noch mehr, als auf Turnabout zu leben, hatte Logan es gehasst, Dr. Hugo Drakes Sohn zu sein.

Er bezweifelte, dass sich in den zwanzig Jahren, seit er zuletzt auf der Insel gewesen war, viel geändert hatte. Jedenfalls wusste er, dass seine Gefühle die alten waren.

Er erhob sich und gab Annie ihre Scheine zurück. „Wir sehen uns im Geschäft.“

Sie öffnete die Lippen, aber er hatte bereits genug Bargeld auf den Tisch gelegt und ging davon.

Es gab nur einen Grund, warum er auf Turnabout war. Weil sein Chef es ihm befohlen hatte. Und nicht etwa weil er für den Mann, der für den Tod seiner Mutter verantwortlich war, den verlorenen Sohn spielen wollte.

3. KAPITEL

Logan war nicht im Laden, als Annie dort eintraf. Sie war nicht nur überrascht und erleichtert, sondern auch ein wenig enttäuscht – doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Sie wusste nicht viel über den Mann, aber sie erinnerte sich an genug, um sicher zu sein, dass er nicht lange bleiben würde. Er war hier, um einen Auftrag zu erledigen, und genau das würde er tun.

Da sie beide dasselbe wollten, nämlich dass Riley nach Hause zurückkehrte, führte sie ihre Enttäuschung darauf zurück, dass er noch nicht daran arbeitete.

Das Mädchen saß auf dem Tresen, ließ pinkfarbene Kaugummiblasen platzen und betrachtete ihre Stiefel, während sie die Füße im Kreis baumeln ließ.

„War jemand hier?“ Annie legte ihre Handtasche auf ein Regal.

„Nein.“

„Anrufe?“

„Nein.“

„Gorillas in roséfarbenen Ballettröckchen auf der Hauptstraße?“

Riley sah auf, und die letzte Blase platzte nicht, sondern fiel einfach in sich zusammen. Sie zupfte sich das klebrige Zeug von den Lippen und stopfte es wieder in den Mund. „Ja.“

Annie lächelte matt und rieb sich die Arme. „Riley …“

„Ich will nicht darüber reden.“ Riley sprang vom Tresen. „Ich gehe nicht zurück.“

„Ich wollte nicht … Okay, ich wollte.“ Sie betrachtete das Mädchen. „Seit du hier bist, habe ich dich zu nichts gedrängt, Riley.“ Sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, und war wie gelähmt gewesen. Aber Logans Eintreffen hatte etwas in ihr ausgelöst. „Wenn du Bendlemaier einfach nur eine Chance gibst, würdest du …“

„So, wie du ihm eine Chance gegeben hast“, unterbrach Riley sie scharf. „Du hast dem alten Knacker selbst gesagt, dass du nicht lange genug dort warst, um den Abschluss zu machen.“

Annie hätte fast gelacht. Alt war Logan ganz sicher nicht. Er war ein ungemein attraktiver Mann in den besten Jahren. Was etwas war, woran sie besser nicht dachte. Niemals. „Sein Name ist Logan, er ist wohl kaum alt, und ich war drei Jahre in Bendlemaier, ob nun mit oder ohne Abschluss. Aber es geht hier nicht um mich.“

Riley schüttelte den Kopf, ging zur Vitrine neben der Eingangstür, nahm eine Flasche heraus und betrachtete das Etikett. Dann stellte sie sie zurück und sah sich eine andere an. „Wieso hast du nie geheiratet, Tante Annie?“

„Es hat mich nie jemand gefragt.“ Eine bessere Antwort fiel Annie nicht ein.

„Du findest, Frauen müssen warten, bis jemand sie fragt? Meine Mom hat meinem Dad einen Heiratsantrag gemacht, weißt du.“

Das hatte Annie nicht gewusst. Aber so etwas war Noelle durchaus zuzutrauen. „Nein, ich finde nicht, dass eine Frau warten sollte. Aber es gab niemanden, den ich hätte fragen wollen.“

„Hast du einen Freund? Einen Lover?“

Du meine Güte, war das Mädchen beharrlich. „Nein. Ich schlafe nicht mit Männern, die ich nicht liebe.“ Sie schlief mit überhaupt keinem.

„Warum nicht?“

„Logan hat recht. Du hast deine Verhörtechnik von Will gelernt. Hast du denn einen Freund?“ Vielleicht war nicht nur Bendlemaier daran schuld, dass Riley von zu Hause fortgelaufen war.

„Nein.“

Annie unterdrückte einen erleichterten Seufzer.

„Mom und Dad würden mich nicht mit einem Jungen ausgehen lassen“, fügte Riley hinzu. „Sie würden glauben, dass ich nur Sex oder so was will.“

„Sex! Du bist gerade erst fünfzehn geworden.“

„Na und? In meiner Klasse ist ein Mädchen, das sooo schwanger ist.“ Mit beiden Händen deutete Riley einen gerundeten Bauch an. „Sie ist so blöd. Ich meine, hat sie denn nichts von der Pille gehört? Außerdem kann man überall Kondome aus Automaten ziehen.“ Sie quetschte die Hände in die Taschen ihrer engen Jeans und warf Annie einen Blick zu. „Logan könnte dein Freund sein, wenn du willst.“

„Also wirklich“, murmelte Annie. Von Kondomen zu Logan? „Logan ist nicht hier, um zu bleiben, und ganz offensichtlich nicht an mir interessiert.“

„Er hat dich vorhin die ganze Zeit angestarrt.“

Nur weil er sich fragte, was mit der wilden Annie geschehen war, die er gekannt hatte. Und sie hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass sie sie lebend begraben hatte – für immer. „Riley …“

„War er mal dein Freund?“

„Nein!“ Annie schluckte und senkte die Stimme. „Er war der Freund deines Dads, Riley.“

Riley sagte nichts, sondern produzierte eine gewaltige Blase und ließ sie laut platzen.

Annie stieß den angehaltenen Atem aus. „Soll ich mit deinem Dad darüber reden, dass du nicht nach Bendlemaier willst? Gehst du dann wieder nach Hause? Riley, es ist mitten im Schuljahr. Du versäumst den Unterricht.“ Und anders als Annie war ihre Nichte eine ausgezeichnete Schülerin.

„Dann gehe ich eben hier zur Schule.“

Oh nein. „Das habe ich nicht …“

„Das ist doch eine Schule, an der wir vorbeikommen, wenn wir in die Stadt fahren, oder?“

Riley wusste es längst. Dass das rote Backsteingebäude eine Schule beherbergte, war nicht zu übersehen. „Ja, aber die ist für die Kinder, die hier leben.“

„Du willst mich auch nur loswerden.“

„Riley, niemand will dich loswerden“, protestierte sie. „Aber dein Zuhause ist nun einmal bei deinen Eltern. Was immer das Problem ist, es lässt sich lösen.“

„Dad sagt, dass du seit über zehn Jahren nicht mehr mit Grandma und Grandpa Hess gesprochen hast.“

Dein Dad redet zu viel, dachte Annie. „Will und Noelle sind ganz anders als George und Lucia.“ Dem Himmel sei Dank.

„Warum kannst du dann dein Problem mit ihnen nicht lösen?“

Annie besaß keinen Mutterinstinkt. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit einem jungen Mädchen umgehen sollte, das – wie sie von Noelle wusste – im letzten Jahr das Debattierteam ihrer Schule angeführt hatte. „Riley …“

„Schon gut. Wenn du mich hier nicht willst, gehe ich eben.“ Sie verließ den Laden.

Annie folgte ihr nach draußen. Es hatte gerade zu regnen begonnen. Die Luft roch nach dem kommenden Gewitter, feucht, staubig, erdig. „Das habe ich nicht gesagt!“, rief sie.

Riley sah über die Schulter, blieb jedoch nicht stehen. „Ich dachte, ich bedeute dir etwas. Aber ich bedeute niemandem etwas. Nicht wirklich.“ Sie ging schneller.

Annie zerriss es das Herz. Wie oft hatte sie sich so gefühlt wie Riley jetzt? Aber sie hatte allen Grund dazu gehabt. Riley nicht.

Sie wischte sich einen Regentropfen von der Wange, rannte hinter ihrer Nichte her und packte sie an den Schultern. „Deine Eltern waren außer sich vor Sorge, als ich sie angerufen habe.“

„Sicher. Deshalb hämmern sie ja auch gerade gegen die Tür deines Strandhauses.“ Rileys Blick war noch stürmischer als der Himmel.

In diesem Moment wusste Annie, dass ihre Ahnung sie nicht getrogen hatte. Riley war ausgerissen, aber insgeheim hatte sie erwartet, dass ihre Eltern sie selbst suchen würden. Als Beweis ihrer Liebe. Als große Geste. Als etwas, das ihr zeigte, wie viel sie ihnen bedeutete.

Ja, die Hoffnung kenne ich, dachte Annie wehmütig.

„Du hast ihnen Angst gemacht, Riley. Sie haben geglaubt, dass du wieder wegläufst, wenn sie kommen.“ Sie wählte ihre Worte sorgfältig. „Aber sie wollen dich wieder zu Hause haben. Dort gehörst du hin.“

Riley schüttelte nur den Kopf. Das blonde Haar war vom Regen dunkel, klebte an den Wangen und ließ sie unglaublich jung erscheinen. Und verletzlich. „Warum? Es ist doch ohnehin nie jemand da. Dad und Mom sind dauernd unterwegs.“ Sie riss sich los und hastete weiter.

Panik stieg in Annie auf. „Wohin willst du?“, rief sie.

Riley hob beide Arme und ließ sie wieder sinken. Sie schaute nicht zurück.

„Sie kommt nicht weit. Bei diesem Wetter legt Diego nicht ab.“

Die tiefe Stimme ließ Annie zusammenzucken. „Wo kommst du denn her?“

Lächelnd zeigte Logan mit dem Kinn auf das Haus, vor dem sie mitten auf der Straße standen. „Ich war im Büro des Sheriffs, um Sam Hallo zu sagen. Du und Riley wart nicht zu übersehen.“ Er entfaltete seinen schwarzen Regenschirm und hielt ihn über ihren Kopf.

Annie sah Riley nach. „Ich muss hinter ihr her.“

„Nimm den Schirm, und bleib nicht zu lange draußen. Sam meint, der Wetterdienst hat ein Gewitter angekündigt.“

Sie zögerte. Er war hier, um Riley zurückzuholen. Warum ließ er ihr noch ein wenig Zeit mit dem Mädchen?

„Geh schon, Annie“, sagte er leise. „Ich schließe den Laden für dich ab.“

Sie nahm den Schirm, drehte sich um und ging in die Richtung, in der Riley verschwunden war.

Als Annie zwanzig Minuten später ihr Haus erreichte, regnete es bereits heftig. Ihr Herz schlug bis zum Hals und schnürte ihr fast die Kehle zu, als sie die Tür öffnete. Dann hörte sie das Rauschen der Dusche.

Ohne auf das Wasser zu achten, das von ihrer Kleidung auf die Fliesen tropfte, ging sie in den Flur, lehnte sich gegen die Wand und lauschte dankbar den Geräuschen, die aus dem Bad kamen. Sie fröstelte. Das lag nicht nur an der Kälte, sondern auch an den Erinnerungen, die sich einfach nicht verdrängen ließen, sosehr sie es auch versuchte.

Langsam glitt sie nach unten, bis sie auf dem Boden saß. Draußen schien der Regen abzunehmen. Gerade hoffte sie, dass das Gewitter an Turnabout vorbeiziehen würde, da ließ ein lautes Donnern das hölzerne Strandhaus erzittern.

Im Bad wurde die Dusche abgestellt, dann klirrten die Ringe des Vorhangs. Annie zog sich ein trockenes Sweatshirt und weite Jeans an und ging in die Küche. Riley kam herein und bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, als Annie ihr einen dampfenden Becher auf den Frühstückstresen stellte.

„Was ist das?“, fragte das Mädchen. „Hoffentlich nicht dieser seltsame Tee, den du aus Unkraut machst.“

Annie hatte schnell herausgefunden, dass Kamillentee nicht zu Rileys Lieblingsgetränken gehörte. „Heiße Schokolade.“

„Mit Marshmallows?“

„Was sonst?“

Riley trat an den Tresen, griff nach dem Becher und schnupperte daran, bevor sie einen kleinen Schluck nahm. Dann einen großen.

„Schmeckt gut.“

„Tu nicht so erstaunt.“

„Moms heiße Schokolade ist grauenhaft. Kein Zucker, kein Fett, kein nichts.“

Lächelnd hob Annie ihren eigenen Becher. Noelle war wunderschön und hatte eine Model-Figur. Bei einem ihrer seltenen Besuche hatte Will Annie gebeichtet, dass er sich manchmal aus dem Haus schlich, um sich hinter dem Rücken seiner kalorienbewussten Frau ein Steak oder eine Backkartoffel zu gönnen.

Riley schlüpfte auf einen Hocker und beugte sich vor, den Becher zwischen den Händen. „Mom sagt, Marshmallows sind nur Zucker.“

„Als wir Kinder waren, hat dein Dad seine Schokolade nur getrunken, wenn der Becher vor Marshmallows fast überlief.“

„Ich bin ihm sehr ähnlich“, verkündete das Mädchen fast feierlich. „Jedenfalls behauptet Mom das immer. ‚Du bist genau wie er.‘“ Ihre Lippen zuckten.

„Er ist ein guter Mensch“, erwiderte Annie sanft. „Wie Will zu sein ist nicht das Schlechteste.“ Und viel besser, als wie Annie zu sein.

„Wieso hast du eigentlich keine Kinder?“

Annie nahm einen so kräftigen Schluck, dass sie sich die Zunge verbrannte. Es war früher Nachmittag, aber es wurde immer dunkler. Sie schaltete das Licht ein. „Manche Menschen sind eben nicht dazu geschaffen, Eltern zu werden“, sagte sie schließlich. „Zum Glück sind Will und Noelle es.“

Rileys Miene wurde verschlossen. Sie stellte den Becher ab, stand auf und ging hinaus. Nach einem Moment hörte Annie, wie die Schlafzimmertür zugeknallt wurde.

Seufzend stellte sie ihren Becher neben Rileys. Keine von ihnen hatte seinen geleert.

Sie stand auf und ging zu der schmalen Schiebetür, die auf die kleine Terrasse führte. Sie öffnete sie und trat hinaus. Hinter dem Strand sah der Ozean grau und nicht sehr einladend aus. Es regnete nicht mehr, aber der Wind hatte zugenommen. Dunkle Wolken zogen über den Himmel.

Der Liegestuhl, auf dem Annie so manche schlaflose Nacht verbracht hatte, war nass. Sie nahm das Handtuch, das sie sich um den Hals gelegt hatte, und trocknete ihn ab, bevor sie sich setzte. Der Wind zerrte an ihrem Haar und ließ es um die Schultern flattern. Es war kälter geworden, und sie wünschte, sie hätte Socken angezogen.

„Ich habe doch gesagt, du sollst hineingehen.“

Annie zuckte zusammen. Logan war um die Hausecke gebogen und umrundete gerade den altmodischen Wassertank. Erst als ihr Herzklopfen ein wenig abnahm, wagte sie es, etwas zu sagen. „Und deshalb schleichst du um mein Haus.“ Einmal mehr wünschte sie, er würde endlich tun, weswegen er hier war, und wieder verschwinden. Es wäre wie ein Pflaster, das von der Haut gerissen wurde – schmerzhaft, aber kurz.

Er kam auf sie zu und wirkte vom Liegestuhl aus noch größer. Der Wind zerzauste ihm das Haar, und unter den kurzen dunkelbraunen Strähnen zeigten sich einige silbrige. Er war noch immer so tief gebräunt, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Der Kontrast ließ seine blauen Augen noch leuchtender erscheinen.

Keine Frage, je früher Logan wieder verschwand, desto besser.

„Riley ist im Haus. Du solltest sie jetzt mitnehmen. Sonst sitzt du noch auf der Insel fest, wenn das Wetter schlechter wird.“

„Hast du es eilig, sie loszuwerden, Riley?“ Sein Gesicht war nachdenklich. „Engt ein Teenager dein Leben zu sehr ein?“

Sie schwang die Beine vom Liegestuhl und stand auf. „Da gibt es nicht viel einzuengen. Sie gehört einfach nicht hierher, sondern nach Hause, zu Will und Noelle. Sie hier zu lassen wäre keine Lösung, das weißt du.“

„Vielleicht braucht sie nur mal eine Atempause. Brauchtest du in ihrem Alter nicht auch mal eine?“

„In ihrem Alter war ich schon seit Monaten in Bendlemaier. Und der letzte Ort, an dem ich sein wollte, war zu Hause bei George und Lucia.“

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Lügnerin.“

Sie erstarrte. „Wie bitte?“

Er beugte sich vor, nahm ihr Kinn in seine große Handfläche und hob es an. Annie schluckte, als sie seine Wärme an der Haut spürte.

„Du hast mich verstanden“, sagte er sanft. „Als du so alt warst wie Riley jetzt, wolltest du nichts lieber, als zu Hause leben, bei Eltern, denen du wichtiger warst als ihre Karrieren, und auf dieselbe öffentliche Schule gehen, auf die auch Will ging.“

„Das habe ich dir nie gesagt“, widersprach sie.

Sein Daumen klopfte zärtlich gegen ihr Kinn. „Das brauchtest du gar nicht. Es war nicht zu übersehen. Und an dem Abend im Bootshaus, da hast du …“

„Viele Dinge gesagt“, unterbrach sie ihn. „Außerdem war ich betrunken“, fügte sie leise hinzu.

„Fast“, bestätigte er. „Von Champagner, an dem du nichts zu suchen hattest.“

„Na ja, du warst der Einzige, der mich dabei erwischt hat.“

„Das hat dich auch geärgert, nicht wahr?“

Sie trat zurück und löste das Kinn aus seinem behutsamen Griff. „Das alles ist lange her und hat nichts damit zu tun, warum du jetzt hier bist.“

„Bist du sicher?“

Ihre Knie fühlten sich weich an. Sie wollte sich hinsetzen, tat es jedoch nicht. „Ja, ich bin sicher.“

Seine Lippen verzogen sich zu dem ebenso selbstsicheren wie verführerischen Lächeln, von dem sie viel zu oft träumte. Lächerlich, dachte sie. Sie hätte sich nicht seit Jahren von allen Männern fern halten sollen, dann wären die Erinnerungen an diesen einen vielleicht längst verblasst.

Auf Wills Hochzeit hatte sie sich vor ihm erniedrigt. Ihr jugendlich aufgeblähtes Ego hatte sie glauben lassen, dass er sie begehrte. Was vermutlich daran gelegen hatte, dass sie ihn nur anzusehen brauchte und schon wurde ihr heiß.

Na ja, die Idee hatte er ihr gründlich ausgetrieben.

Er hätte die Situation ausnutzen können, doch das hatte er nicht getan. Selbst sein verwegenes Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er strenge Maßstäbe an sich legte, genau wie Will. Vermutlich ging er nicht einmal bei Rot über die Straße.

„Bist du gar nicht neugierig, Annie?“

Sie griff nach dem Handtuch, als ein Windstoß es vom Liegestuhl zu reißen drohte, und drehte es in den Händen. „Worauf? Warum Riley wirklich von zu Hause weggelaufen ist? Ich bezweifle, dass es dabei nur um Bendlemaier geht. Noelle hat mir erzählt, dass Riley es durchaus versteht, ihren Willen durchzusetzen.“

„Das ist alles, worauf du neugierig bist? Rileys Motive?“ Wieder trat er näher.

Hinter ihnen wehte ein bunter Ball über den Strand, gefolgt von einem Fetzen Papier. Einmal mehr wurde Annie bewusst, wie einsam ihr Haus lag. Die nächsten Nachbarn wohnten über eine Meile entfernt.

Sie schluckte. „Mehr an Neugier kann ich mir nicht leisten.“

„Das klingt aber nicht nach der Annie, die ich mal kannte.“

Ihre Augen brannten. Es musste am Wind liegen, denn sie weinte nicht. Nicht mehr. „Die Annie, die du mal kanntest, gibt es nicht mehr“, sagte sie kaum hörbar. „Sie hat ihre Lektionen auf die harte Tour gelernt.“

„Welche Lektionen?“ Sein Kopf zuckte hoch, noch bevor er die Frage ganz ausgesprochen hatte.

Ein ohrenbetäubendes Heulen übertönte das Rauschen der Brandung. Annie zuckte zusammen. „Was ist das?“, rief sie, kurz bevor es im noch lauteren Donner über ihren Köpfen unterging.

Logan packte ihren Arm und schob sie ins Haus. „Das ist die Alarmsirene. Ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg. Hol Riley.“

Annie lebte seit fünf Jahren auf Turnabout und hatte nicht einmal gewusst, dass es eine Alarmsirene gab. Sie rannte zum Gästezimmer, riss die Tür auf und rief Rileys Namen.

Aber der Raum war leer.

4. KAPITEL

Annie blieb fast das Herz stehen.

Riley war nicht in ihrem Zimmer.

Obwohl sie genau wusste, dass sie nichts als die Kartons mit ihren Fotos finden würde, rannte sie hinein und schaute unter dem Bett nach. Dann riss sie den Schrank auf, der außer dem Staubsauger nur die Sachen enthielt, die sie nicht mehr anzog.

„Riley?“ Stolpernd umrundete sie das Bett, um aus dem Fenster zu sehen, und sprang mit einem Aufschrei zurück, als ein Palmwedel gegen den Rahmen knallte und über die Wand schrammte.

Sofort war Logan da. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie von der noch immer vibrierenden Scheibe fort. „Bleib vom Glas weg.“

Annie wand sich aus seinem Griff, hastete auf den Flur und rief immer wieder Rileys Namen, obwohl ihre Stimme gegen die heulende Sirene kaum etwas ausrichten konnte.

Innerhalb weniger Minuten war die Dunkelheit hereingebrochen, und in immer kürzeren Abständen tauchten Blitze das Strandhaus in grelles, kaltes Licht. „Sie ist nicht hier“, schluchzte Annie und rannte zur Tür. Doch Logan stellte sich ihr in den Weg. „Ich muss sie finden!“

„Du hast ja nicht einmal Schuhe an“, erwiderte er ruhig. „Ich gehe.“ Er öffnete die Tür, und der Wind riss sie ihm aus der Hand, sodass sie gegen die Außenwand schlug. „Bleib hier. Im Haus. Sie kann nicht weit gekommen sein.“

Kaum war er verschwunden, eilte Annie auch schon in ihr Schlafzimmer, um sich Schuhe anzuziehen. Dann folgte sie ihm.

Binnen weniger Sekunden war ihr Sweatshirt durchnässt, und das wild um den Kopf flatternde Haar nahm ihr fast die Sicht, während der Sturm ihre Rufe verschluckte und die unaufhörlich heulende Sirene ihre Panik nur noch steigerte.

Wo war Riley?

Logan hatte den Weg genommen, der vor dem Haus verlief. Also steuerte Annie den Strand an. Trotz des strömenden Regens wirbelte der Sand durch die Luft, und sie musste die Augen zusammenkneifen, als sie an der schwarzen kalten Feuergrube vorbei dorthin rannte, wo die brodelnde Brandung toste. Dort angekommen, sah sie nach links und rechts und wartete darauf, dass ein Blitz das Ufer erhellte. „Riley!“

Aber alles, was sie erkennen konnte, war die am Strand auslaufende Gischt.

Verzweifelt um Fassung ringend rannte sie zurück und landete schluchzend im nassen Sand, als ihr Fuß sich an einem Stück Treibholz verfing.

Sie stemmte sich hoch und senkte hastig den Kopf. Der Regen wehte fast waagerecht und traf sie schmerzhaft im Gesicht, so heftig war der Sturm.

Bitte, Gott, flehte sie. Lass Riley nichts zugestoßen sein. Lass uns sie finden, dann bringen wir sie sofort zu Will und Noelle zurück, das verspreche ich.

Ihre Segeltuchschuhe waren sandig und voll gesogen, als sie mühsam aufstand und sich vorsichtig weiterkämpfte. Neben dem Haus ging der Sand in Kies, der Kies in Gras über. Der Rasen konnte das Wasser nicht aufnehmen, und es rann in Strömen über die Erde. Ihre glatten Sohlen verloren den Halt, und als sie ausrutschte und in eine große Pfütze fiel, entfuhren ihr Ausdrücke, die sie vor fünfzehn Jahren aus ihrem Wortschatz verbannt hatte.

Mühsam stand sie wieder auf, hielt sich die Hände vor die Augen und umrundete in gebückter Haltung die Ecke des Strandhauses. Immer wieder rief sie Rileys Namen, bis ihr der Hals wehtat.

Und dann sah sie Logan mitten auf dem Weg stehen.

Er war allein. Vor Verzweiflung wurde ihr fast übel.

Sie rannte zu ihm. „Sie war nirgends zu sehen, aber ich glaube nicht, dass sie zum Strand gegangen ist.“ Riley konnte schwimmen, doch bei diesem Wetter würde selbst ein wagemutiger Teenager sich nicht ans Wasser trauen.

Logan zog sie an sich und drehte sie aus dem Wind. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Haus bleiben.“

„Wir müssen sie finden, Logan.“

Seine Miene war grimmig. „Das werden wir.“

Ein Blitz zuckte durch die Dunkelheit und erfüllte die Luft mit einem eigenartigen Geruch. Fluchend schleifte Logan Annie den Weg entlang und weg von einer Palme, die plötzlich zu explodieren schien. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie der Stamm in zwei Hälften gespalten wurde, von denen eine genau dorthin stürzte, wo sie eben noch gestanden hatten.

Während der Regen die Flammen rasch löschte, schlug Annie eine Hand vor den Mund und sah sich gehetzt um. Aber sie hatte keine Zeit, sich zu übergeben. Riley war hier draußen. Allein.

„Sie kann es unmöglich bis in die Stadt geschafft haben. Wenn sie schlau ist, hat sie irgendwo Unterschlupf gesucht.“

Annie nickte. „Ich komme mit.“

Er legte den Arm um sie und stützte sie auf dem beschwerlichen Weg zur Straße. Sie war ihm dankbar dafür, denn alle paar Schritte wechselte der Wind seine Richtung und drohte ihr das Gleichgewicht zu rauben.

Es war erst später Nachmittag, aber die dichte, dunkle Wolkendecke ließ keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch, und Annie kam es vor, als wäre die Nacht bereits angebrochen. Das andauernde Donnergrollen machte jeden Versuch, nach Riley zu rufen, nahezu sinnlos.

„Verdammt“, fluchte Logan, als ein Rinnsal urplötzlich zu einem reißenden Strom anschwoll, den Kies wegschwemmte und Annie fast umriss.

„Tut mir leid!“ Ein solches Wetter hatte sie noch nie erlebt.

Er sah sie nicht an, sondern hob den Arm, um auf etwas zu zeigen.

Sie folgte seinem Blick. Auf der anderen Seite des unter dem Wasser verschwundenen Wegs stand ein offener Schuppen. Sara hatte ihr erzählt, dass die Vorbesitzer des Strandhauses dort Obst und Gemüse verkauft hatten.

„Bleib hier“, befahl Logan. „Ich sehe nach.“

Annie schluckte. Sie hatte gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen, und das hier verstieß gegen alles, was sie sich geschworen hatte. Dennoch nickte sie.

Erst als er sich von ihr löste, wurde ihr bewusst, wie sehr seine große, kräftige Gestalt sie vor dem Wind geschützt hatte. Die Böen trafen sie mit einer Wucht, die sie fast umwarf. Hastig ging sie zwischen den gewaltigen Felsbrocken am Rand des fast völlig verschwundenen Wegs in Deckung.

Das Wasser reichte Logan bis zu den Knien. Er kam nur langsam voran, aber er schaffte es auf die andere Seite und zum Schuppen.

Annie schrie auf, als der Sturm das halbe Dach losriss und es auf Logan fiel. Er hielt sich einen Arm vor das Gesicht und zog den Kopf ein. Das Holz prallte von ihm ab, segelte durch die Luft und zersplitterte an einem Baum. Logan richtete sich wieder auf und verschwand in dem Schuppen.

Sekunden später tauchte er wieder auf, mit Riley auf den Armen, und kämpfte sich zu Annie zurück.

„Sie ist unverletzt.“ Seine tiefe Stimme übertönte Wind und Wasser. „Wir müssen zum Haus zurück.“

Nach kurzem Zögern stieß Annie sich vom Fels ab und rannte los. So unglaublich es schien, der Sturm wurde mit jedem Schritt, den sie machte, stärker. Logan hatte ihren Arm gepackt, trug Riley mit seinem anderen und kämpfte sich durch die anschwellende Strömung und über die umgestürzte Palme.

Als sie schließlich das Haus erreichten, musste Annie sich mit aller Kraft gegen die Tür stemmen, damit Logan Riley hineintragen und absetzen konnte. Annie zog sie an sich.

„Gott sei Dank“, flüsterte sie atemlos. „Danke, Gott.“

„Wir müssen uns einen sichereren …“ Logan brach ab und fluchte, als die Tür wieder aufflog.

Annie ließ Riley lange genug los, um ihm zu helfen. Doch selbst als sie den schweren Riegel vorgeschoben hatte, erzitterte die Tür unter den heftigen Böen, und sie bezweifelte, dass sie dem Sturm auf Dauer standhalten würde.

Genau das schien Logan auch zu glauben, denn kaum ging sie aus dem Weg, schob er die Couch dagegen. „Das dürfte eine Weile halten“, murmelte er. „Als ich die Sirene das einzige Mal heulen gehört habe, war ich zehn, und alle mussten sich in der Schule versammeln. Im Keller der Schule, um genau zu sein.“

Ein gewaltiger Donnerschlag ließ die Fensterscheiben klirren. Du meine Güte, sie wollte nicht wieder hinaus. Zum Glück führte der Weg, den der Regen in einen reißenden Bach verwandelt hatte, nicht direkt zum Haus, aber sie würden ihn überqueren müssen, um in den Ort zu gelangen. „Wir schaffen es nicht bis zur Schule …“ Mit einem Aufschrei brach sie ab, als etwas gegen die hintere Wand prallte und die Terrassentür erzitterte.

„Das Badezimmer“, sagte Logan.

Sie fühlte, wie Riley fröstelte, zog sie über den Flur und ins Bad. Dort riss sie Handtücher aus dem Regal neben dem Waschbecken. „Wickel dich darin ein“, befahl sie.

„In die Wanne.“

Annie stellte keine Fragen, sondern stieg hinein. Riley folgte ihr und setzte sich zwischen ihre Beine. Logan betätigte den Lichtschalter, aber der Strom war noch immer ausgefallen.

Um sie herum schien das Haus zu stöhnen und zu ächzen. Die Sirene verstummte so abrupt, wie sie eingesetzt hatte. Annie wünschte, sie würde weiterheulen.

„Hast du Kerzen? Eine Taschenlampe?“

„Die Taschenlampe ist in der Küche. In der untersten Schublade neben dem Herd. Und auf der Kommode in meinem Schlafzimmer liegen ein paar Kerzen.“

Er ging hinaus.

Riley fröstelte immer heftiger, und Annie schlang die Arme um sie. „Es wird alles gut“, wisperte sie, anstatt ihr Vorhaltungen zu machen.

Das Mädchen schluchzte. „Das hier soll ein Inselparadies sein.“

Annie hatte kein Paradies gesucht, als sie nach Turnabout gekommen war. Nur Frieden.

Sie legte die Stirn auf Rileys klitschnasses Haar. Will würde ihr nie verzeihen, wenn dem Mädchen etwas zustieß.

Sie würde es sich selbst nie verzeihen.

„Tut dir irgendetwas weh?“

Sie fühlte, wie Riley den Kopf schüttelte.

Binnen Sekunden war Logan zurück. Er reichte Annie die Taschenlampe und bat Riley, die Kerzen vor sich in der Wanne aufzustellen. Außerdem hatte er den großen Krug Wasser mitgebracht, den Annie einige Tage zuvor auf der Arbeitsplatte in der Küche gelassen hatte. Er hatte nicht in den Kühlschrank gepasst, weil sie darin ein paar Sachen für Island Botanica verstaut hatte. Er deponierte den Krug auf dem Fußboden vor der Wanne und verschwand erneut.

„Er kommt doch wieder, oder?“, fragte Riley nach einem Moment. Ihre Stimme klang ängstlich.

Annie schloss die Augen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn das Haus unter einem Donnerschlag erzitterte. „Logan lässt uns nicht allein“, versprach sie. Wohin war er gegangen? Etwa in den Sturm hinaus?

Als er zurückkehrte, hatte er die Decke von Annies Bett und mehrere Pullover dabei und legte alles auf den Wannenrand. Dann schleifte er die Matratze aus dem Gästezimmer ins Bad.

Annie war nicht sicher, was sie mehr schockierte. Dass er ihre Schränke durchwühlt hatte, um trockene Sachen zu finden. Oder dass er es geschafft hatte, eine breite Matratze in einen Raum zu zwängen, den sie immer für winzig gehalten hatte.

Logan nickte ihr zu, und sie rutschte nach vorn, um ihm Platz zu machen. Er setzte sich hinter sie und zerrte an der Matratze, bis sie längsseits am Rand der Wanne lehnte.

Dann stieß er den angehaltenen Atem aus und zog sich das nasse Hemd über den Kopf. Er warf es weg, und es landete mit einem klatschenden Geräusch auf der anderen Seite der Matratze.

„Okay, das hier wird langsam verrückt“, murmelte Riley, den Kopf zwischen den angezogenen Knien. „Wenn Sie noch etwas ausziehen, bin ich hier weg.“

„Riley, er ist so nass wie du.“

Sie schnaubte, sagte jedoch nichts mehr.

Logan nahm die Decke und legte sie um Annies Schultern.

„Warte“, wehrte sie ab. „Dir muss doch auch kalt sein.“

Riley schnaubte erneut, bevor sie eins ihrer Handtücher nahm und es Annie gab, die es Logan nach hinten reichte. „Was soll das mit der Matratze?“

„Damit wir sie uns notfalls über die Köpfe ziehen können“, erklärte Logan sachlich.

„Soll das ein Witz sein?“, rief Riley. „Tante Annie, kann das Haus wegwehen? Wir sind hier in Turnabout, nicht in irgendeinem blöden Katastrophenfilm!“

Annie legte die Arme um ihre Nichte und zog sie unter die Decke. Riley zitterte wie Espenlaub. Genau wie sie selbst.

Dann legte Logan die Arme um sie, und für einen Moment, einen viel zu kurzen Moment, legte sich ihre Panik weit genug, um sie unter Kontrolle zu bekommen.

Logan hatte Riley gefunden.

Sie waren alle in Sicherheit.

„Drei Menschen in einem Boot“, murmelte Logan, und sein Atem klang wieder ruhig und gleichmäßig, während sie noch immer hechelte, als hätte sie gerade an einem Marathonlauf teilgenommen.

Und so saßen sie da, während die Erde bebte und der Himmel einzustürzen schien. Annie starrte auf den Flur hinauf, der im grellen Schein der Blitze aufleuchtete, und spürte plötzlich Logans Herzschlag an ihrem Rücken.

„Mach wenigstens die Taschenlampe an“, bat Riley nach einer Weile.

Annie tat es. Ihre Panik meldete sich zurück.

Sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren.

Nicht jetzt.

Nicht hier!

Sie konzentrierte sich auf das, was ihr Körper fühlte. Logans tröstende Nähe, seine Wärme, die selbst durch die nasse Kleidung wahrzunehmen war. Riley, die immer heftiger zitterte, während sie bei ihrer Tante Trost und Geborgenheit suchte.

Sie würden das hier überstehen.

Es war lange her, dass es in Annies Leben Stürme gegeben hatte. Das hier war ein äußerlicher, kein innerer. Und innere Stürme hatte sie oft genug durchgestanden.

Mehr oder weniger.

Sie legte den Kopf in den Nacken und stellte fest, dass Logan sie beobachtete.

Ihre Blicke trafen sich, und schlagartig wurde Annie bewusst, wie intim ihre Nähe war. Dass sein Brustkorb an ihren Rücken gepresst war. So fest, so breit, so perfekt.

Die Art von Brust, die sie vor einem Sturm beschützen konnte.

Und genau das getan hatte. Der Gedanke drohte ihr den letzten Rest an Fassung zu rauben.

Und dann, ganz plötzlich, legte sich der Sturm. Schlagartig. Als würde auch er den Atem anhalten.

Logans lange Finger strichen über Annies Wange, und ihr Mund wurde trocken. Sie schmiegte sich an ihn, und die Wärme, die sie fühlte, war nicht mehr nur ein Schutz vor dem tosenden Sturm, sondern etwas anderes. Etwas ganz anderes.

Sie fühlte, wie seine Brust sich hob, als er tief durchatmete.

Seine Fingerspitzen tasteten nach ihrem Mundwinkel.

Sie hielt die Luft an.

Unmögliche Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. An seine warmen Berührungen. Seine rauen Seufzer. Unmöglich, weil er sie vor all den Jahren abgewiesen hatte. Unmöglich, weil das, was sie geteilt hatten, nur in ihren Träumen weiterlebte.

Dann brach er das angespannte Schweigen. „Der Sturm ist hier“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Er nahm die Hand von ihrem Gesicht und zog die Decke fester um ihre Schulter.

Ihr Atem setzte wieder ein, wie von selbst, und ihr wurde schwindlig. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass die Blitze den Flur in immer kürzeren Abständen erhellten.

Riley gab einen erstickten Laut von sich. Als Annie klar wurde, dass es ein hysterisches Lachen war, schien das Haus gequält aufzustöhnen.

Logan fluchte, bevor er Annie und Riley nach unten drückte und die Matratze über sie zog.

5. KAPITEL

„Oh … mein … Gott.“

Annie starrte auf das, was von ihrem Haus übrig geblieben war, und vor Entsetzen wurde ihr übel.

Es kam ihr vor, als hätten sie Stunden in der Wanne verbracht, zu dritt zusammengekauert unter der schützenden Matratze. Aber jetzt sah sie durch das klaffende Loch im Dach, wie das Sonnenlicht die dichte Wolkendecke zu durchbrechen versuchte, und wusste, dass es nicht so lange gewesen sein konnte.

Erst als der Höllenlärm aufhörte, hatte Logan die Matratze zur Seite geschoben, zusammen mit einer Unmenge von Trümmern. Das Schlimmste schien vorüber zu sein, und der wolkenbruchartige Regen war in ein beständiges Nieseln übergegangen.

Ein Nieseln, das direkt ins Haus drang, denn ein großer Teil des Dachs war verschwunden.

„Ich glaub’s nicht“, murmelte Riley und starrte auf die Bretter, Ziegel und Palmwedel, die überall herumlagen. „Das ist ja ein Hammer. Gut, dass Sie an die Matratze gedacht haben. Sonst wäre das ganze Zeug auf unseren Köpfen gelandet.“

Hätte Annie nicht Logans warme Hand am Nacken gespürt, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen. „Wir haben hier keine Tornados“, protestierte sie matt.

„Es muss irgendeine Turbulenz gewesen sein. Oder ein Fallwind. Die können sich überall bilden“, sagte er, während er nach einem der Pullover griff und ihn ihr in die Hände drückte.

Sie ging in ihr Schlafzimmer, zog das nasse Sweatshirt aus und den trockenen Pullover an. Er fühlte sich himmlisch an.

Aber was war mit Logans Sachen? Sie hatte nichts, was über seine breiten Schultern passen würde. Und erst recht keine Hose. Sein Hemd lag noch irgendwo unter den Trümmern auf dem Boden des Badezimmers.

Als Annie zurückkehrte, hatte er seine Lederjacke angezogen, und sie schaffte es nur mit Mühe, nicht auf die kräftige Brust zu starren, die über dem halb geschlossenen Reißverschluss zu sehen war.

„Über Fallwinde haben wir in der Schule etwas gelernt“, meinte Riley, die bereits aus der Wanne geklettert war und sich trockene Sachen angezogen hatte. „Sie können so viel Schaden anrichten wie ein Tornado, aber sie … drehen sich nicht.“ Sie demonstrierte es mit einer Handbewegung. „Sie wehen mit aller Wucht abwärts.“ Sie zuckte mit den Schultern und wirkte plötzlich verlegen.

Logan nickte und sah nach oben. „Wir werden das Dach abdichten müssen, bevor der Regen noch mehr Schaden anrichtet.“

„Womit? Das einzige Holz, das ich habe, ist das Brennholz für die Feuergrube am Strand.“ Annie bahnte sich einen Weg über den Flur und wagte nicht, sich auszumalen, wie es im Rest des Hauses aussah. An die Felder, auf denen das wuchs, wovon Island Botanica lebte, wollte sie lieber nicht denken.

Ohne ihre Pflanzen hatten sie keine Erzeugnisse. Und ohne Erzeugnisse hatten sie nichts zu verkaufen. Sie würde vor dem Nichts stehen. Wieder einmal.

Hastig verdrängte sie die schmerzhafte Vorstellung und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Die Terrassentür sah unbeschädigt aus. Das Küchenfenster war zerborsten, und zwischen den Splittern ragte der Liegestuhl halb ins Haus. Ein Schrank hing schief, und die geöffnete Tür gab den Blick auf das zerbrochene Geschirr frei.

Riley war ihr gefolgt und starrte wortlos auf das Chaos.

Die beiden Becher mit heißer Schokolade standen noch auf dem Tresen. Die Marshmallows waren längst geschmolzen.

Annie nahm die Becher, schob die Arme zwischen den Beinen des Liegestuhls hindurch und kippte den kalten Kakao ins Spülbecken. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass auch Logan in die Küche gekommen war. Seine Miene war fast zärtlich, als er den Krug mit dem Wasser auf den Tresen stellte. „Wir sollten sparsam damit umgehen“, sagte er. „Ich werde in die Stadt gehen und sehen, ob ich etwas finde, womit wir das Dach abdichten können.“

Annie nickte und ging um den Tresen herum, um durch die Terrassentür zu schauen. Sie wagte nicht, etwas zu sagen, denn sie hatte Angst, in Tränen auszubrechen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint und nicht vor, wieder damit anzufangen.

„Möchtest du mitkommen?“

Als sie sich umwandte, sah sie, dass Logans Einladung Riley galt.

„Warum? Damit Sie mich von der Insel schleifen können?“

Er sah sie einfach nur an. Schließlich zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Okay.“

Logan schob die Couch von der Haustür weg und an ihren alten Platz. Danach hob er einen umgekippten Farn auf.

„Wir werden nicht lange fortbleiben. Sei beim Aufräumen vorsichtig.“ Als wollte er Logans Warnung unterstreichen, gab der schiefe Wandschrank ein erst knarrendes, dann splitterndes Geräusch von sich und prallte auf die Arbeitsplatte, bevor er polternd zu Boden fiel.

Glas- und Porzellanscherben flogen durch die Luft.

Annie schlug die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

„Mist!“, rief Riley. „Hoffentlich war das nicht das Familiengeschirr oder so was.“

Annie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich werde auch mitkommen. Vielleicht gibt es Häuser, die es noch schlimmer getroffen hat, und die Bewohner brauchen Hilfe.“

Der Gedanke war ernüchternd, und die drei verließen schweigend das Haus. Es nieselte noch, und Annie rannte wieder hinein, um den Regenschirm und eine leuchtend gelbe Öljacke zu holen. Sie gab Riley die Jacke und öffnete den Schirm. Logan nahm ihn ihr ab.

Das Wasser, das den schmalen Weg überschwemmt hatte, bildete nur noch ein Rinnsal. Die untergehende Sonne tauchte die vom Sturm heimgesuchte Landschaft und die dichten Wolkenbänder darüber in ein unwirkliches rotes Licht.

Als Annie über die umgestürzte Palme kletterte, fiel ihr Blick auf den Regenbogen, der so nah schien, als würde sie die Hand danach ausstrecken können.

Regenbogen waren doch Zeichen der Hoffnung, oder? Doch vor ihren Augen löste sich die wundersame Erscheinung plötzlich auf und ließ nur das Abendrot zurück.

Auch Logan blieb stehen. „Auf Turnabout gab es immer die unglaublichsten Sonnenuntergänge. Am besten konnte man sie vom Castillo House aus beobachten. Aber der alte Kasten steht vermutlich nicht mehr.“

„Doch, das tut er.“ Annie hatte eine besondere Beziehung zu dem verlassenen, im Stil einer Missionsstation errichteten Haus, aber im Moment war sie mit den Gedanken bei Riley, die vorgegangen war und jetzt an den Felsen wartete, die Annie davor bewahrt hatten, vom Sturm mitgerissen zu werden.

„Sie findet es uncool, unter dem Schirm zu gehen“, sagte Logan.

„Ich hätte sie sofort zu Will und Noelle zurückbringen sollen“, erwiderte Annie. „Gleich am Tag ihrer Ankunft.“

„Sie ist okay, Annie. Ihr ist nichts passiert.“

„Nur weil du da warst und sie gefunden hast. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich in die Badewanne und unter eine Matratze zu verkriechen.“

„Du hättest sie auch gefunden. Und dir wäre bestimmt etwas anderes eingefallen.“

Sie hörte ihm gar nicht mehr richtig zu, während sie durch das Wasser stapfte. „Riley hätte nie in Gefahr geraten dürfen. Sie ist noch ein Kind. Unschuldig und …“

„He.“ Er legte eine Hand um ihre Schulter, bis sie am Rand des Wegs stehen blieb. „Kein Kind verdient es, in Gefahr zu geraten. Aber das hier war ein Sturm. Ein unberechenbarer. So etwas passiert nun einmal. Und du kannst deine Nichte nicht vor dem Leben selbst beschützen.“

Warum nicht? Annie schluckte die Frage gerade noch herunter, als sie Reifen auf dem Kies knirschen hörte. Sekunden später hielt der Wagen des Sheriffs vor ihnen, und Sam Vega streckte den Kopf aus dem Fenster. „Hi, Annie. Alles okay bei dir?“

Annie eilte zu dem olivfarbenen Pick-up. „Wir sind unverletzt“, erwiderte sie. „Wie sieht es in der Stadt aus?“

Sams Miene war grimmig. „Bisher haben wir etwa ein Dutzend Verletzte, zu denen auch Jamie gehört. Sie hat versucht, ihr Spezialglas zu retten, und sich dabei das Handgelenk gebrochen. Ich werde mehr wissen, wenn ich meine Runde über die Insel gemacht habe. Viele Fenster sind kaputt, aber die Schäden an den Häusern halten sich in Grenzen. Dein Laden muss mit Brettern vernagelt werden. Ich habe gehört, dass Diegos Anleger weggerissen wurde. Bei deinen Feldern war ich noch nicht.“

„Der Anleger ist weg?“, fragte Annie entsetzt. Ihre Felder lagen ganz in der Nähe. „Was ist mit seinen Booten?“

„Die werden eine Weile nicht fahren können“, sagte Sam, während er den Blick an ihr vorbei zu Logan wandern ließ. „Wer auf die Insel oder aufs Festland will, wird die Hilfe der Küstenwache brauchen.“

Sie spürte, wie sie die Fassung zu verlieren begann. „Was ist mit einem Charterflugzeug? Als Dr. Trahern und seine Frau im letzten Jahr April Fielding zu ihrer Operation ins Krankenhaus gebracht haben, ist das Flugzeug auf der Hauptstraße gelandet.“ Ihr Bruder hatte Beziehungen und jede Menge Geld. Er konnte Riley mit einem Hubschrauber abholen lassen. Handys funktionierten auf der Insel nicht, und bestimmt waren die Leitungen zerstört, aber sicher konnte der Sheriff die Küstenwache bitten, ihren Bruder zu verständigen.

„Und hat sie ganz schön aufgepflügt. Einen Hubschrauber würden sie uns nur bei einem echten Notfall schicken. Der Sturm hat auch an Land gewütet. Vor allem in San Diego“, berichtete Sam. „Wir haben noch Glück gehabt.“

Sara war in San Diego. Annie presste die Hand vor den Mund.

„Sie möchte Riley zu ihren Eltern zurückschicken“, sagte Logan.

Sam schüttelte den Kopf. „Riley ist körperlich unversehrt. Auf der Liste der Leute, die aufs Festland müssen, steht sie weit hinten. Tut mir leid, Annie, aber so sieht es aus. Hugo kümmert sich um die Verletzten, so gut er kann, aber seine Praxis ist klein und nicht sehr gut ausgestattet. Ich schlage vor, du vernagelst dein Schaufenster …“

„Und das Dach zu Hause“, fügte Logan hinzu.

„Was immer getan werden muss“, meinte der Sheriff. „Im besten Fall haben wir ein paar Tage zum Aufräumen, im schlimmsten …“ Er schüttelte den Kopf. „Also, wenn ihr Leute okay seid, sehe ich mich mal weiter um. Sobald ich Zeit habe, komme ich zurück und ziehe die Palme vom Weg.“

Sie nickte und hörte, wie Logan Sam seine Hilfe anbot, dann fuhr der Sheriff wieder los.

Annie strich sich das feuchte Haar aus dem Gesicht und eilte zu Riley. „Ich muss nachsehen, was mit den Feldern ist“, rief sie, ohne auf Logan zu warten.

Natürlich folgte er.

Riley glitt vom Fels. Sie sagte nichts, aber offenbar war es inzwischen so dunkel, dass es ihr nicht mehr peinlich war, mit den Erwachsenen unter dem Regenschirm zu gehen.

Als sie die Felder erreichten, war die Sonne untergegangen, und ohne Mondschein war nicht zu erkennen, wie viel Schaden das Unwetter angerichtet hatte. Annie schloss die Augen und wehrte sich gegen die Angst vor der ungewissen Zukunft.

Logan berührte ihre Schulter. „Wir kommen wieder, wenn es hell ist.“

Autor

Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
Mehr erfahren
Allison Leigh
<p>Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...
Mehr erfahren
Jessica Bird
Ihren ersten Liebesroman las Jessica Bird als Teenager ganz romantisch in einem Rosengarten. Sie wurde augenblicklich süchtig nach mehr. Als sie mit dem College begann, besaß sie bereits Kartons über Kartons mit Romances. Ihre Mutter fragte sie jedes Jahr, warum alle diese Bücher das Haus vollstellen mussten – und Jessica...
Mehr erfahren